Die Schandsage von Kita (Von Wahren Helden und anderen Halunken) ================================================================================ Kapitel 1: Der Schatz --------------------- Ein paar Worte vorweg: Fünf Jahre lang hab ich die CDs der Band gesammelt und an dieser Geschichte geschrieben. Im fertigen Zustand habe ich sie an die Schandmäuler geschickt und um Erlaubnis gebeten, sie hier hochladen zu dürfen. Vor 'nem Monat hab ich dann eine sehr nette Antwort bekommen mit der Erlaubnis zur Veröffentlichung ^_^ -> http://i57.photobucket.com/albums/g237/Mi_chan785/Schandmaul.jpg <- Am Ende jeden Kapitels werde ich die verwandten Lieder aufzählen =) Und nun viel Spaß ^^ Und so zogen wir los, dem Schatz auf der Spur. Ist’s Gold oder Silber, ist’s Edelstein pur? Keiner wusste, was es war Und das war sehr sonderbar... „Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch das leisten könnt?“ Rhow seufzte genervt. Fragen dieser Art hörte er zuhauf und er hasste sie. „Ja, dessen bin ich mir ganz sicher! Aber wenn Ihr Euch überzeugen wollt...“ Er kramte in einer seiner vielen Taschen und zog ein paar matte Münzen hervor. „Zufrieden?“ Der Wirt der kleinen Gaststube drehte sich um und ging. Es dauerte nicht lange und er kam mit einem kleinen Tablett zurück, das er vor Rhow auf den Tisch stellte, doch gerade als der seine Hand nach seinem mehr als dürftigen Frühstück ausstrecken wollte, ergriff der Wirt seinen Arm. „Ich fürchte, ich muss darauf bestehen, dass Ihr im Voraus bezahlt.“ Missmutig runzelte Rhow die Stirn und brummte: „Hast du Angst, ich könnte an einer Lebensmittelvergiftung verrecken?“ Der Wirt jedoch musterte ihn voller Skepsis und hob auffordernd eine Augenbraue an, womit er seine wachsende Ungeduld mehr als deutlich zeigte, worauf Rhow ihm widerwillig die verdreckten Münzen in die Hand drückte. „Da, und jetzt lass mich endlich essen! Ich verhungere fast.“ Das war nicht einmal übertrieben. Das magere Frühstück aus Wasser, einem Ei und einem Stück Brot mit Käse war die erste Mahlzeit, die Rhow seit gut fünf Tagen zu sich nahm, und nachdem der Wirt ihm das Geld abgeknöpft hatte, würde es wohl auch die letzte für die nächsten fünf Tage sein. In Gedanken verfluchte Rhow den Wirt für sein Misstrauen – denn es war voll und ganz berechtigt. Rhow war ein Vagabund, heim- und mittellos und reiste ziellos durch die Lande, wobei er sich von Zeit zu Zeit ein wenig Geld verdiente, mit Arbeiten, für die sich keiner die Hände schmutzig machen würde, der es nicht wirklich nötig hatte. Ab und zu ließ er auch mal eine Brieftasche den Besitzer wechseln, was jedoch mit einem gewissen Risiko verbunden war. Und dieses hart erkämpfte Geld versuchte er mit allen Mitteln so lange wie möglich zu behalten, auch wenn das hieß, gelegentlich ein Wirtshaus als Zechpreller zu verlassen. Doch in schlechten Zeiten wie diesen war wachsendes Misstrauen an der Tagesordnung, zumal, wenn man an abgenutzten und teils zerrissenen Kleidern eindeutig als Landstreicher erkennbar war. Doch alles Fluchen half nun auch nichts mehr. Das Geld hatte der kleine, nach Alkohol stinkende Wirt eingesteckt und er würde es wohl bei nächster Gelegenheit für eine weitere Flasche billigen Fusels ausgeben. Traurig, aber leider nicht zu ändern. Von Zeit zu Zeit musste Rhow etwas Vernünftiges zu sich nehmen – auch wenn das Brot schmeckte, als sei es mehr als nur einen Tag alt und der Käse nicht mehr der frischeste war – nur von Almosen konnte auf Dauer keiner leben. Gedankenverloren sah der Landstreicher aus dem trüben Fenster und beobachtete die wenigen Leute, die auf den Straßen der Hauptstadt unterwegs waren. Einer erweckte dabei besonders seine Aufmerksamkeit – ein junger Mann, der seiner Kleidung nach zu urteilen mindestens aus der höheren Mittelklasse stammen musste. Er lief durch die Straße und heftete kleine Zettel an Bäume, Zäune und Häuser. Schnell trank Rhow sein Glas abgestandenes Wasser aus und steckte den Rest des Brotes ein. Dieser Anschlag interessierte ihn. Schon öfters hatte er sich ein wenig Geld verdient, indem er irgendeinen gesuchten Kleinkriminellen dem Richter ausgeliefert hatte. Und dieser Auftrag versprach einiges, denn schon von weitem konnte er das königliche Wappen über dem Text ausmachen. „An alle tapferen und starken Männer Ahrlandens“, las Rhow, „des Königs Schatz ward gestohlen...“ Den Rest überflog er. Nur die Worte „finden“ und „fürstliche Entlohnung“ sprangen ihm förmlich ins Auge. Klingt vielversprechend, dachte er, sah sich verstohlen um, riss den Zettel vom Baum und steckte ihn ein. „Je weniger davon wissen, desto weniger Konkurrenz für mich...“ Auf dem Weg zum Schloss riss er noch etwa ein halbes Dutzend weiterer Papiere ab und entledigte sich ihrer. Konkurrenz im Voraus zu verhindern war eine seiner leichtesten Übungen. Ins Schloss zu kommen erwies sich da als erheblich schwieriger. Erst als er den Wachen das Papier mit der königlichen Frage unter die Nase hielt und ihnen klar machte, dass er deswegen hergekommen sei, ließen sie ihn durch – wenn auch nur in Begleitung eines bewaffneten Mannes. Rhow staunte nicht schlecht, als er den reich geschmückten Thronsaal betrat. Zum einen war er tief beeindruckt von der Schönheit des Raumes, doch gleichzeitig schäumte er innerlich vor Wut. Der König protzte nur so mit seinem Reichtum, während vor den schweren hölzernen Toren sein Volk in Scharen den Hungertod starb. Doch er war schlau genug, seinen Unmut nicht zu zeigen – wollte er doch schließlich die Belohnung abkassieren. Sehr zu seinem Ärger musste er jedoch feststellen, dass er nicht der einzige war, der sich auf den Anschlag gemeldet hatte. Außer ihm waren noch zwei weitere Männer anwesend. Das alleine war nicht das Problem, aber Rhow vermutete, dass diese beiden ihm doch ernsthaft Schwierigkeiten bereiten konnten. Der eine von ihnen musste unter seinen Vorfahren einen Riesen gehabt haben, so groß und muskulös war er. Insgeheim musste Rhow an eine Eiche denken: groß und kräftig, aber wenig – beziehungsweise gar kein – Hirn. Jedenfalls machte er nicht den Eindruck, einen Buchstabierwettbewerb gewinnen zu können. Der andere wirkte fremdländisch und gegen den anderen recht schmächtig – auch wenn er in Wirklichkeit Rhow in nichts nachstand – schien jedoch anderweitig gefährlich zu sein: Rhow schätzte, dass er mit dem Bogen, den er auf seinem Rücken trug, recht gut umzugehen verstand. Eine lange Narbe quer über seine rechte Gesichtshälfte zeugte von mindestens einem schweren Kampf, den er überlebt hatte. Erst als Rhow am Ende der langen Halle angekommen war, fiel ihm der König auf, der ein wenig zusammengesunken auf seinem Thron saß und seufzte, als er Rhow sah. „Wanderer, Tagelöhner, Landstreicher... sind das die starken Männer dieses Landes?“ Rhow überging diese Bemerkung und verbeugte sich leicht. „Euer Majestät, ich kann Euch versichern, dass ich gerade weil ich ein Landstreicher bin, das Land besser kenne als jeder andere und daher keiner besser geeignet wäre, Euch Euren Schatz zurückzubringen.“ Der Riese lachte laut und seine Stimme klang wie ein Donnergrollen. „Du halbes Hemd? Wie willst du denn den Dieb schnappen? Majestät, überlasst das lieber mir.“ Bevor jedoch eine hitzige Diskussion zwischen den beiden ausbrechen konnte – Rhow war mit der Betitelung als halbes Hemd so überhaupt nicht einverstanden – ertönte lautes Geschrei vom Eingang her und ehe die im Raum Wartenden wussten wie ihnen geschah, wurde die Tür aufgerissen und eine junge Frau von unsagbarer Schönheit stürmte mit wutverzerrtem Gesicht herein, gefolgt von einem wild gestikulierenden Wächter. „Ihr dürft hier nicht einfach rein! Hört Ihr nicht? Bleibt sofort stehen!“ Rhow war nicht der einzige, der beim Anblick der hübschen Frau weiche Knie bekam. Auch der König saß auf einmal kerzengerade in seinem Thron und schickte den Wächter mit einer unwirschen Handbewegung nach draußen. „Was ist Euer Begehr, schöne Maid? Was füllt Euer Herz mit solcher Erregung?“ „Das hier!“ Sie hielt ihm einen zerknitterten Zettel entgegen. Rhow erkannte es sofort als die Nachricht, die ihn und die beiden anderen ins Schloss geführt hatte. „An alle tapferen und starken Männer dieses Landes... “, zitierte sie und sah auf. „Wieso ruft Ihr nur die Männer auf, Euren Schatz zu finden? Denkt Ihr nicht, dass auch eine Frau den Dieb gesehen haben könnte?“ Der König lächelte verschmitzt. „Nun, ich möchte ein hübsches Fräulein, wie Ihr eins seid, nicht einer solchen Gefahr aussetzen.“ „Oh, traut Ihr mir nicht zu, dass ich selbst erkenne, wenn ich mich in Gefahr begebe?“ Ihre Schlagfertigkeit brachte Rhow zum Schmunzeln, während der König sich ein perplexes Räuspern abzwang. „Nun denn. Was wollt Ihr?“ „Ich möchte mich melden, den Schatz zu suchen!“ Der Riese begann laut zu lachen und Rhow sah hastig zu Boden, damit sie sein Grinsen nicht bemerkte. „Eine Frau? Fräulein, was willst du denn auf dieser Reise?“ Die Frau funkelte ihn wütend an. „Dein Gehirn ersetzen? Wenn ich mir dich so ansehe, glaube ich nämlich nicht, dass du eins hast!“ Nun war es Rhow, der laut losprustete. „Ein wahres Wort!“ „Schluss mit den Possen!“, donnerte der König. „Wenn ihr vier die einzigen sind, die Mut genug haben, sich auf diese Reise einzulassen, dann soll es so sein! Ihr werdet gemeinsam ausziehen und mir meinen Schatz zurückbringen!“ Rhow verzog das Gesicht. Zu viert? Das bedeutete nur ein Viertel der Belohnung für ihn. Auch die anderen schienen von dieser Entscheidung nicht allzu begeistert, das konnte er an ihren Mienen ablesen. Andererseits... wer konnte schon sagen, was das Schicksal mit ihnen vor hatte? Vielleicht war es ganz nützlich, sie dabei zu haben. Für einen Bogenschützen und einen Schläger gab’s immer Verwendung. Und wer hatte nicht gerne eine hübsche Frau in der Begleitung? „Worauf wartet ihr noch? Geht nun! Und wagt es nicht, ohne meinen Schatz zurückzukehren!“ Vor den Toren des Schlosses machte der Große seinem Unmut Luft. „Verdammt, was soll das? Jetzt hab ich euch als Klotz am Bein dabei!“ Rhow verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer hier wem ein Klotz ist, wird sich erst noch zeigen. Was mich viel mehr stört, ist die Tatsache, dass ich die Belohnung jetzt mit euch teilen muss!“ „Wieso du? Wer sagt denn, dass ein Landstreicher wie du den Schatz findet? Was kannst du denn, außer Almosen erbetteln?“ „Sei bloß vorsichtig!“, zischte Rhow. „Vielleicht wirst du meine erbettelten Almosen noch brauchen, der König hat uns jedenfalls kein Weggeld mitgegeben!“ Die Frau trat zwischen die beiden. „Meine Güte, was seid ihr eigentlich für Narren? Statt hier herumzustehen, sollten wir lieber das Beste aus der Sache machen und endlich losziehen! Unser stummer Bogenschütze macht es uns gerade vor!“ Tatsächlich hatte der Schweigsame sich schon einige Meter von ihnen entfernt. „Hey!“, rief der Riese. „Wart’ auf uns!“ Schnell hatten sie ihn eingeholt, was er nur mit einem leisen Seufzen kommentierte. „Du läufst einfach los? Hast du einen Plan, wo wir suchen müssen?“, fragte Rhow, doch der Schütze antwortete ihm nicht, was der Vagabund mit einem Stirnrunzeln abtat. „Schön... renn du ruhig los, aber in dieser Richtung liegt nur Wüste. Unser Dieb müsste schon ziemlich schwachsinnig sein, dorthin zu fliehen.“ „Und wo sollten wir deiner Meinung nach suchen?“, fragte die Frau. Rhow verbeugte sich leicht. „Dass Ihr nach meiner bescheidenen Meinung fragt, ehrt mich... hätte ich den Schatz des Königs gestohlen, würde ich mich auf dem schnellsten Wege nach Westen begeben.“ „Wieso ausgerechnet nach Westen?“ „Nun, es ist klar, dass der König nach mir suchen würde. Also müsste ich so schnell wie mir möglich das Land verlassen. Ahrlanden erstreckt sich noch weit hin in alle Himmelsrichtungen, im Westen ist die Grenze am schnellsten überwunden und das Nachbarland über die Meerenge leicht zu erreichen. Der Weg nach Westen erscheint mir also am sichersten und schnellsten.“ Die Frau nickte nachdenklich. „Ja, das leuchtet mir ein... vielleicht sollten wir wirklich auf unseren Vagabunden hören...“ „Bitte“, Rhow senkte das Haupt, „nennt mich Rhow.“ „Rhow? Ein ungewöhnlicher Name...“ „So ungewöhnlich wie Eure Schönheit.“ Der Große stöhnte. „Du liebe Zeit, was für ein Gesülze! Für einen Landstreicher redest du ziemlich hochgestochen, Rhow.“ Rhow sah ihn finster an. „Ich kann auch anders, damit Leute wie du mich auch verstehen... hast du auch einen Namen? Oder hast du zu wenig Grips um ihn dir zu behalten?“ Der Angesprochene überging das und sagte: „Mein Name ist Flint.“ „Pff! Und du machst dich über meinen Namen lustig? Lachhaft!“ Die Frau fuhr sich durch ihre braunen Locken. „Ich bin Irima.“ Rhow zwinkerte ihr zu. „Ein hübscher Name.“ An den Schweigsamen gerichtet fragte er: „Und wie sollen wir dich nennen?“ Der antwortete nicht, sondern ging schweigend weiter, diesmal nach Westen. Rhow kratzte sich kurz am Kopf und eilte ihm hinterher. „Sag mal, kannst du überhaupt sprechen? Nicht? Wie sollen wir dich denn dann ansprechen?“ „Der Stumme wär’ passend!“, sagte Flint. „Oder Narbengesicht. Bogenschütze? Du könntest wenigstens eine kleine Reaktion zeigen!“ „Er ignoriert euch“, seufzte Irima, „das einzig Kluge, was man machen kann, das weiß ich jetzt schon... und nun kommt, wir verschwenden nur unsere Zeit.“ Und so zogen sie als recht ungewöhnliche Gruppe von Stadt zu Stadt. Doch wo sie auch hin kamen und wen sie auch fragten, niemand hatte den Dieb des Schatzes gesehen. Und was die Reise noch erheblich erschwerte, war die Tatsache, dass keiner – nicht einmal die vier selbst – wusste, wie des Königs Schatz eigentlich aussah. Kein Mensch konnte ihnen sagen, nach was sie eigentlich suchten – Gold? Silber? Edelsteine? Jedoch ließen sie sich davon nicht beirren und reisten weiter, auf der Suche nach dem geheimnisvollen Schatz. Lieder: - Der Schatz Kapitel 2: Der Sumpf -------------------- In klaren Vollmondnächten, Hört man das Volk berichten, Gestalten steigen aus dem Moor, Tanzen herum und singen im Chor, Von ihren Schicksalsqualen - Im Turm die Glocken schlagen! Schon nach wenigen Tagen war klar, dass Rhow nicht der einzige war, der ein Auge auf Irima geworfen hatte, auch Flint zeigte deutlich Interesse. Selbst der Schweigsame schien nicht abgeneigt zu sein, was er jedoch nicht so offensichtlich kundtat wie die beiden anderen. Zwischen denen gab es mehr als nur einen unangenehmen Zwischenfall, was Irima stets mit einem genervten Augenrollen kommentierte. So vergingen zwei Wochen, in denen die kleine Gruppe sich immer mehr der Landesgrenze näherte, ohne auch nur einen Hinweis auf den Dieb zu finden. Im Laufe der dritten Woche erreichte ihre Laune den absoluten Tiefpunkt, als sie an den großen Sumpf kamen, der sich kurz vor der Grenze über den Horizont erstreckte. Missmutig stapften sie durch den Morast, sehr darauf bedacht, keinen falschen Schritt zu tun – es könnte ihr letzter sein. Als es gegen Abend zu gefährlich wurde weiterzureisen, suchten sie sich einen Platz, an dem der Boden fest genug war, um Rast zu machen. Nachdem Rhow ein Feuer entzündet hatte, saßen sie schweigend um die knisternden Flammen herum und starrten Löcher in die Luft. Dann, ganz in Gedanken versunken, begann Rhow leise zu singen. „Angst und Dunkel um mich her, weh’ – mir wird das Herz so schwer, dass ich Heim und Weib verlassen musst’, das vergess’ ich nimmermehr! Feuerschein in tiefster Nacht, warten auf den Tag der Schlacht. Trübe Augen unterm Sternenzelt, blicken wie erfror’n und leer, tragen Kunde von der Macht der Welt – Last der Menschen schwarz und schwer! Weit, so weit, wo die Sonne den Morgen grüßt. Weit, so weit, wo die Sehnsucht wohnt. Wo dein Mund mir lacht, bin ich jede Nacht, wenn die Seelen wandern geh’n.“ Als Rhow auffiel, dass er nicht nur in Gedanken, sondern laut gesungen hatte, verstummte er augenblicklich. „Entschuldigt bitte...“, murmelte er und stand auf. Die anderen sahen ihm schweigend nach. Irima schluckte. „Das war... wunderschön...“ „Das... das ist wahr“, stimmte Flint ihr widerwillig zu. Innerlich fluchte er leise, denn auch ihn hatte Rhows traurige Stimme berührt. Schweigend erhob sich der Bogenschütze und blickte stirnrunzelnd in die Richtung, in der Rhow verschwunden war. Dann folgte er ihm. Rhow erschrak, als der Schweigsame ihn hart am Arm packte. Ohne ein Wort zu sagen, aber mit vorwurfsvollem Blick, zog er ihn zurück zu ihrem Lager. „Hey, was soll das?“, versuchte Rhow zu protestieren, doch der Schütze drückte ihn gewaltsam auf seinen Platz am Boden. „Was soll das?“, wiederholte der Vagabund erbost, doch Irima antwortete anstelle des Schützen: „Der Sumpf ist gefährlich! Kennst du denn nicht die Geschichten? Immer wieder versinken hier Menschen.“ Flint nickte und erschauderte. „Ja, und in klaren Vollmondnächten steigen sie aus dem Moor, tanzen und singen und erzählen von ihren Schicksalsqualen! Und dazu schlagen die Glocken der alten, zerfallenen Kirche!“ Rhow lachte laut auf. „Was denn, ein Kerl wie du hat Angst vor Geistern? Das sind doch nur Geschichten, die Eltern ihren Kindern erzählen, damit sie nachts nicht im Sumpf herumlaufen!“ „Das sagst du!“, ereiferte sich Flint. „Aber was ist mit den Menschen, die die Geister gesehen haben?“ Der Landstreicher zuckte mit den Schultern. „Wer weiß? Vielleicht hat ein Säufer sich her verirrt und zur Abwechslung mal keine weißen Mäuse, sondern weiße Frauen gesehen?“ Irima kicherte leise. „Oder die Liebespärchen, die ein kleines Abenteuer suchen... soll’s ja geben.“ Gerade, als Flint ihnen zustimmen wollte, begannen nicht weit von ihnen die alten Glocken zu läuten. Panisch sprang Flint auf und sah sich hektisch um. „Oh nein, jetzt geht es los! Gleich werden die Geister kommen!“ Obwohl Rhow nicht an Geister glaubte, wurde auch er unruhig. Trieb sich etwa jemand in dem baufälligen Gebäude herum? Nur Irima und der Schweigsame blieben gelassen. „Jungs, kriegt euch wieder ein! Es gibt keine Geister!“ „Und wie erklärst du dir das Läuten? Ist das vielleicht der Wind??“, rief Flint aufgebracht. Langsam stand Rhow auf und drehte sich in die Richtung der alten Kirche. „Nein. Aber vielleicht ist es ja unser Dieb.“ „Und wieso um alles in der Welt sollte unser Dieb die Glocken läuten?“, fragte Irima spöttisch. Rhow grinste sie an. „Vielleicht will er mit seinen Kumpanen in Kontakt treten. Was wäre denn wohl besser als Versteck geeignet, als ein baufälliger Turm, um den sich unzählige Gruselgeschichten ranken, dass sogar Männern wie Flint die Knie schlottern? Und wenn dann auch noch die Glocken läuten... wer würde sie da schon suchen?“ Die Frau kratzte sich am Kinn. „Da ist was Wahres dran... vielleicht sollten wir das überprüfen.“ „Was?