Adventszauber von Autorentraining ([Adventskalender 2009]) ================================================================================ Kapitel 9: 9. Türchen - Inuyasha -------------------------------- 9. Türchen von In der Halle roch es nach Metall, Alter und Staub. Kagura war der Geruch so vertraut, dass sie ihn kaum noch wahrnehmen konnte. Große Kisten aus Holz oder (seltener) Metall waren in Regalen oder einfach übereinander gestapelt worden, so dass man teilweise nur durch schmale Gänge hindurchgehen musste. Das Hallentor stand offen, so dass man auf den Hinterhof des Museums blicken konnte, der teilweise bedeckt war von bereits schmutziggrauem Schnee. Die Wintersonne erhellte mit ihren blassen Strahlen alles, was sie erreichen konnte, und war ein willkommener Zusatz zu den grellen Neonleuchten an der Decke. Die Kisten, die die Arbeiter heute abgeladen hatten, standen auf der freien Fläche direkt am dem Tor. Die meisten waren geöffnet, so dass man den Inhalt betrachten konnte, oder was davon unter der Füllung zu sehen war. Kagura hielt ein Klemmbrett auf dem Arm und ging die Formulare durch, die man mitgeliefert hatte. Es musste jedes Mal überprüft werden, ob alles angekommen war, wenn sie wieder ein paar neue Ausstellungsstücke bekamen. Es wäre eine Katastrophe, wenn etwas davon verloren ginge oder gestohlen wurde. Die meisten Stücke waren für Laien wertlos – Keramik vor allem. Allerdings waren sie alle unersetzbar; 3ooo Jahre alte Funde wuchsen nicht einfach auf Bäumen und derartig gut erhaltene schon gar nicht. Doch diesmal waren einige wirklich wertvolle Dinge dabei aus dem neu entdeckten Grab in der Nähe des Tals der Könige; Schmuck, Münzen, der Sarkophag mitsamt der Mumie einer bisher unbekannten Königin. Vorsichtig stellte Kagura die Vase wieder in die Box zurück und machte einen Haken auf ihrer Liste. Später konnte man alles noch genauer ansehen, im Moment ging es vor allem um die Vollständigkeit. Auch wenn es ihr momentan in den Fingern brannte, jedes einzelne Teil in die Hände zu nehmen, die Zeichnungen eingehend zu betrachten und die Finger über die feinen Schmuckstücke gleiten zu lassen. Die hohen Absätze ihrer eleganten Stiefel klapperten auf dem Betonboden, als sie zur nächsten Kiste ging. Sie legte das Klemmbrett auf einen Hocker und hob den Deckel der Box an. Der Inhalt war in weitere, kleinere Kisten gepackt, also nahm sie den gesamten Deckel ab um ihn gegen die Kiste zu lehnen. „Kagura! Bist du immer noch hier?“ Die weibliche Stimme ließ sie innehalten und sich umdrehen. Eine junge Frau stand im Hallentor und blickte sie an. „Ich dachte, du wärst längst nach Hause gegangen. Heute ist Samstag, hast du da nicht schon um zwölf aus?“ Die andere kam näher und baute sich ein paar Meter vor Kagura auf, die Hände in die Hüften gestemmt. Sie hatte halblanges, blauschwarzes Haar, blaue Augen und eine zierliche Statur. „Doch, aber wir haben heute die Sachen gekriegt und ich wollte schauen, ob alles da ist. Kagome, du weißt genau, wie der Direktor reagieren kann, wenn hierbei etwas schief läuft.“ „Trotzdem – wir haben gleich vier! Ist das nicht ein bisschen zu viel des Guten?“ „Schon so spät?“ Etwas verdutzt schob Kagura den Ärmel ihrer Kostümjacke nach oben, damit sie auf ihre Uhr schauen konnte. Tatsächlich, Kagome hatte recht. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie lang sie sich schon in dieser Halle befand! Und auch nicht, wie kalt es hier eigentlich war. Jetzt, aus der Konzentration gerissen, begann sie wieder die äußerlichen Einflüsse zu spüren. Wie die Kälte und die Tatsache, dass sie nur ein seriöses Kostüm trug und keinen Mantel. Und die Uhrzeit kombiniert mit dem Fakt, dass sie durchgängig seit halb sechs auf den Beinen war. Oder die Tatsache, dass sie seit Stunden auf hochhakigen Schuhen herumstelzte. „Du hättest dir zumindest deinen Mantel anziehen sollen oder so.“, knurrte Kagome. „Du holst dir noch den Tod in dieser Kälte. Dir ist schon aufgefallen, dass wir Winter haben, ja?“ „Ja, Kagome, ist mir. Und hör auf, in diesem Ton mit mir zu sprechen. Wer ist hier die Assistentin?“ „Ich und darum gehört es zu meinen Pflichten, dich an solche Dinge zu erinnern.“, kam die schlagfertige Antwort. „Ich hol dir gleich deinen Mantel. Oder nein, warte, wie wäre es, wenn du das Zeug einfach weglegst und nach Hause gehst? Deine Katze wartet sicher schon auf dich.“ „Nein, ich will das hier noch beenden.“ Damit hob Kagura die erste Box aus der großen Kiste, ein länglicher Kasten. Darin konnte sich eines der Schwerter befinden, die auf der Liste standen… „Was machst du eigentlich noch hier…?“, wollte sie dann von ihrer Assistentin wissen, als ihr der Gedanke kam. „Du bist doch sicher nicht mehr an der Arbeit…“ Kagome winkte ab. „Oh, ich hab nur was vergessen. Und dann hab ich gemerkt, dass du noch nicht abgeschlossen hast… Da wollte ich nach dir sehen und dir Beine machen, dass du mal hier rauskommst. Deine Mumien laufen dir nicht weg.“ Kagura verdrehte die Augen. Sie hatte keine Ahnung, wie Kagome auf der einen Seite so begeistert und eifrig für ihr gewähltes Studium sein, und auf der anderen derartig darüber reden konnte. Mit dem Fuß zog sie sich eine kleine Trittleiter heran, um die Box darauf abzustellen. „Du solltest dir einen Mann angeln oder so! Ich hab gehört, diese Jahreszeit eignet sich besonders dafür.“ Kagome lächelte hoffnungsvoll, wobei sich ihr gesamtes Gesicht aufhellte. „Das hast du im Frühling auch gesagt.“, antwortete Kagura abwesend und tippte auf den kleinen Aufkleber am Rand der Box, auf dem eine Zahl zu sehen war. Die junge Archäologin langte nach ihrem Klemmbrett, aber Kagome schnappte es ihr vor der Nase weg. „Hörst du mir eigentlich zu?“ „Natürlich und jetzt gib mir das Ding zurück, ich hab hier noch etwas zu tun.“ Das entlockte der anderen Frau ein Seufzen und widerstrebend überreichte sie ihr den gewünschten Gegenstand. „Du solltest wirklich mal ausgehen und aus der Arbeit herauskommen. Schön und gut, dass du für deinen Job so viel Leidenschaft aufbringst, aber das kann doch nicht alles sein, oder?“ Kagura blickte erstaunt auf. „Warum denn nicht? Ich fühle mich ziemlich wohl mit meiner momentanen Situation.“ „Weil es einfach so ist!“ Kagome schwenkte die Arme. „Was machst du abends? Allein mit Feather vor dem Fernseher hocken und dir endlose Wiederholungen irgendwelcher amerikanischer Serien reinziehen?“ Die Andere blinzelte und runzelte die Stirn. „Mir macht das Spaß.