Die Farben der Welt von Ilju ================================================================================ Prolog: Kaikki ve Rien ---------------------- Mit starken Schlägen meiner Schwingen fegte ich über den hellen Sand der Wüste. Das Land unter mir verwandelte sich in rasender Schnelle. Je weiter ich nach Norden kam, desto grüner wurde die Landschaft. Einem Knistern in der Luft folgte ein Blitz, der direkt unter mir in einen Baum einschlug, begleitet von schlagartig einsetzendem Regen und einem ohrenbetäubenden Donnern, das noch viele Meilen weit zu hören war. Dann erhoben sich die Roten Berge unter mir, eine riesige Gebirgslandschaft, die die nördliche Grenze Arsems beschrieb und noch weit nach Iniust hineinragte. Spielerisch jagte ich um die Gipfel, während unter mir aus stillen Gebirgsbächen reißende Ströme wurden und Fels und Gestein hinfort spülten. Schließlich drehte ich ab Richtung Osten. Die Berge wurden flacher und verschwanden ganz. Erneut streifte ich über eine flache Ebene mit vereinzelten, kleinen Siedlungen. Ich überquerte die Grenze von Iniust nach Trastas, dort, wo sich das Blaue Meer und das Tiefe Meer am nächsten kamen. Und wieder veränderte sich das Bild. Die Siedlungen wurden zahlreicher, aber auch kleiner, waren jedoch umgeben von endlosen Feldern. Ich stieg höher in den Himmel, bis meine Schwingen die dichten schwarzen Wolken berührten. Entschlossen durchbrach ich sie und fand mich über ihnen umgeben von einem magischen Blau. Doch auch in diesem Blau zuckten die Blitze. Dort waren langläufige, rötliche Blitze, die nicht Richtung Erde sondern weiter nach oben schossen, und auch blaue, kegelförmige Lichterscheinungen begleiteten meinen Flug. Nach einer Weile stieß ich jedoch wieder hinab, raste auf einen Wald zu und bremste kaum, als ich durch die Bäume fuhr. Die hochgewachsenen Bäume neigten sich unter der Druckwelle, die ich verursachte, Äste brachen und flogen davon. Ich setzte meine Füße auf den Boden und blieb stehen. In meiner Nähe lag ein junger Vogel mit gebrochenen Flügeln. Während ich auf ihn zuging, spross unter jedem meiner Schritte neues, frisches Grün. Vorsichtig nahm ich den Vogel in meine Hände. Er blieb ruhig und schaute mich an, bereit, sich seinem Schicksal zu ergeben - dem Tod. Einer Eingebung gehorchend sandte ich meine Macht aus und strich über seine Flügel. Die Knochen fügten sich zusammen und heilten. Gleichzeitig veränderte der Vogel sein Aussehen. Er wuchs und veränderte seine Farbe. Nach der abgeschlossenen Verwandlung war der ehemals unscheinbare, schwarz-braune Vogel nicht mehr wieder zu erkennen. Auf meiner geballten Faust hielt sich ein großer Vogel mit goldenem, geschwungenen Schnabel und einem langen Schweif mithilfe seiner imposanten Krallen fest und schaute mich verdutzt an, während er in allen Farben schillerte und die Umgebung in ein unheimliches Licht tauchte. Wenn es das Schicksal so wollte, nahm sein Weg hier noch kein Ende, sondern nahm gerade erst seinen Anfang. Lächelnd setzte ich ihn auf einen von Moos überwucherten, frisch entwurzelten Baum. Dann ließ ich mich auf alle Viere fallen und trabte im Zickzack durch das Dickicht bis ich eine Lichtung erreichte. Dort bot sich mir ein allzu vertrauter Anblick: Im strömenden Regen erloschen gerade die letzten Flammen, die noch an den Ruinen einzelner Häuser leckten. Was früher einmal eine bescheidene Siedlung gewesen war, war jetzt nur noch ein Haufen Asche und schwelender Balken. Und überall lagen, teils verbrannt, die sterblichen Überreste der einstiegen Bewohner des Ortes. Männer, Frauen und Kinder gleichermaßen. Ihre Seelen verharrten noch, getrennt von ihren Körpern. Langsam schritt ich durch die