“, rief Flint voller Panik. „Ihr wollt doch nicht wirklich in diese Ruine, oder?“ Als Antwort dazu schulterte der Schweigsame seinen Bogen und ging voraus. Aus der Nähe betrachtet wirkte das alte Bauwerk sogar noch baufälliger. Die Kirche war vollständig zerstört, einzig der Turm stand noch. Das Mauerwerk war überwuchert von Blattwerk und Sträuchern und lange Risse zogen sich über die kalten Steine. Das hölzerne Tor hing lose in den Angeln und schwankte knirschend im Wind. „Na, dann wollen wir doch mal!“ Mit langsamen Schritten trat Rhow unter dem Torbogen hindurch und stand nun am Fuße einer extrem baufälligen Treppe. Skeptisch musterte er die brüchigen Stufen und meinte: „Also, alles was recht ist, mich kriegen da keine zehn Pferde hoch! Dieses Ding bricht mir sonst unter den Füßen zusammen!“ Irima grinste ihn neckisch an. „Zu schwer, hm? Dann werde ich wohl gehen müssen. Aber erwartet nicht, dass ich dann drei Viertel der Belohnung an euch abtrete!“ Doch bevor sie einen Fuß auf die Stufen setzen konnte, hielt Rhow sie zurück. „Warte! Das ist zu gefährlich! Wenn sie einstürzt, können wir dir nicht mehr helfen!“ „Ich finde es ja süß, dass du dir solche Sorgen um mich machst, aber glaub mir, ich kann wirklich auf mich aufpassen.“ „Vergiss es!“, widersprach Rhow. „Der ganze Turm könnte einstürzen.“ „Hör mal, wie glaubst du denn, ist unser Dieb da rauf gekommen? Siehst du noch einen anderen Weg außer der Treppe?“ Rhow schüttelte den Kopf. „Ich glaube mittlerweile nicht mehr, dass unser Dieb hier ist. Diese Kirche ist zwar als Versteck gut geeignet, aber in den Turm zu steigen wäre glatter Selbstmord.“ „Ha! Und wer läutet jetzt die Glocken?!“, rief Flint triumphierend, bis ihm aufging, dass es ja dann doch die Geister sein mussten und er erschauderte. Doch der Schweigsame deutete grinsend nach oben. Die anderen erkannten, was er ihnen sagen wollte: nicht nur waren im oberen Teil des Turmes einige große Fenster, auch war ein großes Stück der Mauer herausgebrochen, so dass die Glocke im Wind hin und her schwang und ihr unheimliches Läuten verbreitete. „Also doch der Wind… So viel zu deinen Geistern, Flint!“, lachte Irima. Lachend, aber auch enttäuscht über die erneute Pleite, verließen sie das Gemäuer. Flint seufzte. „Jetzt sind wir wieder keinen Schritt weiter gekommen. Wenn das so weitergeht, werden wir diesen verdammten Dieb niemals erwischen.“ Rhow verschränkte die Arme hinter dem Kopf und sagte gelassen: „Nicht so pessimistisch, bitte. Wir finden ihn. Früher oder später. Auch, wenn mir früher lieber wäre als später...“ Der Schweigsame stimmte ihm nickend zu und ging an ihm vorbei. Plötzlich gab der Boden unter ihm nach und er brach mit einem spitzen Schrei ein. Irima und Rhow hatten blitzschnell reagiert und ihn am Arm gepackt, ansonsten wäre er mehrere Meter tief gestürzt. „Gut... festhalten!“, ächzte Rhow und zusammen versuchten sie, den Schützen aus dem Loch zu ziehen, doch erst mit Flints Hilfe schafften sie es. Neugierig blickte Irima in die fast vier Meter tiefe Grube. „Was mag das sein?“ „Eine Gruft“, meinte Rhow. „Dort unten liegen vermutlich die Leichen von denen, die sich ein Grab nicht leisten konnten, oder durften. Ihre toten Körper hat man in diese Grube geworfen und dort verrotten sie nun. Dass die Holzabdeckung irgendwann morsch wird, ist klar.“ Er grinste den Schützen an. „Hast noch mal Glück gehabt. Wäre sicher nicht sonderlich gemütlich da unten gewesen.“ „Danke“, murmelte der Schweigsame und erntete dafür erstaunte Blicke der anderen. „Du... du sprichst! Du kannst also doch reden!“, rief Rhow überrascht. „Wieso hast du bisher den Mund nicht aufgemacht? Ich meine, du hättest uns doch wenigstens deinen Namen verraten können?“ Doch der Schütze hatte offenbar nicht vor, seine bisher gehaltene Tradition des Schweigens ein weiteres Mal zu brechen und machte sich stumm auf den Weg zurück in ihr Lager. Missmutig verzog der Landstreicher die Miene und stemmte die Hände in die Seite. „Wie unhöflich!“ Auch weitere Versuche, den nun wieder Schweigsamen zum Sprechen zu bewegen, scheiterten kläglich und so legten sie sich schließlich zur Ruhe, um wenigstens den letzten Rest der Nacht noch zu rasten. Am frühen Morgen wachten sie mit den ersten warmen Sonnenstrahlen auf und reckten sich verschlafen. „Und, sind dir im Schlaf noch irgendwelche Geister erschienen?“, neckte Irima Flint, der daraufhin ein unverständliches Grummeln von sich gab und beleidigt abzog. Rhow legte seiner Erwählten den Arm um die Schulter. „Endlich allein...“, lachte er und wurde von der jungen Frau unsanft beiseite gestoßen. „Lass den Quatsch!“, knurrte sie. „Schlimm genug, dass du heute Nacht deine Finger nicht bei dir lassen konntest!“ Rhow blinzelte. „Was?“ „Tu nicht so unschuldig, denkst du, ich hab das nicht mitbekommen?“ Der Vagabund hob abwehrend die Hände. „O nein. Nein! Ich hab nichts getan! Das schwöre ich dir, bei allem, was mir heilig ist!!“ „Oh, da kann ich sicherlich was drauf geben. Wie viel ist das Wort eines Landstreichers wohl wert?“ Augenblicklich verfinsterte sich Rhows Miene. „Ach, glaub doch, was du willst!“ Und damit stapfte er wütend davon. Irima fuhr sich durch die langen Haare. „Idiot!“, dachte sie, löschte die Glut und folgte ihm. „Du hast Fräulein Irima belästigt?!“ Flint verpasste Rhow einen harten Stoß vor die Schulter und funkelte ihn kampfeslustig an. Doch Rhow konterte: „Pah, was soll das werden? Schiebst du jetzt deine unkontrollierten Triebe auf mich, oder wie?“ „Was?“, ereiferte sich Flint. „Ich hab sie nicht angerührt!“ „Ja, genauso wenig wie ich!“, rief der Vagabund. „Aber das Wort eines Landstreichers zählt ja nicht!“ „Hey, bist du etwa eingeschnappt?“, fragte der Riese, diesmal sichtlich überrascht. „Nein, wieso?! Ich lass mich nur nicht beschimpfen, schon gar nicht für etwas, das ich nicht getan habe!“ Flint kratzte sich am Kopf. „Aber... dann bleibt ja nur noch... Hey, Narbengesicht! Was fällt dir ein, Fräulein Irima anzufassen?!“ „Cen!“ „Was?!“ „Mein Name ist Cen. Merk ihn dir, du zu groß geratener Affe! Und ich hab mich ihr nicht einmal genähert.“ Mehr sagte er nicht, sondern ging weiter seines Weges. „Aber...“ Die Augen voller Grauen sah Flint zurück zu ihrem Lagerplatz. „Wenn das keiner von uns war... ... ...“ Er schluckte, doch bevor er noch etwas hinzufügen konnte, klopfte Rhow ihm auf die Schulter – was nicht ganz einfach war, bei dem Größenunterschied. „Denk lieber nicht darüber nach. Auf dem Rückweg müssen wir hier nämlich noch mal durch...“ Lieder: - Klagelied - Der Sumpf Kapitel 3: Das Seemannsgrab --------------------------- Man hört Geschichten, Mythen, Sagen, Engelsgleich ihr golden Haar, wüsst' ich nur wo, ich würd' es wagen, zu lauschen dem Gesang - fürwahr! Für einen Kuss von ihren Lippen würde ich alles geben, was ich hab'! Mein Hab und Gut und meine Seele... Nachdem sie den Sumpf hinter sich gelassen hatten, konnten sie am Horizont schon das Meer sehen. „Dann wollen wir doch mal“, meinte Rhow. „Ich schlage vor, dass wir uns dort in dem Fischerdorf ein wenig umhören, ob uns jemand übersetzen kann...“ Und so machten sie sich auf den Weg in das kleine Dorf, das sie von ihrem Standpunkt aus gut sehen konnten. Es dauerte einen halben Tag, bis sie endlich dort ankamen. Sie suchten ein kleines Wirtshaus auf, das nicht besonders teuer war, und bestellten sich etwas zu essen. Dabei unterhielten sie sich, wie sie nun weiter vorgehen würden. „Wir werden wohl oder übel auf einem der Fischerboote anheuern müssen“, stellte Rhow fest, „denn ich bezweifle doch stark, dass wir uns eine Überfahrt als Passagiere leisten können...“ „Und Fräulein Irima?“, fragte Flint. „Soweit ich weiß, sind die alten Seebären nicht sonderlich begeistert vom Thema Frauen an Bord.“ „Wenn ihr glaubt, dass ich hier bleibe, dann habt ihr euch aber geschnitten!“, protestierte die junge Frau und Rhow seufzte. „Wir hätten dich nicht mitnehmen sollen... das gibt nur Probleme.“ „Was? Du spinnst ja! Wo hab ich euch bisher Probleme bereitet?!“ Ohne sie anzusehen, rührte Rhow in seinem Eintopf herum. „Frauen machen immer Probleme, das ist ein ungeschriebenes Gesetz. Und wenn sie uns deinetwegen nicht übersetzen, dann sorge ich dafür, dass du irgendwo angebunden wirst. Durch drei Teilen ist eh besser für uns.“ „Sag mal, was ist eigentlich los mit dir?! Den ganzen Tag schon bist du nur am mäkeln!“ Ohne zu antworten stand Rhow auf, drückte dem Wirt seine letzte Münze in die Hand und verließ das Gasthaus. Verstimmt stützte Irima den Kopf auf die Handflächen. „Was hat der bloß?“ Flint zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich würd’ ihn einfach nicht beachten. Das gibt sich schon wieder. Und keine Sorge“, er zwinkerte, „wenn er versucht, dich irgendwo anzubinden, wird er sein blaues Wunder erleben.“ Die Frau lachte. „Das ist lieb gemeint, Flint, aber ich kann ganz gut auf mich aufpassen. Der alte Stänker würde sich ganz schön umgucken, wenn er sich mit mir anlegen würde.“ Rhow saß am Hafenbecken und blickte auf die ruhige See hinaus. Die Meerenge war hier so schmal, dass man das gegenüberliegende Ufer mit bloßem Auge als dünnen Streifen am Horizont erkennen konnte. „Wie viel ist das Wort eines Landstreichers wohl wert?“ „Tse! Arrogante Zicke!“ „Magst du das Meer?“ Erschrocken drehte der Vagabund sich um. Hinter ihm stand ein alter Fischer, mit schmalen Augen und langem Bart. Mit kratziger Stimme sagte er: „Dein Blick ist voller Sehnsucht und Hoffnung, doch Schmerz umklammert deine Brust. Das alles würdest du gerne hinter dir lassen, nicht wahr? Denn auf dem Meer ist alles vergessen. Dort bist du frei wie ein Vogel und nichts Irdisches kann dich erreichen.“ Rhow starrte den alten Mann entgeistert an. „Was... Ihr... wie...?“ Der Mann lachte leise und ließ sich ächzend neben ihm nieder. Dann blickte auch er hinaus aufs Meer. „Die See ist wunderschön, doch tückisch. Sie kann sich innerhalb von Sekundenbruchteilen von deinem besten Freund in deinen ärgsten Feind verwandeln. Manch einer hat die erdrückende Einsamkeit auf hoher See nicht ertragen.“ „Was wollt Ihr mir sagen?“, fragte Rhow unsicher. Der Fischer lächelte. „Laufe nicht vor deinen Sehnsüchten davon, so wenig wie vor deinen Ängsten. Sonst wirst du einst am Sterbebett liegen und erkennen, dass dein Leben nichts als hohler Schein war. Dass du den Weg deines Lebens ängstlich beschlichen hast und nie wahres Glück sehen konntest.“ Rhow sah auf die weißen Schaumkronen der Wellen hinaus. Was der Fischer sagte, jagte ihm Schauer über den Rücken, denn er wusste, dass er Recht hatte. Er lief davon. Er hatte den Großteil seines Lebens mit nichts anderem vertan als davonzulaufen. Fest blickte er dem alten Mann in die Augen. „Und was schlagt Ihr mir vor? Was soll ich dagegen tun?“ Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte die Lippen des Fischers. „Leb’, mein Sohn. Lebe dein Leben, ehe deine Sehnsucht stirbt. Gib all deine Lebenskraft den Träumen deines Herzens und folge ihnen. Dann wirst du wahres Glück erleben.“ „Fhin!“ Ein junger Mann kam angelaufen. „Da bist du ja. Ich suche dich schon überall!“ Er half dem Alten auf die Beine und sagte an Rhow gewandt: „Ich hoffe, mein Vater hat Euch nicht belästigt?“ „Wie? Oh, nein. Nein, das hat er nicht.“ „Dann bin ich erleichtert. Komm, Fhin, Mutter wartet schon auf uns.“ Rhow sah den beiden noch eine Weile verwirrt hinterher, dann stand er auf und ging zurück zum Gasthaus, wo die anderen auf ihn warteten. Zusammen machten sie sich auf die Suche nach einem Fischer, der sie auf seinem Weg über das Meer mitnehmen konnte. Doch wen sie auch fragten, immer war die Antwort die gleiche: niemand wollte sie übersetzen. Resignierend ließen sie sich am Hafenbecken nieder. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Irima. „Keine Ahnung“, gab Rhow knapp zur Antwort. „Was glaubt ihr, warum wollen sie uns nicht mitnehmen?“, überlegte Flint laut, worauf Rhow nur beiläufig auf Irima deutete. „Ach komm, ja?“, schimpfte die. „Das ist doch Unsinn! Habt ihr nicht die Furcht in ihren Augen gesehen? Es gibt einen anderen Grund.“ Rhow grinste. „Wieso? Eine Frau an Bord bringt Unglück. Ist das nicht genug Grund für Angst?“ Flint beachtete ihn nicht, sondern meinte: „Sie haben Angst vor unsrem Schweigsamen. Ich mein’, bei seinem Gesicht ist das kein Wunder.“ Überraschenderweise war es Cen, der ihm antwortete: „Du musst grad reden, mit deiner Visage. Aber ich glaube, ich weiß, wieso uns niemand übersetzen will.“ Es vergingen einige Sekunden der völligen Stille, in denen die drei anderen sich erst erneut darüber bewusst werden mussten, dass Cen nicht stumm war – von ihrer Überraschung, seine Stimme ein weiteres Mal zu hören, ganz abgesehen – und einige weitere Sekunden, in denen sie das Gesagte verarbeiteten. „Was?“, fragte Irima schließlich. „Du weißt, wieso sie uns nicht mitnehmen wollen? Wieso sagst du es dann nicht gleich?“ Cen überging den vorwurfsvollen Ton schlichtweg und sagte: „Es geht nicht darum, dass sie uns nicht mitnehmen wollen. Sie wollen uns nur nicht ans andere Ufer bringen. Seht ihr die Felsen dort am Horizont? Wenn man nicht aufpasst, zerschellt das Schiff an ihnen. Vermutlich sind dort auch noch besonders starke Strömungen, die das Manövrieren alles andere als einfach machen.“ „Sag mal, woher weißt du das?“, hakte Rhow nach. Mit einem Seufzen antwortete Cen: „Jedes Mal, wenn ihr einen Fischer gefragt habt, hat er panisch den Kopf geschüttelt und zu den Felsen geblickt. Der Rest ist Kombination.“ „Nicht schlecht, aber leider nicht ganz korrekt.“ Erstaunt drehten die vier sich zu einem Mädchen um, das plötzlich hinter ihnen aufgetaucht war. „Was meinst du damit, Kleine?“ „Ihr habt Recht damit, dass die Angst der Fischer bei den Felsen liegt. Aber der Grund ist ein anderer. Auf den Felsen leben die Sirenen.“ „Sirenen?“, fragte Rhow verdutzt. „Ja. Frauen mit goldenen Locken und engelsgleicher Stimme. Sie locken die Männer mit ihrem Gesang an die Felsen und nehmen sie mit in die Tiefe. Niemand wird euch übersetzen.“ Diese niederschmetternde Aussage noch immer in den Ohren, blickten die vier schweigsam aufs Meer hinaus, bis Rhow schließlich einen Stein ins Wasser kickte und laut fluchte. „So ein verdammter Mist! Es kann doch nicht sein, dass wir hier festsitzen wegen ein paar dummen Heulbojen!“ „Unser Problem ist ein bisschen ernster“, meinte Flint, „die Sirenen sind eine schwerwiegendes Hindernis. Ihr Gesang verzaubert die Herzen und vernebelt den Verstand.“ „Typisch für euch Männer!“, ließ sich Irimas verächtliche Stimme hören. „Kaum läuft euch so ein blondes Weibsbild über den Weg, verwandelt ihr euch in sabbernde Vollidioten.“ „Och, manchmal begnügen wir uns auch mit ewig meckernden Brünetten“, sagte Rhow und grinste die junge Frau an, wobei er sie übertrieben auffällig musterte. „Denk nicht einmal dran, klar? Also, was machen wir jetzt?“ Flint zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ohne Boot läuft jedenfalls gar nichts.“ „Dann sollten wir schnellstens eins organisieren.“ Irima ächzte. „Wie stellst du dir das bitte vor?! Du hast vielleicht Erfahrung im Taschendiebstahl, aber so ein Ding kann man nicht mal grad eben in der Tasche verschwinden lassen, mal ganz abgesehen davon, dass ich keine Diebin bin!“ Rhows Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Willst du mir vielleicht irgendwas sagen?“ „Nein, wieso? Fühlst du dich plötzlich angesprochen?“ „Fangt ihr schon wieder an?!“, donnerte Flint. „Könnt ihr eure Energie nicht dafür verwenden, eine Lösung für unser Problem zu finden?!“ „Ich sehe kein Problem“, brach Cen abermals sein Schweigen. „Wir müssen uns doch nur von den Fischern eins ausleihen.“ „Sag mal, hast du nicht aufgepasst? Sie wollen nicht…“ „Ja, sie wollen uns nicht überschiffen. Aber das müssen sie auch nicht, wir müssen uns nur ein Fischerboot suchen, das wir zu viert steuern können. Problem beendet.“ Eine Weile starrten die drei ihren Schweigsamen stumm an, dann klatschte Rhow in die Hände. „Die Idee ist wirklich gut! So machen wir es!“ „Das ist euer Tod.“ Erneut war das Mädchen, das ihnen die Geschichte der Sirenen erzählt hatte, hinter ihnen aufgetaucht. „Sag mal, Kleine, verfolgst du uns?“, fragte Flint leicht verärgert. Das Mädchen antwortete: „Nein, ich verfolge euch nicht, aber wenn ihr euch noch lauter unterhaltet, hört man euch im ganzen Dorf.“ „Und wenn du so schlau bist, Kleine, dann kannst du uns doch sicher sagen, wo wir ein Schiff herkriegen, hm?“ „Aber sicher!“ Stolz stemmte das Mädchen die Hände in die Seite und ein freches Grinsen zierte ihr Gesicht. „Mein Papa hat einen kleinen Fischkutter, den man mit nur sechs Leuten steuern kann.“ Flint legte den Kopf schief. „Kannst du nicht zählen? Wir sind nur zu viert.“ „Mit meinem Papa und mir sind wir sechs.“ „Denkst du nicht, dass dein Vater Besseres zu tun hat, als uns durch die Gegend zu schippern?“, seufzte Rhow, der allein bei dem Gedanken daran, das Mädchen mitzunehmen, schon genervt war. „Außerdem hast du doch eben noch gesagt, dass wir in den Tod fahren, wenn wir uns den Sirenen nähern.“ Das Mädchen grinste noch breiter. „Ja, wenn ihr alleine fahrt, dann schon. Aber mein Papa weiß, wie man die Sirenen bekämpft.“ „Aber –“ „Rhow!“ Irima stieß ihn unsanft in die Seite. „Man könnte meinen, dass du es dir anders überlegt hast! Wieso sollten wir das Angebot nicht annehmen?“ „Sieh sie dir an!“, zischte Rhow ihr zu. „Sie ist noch ein Kind! Ich jedenfalls lege keinen Wert auf die Gesellschaft der kleinen Nervensäge.“ „Du kannst ja hier bleiben, wenn du willst, wir“, sie wandte sich an das Mädchen, „kommen jedenfalls gerne mit. Nicht wahr?“ Als Flint und Cen nickend zustimmten, gab Rhow sich geschlagen. Und so fanden sie sich wenige Minuten später an Bord des kleinen Kutters wieder. Hála, der Vater des kleinen Mädchens, das sich ihnen als Gwen vorgestellt hatte, zeigte ihnen kurz, wie man das Schiff steuerte und dann machten sie sich an die Überfahrt. Je mehr sie sich den unheilvollen Felsen näherten, desto nervöser wurden Flint und Hála. Rhow schmunzelte immer noch darüber, dass ein Kerl wie Flint sich so vor Sagengestalten und Geistern fürchtete. Auch, wenn er natürlich wusste, dass die Sirenen eine ernsthafte Gefahr darstellten. Aber wie Hála ihnen auch schon gesagt hatte, man konnte ihrem Zauber auf eine ganz simple Art und Weise entgegenwirken: mit Watte in den Ohren. „Machst du dir überhaupt keine Sorgen?“, fragte Irima ihn plötzlich. „Was? Nein… nein, nicht wirklich. Wir haben schließlich schon genug Ärger mit einem Weibsbild, wieso sollten wir noch mehr von euch hinterherlaufen?“ Irima verzog wütend das Gesicht. „Ach, du!