“ „Aber es ist nicht wirklich ausfüllend, oder? Wie wäre es, wenn du heute mit Sango, Ayame und mir kommst? Wir machen Mädchenabend und ziehen um den Block oder gehen in die Stadt oder so was. Ich will auch noch Kikyou überreden, das wird sicher lustig!“ Kagura warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Und du bist sicher, dass du deine Schwester dazu überredet bekommst?“ Kagome streckte ihr die Zunge heraus. „Du wärst erstaunt, zu was ich alles fähig bin! Und? Kommst du nun mit? Bitte! Zumindest Sango würde sich freuen, dich mal wieder zu sehen.“ Die Angesprochene seufzte. „Ich denke darüber nach.“ Und sei es nur, damit die Jüngere endlich mal still war mit ihren Dauervorwürfen. Das war nicht das erste Mal, dass sich eine solche Szene abspielte. Kagome blickte misstrauisch drein, entspannte sich dann jedoch. „In Ordnung. Ruf mich vor sechs an, dann sag ich dir, wann wir dich abholen, okay?“ „Gut. Würdest du mich jetzt allein lassen oder mir helfen? Ich will zumindest doch diese Kiste machen.“ Kagura öffnete die Verschlüsse des Kastens, schon wieder ganz ihrer Arbeit zugewandt. Ihre Assistentin seufzte und gab es auf. „Okay. Mach aber nicht mehr zu lange, ja? So was soll schlecht für die Gesundheit sein. Ich bring dir gleich noch deinen Mantel vorbei.“ „Danke.“, antwortete Kagura abwesend. Sie hörte noch Kagomes Schritte, die sich entfernten, achtete aber nicht mehr darauf, völlig vertieft in den Anblick eines alten Schwertes. Das vertraute Klackern ihrer Absätze begleitete sie auf ihrem Weg die Straße hinunter. Die Menschen, die ihr entgegenkamen, wichen ihr instinktiv aus. Wahrscheinlich wollte im Moment niemand ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen; sie war fertig und dementsprechend genervt. Mit der selbstauferlegten Aufgabe hatte sie doch länger gebraucht, als eigentlich gedacht, und inzwischen war es dunkel und fast sechs. Geschäftige Menschen eilten durch die Straßen. Manche kamen wie Kagura direkt von der Arbeit und hatten jetzt ihren Feierabend mit einem freien Tag in Aussicht. Andere waren mit der Familie oder Freunden auf einer Shoppingtour. Je nachdem hatte man einen Blick übrig für die Schaufenster und die kitschigen, unangebrachten Weihnachtsdekorationen darin. Jedes Mal, wenn der Rummel um dieses Fest wieder begann, verdrehte Kagura die Augen und vergrub sich in ihre Arbeit. Sie hasste diese Zeit des Jahres. Sie tat es so völlig irrational wie leidenschaftlich, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte, auch wenn sie genau wusste, warum. Es lag in ihrer Kindheit, an ihrer Familie, ihren Eltern. Die hatten sich schon immer gestritten und gehasst. Nur in der Weihnachtszeit… In der Weihnachtszeit nicht. Da taten sie so, als wären sie eine große, glückliche, zufriedene, liebende, erfolgreiche Familie. Das einzige, was daran stimmte, war das erste. Irgendwann war das Ganze jedoch umgekippt und aus der vorgetäuschten Weihnachtsharmonie war mehr als Streit geworden, was dazu geführt hatte, dass ihr Vater seine Frau und die beiden Töchter halb tot geprügelt hatte, und schließlich war es zur Scheidung gekommen. Inzwischen war ihre Familie völlig zerbrochen, die vielköpfige Geschwisterschar in alle Welt verstreut, ihre Mutter tot und ihr Vater… Diesen Gedanken führte sie nie zu Ende. Ihn hasste Kagura ebenfalls. Sie riss sich von ihren düsteren Gedanken los und richtete