Radio von Edisa (Kurzgeschichte) ================================================================================ Kapitel 1: Die Stimme - The Voice --------------------------------- Titel: "Radio" Art: Kurzgeschichte Genre: Horror FSK: 16 Disclaimer: Alle hier auftauchenden Charaktere sind meinem Geist entsprungen, ebenso die Storyline :). Nur die Umgebung ist real und habe ich nicht geschaffen :D. Warnung: Hm, soweit ihr Horror mögt, gibt es hier nichts vorzuwarnen :). Außer vielleicht ein mulmiges, verklemmtes Gefühl :D. Zumindest hoffe ich doch, dass dieses eintreten wird :P. ----------------------------------------------------------------------------------- Der Motor des pechschwarzen Ford Mustang Shelby heulte bedrohlich auf, als Garrett Nightengale das Gas durchdrückte. Er konnte sich einfach nicht von der dröhnenden Bestie aus dem Jahre 1968 trennen, welche nun mehr einem unheilvollen, wuchtigen Schiff auf Kriegskurs glich, als dem treuen Wagen eines Mannes mittlerer Schicht. Mit der breiten, massigen Karosserie, geschmückt mit dem weißen Zierdestreifen an der Seite, nahm er fast die gesamte Spur der Interstate 71 ein und rollte über den trüben, grauen Asphalt, als gehöre ihm die Straße. Im Inneren entging Garrett diese einschüchternde Wirkung, denn gemächlich drifteten seine Gedanken in andere Bahnen. Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten und zwinkerte angestrengt. Dunkle Schatten untermalten die durch die Ansammlung übermäßigen Fettes zu Schlitzen verengten Augen, tief und furchig wie die einsame Interstate selber. Die Knöchel seiner aufgequollenen Hände, die von feinen, dunklen Haaren überzogen waren, traten weiß hervor. Das Vibrieren des großen, abgenutzen Lenkrades in seinen Pranken gab ihm hingegen ein vertrautes und sicheres Gefühl; es hielt ihn wach. Er fühlte sich tatsächlich gut und die Erkenntnis, diese verdammt lange Strecke von 345 Meilen zum letzten mal hinter sich bringen zu müssen, befriedigte ihn. Er summte eine Melodie; ein Lied, dessen Namen ihm nach langem Zermartern seines Kopfes noch immer nicht in den Sinn kommen wollte. Doch ausgenommen dessen ging es ihm erstaunlich hervorragend. Denn endlich war sein Vater tot. Garrett nahm die Umgebung um ihn herum kaum, wenn, dann nur schemenhaft am Rande, wahr. Er befand sich in der Bluegrass Region im Norden Kentuckys und hatte es nicht mehr weit bis Cincinnati, wie er zufrieden feststellte. Tatsächlich war die Bluegrass Region zur Zeit von März bis April berühmt für ihre blau-grün schimmernden, endlosen Grasweiden. Es war jedoch Oktober, grauer und fader Herbst und er passierte keine wunderschönen, endlosen Wiesen, sondern halbkahle Laubwälder, die die Fahrbahn von beiden Seiten säumten. Ahorne, Birken und Rosskastanien warfen ihr gelblich, bräunlich und rötlich gesprenkeltes Blätterkleid ab und ragten ihre dicken Äste und dürren Ästchen gen Himmel, als wollten sie an der Unterseite der verschleierten Wolkendecke kratzen, die dasselbe schmutzige Grau aufwies wie die Interstate selber. Garrett war, als verschmolzen Himmel und Straße zu einer grauen Einheit und verschlangen gemeinschaftlich den Horizont. Er lockerte den Gurt, der sich mit der Zeit so stramm eingerastet hatte, dass er ihn schmerzhaft in den untersetzten, hängenden Bauch schnitt, und schaltete das Autoradio ein. „Bluegrass Radio wünscht allen Frühaufstehern einen wunderschönen Morgen!“ Die Stimme, die aus den Lautsprechern strömte, wirkte aufgesetzt und unnatürlich euphorisch. Natürlich, was für ein wunderschöner Morgen, wie war mir nur die Schönheit und Farbenpracht dieser verfluchten Grauzone entgangen, die man im Volksmunde auch Kentucky nannte? Lobet den Herrn! Garretts Gedankenstränge überschlugen sich vor Preisungen, die regelrecht trieften vor überschwänglichem Sarkasmus. Würden Gottes Gnade und seine Hand dies sichtbar machen wollen, wäre ihm nun zäher, dickflüssiger, gelb-grüner Schleim aus den Ohren gesickert. Das beste an diesem gottverdammten Staat ist sein gottverdammter Kentucky Bourbon Whisky. Er beäugte höchst zufrieden die braune Tüte, die