“ Rhow lachte laut auf, als sie zornigen Schrittes davonstapfte. Dann wurde er ernst. Er konnte schon die ersten sanften Stimmen der Sirenen hören. „Schnell! Steckt euch das in die Ohren!!“ Hastig reichte Hála die Watte an Flint und Cen. Gwen und Irima waren als Frauen glücklicherweise verschont von dem Zauber, so dass sie sich gänzlich auf die Steuerung des Schiffes konzentrieren konnten. „Wo ist Rhow?“ Als Cen stumm zum Schiffsbug deutete, erschrak Irima. „Rhow!! Komm her!“ Doch der Vagabund reagierte nicht. „Verdammt, haben sie ihn schon in ihrem Bann?!“, schrie sie und rannte zu ihm. „RHOW!“ Rhow stand stumm an der Reling und blickte aufs Meer hinaus. „Ist das nicht wunderschön?“ „Rhow, hör nicht hin! Steck dir endlich die Watte in die Ohren!“ „Ihre Stimme… sie klingt wie Melissa…“ „Was? Rhow, du redest wirres Zeug! Jetzt nimm schon die Watte!“ „Schweig endlich, dummes Weib!“, fuhr Rhow sie aufgebracht an und stieß sie von sich. „Was… du verdammter Narr!! Willst du unbedingt sterben?!“ Doch Rhow hörte sie gar nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit galt allein dem wundersamen Gesang der Sirenen, deren Antlitz er schon erblicken konnte. „Du musst etwas tun!“, schrie Gwen ängstlich. „Sie werden ihn mit sich nehmen!“ Irima biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste das, aber was sollte sie denn machen? Der Vagabund war schon völlig in den Bann der Sirenen geraten. Als sie an den Felsen vorbeischipperten, streckten die Sirenen auffordernd ihre Hände nach Rhow aus, der sich daraufhin weit über die Reling beugte. „RHOW!!“ Irimas Schrei erreichte ihn kaum und er meinte leise: „Nur einen Kuss… ich würde alles dafür geben… selbst meine Seele…“ „Verdammt, Rhow! Du wirst dein Leben dafür geben! Wach endlich auf, du Narr!“ „So komm doch…“, lockte eine der blonden Schönheiten und streckte ihre Hand nach der von Rhow. Fast berührten sich ihre Fingerspitzen. „Nur ein bisschen näher…“ „Ja… ein bisschen… ich komme, warte auf mich!“ Irima und Gwen entfuhr ein gemeinschaftlicher Schrei, als Rhow sich über die Reling gleiten ließ, um die Hand der Sirene zu ergreifen. „RHOW!!“ „Nicht so hastig!“ „C-Cen!“ Der Bogenschütze hatte erkannt, dass Irima Rhow nicht zur Vernunft bringen würde und hatte den Vagabunden im letzten Moment an den Kleidern gepackt und wieder an Deck des Schiffes gezerrt. Im selben Moment war auch Flint ihm zu Hilfe gekommen und drückte den Vagabunden gewaltsam auf die Planken. „Verdammter Vagabund… nichts als Ärger hat man mit dir!“ Zusammen mit Cen hielt der Riese Rhow – der sich vergeblich zu befreien versuchte – fest, bis der Klang der Sirenen langsam verstummte. Erst dann sollte der Zauber, der auf dem Vagabunden gelegen hatte, verfliegen. Lieder: - Leb! - Das Seemannsgrab Kapitel 4: Geisterschiff ------------------------ Dann ein Feuer in der Nacht, das Schiff in Flammen - lichterloh! "Seht, es ist erneut erwacht, ein Mahnmal, eine Warnung wohl!" Es leuchtet hell, es leuchtet weit, es ist nicht zu übersehen und kein anderer Kapitän sah seither sein Boot zugrunde gehen. „Hey…“ Irima drehte sich um. „Was machst du hier?“, fragte sie. Langsam stellte Rhow sich neben sie an die Reling und blickte stumm auf die ruhige Oberfläche hinaus. „Ich wollte mich entschuldigen. Für das, was ich gesagt habe…“ „Ach, du meinst das dumme Weib? Schon vergessen, von mir kamen auch nicht nur nette Betitelungen…“ Einige Sekunden schwieg Rhow, dann meinte er: „Danke… Hála hat mir erzählt, dass du versucht hast, mich aufzuhalten…“ Irima lachte leise. „Aber nur halbherzig. Schließlich wärst du trotzdem fast über Bord gegangen… weiß nicht, ob ich dich wirklich bedauert hätte, du wärst es ja schließlich selber schuld gewesen.“ „Ich weiß, ich bin ein Narr. Aber als ich ihre Stimmen gehört habe… es ist einfach über mich gekommen…“ Die Frau neben ihm nickte. Einen Moment lang zögerte sie, dann fragte sie: „Melissa… wer ist sie?“ Rhow zuckte erschrocken zusammen. „Was? Hab ich… hab ich diesen Namen gesagt?“ „Ja… und es klang… als würde sie dir sehr viel bedeuten…“ „Ja… ja, das tut sie…“ Als sie den traurigen Ausdruck in seinen Augen sah, erkannte Irima, dass sie zuviel gesagt hatte und wandte sich zum Gehen. Sie hatte sich erst ein paar Schritte von ihm entfernt, da hörte sie ihn mit sanfter Stimme leise singen. „Die Sonne, die Sterne tragen Kunde von dir, jeder Lufthauch erzählt mir von dir. Jeder Atemzug, jeder Schritt trägt deinen Namen weit mit sich mit...“ Sie schluckte. Wieder dieser traurige Klang, der sie zu Tränen rührte. Ganz in Gedanken blickte Rhow aufs Meer hinaus und bemerkte gar nicht, dass Irima ihn immer noch schweigend beobachtete. Die verschwand schließlich mit einem leisen Seufzen unter Deck und ließ den Vagabunden allein an der Reling stehend in die Ferne starren. Erst spät in der Nacht stieg Rhow unter Deck und legte sich in seine Koje. Ich hab lange nicht mehr an sie gedacht… sehr lange… so lange, dass ich sie schon fast vergessen hatte. Er runzelte die Stirn. Sie ist ihr so verdammt ähnlich… Mist! Zwei Tage später sollte das erst so gute Wetter bedrohlich umschlagen. Schon in den frühen Morgenstunden frischte der Wind auf, die Wellen wurden stärker und das Schiff schaukelte im wilden Wasser hin und her. „Gott… ist mir schlecht…“ Es war schwierig zu sagen, wessen Gesichtsfarbe ungesünder aussah, Flints oder Cens… beide standen weiß wie die sprichwörtliche Wand über die Reling gebeugt, einen grünlichen Schimmer um die Nase, und brachen um die Wette. Hála stemmte sich mit aller Macht gegen das Steuer, während Rhow und Irima alle Mühe damit hatten, die Segel zu bändigen. „Wie kann das bloß in so kurzer Zeit so stürmisch werden?!“, schrie Irima durch das Unwetter. Ihre Haare waren schwer vom Wasser und hingen ihr in Strähnen in die Augen. Auch Rhow konnte kaum etwas sehen durch die blonden Zotteln, die ihm im Gesicht klebten, der dichte Regen tat sein übriges. „Das ist das Meer, es kann sich in Sekundenschnelle von deinem besten Freund in deinen ärgsten Feind verwandeln!“, brüllte er zu ihr zurück. „Du klingst, als hättest du Erfahrung damit! Warst du schon mal auf dem Meer?!“ „Was?!“ „Ob du schon mal auf dem Meer warst!!“ „Ich versteh dich nicht!!“ Irima gab auf. „Ach, vergiss es, nicht so wichtig!!“ In Wahrheit hatte Rhow sie sehr wohl verstanden. Ja, er hatte Erfahrungen mit dem Meer gemacht, doch diese Erfahrungen waren Teil eines Lebensabschnittes, an den er nicht mehr denken wollte. Sie waren zu schmerzvoll, auch wenn sie schon Jahre zurücklagen. „Verdammt, ihr zwei, hört endlich auf zu kotzen und helft uns mal!!“, schrie Hála durch den Wind und klang dabei mehr verzweifelt als wütend. Das Schiff war so konstruiert, dass man es mit nur sechs Mann steuern konnte, doch im Moment waren sie nur zu dritt – Gwen war auf ausdrücklichen Befehl ihres Vaters unter Deck geblieben – und konnten jede helfende Hand gebrauchen. Sie würden sonst mit Mann und Maus untergehen. Mit sichtbarer Überwindung entfernte Cen sich von der Reling und griff nach einem der lose im Sturm flatternden Taue. Es dauerte einige Sekunden und alle Übelkeit war der Anstrengung gewichen, die der Kampf gegen den Wind mit sich brachte, der an den Segeln riss als wollte er sie für sich beanspruchen. „Das hat keinen Sinn!“, schrie Hála. „Es wird die Segel zerfetzen, wir müssen sie einholen!!“ Ein Blick in die Takelage ließ Irimas Herz einen angstvollen Satz machen. „Da hoch?“ Selbst durch den dichten Regen konnte Rhow ihr plötzlich käseweißes Gesicht erkennen und rief: „Flint!! Beweg dich endlich her und hilf und mit den verdammten Segeln!!“ Der Riese bewegte sich schwankend auf ihn zu und ergriff das Tau, das der Vagabund ihm entgegenhielt. „Was soll ich damit?“ „Festhalten!“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren drehte Rhow sich um und begann hoch in die Segel zu klettern. „Ist der verrückt?!“, schrie Flint gegen den Sturm und Irima nickte nur. Kalter Regen peitschte Rhow ins Gesicht, als er sich über einen der Querbalken beugte, um das Hauptsegel einzuholen. Fast hätte der reißende Wind ihn von der Rah geschleudert, doch die Sicherungsleine, die er sich vorsichtshalber um die Taille gebunden hatte, hatte das verhindern können. Mist… wir hätten die Segel schon viel früher bergen müssen… wenn dieser Sturm sie nicht zerfetzt, können wir wirklich von Glück reden!, dachte er bitter. Die eine Hand fest um den Mast geklammert, streckte der Vagabund die andere nach den Segeln aus, in dem Versuch, die Leinen im Alleingang einzuholen – was er natürlich nicht schaffen konnte. „Hála!!“, schrie er gegen den Sturm. „Versuch das verdammte Schiff in den Wind zu stellen, wir werden noch mit dem ganzen verwünschten Kahn kentern!!“ Der Kapitän schrie nur zurück: „Was glaubst du eigentlich, was ich hier die ganze Zeit versuche??“ Rhow schalt sich in Gedanken selbst. Natürlich wusste Hála, was er zu tun hatte – er war ein Fischer und auf dem Wasser groß geworden! Ein Blick, um die Lage an Deck zu peilen, und er rief: „Cen! Lass Irima, hilf Hála!“ Gerade, als Cen diesen Befehl befolgen wollte, brüllte Flint gegen die tosende See: „Was will der schon groß tun, lass mich das machen! Das hier erfordert Muskeln!“ „Nein, Flint, du –“ Im selben Moment, in dem Flint sich mit Hála gegen das Steuer stemmte, erfasste eine scharfe Windböe das Schiff und ein harter Ruck durchfuhr den gesamten Kahn, ehe er sich bedrohlich zur Seite neigte. Doch dank Flints Kraft konnten sie den Bug in den Wind drehen, ehe sie kenterten. „Puh… das war knapp, was Leute?“, ächzte Flint und blickte hoch in die Segel, wo Rhow bis vor wenigen Sekunden noch gewesen war. Der Riese blinzelte überrascht und glaubte schon, einer optischen Täuschung zum Opfer gefallen zu sein, doch Rhow war nicht mehr da. Als ihm das klar wurde, erinnerte er sich an den Schrei, den er im dröhnenden Orkan dumpf vernommen hatte, und einen Augenblick lang setzte sein Herz panisch aus. Doch dann hörte er den Vagabunden schimpfen: „Dieser verdammte Idiot mit seinem erbsengroßen Spatzenhirn! Lässt einfach die Sicherheitsleine los, wie kann man nur so unterbelichtet sein?!“ Erleichtert machte Flint ihn etwa 3 Meter über dem Deck an einer Leine baumelnd aus, die von Irima und Cen gehalten wurde. Irima rief: „Was erwartest du denn, wenn du niemandem sagst, dass das deine Sicherheitsleine ist, du Schwachkopf?!“ Cen nickte nur zustimmend und Rhow zeterte zurück: „Ihr habt’s doch auch geschnallt!“ „Ja, als ich gesehn hab, dass du nach unten und gleichzeitig die Leine nach oben rast! Sei froh, dass Cen und ich so gute Reflexe haben!!“ „Jetzt lasst ihn in Gottes Namen endlich runter und schnappt euch die Schoten“, brüllte Hála verzweifelt gegen den Sturm, „die Segel werden sonst noch völlig zerfetzt!“ Gerade wollte Irima etwas erwidern, als ein leuchtend goldener Schimmer auf den Segeln erschien. Im selben Moment, in dem Rhow ein überraschter Aufschrei entfuhr, ließ Cen mit einem erschrockenen Keuchen die Leine los – was Rhow einen weiteren Schrei entlockte – und zeigte mit vor Schreck geweiteten Augen auf die See unmittelbar vor dem Bug. Nicht weit entfernt von ihnen war plötzlich wie aus dem Nichts ein Schiff aufgetaucht und in Flammen aufgegangen. „Was… was ist da passiert?“, flüsterte Irima alarmiert. „Es muss auf Grund aufgelaufen sein“, stöhnte Rhow, der sich langsam wieder aufrichtete. „Wir müssen endlich aus diesem Sturm raus, sonst ergeht es uns genauso wie diesen armen Seelen da vorne…“ „Aber“, begann Irima, „wollen wir denn nichts tun?“ Rhow musterte sie mit einem traurigen Blick. „Wir können froh sein, wenn wir selbst dieses Unwetter überleben…“ Er packte eins der Taue und sah sie auffordernd an. „Los, bringen wir diesen Kahn ins Trockene!“ Mit vereinten Kräften schafften sie es, die sehr in Mitleidenschaft gezogenen Segel zu raffen und ihren Kurs soweit zu ändern, dass sie nicht wie das andere Schiff auf Grund laufen würden. Dann geschah das Seltsame: so schnell wie es aufgetaucht war, verschwand das unglückliche Schiff auch wieder. „Das ist… unheimlich“, flüsterte Irima, durch den wütenden Sturm kaum vernehmbar. Rhows Blick ging in dieselbe Richtung und er meinte nur: „Die See hat sie einfach verschluckt…“ Ja… Geschichte ist ein unaufhörlicher Kreislauf… früher oder später wiederholt sich alles…Er seufzte leise, doch Irima bemerkte seine Geste und runzelte fragend die Stirn. Irgendetwas war an Rhow, das ihr Kopfzerbrechen bereitete. Ein Geheimnis, eine Geschichte aus seiner Vergangenheit, irgendein Vorfall, der ihm diese traurige Stimme verlieh, wann immer er seine wunderschönen Lieder sang. Irgendwie hatten sie es schließlich geschafft, ihr Schiff aus dem Sturm zu manövrieren und lagen nun im seichten Wasser vor der Küste vor Anker. In der Ferne konnten sie zusehen, wie sich das Gewitter langsam auflöste, die schwarze Wolkendecke aufriss und dahinter der blaue Himmel zum Vorschein kam. Ein Anblick, über den sie sich nicht lange erfreuen konnten, den schon bald zog dichter Nebel auf. Durch die weißen Schwaden hindurch lenkte Rhow ein kleines Beiboot zum Strand, um mit Cen zusammen nach Überlebenden des Schiffunglücks zu suchen. Eine Weile durchstreiften sie die Gegend, doch nicht einmal Spuren zersplitterten Holzes ließen auch nur im kleinsten Ansatz auf ein Unglück schließen, wie sie es wenige Stunden zuvor beobachtet hatten. Fragend sah Rhow zu Cen, doch auch der zuckte nur nichts ahnend mit den Schultern. „Und?“, fragte Irima besorgt, doch die beiden Männer schüttelten nur den Kopf. „Nichts… und ich meine gar nichts. Nicht mal ein Holzsplitter! Als wäre gar nichts passiert! Ich versteh das nicht…“ „Das war das Geisterschiff!“ „Gwen?“ Wie immer war Flint bei der bloßen Erwähnung des „G-Wortes“ erschrocken zusammengezuckt. „Geister…schiff?“ Das Mädchen nickte. „Ja. Vor vielen Jahren haben Piraten ein Schiff hier auf die Klippen gelockt, es ist untergegangen und hat die gesamte Besatzung in die Tiefen der See gezogen.“ Irima hob fragend eine Augenbraue. „Für ein Kind in deinem Alter redest du ganz schön hochgestochen, findest du nicht?“ Gwen streckte ihr frech die Zunge raus und antwortete: „Ich erzähle die Geschichte nur so, wie sie die Fischer im Dorf erzählen.“ Nachdenklich kratzte Rhow sich am Kinn. „Das Geisterschiff…“ „Das war klar“, spöttelte Flint, „du kennst natürlich alle Geistergeschichten, nicht wahr?“ Rhow überging seine Bemerkung und meinte: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich an diesen Ort noch einmal zurückkehren würde…“ „Was?“ Überrascht sahen seine Reisegefährten ihn an. „Du warst schon einmal hier?“ Der Vagabund nickte. „Ja… vor ziemlich langer Zeit… Dass es mich noch einmal hierher verschlagen würde…“ Wieder bemerkte Irima, wie sein Blick in die Ferne wanderte und an einem Punkt verweilte, der für alle anderen unerreichbar war – und vielleicht auch für ihn selbst. „Rhow? Alles… alles in Ordnung?“ „Was?“, schreckte Rhow aus seinen Gedanken auf, ehe er sich wieder fing und lachte. „Oje, da schwelge ich doch tatsächlich in alten Erinnerungen… dabei ist das wirklich schon eine kleine Ewigkeit her… jedenfalls“, er stemmte die Hände in die Seite, „sind wir am Ziel… wir haben das andere Ufer erreicht.“ Flint zuckte zusammen. „Kannst du das nicht anders ausdrücken? Ich hoffe, dass mir noch etwas Zeit bleibt, bevor ich das andere Ufer erreichen werde…“ Der Landstreicher brach in schallendes Gelächter aus. „Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass ein Riese wie du an Geister glaubt!“ Flint packte ihn am Kragen und knurrte: „Wenn du nicht an Geister glaubst, wie erklärst du dir dann das Schiff?“ Rhow seufzte und meinte nur: „Was soll ich dir darauf sagen…? Ehrlich gesagt, ist es mir egal, was uns da heute vor dem Riff gerettet hat… das Ergebnis ist, was zählt.“ Mit einem weiteren Knurren ließ Flint ihn los und stapfte davon. Nachdem Rhow seine Kleider geordnet hatte, wandte er sich an Hála und seine Tochter. „Was macht ihr jetzt? Eure Mannschaft ist weg, wie kommt ihr wieder nach Hause?“ Hála lachte. „Das ist kein Problem… man braucht sechs Leute zum segeln. Aber wir können uns auf dem Heimweg von der Strömung treiben lassen.“ „Und was macht ihr“, warf Irima ein, „wenn ihr wieder in ein Unwetter geratet?“ Der Fischer lächelte sanft. „Ich vertraue darauf, dass wir sicher nach Hause kommen.“ Irima wollte etwas erwidern, doch Cen legte ihr mit einem stummen Kopfschütteln die Hand auf die Schulter und hielt sie davon ab. Lieder: - Dein Anblick - Geisterschiff Kapitel 5: Walpurgisnacht ------------------------- Rundherum ums helle Feuer, rundherum im wilden Tanz, kreisen Körper, Geister, Blicke, berühren sich im Fluge! Schweigend sahen sie zu, wie Hálas Schoner sich von der Küste entfernte. „Ob das eine gute Idee war?“, fragte Irima schuldbewusst. „Hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hast ihn gehört, ich glaube nicht, dass du oder ich oder irgendwer ihm diese Narretei hätte ausreden können. Wir sollten uns lieber endlich auf den Weg machen. Es dämmert bereits, wenn wir nicht am Strand übernachten wollen, sollten wir von hier verschwinden. Es könnte ja sein, dass die Geister uns doch noch heimsuchen“, lachte Rhow mit einem amüsierten Blick auf Flint, ehe er sich zum Gehen wandte. Der Mond stand schon hoch am Himmel, voll und leuchtend, die Welt in silbriges Licht tauchend, und noch immer wanderten die vier durch den dichten Wald, der sich hinter dem Strand über Meilen erstreckte. Sie waren müde und erschöpft, aber sie hatten die Hoffnung, doch noch ein warmes Plätzchen zum Übernachten zu finden, nicht aufgegeben. Noch nicht. Als ein Schrei die Stille der Nacht durchdrang, blieben sie erschrocken stehen. „Was war das?“, fragte Irima zögernd und Rhow witzelte: „Ein Geist vielleicht?“ „Mach keine Scherze, Rhow!“ Beunruhigt blickte Irima sich um. „Hört ihr das auch? Was ist das?“ „Weiß nicht… mein Herz?“, flüsterte Flint leise, woraufhin Rhow den Kopf schüttelte. „Nein… Trommeln. Wo kommt das her?“ Wortlos deutete Cen zum Horizont. Vom Feuerschein erleuchtet glühte der sonst nachtschwarze Himmel vor ihnen wie rotes Blut. „Ein Volksfest vielleicht?“, vermutete Rhow, doch das kurze Zittern seiner Stimme machte deutlich, dass er sich seiner Sache mehr als unsicher war. „Vielleicht… vielleicht aber auch nicht… Was machen wir nun?“ Der Landstreicher hatte sich mittlerweile wieder gefasst und sagte: „Nun, Feuer heißt Wärme und… um ehrlich zu sein, ich friere mir grad was ab…“ „Ts“, machte Flint, „ich dachte, ihr Vagabunden wäret härter im Nehmen…“ „Ich zeig dir gleich, wie –“ „Nicht jetzt, Rhow!