ihre Energien darauf zu planen, was sie jetzt mit dem angefangenen Tag tun sollte. Sie hatte Kagome bereits angerufen und ihre Assistentin sehr schnell wieder abgewürgt, als die ihre Absage nicht einfach so hinnehmen würde. Dafür hatte die Ägyptologin jetzt einfach keine Nerven mehr. Stattdessen würde sie im English Dreams gehen, einem Café, das auf ihrem Heimweg lag. Sie wohnte nur zehn Minuten zu Fuß von dem Museum entfernt und hatte dabei auch noch den beliebten Stadtpark zu durchqueren, in dessen Mitte das English Deams lag. Kagura liebte das kleine Café heiß und innig und sie konnte sich dort entspannen wie sonst nirgendwo. Das war genau das, was sie an einem solch stressigen Tag nach einer solch stressigen Woche brauchte. Es war in einem hübschen, kleinen Gebäude untergebracht, das weiß getüncht und mit roten Ziegeln bedeckt war. In den großen Fenstern konnte man sich spiegeln, so sauber waren sie, und das Innere war gemütlich eingerichtet mit einem Wirrwarr von Tischen, Stühlen und Pflanzen. Das Mädchen hinter dem Tresen, der sich direkt gegenüber der Eingangstür befand, nickte ihr lächelnd zu, als sie eintrat. Kagura war hier bereits bekannt. Sie grüßte zurück und steuerte einen Tisch an, der sich etwas abseits befand. Es war einer der wenigen Tische, die nicht besetzt waren. Anscheinend hatte die halbe Stadt entschlossen, den späten Samstagnachmittag hier zu verbringen. Dementsprechend laut war es, lachende Kinderstimmen und das Gemurmel von Gesprächen mischten sich zu einem undefinierbaren Brei aus Geräuschen zusammen und irgendwo schrie ein Kleinkind wie am Spieß. Kagura fragte sich, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, hierherzukommen. Wahrscheinlich würde sie noch gestresster sein, wenn sie endlich nach Hause kommen würde. Selbst wenn Rin mit ihrer Nanny hier war und wie immer plötzlich aus den Untiefen des Cafés auftauchen würde. Allerdings wollte sie jetzt auch nicht mehr aufstehen, wenn sie schon mal da war. „Nein!“ Der Ausruf direkt hinter ihr ließ sie heftig zusammenfahren. „Ich werde nicht gestatten, dass Sie…“ Der Sprecher wurde von einer kühlen, kultivierten Stimme unterbrochen: „Ich glaube kaum, dass Sie in der Position sind, etwas zu gestatten. Vor allem nicht, wenn es mich betrifft. Und schreien Sie nicht so herum.“ Kagura verdrehte die Augen und unterdrücke den Impuls, sich nach den beiden Männern umzudrehen. Doch sie hatte keinen Zweifel, dass das noch so weitergehen würde. Gerade dachte sie daran, doch zu gehen, als eine der gestressten Kellnerinnen zu ihr an den Tisch trat. Mit einem etwas abgehetzten Lächeln bemerkte sie: „Tut mir leid, heute ist etwas viel los, Kagura. Was kann ich dir bringen? Wie immer?“ „Bitte.“, antwortete die Ägyptologin und beschloss, dass die Situation doch nicht so schlimm war. „Und ein Stück von der Käsesahnetorte.“ „Kommt sofort.