auf dem Beifahrersitz ruhte, aus der schelmisch und verboten verlockend der Hals einer Flasche des besten Whiskys im Land ragte. Durch das stetige Vibrieren des monströsen Wagens, das selbst sein Innenleben bemerkenswert erschütterte, kam das sirupfarbene Teufelsgebräu nicht zur Ruhe und wäre vermutlich über den Rand des Halses geschwabt, wäre die Flasche nicht verschlossen und noch unberührt. Worauf er später wohl anstoßen sollte? Vermutlich auf das überfällige, filmreife Ableben seines Vaters. Geoffrey Nightengale, 81 gottverdammte Jahre alt, war einen Tag zuvor in dem kleinen Drecksloch in Louisville, das sie „Sonnenschein-Pflegeheim für bedürftige Senioren“ nannten (Garrett betitelte es jedoch heimlich mit „Rattenloch für senile Scheintote“), zu Bett gegangen und war nie wieder aus dem seligen Schlaf erwacht. Und Garrett dankte Gott dafür. Die ständigen 345 Meilen, die unzähligen Stunden, die er auf der I-71 verbracht hatte, nur um einen moralisch korrekten Pflichtbesuch bei einem alten Veteran, der ihn mit strenger Hand und noch strengeren Schlägen großgezogen hatte, hinter sich zu bringen, gehörten nun der Vergangenheit an. Es war selbstverständlich nicht so, dass er seinen Vater nicht geliebt hatte. Er war sich ihm nur lange überdrüssig geworden. Doch Gott möge ihn schützen, falls der Alte es tatsächlich bis an Petrus' Himmelspforte geschafft hatte. Vor Garretts innerem Auge erschien prompt ein Bild, welches er eindeutig als realitiätsnaher beurteilte: Der senile Geoffrey Nightengale, mit neuen Lebensgeistern beflügelt, saß mit Luzifer höchstpersönlich an einem runden Tisch aus schwarzem, verkohltem Zedernholz bei einer gemütlichen Runde Black Jack und einem guten Schluck des Kentucky Bourbon Whiskys. Garrett grinste. „Der frühe Vogel fängt bekanntlich den Wurm, Leute! Wollen wir unsere Zuhörer also gleich mit einem guten Country-Klassiker auf Trab halten!“, sprach der Radiosprecher und Garrett fluchte. In Kentucky sind sogar die Radiosender beschissen. Unaufhörlich tropfte der grünliche Schleim seiner bildlich gewordenen Verdrossenheit, rann ihm den fetten Hals hinab und sickerte in den weißen Hemdkragen. Tatsächlich gab es wohl nichts auf der Welt, dem er mehr abgeneigt war, als der Teufelsgeburt Radio. Sein Vater hatte zu Lebzeiten die Eigenart gepflegt, wuchtige, jahrzentealte Radiogeräte zu sammeln, dessen Knöpfe groß und klobig waren wie Kuhaugen und dessen Lautsprecher groß wie die Fladen der trägen Wiederkäuer. Je älter die Dinger waren, desto glücklicher war Geoffrey; das alte Eisen suchte bekanntlich immerzu seinesgleichen. Sein gesamtes Zimmer im Pflegeheim- pardon, im Rattenloch- hatte der alte Nightengale mit den altmodischen Apparaten gespickt. Sie erinnerten ihn an die Zeit, als er noch jung war und vor Elan überschäumte, hatte er stets, in einem plötzlichen Drang zur Kundtuung seiner eisernen Lebensweisheiten, berichtet. Tot war er Garrett jedoch lieber, als jung und voller Elan, denn nun verstaubten die zentnerschweren Gerätschaften nicht vor sich hin, sondern besaßen die edle Aufgabe seine Taschen mit Bargeld zu füllen. Es ließe sich bestimmt einen naiven Idioten wie seinen Vater auftreiben, der es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Sammlerstücke für teures Geld zu kaufen und sie folglich stolz und befriedigt vor sich hin modern zu lassen. Und einen leidenschaftlichen Sammler störte es sicherlich nicht, dass sich wöchentlich alte Menschen an den im Radio verlesenen Krimis erfreut hatten, sich äußerst nah an den Apparat setzend, denn sie hatten es ja bekanntlich nicht so mit den Ohren. Doch nicht zu nah, denn mit jeder Bewegung ächzte die neue Gelenkpfanne und knarrten die künstlichen Hüften. Sollte es sie alle glücklich machen, es war Garrett einerlei, hauptsache er kam zu seinem Geld, dem er gewiss nicht so feindlich gegenüber stand wie den leiernden Kästen. Garrett fand die Alten jedoch zweifelsohne bemitleidenswert, ebenso wie seinen verstorbenen Vater. Selbstverständlich hatte dieses Mitleid seine Grenzen, sonst hätte noch jemand in einem Anflug von geistigen