“, ging Irima dazwischen und deutete von ihnen weg – Cen hatte sich wortlos auf den Weg gemacht, stumm in Richtung des Feuerscheins. „Hey… Hey , Cen! Warte doch mal! Du kannst doch nicht einfach –“ Der Bogenschütze drehte sich um und schnitt Rhow mit einem einzigen stillen Blick das Wort ab. „Ich glaube nicht an Geister, aber an die wärmende Glut eines Lagerfeuers. Ich werde mich dazugesellen, und wenn der Tod persönlich da hinten seinen tausendeinundachtzigsten Geburtstag feiert.“ Nach einem kurzen Blickaustausch folgten die anderen ihm wortlos. „Ich weiß nicht… irgendwie hab ich ein ungutes Gefühl…“ Es ging stetig steil bergauf, immer auf die Feuersglut zu, und mit jedem Schritt, den sie tat, verstärkte sich dieses ungute Gefühl in ihrem Magen. „Wir sollten da nicht hin…“ Sie wusste, was sie sagte, entsprach nicht ganz dem, was sie fühlte. Insgeheim zog es sie geradezu an diesen Ort und genau das machte ihr Sorgen. Schließlich tat sich vor ihnen eine Lichtung auf und im gleichen Moment, in dem sie aus dem Unterholz getreten waren, hatte Rhow sie alle zurück ins Dickicht gezogen. „Hey, was –“ „Scht!“, zischte er die Frau an. „Du hattest Recht… wir sollten nicht hier sein.“ „Was? Wieso auf einmal?“ „Weil mir gerade klar geworden ist, wovon wir hier grad Zeuge werden… wisst ihr, was heute für ein Tag, besser gesagt, was für eine Nacht heute ist?“ Während Flint und Irima ihn nur fragend musterten, nickte Cen plötzlich mit einem wissenden Blick in den Augen. „Die Nacht der Hexen… Walpurgisnacht.“ Nun war es Flint, der ungläubig eine Augenbraue anhob. „Ihr glaubt nicht an Geister, aber dafür an Hexen??“ Rhow schüttelte den Kopf. „Es gibt keine Hexen, aber es gibt Leute, die daran glauben… und es gibt welche, die sich selbst für jene halten, die von der Obrigkeit in letzter Zeit ziemlich brutal verfolgt werden.“ „Aber… wer würde sich denn so einer Gefahr aussetzen? Freiwillig, meine ich?“, fragte Irima überrascht, doch Rhow meinte nur: „Die da… und wir, wenn wir uns nicht davonmachen…“ Gerade wollten sie aufbrechen, als betörender Gesang erklang. Die Frauen begannen um das große Feuer herumzutanzen und sangen aus voller Kehle: „Rundherum ums helle Feuer, rundherum in wildem Tanz! Kreisen Körper, Geister, Blicke berühren sich im Fluge! Als Wesen der Nacht sind wir gebannt das Tageslicht nie gekannt! Der Zauber soll gebrochen sein, wir sehn uns im Sonnenschein…“ „Männer!“, schnaubte Irima, als sie die Blicke ihrer drei Begleiter sah und wollte sich zum Gehen drehen, als sie plötzlich stockte. War da nicht ein Geräusch gewesen? Doch – jetzt hatte sie es ganz deutlich gehört. „Eh… Männer ?! Ich glaube, es wird Zeit, dass wir verschwinden. Ich befürchte, wir sind nicht mehr allein!“ Im selben Moment, in dem die drei aufschreckten, stürmten etwa ein Dutzend bewaffneter Soldaten auf die Lichtung und trieben die Gruppe auseinander. „Verdammt!“, fluchte Rhow. „Das sind Soldaten des Königs! Wir müssen hier so schnell weg wie nur möglich, wenn die uns kriegen, klagen die uns der Hexerei an! Lauft!! “ Den letzten Teil hatte er geschrieen, als er erkannt hatte, dass sie bemerkt worden waren. Überstürzt hatten sie sich umgedreht und es den anderen Entdeckten gleichgetan, die kopflos in alle Richtungen davonstürmten. „Stehen bleiben, im Namen des Königs!“, riefen die Soldaten ihnen hinterher, drohend ihre Schwerter schwingend. „Klar, als ob!“, knurrte Rhow und beschleunigte seinen Lauf, wobei er sich aus dem Augenwinkel vergewisserte, dass alle seine Kameraden noch in seiner Nähe waren. Außer ihnen hatten auch noch zwei weitere Frauen diesen Weg eingeschlagen und flüchteten nun mit ihnen vor den schreienden Kriegern. Als eine der beiden an einer Wurzel hängen blieb und stolperte, hätte Rhow am liebsten laut aufgeschrieen, da Irima plötzlich umkehrte, um ihr wieder auf die Beine zu helfen. „Irima!! Was machst du denn?!“ Er merkte gar nicht, dass er ebenfalls stehen geblieben war. „Wenn sie sie schnappen, verbrennen sie sie!“, rief Irima zurück, woraufhin Rhow brüllte: „Und wenn sie dich schnappen, verbrennen sie dich mit ihr, verdammt!!“ Hastig bückte Irima sich zu der Frau und versuchte, ihr Fußgelenk von der Ranke zu befreien, in der sie sich verfangen hatte, während die Soldaten immer näher kamen. „Irima!“ Gerade wollte Rhow loslaufen, um ihr zur Hilfe zu kommen, da packte Cen ihn hart am Arm und zog ihn hinter sich her. „Was glaubst du eigentlich, was du da tust?“, schrie Rhow den Bogenschützen an, doch der warf ihm nur einen finsteren Blick zu, in dem Rhow sicherlich die Trauer erkannt hätte, wäre er nicht so wütend über das Verhalten seines Gefährten gewesen. Als dann auch noch Flint seinen Arm ergriff, platzte ihm schier der Kragen. „Du auch noch? Ich dachte, du magst Irima!“ Als er den betrübten Blick in Flints Augen sah, verstummte er. „Das tue ich auch“, antwortete der Riese ihm, „aber wir können jetzt nichts für sie tun… es sind zu viele!“ Rhow ließ sich mittlerweile nicht mehr von den beiden durch den Wald zerren, sondern lief wieder eigenständig. Mit einem Blick über die Schulter konnte er sehen, dass die Soldaten Irima ergriffen – und die andere Frau entkommen konnte. „Diese…!“, schrie Rhow und wollte nun doch wieder umkehren, da schnappte Flint ihn am Kragen und schleppte ihn gewaltsam mit sich. „Du kommst jetzt verdammt noch mal mit!! Wir werden Fräulein Irima retten, verstanden? Aber dafür werden wir wohl deine Hilfe brauchen, also beweg dich endlich !!“ Erst in den frühen Morgenstunden schien sich die Aufregung um die Hexennacht gelegt zu haben und die drei Freunde begannen zu überlegen, wie sie Irima befreien sollten. Dummerweise mussten sie dazu erst einmal in Erfahrung bringen, wohin man sie überhaupt gebracht hatte. In diesem Falle kam ihnen der Zufall zu Hilfe – oder war es Schicksal? „Entschuldigt bitte…“ Wütend sprang Rhow auf, als er die Frau wiedererkannte, wegen der Irima nun der Hexerei angeklagt werden sollte. „Du ?! Du wagst es, mir unter die Augen zu treten?!“ Unter seiner donnernden Stimme zuckte die junge Frau ängstlich zusammen und stammelte: „Ich… ich kann verstehen, dass Ihr wütend seid…“ „Wütend? Wütend? Deinetwegen wurde unsere Gefährtin gefangen genommen!“ „Ich…“, die Stimme der Frau begann merklich zu zittern und Cen legte Rhow beschwichtigend die Hand auf die Schulter, „ich wollte das nicht…“, eine Träne rann über ihre blassen Wangen, „aber ich konnte ihr nicht helfen! Ich bin zu schwach!!“ Jetzt schrie sie, fast schon verzweifelt: „Aber ich kann euch helfen! Ich weiß, wohin man sie gebracht hat!“ Jetzt wurde Rhow hellhörig. „Du weißt, wohin man sie gebracht hat? Wieso sagst du das nicht gleich, Weib?!“ Für diese Bemerkung erntete er einen harten Stoß von Flint und Cen. Der stille Bogenschütze wandte sich an die Frau: „Nehmt es ihm nicht übel… Ihr sagtet, Ihr wisst, wo Fräulein Irima ist? Wisst Ihr auch, wie wir sie befreien können?“ „Ich… ja. Sie haben das alte Kloster in einen Kerker verwandelt… und… es gibt einen Geheimgang, der unter den Mauern verläuft… durch diesen gelangt ihr direkt ins Herz des Klosters…“ Rhow packte seine Sachen. „Zeig uns den Weg.“ „Du willst doch nicht jetzt da rein, oder?“, fragte Flint. „Wäre es nicht besser, bis zur Nacht zu warten?“ Der Vagabund sah ihn fest an. „Du willst Irima einen Tag lang in der Gewalt dieser Männer lassen? Weißt du, was sie ihr antun werden?“ Allein die Vorstellung trieb ihn an den Rand der Verzweiflung. „Nein… ich werde sie nicht im Stich lassen…“ Diesmal nicht… , fügte er in Gedanken hinzu. „Ich sagte doch… es ist besser, die Nacht abzuwarten“, flüsterte Flint, als sie hinter einem Felsen kauernd die Wachen beobachteten, die auf den Mauern des Klosters auf und ab marschierten. „Verdammt!“, zischte Rhow wütend und blicke zu den Büschen vor der Mauer, unter denen sich – laut Aussage der jungen Frau – der Geheimgang befinden musste. Wir können nicht warten! Sie werden… Er atmete tief durch. Ich muss es versuchen! Cen legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihn beschwichtigend an, als hätte er gespürt, was der Vagabund vorhatte. Als Rhow seinen Blick erwiderte, konnte er deutlich fühlen, dass der Bogenschütze genauso angespannt war wie er selbst und seinerseits ebenfalls am liebsten direkt losgestürmt wäre, um ihre Gefährtin zu retten. Doch wie er wusste natürlich auch Rhow, dass es ein sinnloses Unterfangen wäre. Sie wären verhaftet, noch ehe sie den Tunnel erreicht hätten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie mussten warten, bis die Nacht hereinbrach. Lieder: - Walpurgisnacht - Hexentanz Kapitel 6: Die Flucht --------------------- Flieh' durch finstere Gänge, dunkle Gassen! Flieh' durch Wälder und sei frei! Ich komme nach, ich werd' dich finden, und dann bei dir sein! Ungeduldig hatten Rhow und die anderen den Einbruch der Nacht abgewartet und noch ehe der Mond am Himmel stand, waren sie zu dem alten Kloster aufgebrochen. Nun hockten sie im Schatten einer großen Eiche und blickten zu dem altertümlichen Gebäude, dass sich wie ein schwarzes Loch gegen den Horizont abhob. Cen deutete auf die Mauer und Rhow verstand, worauf er hinaus wollte: zwei Wachposten patrouillierten auf den Zinnen. Verbittert knirschte der Landstreicher mit den Zähnen. „Das alles kostet schon wieder Unmengen von Zeit! Wer weiß, was diese Kerle mit ihr anstellen!“ Er weigerte sich, den aufkommenden Vorstellungen nachzugeben und an den Gesichtern seiner Kameraden konnte er erkennen, dass es ihnen ähnlich ging. „Wir brauchen irgendein Ablenkungsmanöver“, brummte Flint und Cen nickte zustimmend. „Ja“, sagte Rhow, „aber wie willst du das anstellen? Ich meine, ohne den beiden Kollegen da oben als Zielscheibe zu dienen?“ Gerade als Flint zu einer Antwort ansetzen wollte, bekamen sie unerwartete Hilfe: auf dem Hügel unweit des Klosters stand eine weiß gekleidete Gestalt – die junge Frau, der Irima das Leben gerettet hatte – und sang mit atemberaubender Stimme ein Lied, so bezaubernd, dass nicht nur die Wachposten für einen Moment ihre Aufgabe vergaßen. Einzig Rhow erkannte den betörenden Gesang als die Chance, die sie brauchten. Er versetzte seinen Kameraden einen harten Stoß und zischte: „Los, das ist die Gelegenheit!“ Sofort hatten auch die beiden anderen wieder einen klaren Kopf und geduckt liefen sie los, immer auf den Geheimgang unter dem Busch zu. „Nun mach schon!“, zischte Flint, worauf Rhow angespannt antwortete: „Die verdammte Falltür klemmt!“ Cen beugte sich vor, um ihm zu helfen, doch in dem Moment gab das Tor mit einem lauten Knirschen nach und alle drei fielen in den dunklen Schacht. „Au… auf die Idee mal zu drücken bist du wohl nicht gekommen?“, brummte Flint, während er sich den Staub von den Kleidern klopfte. „Nein, tut mir Leid“, antwortete Rhow mürrisch, „meine Erfahrungen beschränken sich ausschließlich auf Falltüren mit dem Hinweis bitte ziehen.“ „Noch nie eine Galgenfalltür gesehn?“ „Die Erfahrung ist mir bisher zum Glück komplett erspart geblieben.“ Cen bedeutete ihnen, still zu sein, da sich vor ihnen im Dunkel die Umrisse einer Tür abzeichneten. „Vielleicht haben wir Glück“, flüsterte Flint, „und sie führt uns direkt zu Fräulein Irima.“ Rhow brummte nur: „Bei unserem Glück führt sie direkt ins Wärterzimmer…“ Es war nicht das Wärterzimmer. „Na toll. Die Kanalisation…“, murmelte Flint. „Besser als das Wärterzimmer“, gab Rhow kontra und trat in den stinkenden Tunnel hinein. „Was ist, kommt ihr nun?“ Seine Gefährten folgten ihm schweigend und gemeinsam stapften sie durch die knöcheltiefe, braune Brühe. Im Labyrinth der Gänge kam ihnen Rhows ausgeprägter Orientierungssinn zugute. Geschickt führte er sie ins Zentrum des Klosters, wo der hohe Turm bedrohlich thronte, in dem sich – nach Aussage der „Hexe“ – die der Ketzerei angeklagten Gefangenen befanden. „Wie machst du das bloß?“, fragte Flint beinahe neidisch. „Ich könnte nicht sicher sagen, ob wir nicht im Kreis gelaufen sind…“ „Deshalb“, antwortete Rhow ihm, „habt ihr ja auch mich dabei, damit wir nicht im Kreis laufen. So… wir müssten jetzt etwa unter dem Turm sein, wenn einer von euch eine Möglichkeit sieht, nach oben zu kommen, meldet euch…“ Flint deutete in die Richtung, von der er vermutete, dass sie von dort gekommen waren, und sagte: „Ich glaube, da hinten habe ich eine Leiter gesehen…“ Langsam hob Rhow das Falltor an und blickte durch den schmalen Spalt nach draußen. „Ich denke, wir können rausklettern, ohne gesehen zu werden“, flüsterte er, worauf Flint wisperte: „Wozu auch, bei dem Gestank würde man uns sogar bei völliger Dunkelheit finden…“ „Still jetzt!“, zischte der Vagabund und zog sich durch die Öffnung in den Klosterhof. Vor ihm wuchs der Turm als schwarzer Schatten in die Höhe und Rhows Blick wanderte zu den unzähligen vergitterten Fenstern. Ein Kinderspiel…, dachte er zynisch und seufzte leise. Als Cen den Eingang in die Kanalisation hinter sich verschlossen hatte, hasteten sie geduckt zu dem schweren Eisentor, das in den Turm führte. Kein Wächter war zu sehen, was Rhow ein wenig beunruhigte. Doch nachdem Flint versucht hatte, die Tür zu öffnen, sagte er: „Wozu ein Wächter? Es ist abgeschlossen. Was machen wir jetzt?“ Cen deutete auf eines der erleuchteten Fenster über ihnen. „Tolle Idee, Narbengesicht! Wenn wir in einer verschlossenen Zelle landen, werden wir sicher –“ „Nein, Flint, er hat Recht!“, unterbrach ihn Rhow, mit neu erwachtem Feuer in den Augen. „Sieh doch! Das Fenster ist unvergittert, vermutlich ist es ein Wärterzimmer.“ „Und… das hilft uns wie?“ Der Vagabund grinste ihn an. „Viele Schlüssel und – mit ein wenig Glück – nur ein-zwei Wärter… wir müssen nur schnell genug sein.“ Cen nickte und formte mit den Händen einen Korb, um eine Räuberleiter zu bilden. Rhow stellte sich neben ihn, tat es ihm gleich und sagte zu Flint: „Du bist der Stärkste von uns, du gehst rein und schaltest die Wache aus, bevor sie Alarm schlagen kann, ja?“ Flint runzelte die Stirn und trat mit seinem Fuß in die Stütze, die Rhows Hände bildeten. „Ob das eine gute Idee ist?“ „Es ist die einzige Möglichkeit, die wir haben“, flüsterte der Landstreicher und zusammen mit Cen katapultierte er den Riesen durch das erleuchtete Fenster. Sie hörten einen überraschten Aufschrei, ein dumpfes Geräusch, das Poltern eines umfallenden Stuhles und dann sank Stille über sie. „Hey!“ Erschrocken zuckten sie zusammen, doch dann erkannten sie Flints Gesicht im Fenster. „Kommt ihr jetzt? Fräulein Irima wartet sicher schon!“ Vorsichtig schlichen sie durch die schwach erleuchteten Gänge. Die Luft roch faulig und verbraucht und von den kahlen Wänden hallten ihre Schritte wie Donner wider. „Hast du irgendeinen Plan, wo wir sie suchen sollen?“, fragte Flint so leise er konnte, worauf Rhow den Kopf schüttelte. „Uns bleibt nichts übrig, als in jede Zelle einen Blick zu wagen…“ Flint blieb stehen. „Du scherzt wohl?“ „Ich wünschte, es wäre so…“ Er stoppte. „Vielleicht sollten wir uns aufteilen.“ An der nächsten Ecke trennten sie sich, mit dem Plan, sich so bald wie möglich wieder im Wärterzimmer zu treffen. Rhow stieg langsam die enge Wendeltreppe hoch. Langsam begann er zu verzweifeln, noch immer hatte er Irima nicht gefunden. Vielleicht hatten die anderen mehr Glück…, dachte er hoffnungsvoll, denn in dem Gang vor ihm waren nur mehr vier Zellen. Fast schon halbherzig blickte er durch die kleinen Fenster in den Türen und beinahe hätte er laut aufgeschrieen, als er sie schließlich entdeckte. „Irima!“ Die Brünette sah erschrocken auf. „Wer… Rhow?“ „Warte!“ Der Vagabund schob den schweren Riegel beiseite und stolperte hastig in die Zelle. Als er sie sah, hatte er das Gefühl eine unsichtbare Hand umklammere sein Herz. Ihre Haare waren zerzaust und ihre Augen blutunterlaufen, als hätte sie geweint. Ihre Handgelenke waren von den faserigen Tauen völlig wund gescheuert und auch ihre Knöchel waren zerschunden. Eine rostige Kette war um ihren Hals gelegt und fesselte sie an die kalte Wand. Besorgt kniete Rhow sich neben sie und machte sich an den Schlössern zu schaffen. „Wie geht’s dir? Haben sie… haben sie dir etwas angetan?“ Irima, die den Landstreicher immer noch fast ungläubig anstarrte, fasste sich und schüttelte stumm den Kopf. „Einer hat versucht… er hat versucht…“ Sie schwieg, doch ihr zerrissenes Kleid sprach Bände. Plötzlich jedoch brannte wieder das Feuer in ihren Augen. „Dem ist für ’ne Weile die Lust vergangen!“ Obwohl noch immer der Schock ihres Anblicks seine Gedanken umklammerte, fiel Rhow ein Stein vom Herzen und er lachte leise. „Wie ich dich kenne, wird der Mann die nächsten Wochen nur noch mit Fistelstimme reden können…“ Auch Irima schenkte ihm nun ein Lächeln. „Danke…“ Für einen kurzen Augenblick ließ Rhow von den Fesseln ab, um sie fragend anzusehen, doch dann flüsterte er: „Dachtest du, wir lassen dich hier zurück?“ Auf diese Frage bekam er keine Antwort, doch er glaubte, sie sowieso zu wissen. „Du dachtest, ich lasse dich hier zurück…“ Er schüttelte den Kopf. „Dummkopf…“ Endlich hörte er das vertraute Klicken und das Schloss sprang auf. „Komm her…“ Sie beugte sich etwas vor, damit er ihr die Fesseln abnehmen konnte. „Jetzt nicht bewegen… die Seile sind sehr fest gebunden, ich will dich nicht verletzen, wenn ich sie durchschneide.“ Sehr darauf bedacht, ihr nicht ins Fleisch zu schneiden, löste Rhow die Fesseln und half ihr auf die Beine. Sie zitterte. „Ich… meine Beine sind eingeschlafen…“ Rhow nickte nur verständnisvoll und stützte sie. „Komm, lass uns endlich aus diesem Loch verschwinden…“ Sie waren bis zur Treppe vorgedrungen, da hörten sie von weiter unten Geschrei. „Mist… ich denke, wir wurden entdeckt!“ Ohne weiter nachzudenken, hob er Irima auf die Arme und trug sie mit hastigen Schritten die Stufen herab. Auf halbem Weg zum Wärterzimmer kamen ihm Cen und Flint entgegen. Als sie Irima auf seinem Arm entdeckten, weiteten sich ihre Augen vor Erleichterung. „Du hast sie gefunden!“, rief Flint und schlug gleichzeitig einen ihrer Verfolger nieder. „Flint, nimm du sie! Wenn wir fliehen müssen, bist du sicher schneller als ich!“ Sie flüchteten ins Wärterzimmer und verrammelten die Tür hinter sich. „Los, raus aus dem Fenster!“, schrie Rhow. „Sie werden sicher nicht hier oben auf uns warten!“ Flint stieg zuerst aus der Öffnung und fing, unten angekommen, Irima auf, die zu ihm herab sprang. Rhow und Cen folgten ihnen und gemeinsam stürzten sie zu ihrem Fluchttunnel, als plötzlich lautes Gebell erklang. „Verdammt, sie haben die Hunde losgelassen!“, rief Flint und presste Irima fester an sich. „Sie werden sie nicht kriegen!“ Rhow war stehen geblieben und sah in die Richtung, aus der ihre Verfolger sich ihnen bedrohlich näherten. „Was tust du?“, brüllte der Riese ihn an, doch Rhow winkte nur ab. „Lauft endlich, verdammt! Flieht in die Wälder, dort werden sie euch auf Dauer nicht weiter verfolgen! Ich komme später nach!