“ Damit kehrte die Frau wieder an den Tresen zurück. Es dauerte auch nicht lange, da brachte sie die Torte und das ‚Übliche‘, einen Pott Kaffee, schwarz, mit Zucker. Genüsslich roch Kagura an dem aromatischen Duft, der mit dem Dampf von der Tasse aufstieg. Sie liebte dieses Getränk. An manchen Tagen lebte sie davon. Richtigen Kaffee zu machen war das erste, das Kagome gelernt hatte, nachdem Kagura sie als Assistentin genommen hatte. Vielleicht war diese kluge Voraussicht auch der Grund, warum sie diesen Job so lange behalten hatte – normalerweise hatte sie einen regen Verschleiß an Assistenten. Entweder sie selbst warf sie hinaus, weil sie ihre Geduld zu sehr strapazierten, oder sie gingen von selbst, weil sie nicht mir ihr arbeiten konnten. Kagura nahm einen Schluck und seufzte zufrieden auf. Der Kaffee hatte es geschafft, dass die Gespräche um sie herum und selbst das Kindergeschrei in den Hintergrund rückten. Langsam begann sie, sich etwas zu entspannen. Vielleicht wurde das ja doch noch ein netter Abend. Etwas stieß mit einem lauten Krachen gegen ihren Stuhl und versetzte ihr einen so heftigen Stoß, dass sie fast gegen die Tischkante knallte. Das heiße Getränk in ihrer Tasse ergoss sich über ihre Bluse, ihren Rock, ihren Kuchen und die weiße Tischdecke. Mit einem erschrockenen Aufschrei ließ sie die Tasse fallen und sprang auf. Das Geschirr zerschellte am Boden und riss auch noch die Aufmerksamkeit der letzten Person im Raum auf sie. Der Abend war wohl doch nicht so nett, wie sie sich das vorgestellt hatte. Beinahe verwundert starrte sie an sich herunter – noch spürte sie den Schmerz nicht, der darauf folgen würde, heißen Kaffee über die Brust bekommen zu haben. „Oh mein Gott, Kagura!“ Der Ruf kam von einer der Kellnerinnen, die auf die junge Ägyptologin zugeeilt kam. „Verzeihung, das tut mir echt schrecklich leid, das lag nicht in meiner Absicht, ich…“ Kagura drehte sich zu dem älteren Mann um, der sich so eilfertig entschuldigte. Jetzt bemerkte sie auch, was ihr diesen Schlag versetzt hatte: er war so heftig aufgestanden, dass seine Stuhllehne mit heftiger Wucht an ihre gekracht war. Auf der anderen Seite seines Tisches stand ein hochgewachsener, aristokratisch wirkender Mann mit schneeweißem Haar und schönem, beherrschtem Gesicht. Trotzdem konnte er kaum über Dreißig sein. Kagura ignorierte ihn und fauchte den Unglücksraben an, dem sie die Kaffeedusche zu verdanken hatte. „Können Sie nicht aufpassen, Sie Idiot? Schauen Sie sich das an! Meine Bluse ist ruiniert! Und…“ Er setzte noch einmal zu einer Entschuldigung an, aber sie dachte nicht daran, ihn zu Wort kommen zu lassen. „…mein Abend ebenfalls! Und das, nachdem ich mir den ganzen Tag den Arsch aufgerissen habe!“ Dann erreichte die Kellnerin sie. Sie bekam ein Geschirrtuch in die Hand gedrückt, mit dem sie sich den Kaffee abtupfen konnte. Es nutzte nicht viel – was sie brauchte war frische Kleidung. Ihre Bluse war völlig durchtränkt von der Flüssigkeit. „Kagura, komm mit, wir haben sicher ein paar frische Sachen für dich.“, murmelte die Kellnerin, die eine Szene eindeutig vermeiden wollte, vor allem heute, weil das Café aus alle Nähten platzte. „Aber…“ „Bitte, Kagura, das ist sicher unangenehm.“ Beinahe widerwillig ließ sie sich in die Hinterräume des Englisch Dreams führen, wo man ihr einen frischen Lappen und ein T-Shirt besorgte, über das sie ihre Kostümjacke ziehen konnte. Sie hätte den Mann gern noch etwas zur Schnecke gemacht. Wenn er klug war, würde er jetzt verschwinden, aber so oder so, sie wäre nicht mehr derartig wütend über den Vorfall. Als sie fünfzehn Minuten später wieder zurückkehrte, war der Mann tatsächlich weg. Sein weißhaariger Begleiter war allerdings noch da. Er erhob sich, als sie sich ihrem Tisch näherte, und ließ sie nicht aus dem kühlen Blick seiner goldenen Augen. Auf dem Tisch vor seinem Platz stand eine Tasse Kaffee, ihm gegenüber das, was Kagura sich bestellt hatte, aber nun wahrscheinlich im Müll gelandet war. Eine Kellnerin war eifrig dabei, die letzten Kaffeereste vom Boden zu wischen. Der Mann nickte ihr zu. „Bitte verzeihen Sie die Unannehmlichkeiten, die verursacht wurden.