Zerstörung und sammelte diese verlorenen Seelen ein, dreiundfünfzig an der Zahl. Anschließend setzte ich meinen Weg durch die Lüfte gen Osten fort. Einige Male schwebte ich noch hinab, die Seelen Verstorbener mit mir zu nehmen, bis ich schließlich das Endlose Meer erreichte. Dort stieß ich von unter den Wolken bis hinab auf den Meeresgrund. Ich spielte mit den Wassern und glitt in südlicher Richtung, der Küste Trastas folgend, bis ins Blaue Meer. Ein letztes Mal wühlte ich das Wasser auf, schoss wieder an die Oberfläche und beobachtete über dem Wasser schwebend, wie die Wellen den nahen Strand überrannten und in einiger Entfernung gegen hohe Klippen schlugen. Hoch oben auf der höchsten Klippe stand der Herrschaftssitz des Königs von Trastas, König Miras’, umgeben von der größten Stadt seines Landes, Aequelis. Durch die Fenster gelangte ich ins Innere der Burg. Ich streifte durch die Gänge auf der Suche nach dem König, als mich plötzlich das laute Schlagen einer Glocke innehalten ließ. Schlimme Vorahnungen befielen mich. Schnell suchte ich den kürzesten Weg nach draußen, einen Kamin, und flog in Kreisen über der Burg. In das Läuten der nahen Glocke mischten sich jetzt weitere, weiter entfernte, die die Nachricht immer weiter trugen. Auf dem Innenhof der Anlage eilte eine aufgeregte Menschenmenge zusammen, beunruhigt durch das Schlagen der Glocke, die zuletzt vor über vierzehn Sommern geläutet wurde, und eigentlich nur eines bedeuten konnte. Ich mischte mich unter die Menschen und bemerkte gerade noch, dass der engste Vertraute des Königs auf einen Balkon hinausgetreten war und zu dem Volk Trastas’ sprach. Schrecken erfüllte mich, als ich seine Botschaft vernahm. Miras war tot, im Schlaf ermordet. Und während er dies sagte, erschien am rabenschwarzen, wolkenverhangenen Himmel im strömenden Regen ein Vogel, der in allen Farben schillerte. Nur Wenige schauten auf und sahen ihn, bevor er über das Blaue Meer flog und verschwand, zu sehr waren sie mit ihrer Trauer über den Tod König Miras’ beschäftigt. Die Wenigen, die diesen Vogel jedoch sahen, erzählten später verschiedene Geschichten. Die einen sagten, der Vogel sei ein schlechtes Omen gewesen, dass er derjenige sei, der ihren König umgebracht und König Ferr so zum Sieg verholfen habe. Andere erzählten, der Vogel sei erschienen um Trost zu spenden und um ihnen Hoffnung zu geben. Die Hoffnung, dass Ferrs Herrschaft nicht allzu lange anhalten würde. Doch in Wahrheit war sein Auftauchen mehr ein Zufall gewesen. Der Vogel machte sich auf, um seinen Weg zu beschreiten. Und dieser Weg hatte wenig mit dem frühen Tod des Königs zu tun. Während die Traster schwiegen, ging ich durch die labyrinthartigen Gänge der Burg zum Schlafgemach des Königs. Auch seine Seele würde ich in dieser Nacht in meine Obhut nehmen. Doch, wenn sie es wollte, dann würde seine Seele bald schon zurückkehren. Mit all den verlorenen Seelen machte ich mich auf den Weg zurück in die Welt der Mitte, dorthin, wo kein Sterblicher je hingelangt ist, und wo über die Seelen der Verstorbenen gerichtet wird. Denn ich bin Kaikki ve Rien. Ich bin das Licht und die Dunkelheit, die Zeit und der Raum, der Anfang und das Ende. Ich bin der Wind in den Bäumen, die Wellen des Meeres, der heiße Sommertag, die kühle Brise, das Rauschen des Waldes. Ich bin die Wärme und die Kälte, der Berg und der Abgrund, der Blitz und der Donner, der Tag und die Nacht. Ich bin das Wasser und das Land, das Feuer und das Eis, die Luft in euren Lungen. Ich bin ein Wort, ein Gedanke. Ich bin der Tod und das Leben. Ich bin die Macht der Welt. Ich bin Alles und Nichts. Ich bin Kaikki ve Rien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)