“ „Und wie willst du uns finden?“, schrie Irima fast verzweifelt, worauf Rhow sie breit angrinste. „Du vergisst wohl, mit wem du hier sprichst… jetzt lauft!“ Und mit diesen Worten lief auch er los, allerdings ihren Angreifern entgegen. „Rhow!!“ Irima versuchte, sich aus Flints Griff zu befreien, doch der packte sie fester und folgte Rhows Befehl. Wir bringen sie in Sicherheit, Rhow… versprochen! Es dämmerte bereits, als die drei im tiefen Wald endlich eine Verschnaufpause einlegten. Fröstelnd legte Irima die Arme um den Körper, doch als Cen ihr seinen Mantel umlegen wollte, schüttelte sie den Kopf. „Mir ist nicht kalt, Cen… ich mache… ich mache mir Sorgen um Rhow.“ Cen sah schweigend zur Seite und auch Flint wich ihrem Blick aus. Wie zuvor Irima hatten sie nun Rhow zurückgelassen. Und nun? Woher sollten sie wissen, ob der Vagabund den Häschern entkommen war? Wie lange sollten sie warten, ehe sie einen Fluchtversuch starteten? „Es ist doch wirklich zum Mäuse melken!“, knurrte Flint und trat einen Stein weg, der klackernd einen Abhang hinunter rollte. „Dieser verdammte Vagabund!“ Irima zog die Knie an den Körper und umschlang sie mit den Armen. Sie wusste, dass Flint es nicht böse meinte, sondern sich genauso Sorgen um ihren Begleiter machte, wie sie selbst, darum sagte sie nichts. Dafür legte Cen ihr nun doch den Mantel um. Erneut wollte sie protestieren, doch Flint sagte: „Fräulein Irima, wenn ich das so sagen darf, du siehst schrecklich aus! Dein Kleid ist völlig zerfetzt und wer immer das getan hat, kann froh sein, wenn ich ihn nicht in die Finger bekomme! Benimm dich einmal wie ein verängstigtes Weib und nimm den verdammten Mantel an. Und dann lasst uns auf Rhow warten und endlich von hier verschwinden.“ Doch sie sollten lange warten. Denn Rhow war die Flucht nicht gelungen. Nun saß er seit fast zwei Tagen in einem der finsteren Kellerlöcher, die die Wachen großzügig Zellen nannten und blickte aus dem kleinen vergitterten Spalt, durch den ein wenig Licht in den Kerker fiel. Dabei waren die Gitterstäbe völlig überflüssig, höchstens eine Maus hätte sich durch das kleine Kellerfenster quetschen können. Tja… das war’s dann wohl mit meinen Abenteuern…, dachte Rhow ein wenig melancholisch. Denn so viel hatte er schon begriffen, dass hier unten all jene eingesperrt waren, die über kurz oder lang den Weg zum Galgen beschreiten würden. Wehmütig dachte der Vagabund an all die Dinge, die er erlebt hatte, und wie immer, wenn er so in Gedanken schwelgte, begann er nach kurzer Zeit leise zu summen und schließlich sogar zu singen: „Ich schwamm mit Wellen auf hoher See, bis an den Horizont. Hab' fremde Menschen und Länder gesehen, jede Stunde hat sich gelohnt. Ich führte das Schwert mit eiserner Hand, irrte im Kriege umher. Habe die Schrecken des Kampfes erkannt, und feierte die Siege noch mehr! Ich habe unzählige Frauen gekannt, eroberte ihre Herzen. Ich hab' so manche Liebe entflammt, verursachte manche Schmerzen. Einmal bin ich den Rittern entfloh'n, zog mit den Piraten, nun sitz ich hier und ahne schon das Ende meiner Gräueltaten. Heh da! Der Henker kommt! Ich grüße euch ihr Brüder! Heh da! Der Henker kommt! Wir sehen uns nie wieder!“ Einiger seiner Zellennachbarn sahen neugierig auf und mehr als einer lauschte Rhows dunkler Stimme gebannt, in der so viel Traurigkeit mitschwang. Selbst einige der Wächter steckten interessiert den Kopf durch das schwere Eisentor, um zu hören, welcher der Todgeweihten noch so viel Unerschrockenheit besaß, sein eigenes Ende zu besingen. Bis schließlich einer von ihnen mit seiner Lanze unwirsch gegen das Gitter klopfte und Rhow anhielt, aufzuhören. Der Vagabund lachte. „Was wollt Ihr mir androhen, guter Mann? Den Tod?“ Einige der Gefangenen brachen in Gelächter aus, was der Wächter mit feindseliger Stimme zum Schweigen brachte. „Ruhe! Und du auch, Strauchdieb! Sonst wirst du mich kennen lernen!“ Rhow jedoch schüttelte nur mit einem mitleidigen Lächeln den Kopf. „Was glaubt Ihr, was Ihr mir noch zeigen könnt? Habt Ihr denn nicht zugehört? Ich war schon fast überall in diesen Landen, habe im Krieg gekämpft, für und gegen den König, habe viel verloren und viel gewonnen. Das einzig unbekannte Abenteuer, das mich noch erwartet, ist der Tod, mein Herr. Ihr könnt mir keine Angst mehr machen.“ Zustimmender Applaus ertönte von einigen besonders mutigen Häftlingen, die anderen brachen in unruhiges Gemurmel aus. Der Wächter schlug hart gegen die Gitterstäbe und versuchte um Ruhe zu kämpfen, doch er schaffte es nicht. Schließlich warf er Rhow einen giftigen Blick zu und knurrte: „Wenn du so abenteuerlustig bist, werde ich dafür sorgen, dass du dein letztes Abenteuer bald hinter dich gebracht hast!“ Wütend stapfte er davon und Rhow folgte ihm mit einem schweigenden Blick. Innerlich war er nicht ganz so ruhig, wie er vorgab zu sein, doch im Grunde hatte er dem Wärter die Wahrheit gesagt. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod. Was er fürchtete, war das Sterben. Der Wächter hatte seine Drohung wahr gemacht, Rhow wurde am nächsten Morgen aus seiner Zelle gezerrt und sollte zum Henker geführt werden. „So viel Arbeit, nur meinetwegen? Ihr seid zu gut, mein Herr.“ „Schweig still, Vagabund!“, knurrte der Wärter und versetzte ihm einen harten Stoß in den Rücken, der ihn einige Schritte nach vorne taumeln ließ. „Dein großes Mundwerk wird dir schon noch vergehen!“ Obwohl die Sonne noch nicht sehr hoch stand, war es angenehm warm und leises Vogelgezwitscher tönte aus den Bäumen, vermischt mit dem Rascheln der Blätter im Wind. Wie friedlich es ist…, dachte Rhow, als er die hölzernen Treppen zum Galgen hinauf schritt. Eine kleine Menschenmenge hatte sich zu seinen Füßen versammelt, die dem Schauspiel beiwohnen wollte, und der Vagabund fühlte sich für einen Augenblick lang zurückversetzt in jene Tage, in denen er die Leute mit seinen Liedern verzaubert hatte. Als der Henker ihm die Schlinge um den Hals legte, schloss Rhow die Augen und ließ die Geräusche der Umwelt auf sich wirken. Die friedlichen Geräusche der Natur, die johlende Menge, ein Priester, der Worte aus der Bibel las, die Rhow nicht kannte, und schließlich das knarrende Holz unter ihm, als der Henker mit schweren Schritten zu dem Hebel schritt, der Rhows Leben beenden würde. Ich bereue nichts…, dachte er und atmete ein letztes Mal die frische Luft ein. Dann wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen und er fiel einen halben Meter, ehe er einen harten Ruck im Nacken verspürte. Ein Ruck, der ihm eigentlich das Genick hätte brechen müssen, es aber nicht tat. Stattdessen spürte Rhow einen mehr als harten Schlag, als er unsanft auf dem Boden unter ihm aufschlug und einige Sekunden benommen liegen blieb. Was war geschehen? Er blinzelte und kämpfte gegen eine aufsteigende Übelkeit an, die ihm der Aufprall auf den Kopf verursacht hatte. Er lag auf dem Boden unter dem Galgengerüst und rieb sich den schmerzenden Hals, um den noch immer die Schlinge lag, die er nach dieser Erkenntnis hastig abstreifte. Ist das Seil gerissen? Doch ein Blick auf das glatt durchtrennte Ende des Taus sagte ihm eindeutig, dass das kein Zufall gewesen war. Über ihm schien derweil die Hölle ausgebrochen zu sein, er hörte Kampfgeschrei und das Kreischen der auseinanderstürzenden Menge und mittendrin vernahm er eindeutig Flints wütendes Fluchen. Flint?? Rhow sah nach oben und plötzlich beugte sich ein Schatten über die Falltür. „Jetzt komm schon hoch, du verdammter Narr!“ Immer noch reichlich verwirrt griff Rhow nach der Hand, die sich ihm entgegenstreckte und ein weiteres Mal wurde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen, als der Riese ihn etwas brutaler als nötig gewesen wäre nach oben zerrte. Vom hellen Licht geblendet brauchte Rhow einige Sekunden, um sich zu sammeln, doch dann sah er einen Pfeil, der im verwitterten Holz des Galgens steckte. „Cen ist auch hier?“ Flint deutete auf einen Punkt irgendwo hinter ihm, wo Rhow den Bogenschützen schließlich nur deshalb ausmachen konnte, weil von der Brüstung immer wieder Pfeile auf ihre Gegner niedergingen. „Los, und jetzt nichts wie weg hier!“ Das ließ sich der Vagabund nicht zweimal sagen und so hasteten sie eilig davon. Lieder: - Die Flucht - Henkersmahlzeit Kapitel 7: Vogelfrei -------------------- Wir sind frei wie die Vögel! Wir sind vogelfrei! Wir ziehen mit ihnen im Winde! Wohin ist einerlei! Man hatte sie nur halbherzig verfolgt, worüber die vier sich natürlich nicht beschwerten, im Gegenteil. Rhow machte sogar mehr als einmal deutlich, dass er etwas in der Art erwartet hatte. „Diese ganze Hexen-Sache ist doch sowieso nur Panikmacherei! Die hohen Herren brauchen nur etwas, womit sie ihr Volk beschäftigen können. Gib den Leuten Feinde und dein eigenes Tun ist ihnen egal. So sagt man doch, oder?“ „So oder so ähnlich“, stimmte Flint ihm zu und schob einige Zweige beiseite, die den Eingang zu einer schmalen Höhle verdeckten – Irima hatte sich dort versteckt und auf sie gewartet. Nun sprang sie auf und fiel Rhow seufzend um den Hals. „Gott sei Dank… sie sind rechtzeitig gekommen.“ Der Vagabund, zunächst reichlich überrascht von ihrem Ausbruch, tätschelte sanft ihren Rücken und meinte: „Was denn, so glücklich, mich zu sehen?“ Irima trat einen Schritt von ihm zurück und musterte ihn mit ernstem Gesicht. „Du hast mir das Leben gerettet! Ein bisschen Dankbarkeit werde ich wohl zeigen dürfen, oder?“ Rhow grinste und sagte: „Sehr gerne.“ Er beugte sich leicht vor und deutete auf seine linke Wange. „Bitte hier hin, ja?“ Als Irima ihn fragend anblinzelte, erklärte Rhow mit gespielter Überraschung: „Ich dachte, ich kriege jetzt einen Kuss?“ Als Antwort versetzte ihm die Frau einen Stoß gegen die Brust und knurrte: „Werd bloß nicht übermütig, so dankbar bin ich dann doch nicht.“ Rhow schnitt eine Grimasse. „Bin ich denn so abstoßend?“ Irima rümpfte die Nase. „Nun, auch, wenn ich natürlich weiß, dass ihr meinetwegen durch die Kanalisation getappt seid, muss ich dennoch eines loswerden… du stinkst ganz erbärmlich.“ Ein schiefes Grinsen huschte über das Gesicht des Vagabunden. „Ja, ein Bad wäre sicher nett… aber –“ Noch bevor er weiterreden konnte, ertönte irgendwo in nicht allzu weiter Ferne ein Hornstoß, der sie alle auffahren ließ. „Vielleicht sind sie doch nicht so halbherzig, wie ich gehofft hatte“, knurrte Rhow, worauf Irima mit nicht halb so viel Überzeugung wie geplant antwortete: „Vielleicht gilt es jemand anderem?“ Flint zuckte mit den Schultern. „Ich für meinen Teil werde nicht hier bleiben, um das herauszufinden…“ Gegen Abend erreichten sie den Rand eines Waldes, der sich über viele Meilen zu erstrecken schien. Rhow versuchte, seine Ausmaße abzuschätzen, doch die dunklen Tannen verloren sich irgendwo am Horizont, so dass er es schließlich aufgab. Als er einen Schritt hinein machen wollte, hielt Flint ihn zurück. „Nicht!“ Der Vagabund rollte genervt mit den Augen. „Bitte nicht schon wieder eine Geistergeschichte, Flint!“ „Nun…“, druckste der Riese rum. „Man erzählt sich so einiges über diesen Wald… irgendwelche namenlosen Schrecken treiben dort ihr Unwesen, es kehrt nie zurück, wer den Wald je betrat!“ Gerade wollte Rhow etwas erwidern, da sagte Irima: „Ich glaube nicht an Geister. Aber dieser Wald… man erzählt sich nicht nur Spukgeschichten über ihn.“ „Räuber“, vermutete Rhow und die Frau nickte. „Nun“, er zuckte mit den Schultern, „uns sieht und riecht man schon auf zehn Meilen gegen den Wind an, dass bei uns nichts zu holen ist. Und dank der Gruselmärchen wird uns in den Wald sehr wahrscheinlich niemand verfolgen. Klingt doch vielversprechend, oder?“ Niemand widersprach ihm, doch Flint war nicht der einzige, der den Wald mit sehr gemischten Gefühlen betrat. Nachdem sie eine knappe halbe Stunde durch den Wald gelaufen waren, bereute es Rhow, dies bei Nacht getan zu haben. Nicht etwa, weil er plötzlich doch an Geister zu glauben begann, sondern aus dem einfachen Grund, dass er schlicht und ergreifend nichts sah. Er fluchte nicht nur innerlich, sondern lautstark, wofür er mehrmals ein wütendes „Scht!“ von Flint erntete. Aber was sollte es noch bringen, leise zu sein? Sie brachen mit solchem Lärm durchs dichte Unterholz, dass jedes Tier im Umkreis von einer Meile aufschrecken und jeder Feind, ob Mensch oder Monster, auf sie aufmerksam werden musste. Gerade wollte der Vagabund einen weiteren Fluch ausstoßen, als Cen unvermittelt stehen blieb und in einer fast befehlenden Geste die Hand hob. Sein Blick irrte unstet umher – Rhow fragte sich, ob er in der Dunkelheit tatsächlich etwas sah – und seine Hand glitt langsam an seinen Bogen. Noch bevor er die Bewegung zu Ende geführt hatte, rauschte ein Pfeil nur Zentimeter an seiner Hand vorbei und bohrte sich mit einem schmatzenden Geräusch in den feuchten Waldboden. Cen verstand die Warnung und ließ den Arm wieder sinken. Rhow fand, dass er erstaunlich gelassen reagierte. Wäre es helllichter Tag gewesen, hätte er jedoch die Anspannung bemerkt, die Cen ins Gesicht geschrieben war; jeder einzelne Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt und er konzentrierte all seine Sinne auf ihre Umgebung. Plötzlich teilte sich vor ihnen das Strauchwerk und ein Mann trat heraus. „Entweder seid ihr besonders mutig, oder besonders dumm, euch bei Nacht in den Wald zu trauen. Vielleicht ja sogar beides?“ Seine Finger glitten in einer sachten Bewegung über die Laute, die er in der Hand hielt, und sanfte Töne durchbrachen die nächtliche Stille. „Jedenfalls“, ein Lächeln breitete sich über seine Lippen aus, „endet eure Reise hier, es sei denn, ihr bezahlt den Wegzoll.“ Rhow trat einen Schritt vor. „Wegzoll, was denkst du –“ Er wurde jäh unterbrochen, denn ein weiterer Pfeil bohrte sich so dicht vor seinem Fuß in den Boden, dass er um ein Haar einen Zeh verloren hätte. Dem steilen Winkel nach zu urteilen, aus dem das Geschoss gekommen war, musste der Schütze über ihnen in den Bäumen sitzen. Wie schon zuvor bei Cen fragte sich Rhow erneut, wie man bei diesen Lichtverhältnissen überhaupt etwas sehen konnte, geschweige denn so gut, wie ihr unsichtbarer Gegner sehen musste um so schießen zu können. Der Barde lachte leise. „Ich würde einfach bezahlen… das war der letzte Warnschuss. Der nächste trifft, das kann ich versichern.“ Flint wollte auffahren, doch Rhow hatte erkannt, dass sie definitiv in der schlechteren Position waren, und sagte: „Und was sollen wir bezahlen, guter Mann? Wir haben nur die Kleider, die wir am Leib tragen, und das schon seit viel zu langer Zeit. Ihr müsstet schon sehr verzweifelt sein, wenn Ihr die haben wollt.“ Der Barde musterte ihn einige Sekunden schweigend, dann antwortete er: „Sehr wohlhabend seht ihr wirklich nicht aus, das muss ich schon gestehen… andererseits…“ Sein Blick huschte abschätzend über Cens Bogen und er fuhr fort: „Das ist ein sehr schönes Stück, das Ihr da habt…“ Die plötzliche Höflichkeit in seiner Stimme war auch ohne das spöttische Glitzern in seinen Augen als blanker Hohn erkennbar und er streckte fordernd die Hand aus. Cen jedoch rührte sich nicht um einen Zentimeter, sondern begnügte sich damit, den Mann finster anzustarren. Der wartete noch einige Sekunden vergebens auf irgendeine Reaktion, dann seufzte er und ließ die Hand sinken. „Ich hatte euch für klüger gehalten… ihr seid…“ Er blinzelte, sichtlich überrascht, und sagte, nachdem er sich wieder gefangen hatte: „Ihr seid eine Frau…“ Nicht nur Rhow brauchte einige Augenblicke, um zu merken, dass seine Worte Irima galten, die er erst jetzt erkannt hatte. Und irgendwie beunruhigten sie ihn. Der Barde lachte und spielte erneut einige Klänge auf seiner Laute. „Nun… da ihr kein Geld bei euch tragt, werden wir uns mit dem Fräulein begnügen.“ Noch während er sprach, hatte Rhow Irima am Handgelenk gepackt und hinter sich gezogen. „Nur über meine Leiche!“, rief er, im selben Augenblick wie Flint, der drohend die Fäuste gehoben hatte. Der Mann schüttelte seufzend den Kopf. „Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“ Ein Pfeil, der sich in Rhows Brust hatte bohren sollen, hämmerte sich stattdessen tief in den Boden, da Cen den Vagabunden mit einem harten Stoß aus der Schusslinie katapultiert hatte und nun seinerseits einen Pfeil in die Sehne einlegte und praktisch in der gleichen Bewegung wieder fliegen ließ. Irgendwo über ihnen erklang ein gequälter Schrei, Sekunden bevor etwas in der Dunkelheit vor ihnen mit einem dumpfen Laut auf dem Boden aufschlug. Rhow, der sich mittlerweile wieder halbwegs aufgerichtet hatte, erkannte überrascht, dass Cen tatsächlich in der Finsternis, die sie umgab, den Schützen gesehen und sogar getroffen hatte. Leider hatte das nicht genügt. Ein zweites Geschoss traf den Bogenschützen wie ein Hammerschlag in die Schulter und Cen wurde von der Wucht des Schlages zurückgeworfen, was ihm gleichzeitig das Leben rettete, denn dort, wo er eben noch gestanden hatte, peitschten gleich zwei weitere Pfeile durch die Luft. „Nicht!“, schrie Irima und wollte zu ihm eilen, doch Rhow zerrte sie gewaltsam zurück und machte seinerseits einen Satz nach vorne, auf den Barden zu. Der Mann hatte nicht einmal die Chance zu reagieren, so schnell hatte der Landstreicher ihn am Arm gepackt und zu Irima und Flint geschleudert. Der Riese verstand, was Rhow vorhatte und hielt den Barden so fest, dass er wie ein lebender Schutzschild zwischen ihnen und dem Schützen stand. „Ihr Narren!“, keuchte der Barde unter Flints Schraubstockgriff. „Ihr seid umzingelt! Ihr werdet diesen Wald nicht mehr leben verlassen!“ „Du aber auch nicht.“ Vier Worte, die den Barden zum Verstummen brachten. Die Tatsache, dass Cen mit gespanntem Bogen vor ihm stand, tat wohl auch ihren Teil dazu. „Stellt das Feuer ein!“ Alle, außer Cen, dessen ungeteilte Aufmerksamkeit dem Barden galt, drehten sich erstaunt um. Aus dem Gebüsch, aus dem zuvor der Barde getreten war, schritt ein weiterer Mann, der einige Jahre älter als sein Vorgänger zu sein schien. „Es ist gut, ihr könnt ihn loslassen.“ Da Cen jedoch keinerlei Anstalten machte, seine Waffe zu senken, ließ auch Flint ihren Gefangenen nicht los, lockerte allerdings seinen Griff ein wenig, so dass der Mann wieder normal atmen konnte. Der andere runzelte die Stirn und stieß einen lauten, an einen Vogelschrei erinnernden Ruf aus. Nur Sekundenbruchteile später hangelte sich ein gutes Dutzend Männer von den umherstehenden Bäumen herab und umzingelte sie. Flint blickte sich unsicher um, doch Cen schüttelte kaum merklich den Kopf. „Zumindest einen nehmen wir mit, was?“, murmelte der Riese leise und diesmal nickte Cen entschlossen. Doch der Mann, der augenscheinlich der Anführer der Räuber war, schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig. Ihr könnt gehen. Richtet dem König aus, dass er dieses Mal gewonnen hat. Aber dafür bezahlt er beim nächsten Mal doppelt.