“ Die Entschuldigung kam ihm leicht von den Lippen, aber vermutlich nur, weil er sie für jemand anderen abgab und nicht für sich selbst. „Erlauben Sie mir, Sie zu Kaffee und Kuchen einzuladen.“ Für einen Moment spielte Kagura mit dem Gedanken, ihn einfach stehen zu lassen. Aber die Torten im Englisch Dreams waren zu gut, sie so einfach zu ignorieren, und zumindest dieser Mann schien eine angenehme Gesellschaft zu sein. Also dankte sie mit einem kühlen Lächeln und glitt auf den Stuhl, der offensichtlich ihr vorbehalten war. „Und wie kommen Sie darauf, Sie hätten etwas damit zu tun? Es war immerhin so, dass er nicht aufgepasst hat.“ „Im Grunde ist es meine Schuld.“, antwortete er kühl. „Ist er Ihr Geschäftspartner? Sie sehen nicht gerade wie Freunde aus.“ Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffe und beobachtete ihn genau. Der Gedanke, er könne mit dem Rüpel befreundet sein, schien ihn zu pikieren. Aber es war schwer, in seinem Mimik und Gestik zu lesen, da er sich so absolut unter Kontrolle hatte, dass er sicher selten etwas tat, das er nicht auch tun wollte. „Er … sollte etwas für meine Firma tun, hat aber höchst ungenügende Arbeit geleistet.“ Anscheinend wollte er nicht weiter darüber sprechen – Firmengeheimnisse? – darum wechselte Kagura (sehr unelegant, wie sie zugeben musste) das Thema. „Sie kommen mir bekannt vor – sollte ich Sie kennen?“ „Ich bin Sesshoumaru Taisho.“ Sie riss die Augen auf. „Wie in Taisho Cooperation?“ Ein kurzes Nicken folgte auf die Aussage. Kein Wunder, dass er ihr so bekannt vorkam – die Taisho Cooperation war eine der führenden Computerfirmen der Welt und ihr Boss war Sesshoumaru. Da stellte sich einem die Frage, was ein Milliardär wie er im einem Café wie das English Dreams zu suchen hatte. Es war zwar gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Sie verkniff sich die Frage und stellte sich stattdessen selbst vor: „Ich bin Kagura Kazebara. Ich arbeite drüben im Historischen Museum.“ Er zog eine Augenbraue hoch und wirkte, als würde er nicht viel davon halten. „Ich bin Ägyptologin und leite die Abteilung für das Alte Ägypten.“, bemerkte sie spitz. Sie hasste es, wenn man auf ihre Arbeit hinuntersah. Das war einfach nicht angemessen. „Ich … bin kein großer Fan der Archäologie.“, erklärte er und sein Ton machte deutlich, dass er gar nichts davon hielt. „Zum Glück sind andere Leute anderer Meinung.“, antwortete sie eisig und schob sich endlich einen Bissen von ihrem Kuchen in den Mund. Ah… Himmlisch! Sie verdrehte vor Wonne die Augen und seufzte genießerisch auf. „Sie sollten auch ein Stück von den Torten hier probieren; die sind köstlich!“ Er starrte sie unbeeindruckt an. Nur eines seiner Augenlider zuckte kurz. „Ich bin kein großer Fan von Süßigkeiten.