“ Rhow blinzelte überrascht und Irima meinte: „Dem König?“ Der Mann warf ihr einen finsteren Blick zu und meinte dann an Rhow gewandt: „Du hast deinem Weib wohl nicht beigebracht, nicht ungefragt zu sprechen?“ „Ich spreche, wann es mir beliebt!“, fauchte Irima wütend und warf ihm einen Blick aus reinem Gift zu, während Rhow gleichzeitig seufzte: „Ganz davon abgesehen, dass sie nicht mein Weib ist. Gott bewahre…“ Nun richtete die Frau ihren Zorn gegen ihn: „Wenn dem so ist, warum hast du mich dann nicht im Hexenturm gelassen?!“ Der Vagabund rollte mit den Augen. „Hätte ich es bloß getan, dann wäre ich auch nicht um ein Haar gehenkt worden.“ „Nur weil du dich hast schnappen lassen!“ „Hey!“, unterbrach sie der Mann und sah unsicher zwischen den beiden hin und her. „Was soll dieses Theater?“ „Kein Theater“, machte Flint, „sondern bittere Realität, nicht erst, seit wir dieses Land betreten haben…“ Für einen Augenblick glaubte der Riese so etwas wie Verwirrung in seinem Blick zu sehen. „Wollt ihr mir weismachen, der König habe euch nicht geschickt?“ Rhow schüttelte den Kopf. „Wir wollen gar nichts weismachen. Es ist die Wahrheit. Wir sind nicht mal aus diesem Land. Wenn wir dem König unter die Augen treten würden, dann nur auf einem brennenden Scheiterhaufen.“ Der Mann musterte ihn einige Sekunden lang skeptisch, ehe sein Blick wieder über Irima glitt und schließlich erhellte sich seine Miene. „Eine Hexe samt Gefolgschaft! Und vermutlich auch noch unerlaubt im Lande! Seid uns gegrüßt, Brüder!“ Nun war es an Rhow und seinen Kameraden, überrascht und verwirrt zu sein. Die Männer, die ihnen bis vor wenigen Momenten noch nach dem Leben getrachtet hatten, stimmten nun in Freudengeheul aus und steckten ihre Waffen weg. „Folgt mir!“, machte der Räuberanführer mit einer herrischen, doch freundlichen Geste und ging voran. Rhow und die anderen folgten ihm – was hätten sie auch sonst tun sollen? Das Lager der Räuber war größer, als sie erwartet hatten. Es lag versteckt im Herzen des Waldes und die Hütten – die wenigen, die sich am Boden und nicht in den Baumkronen befanden – passten sich perfekt in ihre Umgebung ein, so dass man sie erst auf den zweiten Blick erkannte. Der Mann, der sich ihnen als Salvain vorgestellt hatte, führte sie bis in die Mitte des Lagers, an einen Platz, der als einziger Ort im Versteck auf den ersten Blick als von Menschenhand gemacht zu erkennen war; in seiner Mitte war eine große Feuerstelle aufgebaut und drum herum lagen mehrere Baumstämme als Sitzgelegenheiten. „Adrian wird sich um euren verwundeten Freund kümmern.“ Er nickte dem Barden auffordernd zu und der führte Cen mit einem Stirnrunzeln fort. Flint folgte ihnen mit den Augen. „Ob das eine gute Idee ist?“, raunte er Rhow zu. „Immerhin hat er einen von ihnen vom Himmel geschossen…“ Salvain, der bessere Ohren zu haben schien, als Flint angenommen hatte, antwortete: „Sorgt euch nicht um euren Freund. Tevins Arm ist gebrochen, ansonsten hat euer Schütze ihn ebenso verwundet wie er ihn. Er wird es überleben.“ Er bedeutete ihnen, sich zu setzen, und tat es ihnen gleich. Rhow machte eine ausladende Geste und fragte: „Was ist das hier? Und warum bringst du uns her?“ Salvain antwortete ihm bereitwillig: „Dies ist unser Lager von Geächteten. Und wir bringen euch her, weil ihr genauso seid. Und ihr habt gezeigt, dass ihr kämpfen könnt.“ Als Rhow verstand, worauf er hinauswollte, schüttelte er entschlossen den Kopf. „Ich weiß, was du vorschlagen willst, aber ich muss ablehnen. Wir können nicht hier bleiben.“ Salvain zog eine Grimasse. „Wenn ihr den Wald verlasst, seid ihr des Todes. Nach dem, was ich aus eurem kleinen Streit herausgefunden habe, sucht man euch wegen Ketzerei und noch ein paar anderen Kleinigkeiten. Vermutlich hat man euch längst zum Abschuss freigegeben.“ Irima wandte sich an Flint, der plötzlich erbleicht war: „Was heißt das?“ Doch statt ihm antwortete der Vagabund: „Das heißt, dass wir ab jetzt frei sind wie die Vögel.“ „Vogelfrei…“, hauchte Irima erschrocken und sah auf ihre Hände herab. „Ja“, bestätigte Salvain. „Ihr könnt bei uns bleiben. Wir können immer eine helfende Hand gebrauchen.“ „Und was“, fragte Rhow mit einem spöttischen Unterton in der Stimme, „tut ihr hier? Spielt ihr Robin Hood, nehmt von den Reichen und gebt den Armen?“ Ein breites Grinsen zierte Salvains Gesicht. „Nicht direkt. Wir nehmen vom König und geben uns selbst.“ „Also doch nur Räuberpack!“, schnaubte Irima, was Salvain jedoch nicht weiter beachtete. „Ich habe ein Recht auf die Hälfte von allem, was dem König gehört.“ „Und wieso glaubst du das?“, fragte Flint und Salvains Gesicht wurde wieder ernst. „Weil er mein Zwillingsbruder ist.“ Salvain erzählte ihnen seine Geschichte. Eine Geschichte, die ohne Probleme mit den Märchen der wandernden Minnesänger mithalten konnte. Und doch wieder so wahrscheinlich, dass die Gefährten gar nicht anders konnten, als sie zu glauben. Und selbst, wenn Salvain nicht die Wahrheit erzählte, was änderte das schon? Ob er und der amtierende König nun wirklich bei der Geburt getrennt wurden, oder nicht? Ob das Kräuterweib, das ihn aufgezogen hatte, nun existierte, oder eben nicht? Ob sein Bruder von der Tat seines Vaters wusste und es stillschweigend hinnahm. Oder eben nicht? Es änderte nichts. Ob Salvains Geschichte wahr war, ob er nur glaubte, dass sie es war, oder ob er sie sich ausgedacht hatte, was machte das? Er war ein Geächteter, der sich und eine große Gruppe anderer hier im Wald versteckt hielt, geschützt durch die Waldmär über das Monster, die sie vermutlich selbst in die Welt gesetzt hatten, das war der Kern der Geschichte, der zählte. Und der Kern ihrer Geschichte war jener, dass sie nicht hier bleiben konnten, vogelfrei oder nicht, das spielte keine Rolle. Sie gehörten nicht hierher, weder in diesen Wald, noch in dieses Land und sobald sie ihren Auftrag erfüllt hatten, würden sie wieder in ihre Heimat zurückkehren und ihrer Wege gehen. Und genau das erzählte Rhow auch Salvain. „Ach, hier bist du…“ Rhow sah auf. Nachdem er Salvain von ihrem Auftrag erzählt hatte, hatte der Anführer der Geächteten ihnen die Möglichkeit gegeben, sich zu waschen und ihre Kleider zu wechseln. Danach hatte Rhow sich etwas vom Lager entfernt und saß nun auf einer kleinen Lichtung auf dem feuchten Boden, in den nur hier sichtbaren Sternenhimmel starrend. Irima ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. „Ich hab’ dich gesucht…“, murmelte sie und schloss die Augen. „Ich… ich möchte dich was fragen.“ Als Rhow ihren Blick suchte, sah sie zu Boden. „Ich wollte es schon länger wissen… im Hexenturm… und vorhin im Wald… da hast du dein Leben aufs Spiel gesetzt… nein, eigentlich hattest du es im Hexenturm schon fast für mich hingegeben… warum?“ Nun war es Rhow, der an ihr vorbeiblickte. „Ich…“ Er seufzte. „Ich habe schon einmal jemanden verloren, der mir sehr viel bedeutet hat… noch einmal passiert mir das nicht. Nie mehr.“ Einige Sekunden schwieg sie, dann meinte sie: „Melissa…“ Ein Schatten huschte über Rhows Gesicht und ihre Worte taten ihr schon wieder Leid. „Entschuldige… ich hätte nicht davon anfangen sollen…“ Sie wollte aufstehen, doch Rhow hielt sie zurück. „Nein… nein, es ist schon gut. Das ist lange her.“ Irima setzte sich wieder zu ihm und fragte nach einigem Zögern: „Was… was ist passiert?“ Ein trauriges Lächeln legte sich auf Rhows Gesicht. „Das, was immer passiert, wenn Menschen glücklich sind. Es gab Krieg.“ Wieder einmal suchte sein Blick einen Punkt in der Ferne, der für niemanden außer ihm erreichbar war und erzählte weiter: „Auch, wenn es dich vielleicht wundert… ich habe nicht immer auf der Straße gelebt. Vor zwanzig Jahren besaß ich sogar mal ein richtiges kleines Gutshaus. Ich war verheiratet mit der schönsten Frau der Stadt… vielleicht des Landes. Ich habe sie mehr geliebt als alles andere… dann brach der Krieg aus…“ Er maß sie mit einem kurzen, schätzenden Blick und fuhr fort: „Wenn du so jung bist, wie du aussiehst, hattest du damals vermutlich noch nicht einmal zehn Winter hinter dir… ich zog mit anderen Soldaten los, um unsere Heimat und das Glück, das ich mit ihr verband, zu beschützen. Wir kämpften fünf Jahre lang.“ Mit einem nachdenklichen Ausdruck auf dem Gesicht sah er zum Himmel. „Ich weiß nicht einmal mehr, wer diesen verteufelten Krieg gewonnen hat. Ich war es jedenfalls nicht. Als ich zurückkehrte… hatte ich nichts mehr. Mein Haus war eine Ruine, niedergebrannt bis auf den letzten Stein. Und Melissa… sie war tot. Alles, was mir in meinem Leben etwas bedeutet hatte, war dahin, ausgelöscht als hätte es nie existiert. Eine Weile lang wollte ich nur noch sterben… aber Gevatter Tod war nicht so gnädig, mich zu sich zu holen. Also bin ich weggegangen, habe alles hinter mir gelassen. Aber in letzter Zeit holt mich meine Vergangenheit immer öfter ein.“ Er warf ihr einen langen Blick zu, in dem Irima verschiedenste Gefühle lesen konnte, eines davon war eindeutig Zärtlichkeit. Sie zuckte kaum merklich zusammen, als Rhow ihr sanft über die Wange fuhr, ließ es aber geschehen. „Du bist ihr so ähnlich… so sehr, dass es wehtut. Nicht äußerlich, im Gegenteil. Aber du hast dasselbe Temperament…“ Eine fast greifbare Stille senkte sich über die kleine Lichtung, nur unterbrochen vom Wind, der Irimas Haar zerwühlte und es ihr ins Gesicht wehte. Mit einer zärtlichen Bewegung strich Rhow ihr einige Strähnen aus der Stirn und sah in ihre Augen. Für einen Augenblick war er wie gebannt und etwas in ihm wollte nie wieder gehen. „Lass die Zeit stehen…“, murmelte er, ehe er sich plötzlich vorbeugte und sie küsste. Nicht sehr lange und auch nicht besonders innig und doch löste es in Irima einen solch intensiven Sturm an Gefühlen aus, dass sie fast enttäuscht seufzte, als er sich von ihr löste. Sie schluckte und suchte seinen Blick. „Was… was war das?“, flüsterte sie und Rhow stand mit einem leichten Lächeln auf. Statt ihr eine wirkliche Antwort zu geben, entfernte er sich einige Schritte von ihr und begann leise zu singen. „Ich habe dir ’nen Kuss gestohl’n…“, er drehte sich um und zwinkerte ihr neckisch zu, „du musst schon kommen und ihn dir wiederhol’n…“ Er ging bis zum Rand der Lichtung, hielt sich an einem Baum fest und drehte sich einmal um den Stamm herum. „Hab deine Lippen süß erwischt! Dein Lächeln war einfach verführerisch…“ Er machte mit den Fingern eine lockende Bewegung und lächelte ihr auffordernd zu. „Lass meine Blicke ziellos wandern… du hast zu Hause wohl ’nen andern…“ Sein Blick löste sich von ihrem und er trat mit einem Schritt in die Dunkelheit hinein. „Soll ich, oder soll ich nicht?“ Ohne, dass sie etwas dagegen tun konnte, stand Irima auf und folgte ihm mit langsamen, zögerlichen Schritten. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Finsternis, die jetzt, da der Mond über ihnen schien, nicht mehr so absolut war, wie zuvor, dennoch konnte sie Rhow nur dank seiner Bewegung vor sich ausmachen. Und dank seiner Stimme, denn er sang noch immer. „Die Nacht verrinnt, danke dir für diesen Augenblick. Du musst zurück, nie vergesse ich, und ich habe noch ein Stück von dir ganz tief in meinem Herzen werde ich es bewahren. Auf meinen Lippen noch der Hauch von einem Schluck verbotenen Weines, und ein gar süßes… Geheimnis… Ich habe dir ´nen Kuss gestohlen, Du musst schon kommen und ihn dir wiederholen. Hab´ deine Lippen süß erwischt, Dein Lächeln war einfach verführerisch. Lass meine Blicke ziellos wandern, Du hast zu Hause einen andern –“ „Nein!“ Sie konnte nicht sagen, warum sie wollte, dass er das wusste, doch als sie Rhow eingeholt hatte, packte sie ihn am Arm und drehte ihn zu sich herum. „Ich habe niemanden, der auf mich wartet… nicht mehr. Bitte… geh nicht.“ Die letzten Worte hatte sie kaum noch geflüstert und ihr Blick war dabei unentwegt über Rhows Gesicht gewandert, hatte sich jedes Fältchen, jede Narbe eingeprägt und war schließlich an seinen Lippen hängen geblieben. „Geh nicht…“, wiederholte sie noch einmal und trat einen Schritt näher an ihn heran. Sanft hob Rhow seine Hand an ihre Wangen und zog ihr Gesicht zärtlich an seins heran. „Du willst dir deinen Kuss wohl wiederholen…“, flüsterte er leise und Irimas Reaktion bestand darin, ihn an sich zu ziehen und seine Lippen mit einem innigen Kuss zu verschließen. Als sie sich schließlich wieder zurückzog, um Luft zu holen, sang Rhow leise weiter: „Du hast mir den Kuss gestohl’n… jetzt komme ich, werd’ ich ihn mir wiederhol’n! Lass meine Finger ziellos wandern… du hast zu Hause keinen andern… soll ich, oder soll ich nicht?“ Irima lächelte. „Hör schon auf zu singen und küss mich endlich…“ Lieder: - Zwei Brüder - Vogelfrei - Waldmär - Verbotener Kuss Kapitel 8: Drei Lieder ---------------------- Der Sänger hob hob erneut die Stimme, Stille herrschte um ihn her, jeder lauschte ganz gebannt der zweiten Strophe umso mehr. Es überraschte Rhow nicht, dass Irima mit keinem Wort auf ihre Nacht im Wald einging, als sie am nächsten Morgen ihr weniges Hab und Gut zusammensuchten und alles zum Aufbruch bereit machten. Im Gegenteil, es hätte ihn wirklich überrascht, wenn sich plötzlich etwas zwischen ihnen geändert hätte. Niemand hatte bemerkt, dass sie für fast eine Stunde praktisch spurlos verschwunden waren und Rhow würde den Teufel tun und Cen oder gar Flint über die letzte Nacht ins Vertrauen ziehen. Der Bogenschütze hatte sich erstaunlich gut erholt. Sein linker Arm lag in einer Schlinge und er würde seine Schießkünste wohl eine Weile nicht mehr demonstrieren können. Doch bedachte man, dass der Pfeil seine Schulter durchschlagen hatte und den damit verbundenen Blutverlust… Rhow konnte nicht von sich behaupten, dass er nach einer solchen Verletzung so schnell wieder auf den Beinen gewesen wäre. „Ist soweit alles in Ordnung?“, fragte er mit einem angedeuteten Nicken auf den verletzten Arm, mehr um die Stille zu durchbrechen, die in der Hütte herrschte, die man ihnen als Nachtlager zugeteilt hatte. Cen gab ein schwer zu deutendes Grummeln von sich und nickte dann. „Hm… gut…“, murmelte der Vagabund und packte seine Sachen zusammen, als Salvain den Raum betrat. „Ich habe mich ein wenig umgehört…“, sagte er zögernd. „Ich weiß nicht, ob es eine wirkliche Spur ist, aber… man erzählt sich von einer Frau, die durch die Lande zieht und für jeden eine Fremde ist. Es kann ein Zufall sein – oder euer Dieb ist in Wahrheit eine Diebin.“ Die Gefährten warfen sich einen Blick zu, der zugleich Frage wie Antwort war und sie nickten. Sie würden die Spur aufnehmen, war es doch die erste wirkliche Spur, die sie hatten. Und so brachen sie wenig später auf und verließen den verwunschenen Wald. „Irima!“ Rhow hatte Irima etwas mit sich mitgezogen, während Flint und Cen mit einem fahrenden Händler um Nahrungsmittel feilschten. „Ja?“, fragte die Frau und die Ablehnung in ihrer Stimme überraschte Rhow erneut. Aber es war ihm egal. Sie waren sich nahe gekommen, sehr nah, vielleicht sogar zu nah, und sie hatten nicht ein Wort darüber verloren. Vielleicht war Irima nur dem Zauber des Augenblicks erlegen, doch Rhow spürte deutlich, dass er sich auf etwas eingelassen hatte, das vielleicht zu groß für ihn war. „Letzte Nacht…“ Irima schüttelte den Kopf. „Ist schon in Ordnung. Es war dumm von uns, uns der Romantik des Ortes hinzugeben. Du musst dir keine Gedanken machen.“ Sie lächelte, doch etwas war in diesem Lächeln, das Rhow erstarren ließ. „Keine Verantwortung für dich oder mich, denn es hat mir nichts bedeutet.“ Er hatte sich geirrt. Es hatte sich etwas zwischen ihnen geändert. Nicht nur, dass sich Irima ihm gegenüber noch kälter verhielt als zuvor, nein, er hatte sich verändert. Ihre Worte trafen ihn, bohrten sich in seine Brust und fraßen sich durch sein Herz. Er hätte nie gedacht, dass er noch einmal solchen Schmerz empfinden konnte, doch er war da, bohrend, drückend, und er würde nicht so schnell wieder verschwinden, denn er wurde geboren aus dem, was er für Irima empfand. Gerade wollte sie sich umdrehen und zurück zu den anderen gehen, da packte Rhow sie am Handgelenk und hielt sie fest. „Aber mir! Mir hat es etwas bedeutet. Also lauf jetzt nicht einfach weg!“ Irima riss sich los und funkelte ihn wütend an. „Dir hat es was bedeutet? Das redest du dir vielleicht ein, aber wahr ist es bestimmt nicht. Ihr seid doch alle gleich!“ Ihre Worte irritierten ihn und gleichzeitig weckten sie die Erinnerung an etwas, das Irima letzte Nacht gesagt hatte. „Ich weiß nicht, wer dir wehgetan hat, Irima, und es ist mir auch egal. Ich werde es nicht tun, das schwöre ich, bei Gott!“ Doch Irima schüttelte nur den Kopf. „Doch, Rhow, das wirst du. Du hast es selbst gesagt, nicht wahr? Wir werden in unsre Heimat zurückkehren und jeder von uns wird seiner Wege gehen. Du warst zu lange ein Vagabund, als dass du daran noch etwas ändern könntest.“ Etwas sanfter fügte sie hinzu: „Es tut mir Leid. Ich wollte nicht, dass das passiert und ich wünschte, es wäre anders, aber aus uns beiden wird niemals etwas Festes erwachsen…“ Und damit drehte sie sich endgültig um und ließ Rhow allein zurück. „Und?“, fragte sie Flint, der nur mit den Schultern zuckte. „Wir haben wieder was zu Essen, aber dafür ist unser letztes Geld draufgegangen.“ Irima betrachtete nachdenklich das Bündel, das Flint in der Hand hielt, und fragte: „Ist das alles?“ „Ja… aber wir haben auch eine gute Nachricht.“ Skeptisch legte die Frau den Kopf schief. „Und zwar? Ist das ein Zauberbeutel, der seinen Inhalt magisch vermehrt?“ Flint schüttelte lachend den Kopf, doch bevor er antworten konnte, hielt Cen ihr mit einem breiten Grinsen ein Stück Papier unter die Nase. Es war ein Steckbrief. Ihr Steckbrief, um genau zu sein. Allerdings konnte sie das nur mit sehr, sehr viel Fantasie erkennen. Sie warf Cen einen fragenden Blick zu und der nickte nur stumm. Gleichzeitig zog Flint mit einem noch breiteren Grinsen ein weiteres Blatt hervor und sagte: „Das hat der Händler mir in die Hand gedrückt, mit den Worten, dass ich gut aufpassen soll auf diesen Kerl.“ Irima las, was unter dem mehr als oberflächlichen Bild stand und musste schmunzeln. „Also… du bist ja schon groß, aber drei Meter? Das halte ich für übertrieben.“ Flints Grinsen wurde noch breiter. „Du sagst es. Das Bild von unserem Vagabunden ist auch nicht besser. Obwohl… vielleicht zeigt es ja seine innere Schönheit.“ Rhow, der sich mittlerweile wieder gefangen hatte und näher getreten war, blickte einige Sekunden verwirrt auf das Pergament, das Flint ihm unter die Nase hielt, ehe er die Stirn runzelte und sich mit den Fingern übers Kinn fuhr. „Mal ehrlich, so ein ausgeprägtes Kinn hab ich doch nicht wirklich, oder?“ Flint schüttelte lachend den Kopf. „Nein. Also, bei solchen Bildern ist es wirklich nicht verwunderlich, dass sie so wenig Halunken schnappen.“ Rhow nickte und fragte dann: „Was hab ich da eben gehört, wir sind pleite?“ Flint nickte. „Der Halsabschneider“, er deutete mit dem Kopf in die Richtung, in der der fahrende Händler verschwunden war und sich vermutlich ins Fäustchen lachte über den Gewinn, den er gerade gemacht hatte, „hat schamlos ausgenutzt, dass wir noch Meilen entfernt sind von der nächsten Stadt.“ Der Vagabund nickte verstehend. „Schlaues Kerlchen… dann müssen wir uns in der Stadt eben noch ein wenig Geld verdienen…“ Spöttisch stemmte Irima die Hände in die Seite. „Verdienen? Ich will dir ja nichts unterstellen, aber wie sollen wir uns Geld verdienen? Lass dir eines gesagt sein, ich werde nicht für dich stehlen!“ Rhow funkelte sie wütend an und fragte sich insgeheim einen Moment lang, ob er wirklich etwas für sie empfand, oder das nur auf ihre Ähnlichkeit zu Melissa zurückzuführen war. „Ich habe weder vor zu stehlen, noch zu betteln! Wie wäre es, wenn du dir deine bissigen Kommentare verkneifen würdest, sonst komme ich noch auf die Idee, dich zu verkaufen!“ Irima lächelte höhnisch und lehnte sich an Flint. „Du und welche Armee?“ Der Vagabund ballte die Hände zu Fäusten, wobei seine Knöchel gefährlich knackten, warf Flint einen finsteren Blick zu, der eigentlich Irima galt, und stapfte davon. Tatsächlich brauchten sie fast zwei Tage, bis sie die nächste Stadt erreichten und ihre Vorräte waren schon wieder erschreckend zusammengeschrumpft. Nun standen sie ein wenig ratlos auf dem überfüllten Marktplatz, wo eine Vielzahl verlockender Düfte auf sie einströmte, und Flint fragte mit hängenden Schultern: „Und, was machen wir nun?“ Rhow dagegen grinste und griff in eine seiner unzähligen Taschen. „Lasst mich nur machen…“ Er drängelte sich durch die Massen, bis er schließlich auf der Mitte des Platzes angekommen war, wo er die Stufen zu dem großen Brunnen, der dort stand, hinauf trat und etwas aus seiner Tasche zog, das die anderen nicht erkennen konnten. „Verehrte Herrschaften!“, rief er laut über die Köpfe der Menschen hinweg. „Zu Euer aller Vergnügen, lauscht meinen Worten, denn ich erzähle Euch eine Geschichte aus alter Zeit. Die Geschichte der letzten Tröte!“ Und damit legte er die Schalmei an die Lippen und begann zu spielen. „Dem Volke die Musik verwehren! sprach der König voller Wut. Stattdessen in stiller Andacht ehren seinen Stolz und seinen Mut. So sprach es sich herum im Land, die Schergen waren brutal und roh und jedes Instrument, das man fand, brannte schon bald lichterloh.“ Die ersten Menschen drehten sich zu ihm um und hörten ihm interessiert zu. Irima konnte nicht sagen, woran es lag; vielleicht interessierte sie tatsächlich die Geschichte, die Rhow mit seinem Lied erzählte, vielleicht waren sie auch nur neugierig, welcher Mann sich da zum Narren machte. Oder sie waren einfach fasziniert von seiner Stimme, so wie sie. Rhow ging derweil voll in seiner Rolle als verfolgter Trötenspieler auf, duckte sich in den Schatten des Brunnens, sah sich verstohlen um und raunte seinem Publikum, das immer größer wurde, zu: „Doch meine Tröte fand man nicht. Ich stand da, spielte meine Lieder. Die Leute scharten sich um mich. Wir zogen los, holten sie uns wieder!“ Und bald hatte er eine solche Menschenmenge um sich versammelt, dass die drei Gefährten ihn kaum noch sehen konnten. Und diese Menge war so von Rhows Spiel mitgerissen, dass sie irgendwann lauthals mit ihm mitsangen: „Ohh, wie sollen wir von wahren Helden singen? Ohh, mit Wein und Weib die Nacht verbringen? Ohh, im Burghof herrscht Revolution! Ohh, man hat uns die Musik gestohlen!“ Als der Vagabund schließlich sein Spiel beendete und sich atemlos verbeugte, schallte donnernder Applaus über den Platz und nicht wenige riefen nach mehr. Rhow lachte und rief über die Menge: „Wer mich heute Abend im hiesigen Gasthaus zu einem Bier einlädt, bekommt eine Zugabe, versprochen!“ Und damit drängte er sich durch die Massen, schob Irima, Flint und Cen mehr oder weniger unauffällig vor sich her und verschwand mit ihnen in einer der zahllosen Nebenstraßen. Lachend zog er einen kleinen Sack hervor und warf ihn Irima vor die Füße. „Bitte, Fräulein, ehrlich verdientes Geld!“ Die Frau starrte perplex auf die Münzen zu ihren Füßen und sah dann wieder ihn an. „So viel…?“ Rhow zuckte nur triumphierend grinsend mit den Schultern. „Gekonnt ist eben gekonnt.“ Cen fragte, fast mehr an sich selbst gewandt: „Wo hast du so singen gelernt…“ „Ich sagte es schon zu Irima: ich war nicht immer ein Streuner. Ihr werdet es vielleicht nicht glauben, aber ich habe schon für Könige gesungen.“ Überraschtes Schweigen senkte sich über die kleine Gruppe und Rhow blies sich mit einem Schnauben eine Strähne aus dem Gesicht. „Das habt ihr nicht erwartet, was? Ich könnte euch Geschichten erzählen… aber ihr bezahlt vermutlich nicht so gut wie die Menge da draußen… also werdet ihr euch bis heute Abend gedulden müssen.“ Als sie am Abend das Gasthaus betraten, herrschte dort reges Treiben – man hatte Rhow tatsächlich erwartet. Breit grinsend hob der Vagabund zur Beschwichtigung die Hände, als er sofort mit freudigen Zurufen begrüßt wurde. „Nur die Ruhe! Ich sagte doch, jeder, der mich auf ein Bier einlädt, kriegt von mir eine Zugabe.“ Augenblicklich winkten mindestens ein Dutzend Menschen mit Münzen und Rhow ließ sich lachend in ihrer Mitte nieder. Er hielt Wort. Die Bierkrüge auf dem Tisch vor ihm häuften sich und für jeden sang er ein weiteres Lied, obwohl er lange nicht jeden trank, sondern – großzügig wie er nun einmal war – mit seinen Kameraden teilte. Und während die tranken, sang Rhow. Er sang von ihrer Reise, ihren Abenteuern, vom verfluchten Sumpf, den Sirenen, vom Geisterschiff. Die Leute lauschten fasziniert und seine Kameraden waren so gebannt, als hörten sie zum ersten Mal von den Dingen, von denen Rhows Lieder handelten. Irima ließ den Bierkrug sinken, als Rhow von der brennenden Erscheinung des Geisterschiffes sang. Ihr fiel auf, dass seine Geschichte von dem abwich, was sie tatsächlich erlebt hatten, und sie stutzte. Erst dachte sie, der Vagabund hätte einige Details verändert, um es spannender für seine Zuhörer zu gestalten, doch dann merkte sie, dass er ein völlig anderes Erlebnis erzählte! Oder bildete sie sich das etwa nur ein? Nein, es war keine Einbildung, das wurde ihr klar, als sie in Cens Gesicht blickte. Er hatte es auch erkannt: Rhow hatte das Geisterschiff nicht zum ersten Mal gesehen. Doch der Vagabund gab ihr keine Möglichkeit, darauf einzugehen, denn die Menschen im Wirtshaus verlangten nach mehr und Rhow lachte: „Ruhig Blut! Ihr werdet erfahren, wie die Geschichte weitergeht!“ Mittlerweile hatten sich sogar einige Musikanten eingefunden, die ihn musikalisch begleiteten, und die Menschen drängten sich auf der Straße zusammen, um dem Vagabunden zuzuhören. Und er sang und trank, darauf bedacht, dass ihm die Zunge nicht schwer wurde vom Alkohol. Im Gegensatz zu Flint, der inzwischen so viele der Krüge gelehrt hatte, dass er bereits aus vollem Halse in Rhows Gesang einstimmte. Und auch Irima tat sich gütlich an all dem Bier, ebenso wie die anderen Gäste, so dass eine ausgelassene Stimmung in der Stube herrschte. Der Wirt kam kaum hinterher mit Nachschenken und Cen konnte deutlich sehen, wie er Rhow dankbare, aber auch berechnende Blicke zuwarf. Vermutlich machte er heute den größten Gewinn seines Lebens. Seufzend ließ sich Rhow in den Stuhl sinken. „Ihr seid unersättlich, ihr lieben Leute.“ Irgendjemand hatte ihm ein Essen spendiert und augenblicklich setzte er sich wieder auf. „Unersättlich und spendabel, das muss man euch lassen. Also gut! Heizen wir die Stimmung noch ein wenig an!“ Er kämpfte sich durch die Menge zu den Musikanten, erleichterte einen von ihnen um seine Laute und begann darauf zu spielen. Er genoss die Aufmerksamkeit der Leute und ihr freudiges Johlen. Es war lange her, dass er vor einem solch ausgelassenen Publikum gespielt hatte. Und so begann er aus vollem Hals zu singen: „Losgelöst und ohne Sorgen, kein Gedanke an den Morgen, wollen wir heut' zusammen sein und an Wein und Bier uns erfreuen. Der Tisch soll reich bedeckt heut sein. Am Spieß, da schmort ein ganzes Schwein und wir halten hoch die Krüge, des Trinkens werden wir nicht müde. Zur Freude soll Musik erklingen, wer noch kann soll dazu singen. Und wenn nicht zu voll der Ranzen, fröhlich auf den Tischen tanzen. Es fließt der Wein, es fließt das Bier. Hoch die Krüge, trinken wir!“ Und die Menschen folgten fröhlich dem Beispiel seines Liedes und tranken und sangen, lachten und tanzten und tranken noch mehr. Und Rhow fuhr fort, inspiriert von Irima, die mit roten Wangen vor dem Musikantenpodest tanzte: „Auf dem Schoß ein schönes Weib und du berührst den zarten Leib. Schaust sie an mit tiefem Blick und willst nie mehr nach Haus zurück.“ Wie überrascht er war, als die Brünette auf einmal zu ihm auf die Bühne stieg, grinsend an ihrem Bier nippte und schließlich ebenfalls zu singen begann, erst leiser und etwas zögerlich, doch dann lauter und kräftiger: „Neben dir ein schöner Mann, nimmt dich sachte bei der Hand. Preist dich deiner Schönheit wegen, will dir die Welt zu Füßen legen.“ Rhow lachte, legte die Laute beiseite und zog Irima an sich heran. Sie war beschwipst, das sah und hörte man, doch sie machte keinerlei Anstalten den Krug aus der Hand zu geben, während sie sich mit der anderen Hand bei Rhow einhakte und mit ihm im Takt der Musik zu wippen begann. Und so sangen beide das Lied weiter, und nach und nach stimmten immer mehr der Gäste mit ein: „Zur Freude soll Musik erklingen, wer noch kann soll dazu singen. Und wenn nicht zu voll der Ranzen, fröhlich auf den Tischen tanzen. Es fließt der Wein, es fließt das Bier. Hoch die Krüge, trinken wir!“ Der Abend flog dahin und selbst, als es schon auf Mitternacht zuging, waren noch gut zwei Dutzend Leute im Gasthaus und feierten. Flint lag quer über einem der Tische und schnarchte dort vor sich hin, nachdem er in einem Zweikampf sein Gegenüber unter den Tisch gesoffen hatte. Cen bemühte sich noch immer, sich vor zwei betrunkenen Frauenzimmern zu retten, und Irima versuchte irgendwie, den schmalen Grad zwischen Tanzen und Torkeln zu Gunsten des Tanzens zu verlassen – was ihr nicht leicht fiel, ob der Mengen an Alkohol, die sie mittlerweile intus hatte. Selbst Rhow hatte inzwischen genug getrunken, um den Einfluss des Alkohols zu spüren. Zwar lange nicht genug, um wie Irima zu schwanken, nicht einmal genug, um zu lallen, doch er merkte, dass seine Zunge langsam schwer wurde und es ihm immer schwerer fiel, seine Gedanken zu ordnen. Er stand auf. „Liebe Leute! Es ist schon spät, und wenn ich ehrlich sein soll“, er räusperte sich, „verlässt mich meine Stimme langsam. Ich denke, es wird Zeit, mein letztes Lied anzustimmen.“ Er ließ sich wieder auf den Stuhl zurücksinken, betrachtete einen Moment lang nachdenklich die Laute in seiner Hand, ehe er es sich dann doch anders überlegte und sie ihrem eigentlichen Besitzer zurückgab. Er sann darüber nach, welches Lied er zum Abschluss singen sollte. Irima ließ sich mit einem Seufzen auf seinen Schoß fallen. „So nachdenklich?“ Rhow musste schmunzeln, als er sie hörte. Ihre sonst klare Stimme war träge und wankte genau wie ihre reizende Besitzerin, die nun die Arme um Rhows Schultern legte und ihm zuflüsterte: „Willst du nicht etwas über mich singen?“ Er lächelte. Warum eigentlich nicht? Einen Moment lang schloss er die Augen und lauschte in sich hinein, dann umfasste er sanft ihre Hand und begann mit leiser Stimme zu singen: „Komm her und lausche meiner Stimme, ich habe dir was zu erklär'n, hörst du das Herz in meiner Brust, pass auf, ich habe dich gern...“ Im selben Moment, in dem er ihre Hand auf seine Brust legte, begannen die Musikanten seinen Gesang mit leiser Musik zu untermalen. Irima schluckte und lauschte gebannt seinen Worten. „Weiß nicht genau, wann es passierte, ein unbeschreiblicher Moment. Ich sah dich an und in mir rührte sich ein Gefühl das brennt... Hielt mich fortan in deiner Nähe, war stets bei dir wenn Unheil droht. Verscheuchte Schatten und Probleme, hielt Wacht bis ins Morgenrot.“ Die zwei Frauen, die bis dahin Cen belagert hatten, sahen nun mit einem leisen Seufzen und verliebt verklärtem Blick zu Rhow. Cen, der als einziger der Gruppe noch nüchtern war, hob skeptisch die Augenbrauen. Was waren denn das für neue Töne zwischen den beiden? „So ging es über viele Jahre, in mir der Sturm schon schmerzhaft tobt. Schließ dich im Traum in meine Arme, während ich dir Treue gelob'.“ Ein unsicheres Zittern mischte sch mit Rhows Stimme, als er Irima ansah. Seine Hand tastete nach der Kordel, die um seinen Hals hing, zog den kleinen Beutel unter seinem Hemd hervor und dachte noch einmal über seine folgenden Worte nach. Er hatte sie in seinem Leben schon einmal benutzt und einen Augenblick lang kam es ihm falsch vor, wie ein Betrug an Melissa, wenn er sie nun erneut aussprach. Doch dann öffnete er mit bebenden Fingern das kleine Täschchen und holte seinen teuersten Schatz hervor. „Sieh, du Schöne was ich habe… Willst du diesen Ring von mir? Streif ihn über und dann sage: Ja, fortan gehör’ ich dir!“ Irima schlug die Hände vor den Mund und starrte Rhow einige Sekunden lang aus weit aufgerissenen Augen an, ehe sie mit einem sanften Lächeln zögerlich nickte. „Ja…“ Ein Jubeln ging durch die noch verbliebenen Gäste und auch der Wirt klatschte begeistert Beifall. „Das ist ein Grund zum Feiern!“ Er hob auffordernd die Arme. „Leute, diese Nacht schließe ich nicht! Trinkt! Die nächste Runde geht auf mich!“ Lieder: - Die letzte Tröte - Trinklied - Willst du? Kapitel 9: Königin ------------------ Weiß wie Schnee und rot wie Blut ihre Haut, die Lippen sind. Schwarz wie Ebenholz das Haar, so wie's beim Kind im Märchen war. Rhow erwachte am nächsten Tag mit dröhnendem Schädel, weil ihn jemand beharrlich in die Seite knuffte. „Steh auf!“, hörte er Flints Stimme wie durch einen dichten Nebel. „Na los!“ „Lass mich“, brummte Rhow und drehte sich auf die andere Seite. Der Riese schnaufte leise, versetzte ihm einen Tritt in den Allerwertesten und rief: „Jetzt steh endlich auf, du alte Saufnase!“ Missmutig öffnete der Vagabund die Augen und knurrte: „Saufnase? Heute schon mal deine Fahne gerochen?“ Flint lachte laut auf. „Die ist bestimmt nicht schlimmer als deine. Was hab ich gestern noch verpasst? Bevor meine Erinnerungen im Nebel versinken, warst du noch recht nüchtern, meine ich…“ Rhow fuhr sich durch die Haare, während er ungeniert gähnte. „Keine Ahnung… gab wohl Grund zum Feiern…“ Cen beobachtete ihn mit einem skeptischen Stirnrunzeln. Die Euphorie des vorherigen Abends hatte den Vagabund letztendlich doch erfasst und er hatte sich genau wie Irima vollends die Kante gegeben, wie es so schön hieß. Der Schütze seufzte. Bei Rhows letztem Lied hatte er schon fast geglaubt, die Beiden hätten einander endlich ihre wahren Gefühle offenbart. Denn dass sie einander wollten, stand für Cen außer Frage. Doch zu viel Glück, beziehungsweise daraus resultierend übertriebenes Feiern war eben noch nie die beste Idee gewesen und so erinnerte an Rhows letztes Lied nur noch der zweite Ring, den Irima nun an ihrem Finger trug und den sie bisher noch nicht einmal bemerkt hatte. Flint zog Rhow auf die Füße und klopfte ihm so fest auf die Schulter, dass der Vagabund beinahe wieder zu Boden gegangen wäre. „Ich hoffe, du hast deinen Rausch ausgeschlafen, wir haben schließlich noch einen weiten Weg vor uns!“ Als Rhow ihm einen fragenden Blick zuwarf, antwortete der Riese nur: „Unsere Diebin, schon vergessen? Während du gepennt hast“, er kratzte sich kurz am Hinterkopf, als er das Stirnrunzeln auf Rhows Gesicht sah, „während wir gepennt haben, hat unser Bogenschütze sich noch mal ein wenig umgehört… die fremde Frau soll hier durchgekommen sein.“ Da wurde der Vagabund hellhörig. „Tatsächlich? Dann sollten wir ein paar Vorräte zusammensuchen und –“ „Zu spät, wie immer.“ Mit gewohnt hochmütigem Blick trat Irima heran, fuhr sich durch die braunen Locken, die im Licht fast kupferfarben schimmerten, und meinte: „Der Wirt hat uns Vorräte für eine ganze Weile eingepackt… deine Vorstellung und sein damit verbundener Verdienst hat ihn äußerst großzügig werden lassen.“ Wie um ihre Worte zu unterstreichen warf sich Cen breit grinsend einen ganzen Sack mit Lebensmitteln über die Schulter. Rhow blinzelte einen Moment lang überrascht, dann lachte er auf. „Schön. Verhungern werden wir also nicht. Das ist doch wenigstens mal eine gute Nachricht am Morgen.“ Mit einem donnernden Lachen schob Flint ihn ans Fenster. „Sieh hinaus und weine. Es ist nach Mittag.“ Rhow schnitt eine Grimasse. „Es hat wohl niemand von euch für besonders wichtig gehalten, mich zu wecken, wie?“ Als Antwort erhielt er nur ein weiteres breites Grinsen seiner Kameraden. Sie brachen so bald wie möglich auf, weiter nach Westen, der vagen Spur ihrer geheimnisvollen Diebin folgend. Die Fremde fiel auf, soviel war sicher, denn in jedem Dorf erinnerte man sich an sie. Das Haar schwarz wie Ebenholz, eine zarte, blasse Haut und Lippen rot wie Blut, genau wie eine Prinzessin im Märchen, so beschrieben die Menschen sie. Die vier Reisenden fragten sich bald, ob die geheimnisvolle Frau nicht nur das Ergebnis der Fantasie vieler Bauern war. Konnte ein Mensch wirklich so schön sein, wie die Leute behaupteten? Sie sollten bald die Wahrheit erfahren, denn nach drei Tagen Wanderung hörten sie von einem fahrenden Händler, dass die Fremde im nächsten Dorf Rast machte. Die Vier tauschten aufgeregte Blicke aus, bedankten sich hastig und machten sich eiligen Schrittes auf den Weg dorthin. Als sie schließlich im hiesigen Gasthof nach der Frau fragten, wurden sie erneut enttäuscht – sie hatten sie knapp verpasst. Rhow hätte am liebsten laut aufgeheult vor Wut und Enttäuschung, da sagte der Wirt: „Sie ist erst vor etwa einer halben Stunde aufgebrochen. Weit kann sie noch nicht sein.“ Er deutete der bereits untergehenden Sonne entgegen. „Sie verließ das Dorf in dieser Richtung. Wenn ihr euch beeilt, holt ihr sie vielleicht noch ein?“ „Ist sie hier gewesen?“, fragte Irima mit einem skeptischen Blick auf den Vagabunden, der am Boden kniete und scheinbar sinnlos mit den Fingerspitzen durch den Staub fuhr. Er stand auf. „Zumindest ist diese Spur noch nicht allzu alt. Beeilen wir uns.