“ Es war fast derselbe Satz, den er vorhin gesagt hatte. Sie konnte es sich nicht verkneifen, die Frage zu stellen: „Sind Sie denn ein großer Fan von irgendetwas?“ Diesmal bekam sie eisiges Schweigen als Antwort. Anscheinend mochte er Fragen über seine eigene Person nicht sonderlich. „Meine Tochter ist ein großer Fan von den Kuchen hier.“, erklärte er dann, beinahe spöttisch. „Ihre Tochter?“ Er nickte und machte eine Handbewegung, die den gesamten Raum einschloss. „Sie dürfte hier irgendwo sein.“ „Wahrscheinlich in der Kinderecke da hinten. Kommt sie denn öfter hierher? Sie tun es offensichtlich nicht.“ „Dafür hat sie ihre Nanny.“ „Verstehe…“, murmelte seine Gesprächspartnerin um ein Stück Kuchen herum. Sie wollte noch etwas sagen, als jemand an ihren Tisch trat. „Sesshoumru-sama, wir sollten jetzt…“ Er brach auf der Stelle ab, als der Weißhaarige die Hand hob. „Jetzt nicht, Jaken.“ Es war ein winziger, runzliger alter Mann, der sich schwer auf einen Stock stützte. Anscheinend war er Sesshoumarus Assistent oder ähnliches. Wobei Kagura ziemlich froh war, dass ihre Assistentin jünger und lebendiger war. Aber irgendetwas musste an Jaken dran sein. Sesshoumaru könnte sich wahrscheinlich fast jeden für diese Stelle nehmen. „Sesshoumaru-sama!“ Die Stimme gehörte einem etwa zehnjährigen Mädchen mit wirrem, dunklem Haar und riesigen Rehaugen, die wie ein Irrwisch auf den Tisch zugeflitzt kam. Kagura erkannte sie sofort. Das war Rin. War sie etwa die Tochter, von der Sesshoumaru vorhin gesprochen hatte?! Die Welt war klein… Kagura hatte das aufgeweckte Mädchen kennen gelernt, als es mit seiner Klasse in das Museum gekommen war und sie mit Fragen gelöchert hatte. Als Rin sie zwei Tage später in eben diesem Café entdeckte, ging die lebhafte Fragerei einfach weiter. Auf eine gewisse Weise erinnerte das Kind sie an ihre kleine Schwester, Kanna, die still und ruhig gewesen war, aber ebenfalls wissbegierig und klug. Rin hielt ein Blatt Papier in der Hand, auf den sie einen riesigen Hund gezeichnet hatte. „Schau!, Sesshoumaru-sama!“ Kagura traute ihren Augen nicht, als sich dessen Lippen zu einem leichten Lächeln verzogen. „Sehr schön, Rin.“, sagte Jaken, klang aber eher so, als hätte er das Gegenteil gesagt. Er bekam einen bitterbösen Blick geschenkt. Sesshoumaru unterbrach die zwei. „Willst du einen Kuchen, Rin?“ Das Mädchen warf die Arme hoch. „Au ja!“ Dann bemerkte sie Kagura und ein strahlendes Lächeln breitete sich über ihr Gesicht aus. „Kagura-san! Was machen Sie denn hier?!“ Die Angesprochene lächelte. „Ich esse ein Stück Torte, das mir dein Vater spendiert hat.“ Rin nickte, als wäre es das natürlichste auf der Welt, die beiden an einem Tisch zu sehen. Dann legte sie das Blatt vorsichtig auf die Tischplatte und zerrte Jaken zur Kuchentheke. Kagura nahm das Blatt auf und blickte dann mit fragend hochgezogener Augenbraue ihren weißhaarigen Gegenüber an. „Sie wünscht sich einen Hund.“ „Warum bekommt sie keinen?“ „Weil ihr die Verantwortung fehlt, auf Dauer für ihn zu sorgen.“ Das … hatte etwas realistisches. Sie legte das Blatt wieder weg. „Warum nennt sie Sie ‚-sama‘?“ Das war doch etwas Ungewöhnliches. „Das hat sie aus dem Waisenhaus mitgebracht.“ Also hatte er sie adoptiert. Wenn sie recht darüber nachdachte, gab es auch keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden, darum erschien das nur logisch. Sie fragte nicht weiter, sondern wandte sich wieder ihrem Kuchen zu. „Wieso kennen Sie sie?