“ Die Sonne berührte bereits die oberen Gipfel der weiten Hügelkette im Westen und tauchte den Horizont in schimmerndes Gold, als Cen mit vielsagendem Blick nach vorne deutete. Rhow nickte und auch Flint und Irima sahen nun die Gestalt, die sich als schwarzer Schatten gegen die Dämmerung abzeichnete. Sie verfielen in eine schnellere Gangart und der Abstand zu ihrer vermeintlichen Diebin schmolz zusehends dahin. Bis die Fremde ihre Verfolger bemerkte. Irima fluchte wenig damenhaft, als die Frau zu laufen begann, und beschleunigte ebenfalls ihre Schritte. Die Männer folgten ihr, dann gab Rhow ihnen mit einem Nicken zu verstehen, dass sie sich trennen sollten, um der Frau den Weg abzuschneiden. Als die erkannte, was ihre Verfolger vorhatten, versuchte sie einen verzweifelten Ausbruchversuch, indem sie Haken schlagend nach rechts auswich. Und Cen genau in die Arme lief. Sie schrie, als er sie hart an den Handgelenken ergriff und zu umklammern versuchte. Doch sie war wehrhaft. Mit einem wütenden Schrei trat sie nach dem Bogenschützen und schaffte es schließlich, ihm gegen die verletzte Schulter zu schlagen, so dass er sie mit schmerzverzerrtem Gesicht losließ. Im selben Moment war Irima neben ihr und riss sie zu Boden. Ineinander verkeilt und laut fluchend wälzten sich die beiden Frauen im Staub und schließlich gewann die Schwarzhaarige die Oberhand. Sie drückte Irima auf die kalte Erde und schlug ihr zweimal mit der Faust ins Gesicht, ehe Flints starke Arme sie von hinten umschlangen und von der Brünette wegzerrten. Noch immer wehrte sich die Frau nach Leibeskräften, doch Flints Stärke hatte sie nichts entgegenzusetzen und so erlahmten ihre Bewegungen schließlich und sie sackte seufzend zusammen. Sofort war Irima über ihr und band ihr die Hände, wobei sie grober vorging, als nötig gewesen wäre. Sie strich sich triumphierend die staubigen Haare aus dem Gesicht und versetzte der Frau einen Stoß, der sie zu Boden warf. „Endlich haben wir dich!“ Cen sah zu Rhow herüber, der in einigen Schritten Entfernung wie erstarrt stehen geblieben war und nun gebannt auf die Schwarzhaarige herabstarrte. Erst, als Irima dazu ansetzte, ihr weiter zuzusetzen, erwachte er aus seiner Trance und legte ihr beschwichtigend die Hand auf die Schulter. „Nicht!“ Er blickte auf die Frau herab und beugte sich schließlich zu ihr herunter. Ich muss mich irren!, dachte er bei sich, während er die Frau mit zitternden Fingern auf den Rücken drehte. Er zog scharf die Luft ein, als er ihr wirklich unsagbar schönes Gesicht erblickte. „Prinzessin Aryana?!“ Die Frau öffnete resignierend die Augen und flüsterte: „Er hat mich also gefunden…“ Augenblicklich begann Rhow in seinen Taschen zu kramen, bis er schließlich fand, was er suchte – sein Messer. „Was tut Ihr hier?“, fragte er verstört und löste ihre Fesseln unter den ungläubigen Augen seiner Kameraden. „Was tut Ihr hier?“, wiederholte er, während er ihr half, sich aufzusetzen. Flint fragte: „Prinzessin?? Was zur Hölle geht hier eigentlich vor?“ Die Frau warf ihm einen finsteren Blick zu, in dem sich Stolz mit Verachtung mischte. „Königin, um genau zu sein.“ Sie wandte sich wieder an Rhow. „Ich bin Königin von Ahrlanden!“ „Königin…?“ Rhow stutzte. „Ihr seid die Gemahlin des Königs? Seit wann…“ Er legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Das ändert einiges…“ „Was ändert das?“, fragte die Königin sichtlich verärgert. „Ich –“ Sie stockte und Rhow fühlte sich unter ihrem Blick mit einem Mal sehr unwohl. „Ich kenne Euch…?“ Der Vagabund wandte das Gesicht ab und murmelte: „Bestimmt nicht.“ „Was soll das heißen, Königin von Ahrlanden?“, rief Irima nun und beanspruchte Rhows Aufmerksamkeit für sich. „Wie kann sie unsere Diebin sein?“ „Diebin?“, begehrte Lady Aryana auf. „Was erlaubst du dir?“ „Sie ist keine Diebin“, fiel Rhow ihr ins Wort und blickte Irima fest an. „Verstehst du nicht? Sie ist der Schatz. Der König hat uns zum Narren gehalten, sein Schatz wurde nicht gestohlen, er ist ihm davongelaufen.“ Er wandte sich wieder an die Königin. „Lady Aryana… was ist geschehen?“ Einen Moment lang musterte sie ihn noch immer mit diesem fragenden Blick, dann begann sie zu erzählen. Sie erzählte von ihrem Gemahl, der von Treue nicht sehr viel hielt, sondern sich lieber mit Mätressen vergnügte und dabei seine Königin völlig vernachlässigte. Bis diese schließlich die Nase voll hatte und davonlief. Die Worte sprudelten nur so aus ihr hervor und während sie erzählte, traten ihr die Tränen in die Augen, als ihr all die schrecklichen Begegnungen auf ihrer Flucht wieder in den Sinn kamen. Als sie schließlich geendet hatte, herrschte betretenes Schweigen unter den Gefährten. „Und was machen wir nun?“, fragte Flint schließlich in die Stille hinein und die anderen sahen sich fragend an. Cen zuckte nur mit den Schultern und so meinte Rhow: „Wir sollten ins nächste Dorf gehen, uns eine Bleibe suchen und eine Nacht darüber schlafen. Morgen können wir weiter beraten.“ Die Morgendämmerung hatte noch nicht eingesetzt, doch Rhow saß schon seit einer Stunde hinter dem Gasthaus und sah mit wehmütigem Gesicht dabei zu, wie sich der Horizont langsam erhellte. „Die Sonne, die Sterne tragen Kunde von dir, jeder Lufthauch erzählt mir von dir. Jeder Atemzug, jeder Schritt trägt deinen Namen weit mit sich mit...“ Er sang leise vor sich hin, ehe er in sanftes Summen verfiel und schließlich wieder verstummte. Traurig dachte er an Melissas Ring, den er seit Jahren um seinen Hals trug. Vor zwei Tagen jedoch hatte er erschrocken festgestellt, dass er fehlte, und schließlich resignierend eingesehen, dass er ihm wohl gestohlen worden war – vermutlich, als er im Vollrausch in der Gaststube geschlafen hatte, nachdem er dort die Kundschaft vortrefflich unterhalten hatte. Undankbares Pack!, dachte er bitter und lehnte sich etwas zurück, als er merkte, dass er nicht mehr allein war. Überrascht drehte er sich um, nur um noch überraschter zu sein, als er Lady Aryana erkannte, die ihn wieder mit diesem durchdringenden Blick musterte. „Ich wusste es“, murmelte sie und trat an ihn heran. „Ihr habt Euch verändert.“ Rhow sah sie fragend an. „Ich fürchte, ich kann Euch nicht folgen, Euer Majestät.“ Sie schnaubte verächtlich. „Tut nicht so unwissend! So wie Ihr mich erkannt habt, habe ich auch Euch erkannt, trotz der Jahre, die ins Land gegangen sind.“ Sie setzte sich neben ihn. „Als ich Euch das letzte Mal sah, habt Ihr für meinen Vater gesungen. Ihr hattet die schönste Stimme im ganzen Reich und das ist noch immer so. Doch Eure Lieder sind traurig geworden, Sir Darenstein.“ Rhow sah lächelnd zum Horizont, wo sich ein schmaler Streifen hellen Lichts seinen Platz erkämpft hatte. „Darenstein? Diesen Namen trage ich schon lange nicht mehr, Hoheit…“ Er seufzte. „Mein Gut wurde im Krieg zerstört und mit ihm mein damaliges Leben. Sir Darenstein ist tot, Lady Aryana, es gibt nur noch Rhow, den Vagabunden.“ Ein leises Lachen entfuhr der Königin. „Ihr seid schon immer gerne gereist. Gibt es einen Ort auf dieser Welt, an dem ihr noch nicht wart?“ Rhow zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Aber an einigen Orten war ich mehrmals…“ Er dachte an die Meerenge an der Grenze Ahrlandens zurück. Sein Weg hatte nun schon zweimal den Kurs des verwünschten Schiffes gekreuzt, doch seine erste Reise hatte er nicht halb so sehr genossen wie die zweite – es war zu Beginn jenes Krieges gewesen, den er noch heute mit jeder Faser seines Körpers verfluchte. „Was werdet Ihr nun tun?“, riss ihn Königin Aryanas Stimme aus seinen Gedanken und er antwortete nach einigen Sekunden: „Ihr meint wegen Eures Gemahls?“ Er seufzte. „Was sollen wir schon tun? Nach allem, was Ihr berichtet habt, könnt Ihr nicht zurück zu Eurem Gemahl. Aber auch wir können nicht zurück nach Ahrlanden. Der König hat uns deutlich zu verstehen gegeben, dass wir ohne seinen Schatz dort gar nicht erst auftauchen müssen.“ Leise ächzend ließ er sich ins feuchte Gras sinken und blickte zu den verblassenden Sternen empor. „Es wird für mich wohl wieder Zeit, dem Ruf der Freiheit zu folgen.“ Mit klopfendem Herzen stand Irima am Fenster und starrte mit weiten Augen auf den dunklen Holzboden. Er geht!, dachte sie bitter und versuchte gleichzeitig ihr Herz zu beruhigen. Soll er doch! Trotzig zog sie die Vorhänge zu und trat mit weit ausgreifenden Schritten auf die Kommode zu, die auf der anderen Seite des Zimmers den Raum zierte. Sie warf einen Blick in den Spiegel und erschrak. Sie war blass, doch gleichzeitig glühten ihre Wangen. Still, dummes Herz!, schalt sie sich in Gedanken und spritzte sich von dem kalten Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht. Vornüber gebeugt verweilte sie einen Augenblick, ehe sie sich zitternd auf den Boden sinken ließ und leise zu schluchzen begann. Sie hatte gewusst, dass er ihr nur Kummer bereiten würde, vom ersten Augenblick an. Sie war darauf gefasst gewesen! Warum also?, dachte sie. Warum tut es dennoch so weh? Lieder: - Königin - Der Schatz - Dein Anblick Kapitel 10: Unterwegs --------------------- Bin unterwegs, bin auf der Reise! Ich will nirgendwo hin! Bin unterwegs, auf meine Weise, und das ist der Sinn! Bin unterwegs und mich umgibt Ein Duft von Freiheit und See! Die Erde dreht sich nur um mich, in ihrem Mittelpunkt ich steh! „Morgen“, gähnte Flint, als er die Gaststube betrat und sich zu Cen an den Tisch setzte. Der Schweigsame nickte ihm nur kurz zu. Suchend blickte Flint um sich. „Wo ist der Rest?“ Cen seufzte, antwortete jedoch nicht, was Flint mit einem missmutigen Stirnrunzeln kommentierte. „Ab und zu könntest du ruhig auch mal von deiner Stimme Gebrauch machen. Zum Beispiel, wenn wir auf andere Gesprächspartner warten. Wo ist der verdammte Vagabund, wenn man ihn mal braucht?“ „Er ist weg.“ Überrascht drehte sich Flint zu Irima um, die mit bitterer Miene in der Tür stand. „Weg?, wiederholte er. „Was soll das heißen?“ Die Brünette setzte sich neben ihn und seufzte: „Genau das, was weg bedeutet: weg. Er ist nicht mehr da. Vermutlich“, sie verzog das Gesicht, „ist er in aller Frühe dem Ruf der Freiheit gefolgt…“ „Du hast es also auch gehört.“ „Aha!“, schnaubte Flint. „Jetzt spricht er!“ Cen ging nicht darauf ein, sondern wartete auf eine Antwort von Irima. Sie nickte. „Ja. Ich kann es einfach nicht glauben!“ Sie schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. „Wie kann er einfach gehen, ohne sich zu verabschieden?!“ Cen räusperte sich. „Du hast nicht gerade deutlich erkennen lassen, dass dir an seiner Gegenwart etwas liegt.“ Gerade wollte Irima etwas erwidern, da ging Flint dazwischen: „Moment. Rhow ist gegangen, ja? Wo ist die Königin? Der verdammte Vagabund will uns doch wohl nicht um unseren Anteil betrügen, oder?!“ Irima schüttelte den Kopf. „Nein, Flint. Rhow wird Lady Aryana nicht zurückbringen. Er ist wieder auf Reisen.“ Nun blinzelte Flint überrascht. „Wieso das?“ Die Brünette sah ihn verwirrt an. „Was für eine Frage ist das bitte? Wir können Lady Aryana nicht an ihren untreuen Gemahl ausliefern. Das wäre nicht richtig. Rhow hat das erkannt und sich aufgemacht… wohin auch immer.“ Nachdenklich sah Flint auf seine Hände herab, dann meinte er: „Und was tun wir nun? Ohne des Königs Schatz können wir uns in Ahrlanden nicht mehr sehen lassen. Wir sind nun wohl genauso heimatlos wie Rhow.“ Irima seufzte, als sie seinen Namen hörte und Cen runzelte erneut die Stirn. „Du hättest ihn aufhalten können.“ Sie sah auf. „Ich? Wieso ich?“ Ein schwerer Seufzer entfuhr den Schützen. „Auf dich hätte er gehört. Nur auf dich.“ Irima sah noch immer verwundert drein. „Wie kommst du darauf? Wieso sollte er ausgerechnet auf mich hören?“ „Warum?“ Cen spürte den Ärger in sich aufsteigen und er stand auf. „Du weißt warum!“ Er ergriff ihr Handgelenk und hielt ihr die Hand unter die Nase. Im Licht, das durch das Fenster schien, glänzte Rhows Ring an ihrem Finger. „Darum!“ Leise summend schlenderte Rhow die Straße entlang. Wenn er ehrlich war, hatte er es vermisst, alleine zu reisen. Die Stille, die ihn umgab, nur unterbrochen von seiner Stimme, die leise das Lied sang, das ihn stets auf seinen Reisen begleitet hatte. „Bin unterwegs und mich umgibt ein Duft von Freiheit und See. Mal bin ich hier, mal bin ich dort, sehr lang verweil' ich nie. Ihr zeigt mit Fingern hämisch auf mich, ob der Lumpengestalt. Und kaum bin ich an euch vorbei, erwischt die Sehnsucht euch kalt. Schon bin ich fort, schon bin ich fort. “ Er grüßte mit einem spöttischen Grinsen einen fahrenden Händler, der ihn misstrauisch beäugte, ihm jedoch dann mit einem sehnsüchtigen Funkeln in den Augen nachblickte. Rhow lachte leise in sich hinein. Ja, er wusste, wovon er sang. „Ich ziehe meiner Nase nach. Ich halte sie stets im Wind. Schlaf ich nicht heut, so tu ich's morgen wo mein Leib hin nieder sinkt. Bin völlig frei und ungebunden, keine Kette, die mich hält. Ich bin an keinen Eid gebunden, wandle frei durch diese Welt. Schon bin ich fort und schon bin ich fort.“ Wind kam auf und zerrte an seinen Kleidern, doch statt sich zusammenzukauern, streckte er die Arme weit auseinander, als wollte er die Luft umarmen, und schloss mit einem leisen Seufzen die Augen. Eine Bö strich ihm durchs Gesicht und riss an seinen Haaren. Sie schmeckte frisch und salzig und der Geruch nach Regen lag in der Luft. „Bin unterwegs, bin auf der Reise. Ich will nirgendwo hin. Bin unterwegs auf meine Weise, und das ist der Sinn. Bin unterwegs und mich umgibt ein Duft von Freiheit und See. Die Erde dreht sich rund um mich, in ihrem Mittelpunkt ich steh.“ Ein Seufzer entfuhr ihm und seine Schritte wurden wieder langsamer, bis sie schließlich erlahmten und er stehen blieb. Und wenn er es noch tausend Mal sang, es änderte nichts an der Wahrheit: er vermisste die anderen. Ihm fehlte Cens finstere Miene und die Überraschung, die er empfand, jedes Mal, wenn der Bogenschütze den Mund auftat. Herrgott, ihm fehlte sogar dieser dämliche Riese Flint, mit seinem dämlichen Grinsen und seiner dämlichen Visage! Aber am meisten fehlte ihm Irima. Er vermisste ihr Feuer, ihr Temperament, ihre Augen, ihre Haare, einfach alles. Er lächelte leicht. „Rhow, Rhow, Rhow“, murmelte er. „Du wirst auf deine alten Tage noch sentimental…“ Er wollte seinen Weg fortsetzen, doch eine innere Unruhe hatte ihn erfasst. „Was zum…?“ Etwas in ihm drängte ihn dazu, die Richtung zu ändern, und so drehte er sich um und blickte den Weg zurück, den er gekommen war. Nein, dachte er, es gibt kein Zurück mehr… Er tat einen Schritt und erstarrte dann erneut. Hatte da nicht jemand gerufen? Seine Augen weiteten sich erstaunt, als er tatsächlich seinen Namen hörte, und er wandte sich erneut um. Seine Augen mussten ihm einen Streich spielen! War da nicht eine Gestalt auf dem Hügel? Er überschattete das Gesicht mit der Hand und verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Beinahe hätte er laut aufgeschrien, als er Irima erkannte, die wild gestikulierend die Straße entlang gelaufen kam, dicht gefolgt von Flint und Cen. „Rhow!“, hörte er sie nun rufen. „Warte!“ Selbst, wenn er gewollt hätte, er hätte sich nicht rühren können – seine Beine verweigerten ihm schlicht den Dienst. So verharrte er wie angewurzelt, bis Irima schließlich vor ihm stand und sich keuchend auf ihre Knie stützte. Dann sah sie ihn finster an, was Rhow dazu veranlasste, instinktiv einen Schritt zurückzuweichen. „Du… verdammter Idiot!“, schrie sie nun und Rhow glaubte, Wut aus ihrer Stimme zu hören, gepaart mit etwas anderem, was er nicht zuordnen konnte – Verzweiflung? „Du Idiot!“, wiederholte sie. „Denkst du, das kannst du mit mir machen?!“ Sie stapfte auf ihn zu und hob drohend den Zeigefinger. „Denkst du das?!“ Der Vagabund hob abwehrend die Hände. „Es tut mir ja Leid, dass ich mich nicht verabschiedet habe, aber –“ „Verabschiedet?“ Irimas Stimme erreichte einen Punkt, der vom Kreischen nur wenige Dezibel entfernt war. „Du verdammter Mistkerl machst mir einen Antrag, wenn ich besoffen bin, und dann verdrückst du dich klammheimlich!! Kannst du mir mal sagen, was das soll?!“ Rhow blinzelte verwirrt. „An… Antrag?“ Mit einem wütenden Schnauben hielt Irima ihm die Hand unter die Nase und Rhow schrie überrascht auf. „Mein Ring!“ „Mein Ring!“, verbesserte Irima und zog hastig ihre Hand zurück, als Rhow Anstalten machte, nach dem Schmuckstück zu greifen. „Cen hat mir alles erzählt! Wie kannst du dich nur so… so verhalten?!“ Der Vagabund ergriff nun doch ihre Hand und starrte fassungslos auf den Ring an ihrem Finger. Dann sah er auf. „Das Lied… das letzte Lied! Ich…“ Er erinnerte sich. Das letzte Lied, das er gesungen hatte an jenem Abend, war eine gesungene Liebeserklärung gewesen, inklusive Heiratsantrag. Er sah noch einmal auf den Ring herab und stockte dann. „Moment mal… du… du hast ja gesagt?“ Beinahe ungläubig musterte er sie und die Brünette zog errötend ihre Hand aus seiner. „Das hab ich wohl… und ich denke… ich denke, ich würde es wieder tun…“ Flint stemmte schnaubend die Hände in die Seite. „Das soll mal einer verstehen!“ Rhow blickte an Irima vorbei und meinte: „Was macht ihr zwei eigentlich hier?“ Der Riese verzog spöttisch das Gesicht. „Denkst du, ich lasse dich mit Fräulein Irima allein, nachdem du ihr fast das Herz gebrochen hast?“ „Ich ihr?!“ Rhow zog scharf die Luft ein, als er daran dachte, wie Irima ihn im Lager von Salvain dem Räuber vor den Kopf gestoßen hatte, doch davon wollte er Flint lieber nichts erzählen. Stattdessen wandte er sich an Cen: „Und… du?“ Der Bogenschütze grinste schief. „Ich denke, ich hab mich an eure Gesellschaft gewöhnt.“ „Tja, Rhow“, lachte Irima. „Es scheint, als würdest du uns nicht mehr loswerden.“ Rhow nickte wie in Trance. „Was… was ist mit Lady Aryana?“ Die Brünette zuckte mit den Schultern. „Die ist alleine losgezogen. Ich denke, sie kommt zurecht. Die Frau kann sich wehren – mir tut noch immer das Gesicht weh.“ Zur Unterstreichung ihrer Worte fuhr sie sich über die noch immer leicht geschwollene Wange. Rhow lächelte leicht. „Wisst ihr was? So hab ich mir das Ende unserer Reise vorgestellt – als Anfang einer Neuen!“ Mit diesen Worten ergriff er Irima am Handgelenk, lief los und zog sie lachend hinter sich her. Flint blinzelte einen Moment verwirrt, dann rief er: „Hey! Denkst du, du kannst mich so leicht abhängen?! Na warte, verdammter Vagabund!!“ Cen blieb noch einen Moment unschlüssig stehen, als Flint den beiden hinterher lief, dann schüttelte er leise seufzend den Kopf und folgte ihnen ebenfalls, geführt von Rhows Stimme: „Bin unterwegs, bin auf der Reise. Ich will nirgendwo hin. Bin unterwegs auf meine Weise, und das ist der Sinn. Bin unterwegs und mich umgibt ein Duft von Freiheit und See. Die Erde dreht sich rund um mich, in ihrem Mittelpunkt ich steh.“ ~Ende~ Lieder: - Bin unterwegs Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)