“ Diesmal war es an ihm, eine Frage zu stellen und sein Blick dabei war undurchdringlich. „Sie war mit ihrer Klasse im Museum; ich habe die Führung gemacht. Dann sind wir uns hier wieder begegnet und sie konnte nicht aufhören, seltsame Dinge zu fragen.“ Er nickte; anscheinend war das für das Mädchen völlig normal. Dann überraschte er sie, indem er sagte: „Sie mag Sie.“ Der Satz klang, als wäre ihm das wichtig. Kagura lächelte verschmitzt. „Das habe ich mir schon gedacht. Sie sollten ihr wirklich den Hund kaufen.“ Er kam nicht mehr dazu zu antworten, denn Rin kehrte mit einem riesigen Stück Schokoladenkuchen an den Tisch zurück. Den Rest des Gespräches redeten sie über völlig belanglose Dinge, an die Kagura sich einen Tag später nicht mehr erinnern konnte. Aber darum ging es auch nicht. Sie bekam das Gefühl nicht los, dass er mit ihr flirtete. Es war seltsam mit ihm, da alles, was er in dieser Richtung tat, so subtil war, dass sie es kaum erkannte. Aber sie flirtete heftig zurück. Jaken warf ihnen missgelaunte Blicke zu – er bemerkte genau, was hier abging – während Rin sich glücklich um ihren Kuchen kümmerte – das ganze ging über ihren Kopf. Dennoch stand Sesshoumaru auf, als Rin den letzten Krümel vom Teller geleckt hatte. Die Rechnung hatte er anscheinend schon bezahlt – oder war es vielleicht Jaken gewesen? – denn keine der Kellnerinnen kam zu ihnen herüber. Er zog eine Karte aus der Tasche und reichte sie ihr. „Falls Sie einmal Hilfe brauchen, rufen Sie an, Miss Kagura Kazebara.“ Völlig überrumpelt nahm sie die Karte entgegen. Sie wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er sich schon an Rin wandte. „Sag ‚Auf Wiedersehen‘.“, meinte er kühl. „Wir müssen jetzt gehen.“ Das Mädchen rutschte vom Stuhl und schüttelte den Kopf. „Rin?“ Sie hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrte zu ihrem Adoptivvater hoch. „Ich muss Kagura-san noch etwas sagen. Frauengespräche.“, antwortete sie ernst. Sesshoumaru schwieg einen Moment, dann nickte er. „Aber macht schnell.“ Er drehte sich um und ging davon. „Jaken!“ Der alte Mann folgte sofort auf den Ruf hin. Rin wartete, bis sie fast an der Tür waren, dann winkte sie Kagura zu sich herunter. Diese folgte der Aufforderung. „Sesshoumaru-sama maaaaaaaaaaag Sie.“, trällerte das Mädchen leise, wobei sie das mittlere Wort in die Länge zog. „Sie sollten ihn wirklich anrufen.“ Kagura lächelte. „Vielleicht tu ich das.“ Für einen Moment blickte Rin sie skeptisch an, dann nickte und grinste sie. „Ich werd es ihm nicht sagen. Auf Wiedersehen, Kagura-san!“ Damit drehte sie sich um und rannte davon. Kagura blickte ihr nach, bis sie verschwunden war und nahm dann die Karte auf, die Sesshoumaru ihr gegeben hatte. Sein Name und eine Telefonnummer waren in eleganter Schrift darauf gedruckt, sonst war sie leer. Das war sicher nicht seine Geschäftskarte. Lächelnd schob Kagura die Karte in ihre Tasche, dann trank sie ihren Kaffee leer. Schließlich nahm sie ihren Mantel und verließ das English Dreams ebenfalls. Vielleicht hatte Kagome recht und diese Jahreszeit eignete sich tatsächlich, um Männer kennen zu lernen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)