Höhepunkten den Vorschlag geäußert, dass er seinen Erzeuger bei sich aufnehmen und ihn selbst pflegen müsste, um ihm die alten Tage erträglicher zu machen. Oder so ähnlich. Mit seinen 39 Jahren war Garrett selbst nicht mehr sonderlich jung, doch noch lange nicht in einem scheintoten Zustand. Er begrüßte lieber die Leberzierrose mit offenen Armen und dankte dem Dahinvegetieren höflich ab. Er strich mit seiner haarigen Hand über sein schütteres Haar, welches er sich stets über die Halbglatze zu kämmen pflegte und fluchte erneut über den gottverdammten Country-Song, der so schlecht war wie der Geruch in dem Kämmerchen, in dem Geoffrey verschieden war. Es hatte herb nach Urin gestunken, doch die Nuancen des Todes waren intensiver gewesen. Ihm war schon immer bewusst gewesen, dass seinem alten Herrn kein glamouröser Abgang vergönnt sein würde. Abgesehen davon, dass es nicht zu ihm gepasst hätte. Der beißende Geruch von Pisse war dort schon eher dem finalen Akt gleich, mit dem die Theatervorführung „Geoffrey Nightengale's wundervolles, 81-jähriges Leben“ geendet hatte. Der Vorhang war endgültig gefallen. „Du scheinst wohl froh drum, was?“ Garrett stutzte auf. Wann hatte die Country-Tusse aufgehört ihm die Ohren vollzuleiern? „Wenn dein Vater in seiner eigenen Pisse verrottete, hast du vielleicht das Glück, in deiner Scheiße zu sterben.“ Fast hätte er vor Schreck blindlings auf das Bremspedal eingetreten. Es war nicht die nervtötende, optimistische Stimme des Radiosprechers, die nun aus dem Autoradio flötete. Diese Stimme war auffällig schrill, auf eine Weise unreal, gleichzeitig jedoch erschreckend präsent und wirklich. Er starrte auf die asphaltierte, endlos scheinende Straße, die sich vor ihm erstreckte und war mit einem mal hellwach. Es schien, als erkenne er plötzlich jede einzelne Unebenheit der Interstate 71, jeder noch so kleine Riss im Asphalt hatte überdimensionale Ausmaße angenommen. Ohne es ihm bewusst zu sein, übte er stetig mehr Druck auf das Gaspedal aus. Die Tachonadel zitterte und war nun über die 120 km/h hinaus. „Gary, Gary... Das Tempolimit liegt hier bei 105 Stundenkilometer.“ Schlagartig nistete sich die Sahara in Garretts Kehle ein- sein Mund war staubtrocken. Sämtliches Blut wich aus seinem aufgequollenen Gesicht und ein nasser Schweißfilm bildete sich auf seiner Stirn. Endlich konnte er die engen Stieraugen von der Straße abwenden und starrte auf das Autoradio. Was, zum Teufel, wird hier für ein Spiel gespielt? „Ganz recht, Gary, das hier ist ein Spiel. Nur dass ich schon weiß, wer verlieren wird...“ „Wer bist du?!“ Unnatürlich laut erschien ihm seine Stimme in dem einsamen Herbstmorgen, dabei war ihm lediglich ein ängstliches Flüstern über die Lippen gekommen. Nervös hämmerte er auf die kleinen Knöpfe des Autoradios ein, versuchte den Sender zu wechseln. Vielleicht befand er sich hier in einem Funkloch, falls es diese überhaupt gab, oder er war von der langen Autofahrt dermaßen übermüdet, dass er sich diese hämische, ihn verachtende Stimme nur einbildete. „Das wird dir nichts nützen.“ Er trommelte weiter auf die Apparatur ein, versuchte jeden Knopf, wollte es ausschalten. Doch die unheimliche Stimme schien unbeeindruckt, hallte weiter unaufhaltsam aus den Lautsprechern. „Gary, Gary...“ Gary hatte ihn niemand mehr seit dem Tod seiner Mutter genannt, die 5 Jahre vor ihrem Mann das Vergnügen gehabt hatte, von der Bildfläche zu verschwinden. Nur seiner Frau, Jenniffer, kam dieser Kosename gelegentlich über die Lippen. „Achte auf die Straße, Gary, wir wollen doch nicht, dass unser liebes Dickerchen einen Unfall baut, oder?“ Es folgte ein leises Auflachen, das ihm einen eiskalten Schauer über das Rückgrat fahren ließ. Sein Gesicht war nun bedeckt von Angstschweiß, seine dicken Finger rutschten ab und fast entglitt ihm das Lenkrad, als er den Druck seiner Hände verstärkte. Ruhelos wie die Augen eines eingepferchten Wildtieres zuckten die seine in den Augenhöhlen. Er versuchte den Blick auf die Straße zu fokussieren, drückte das Gas weiter durch, versuchte vor der unbekannten Stimme zu fliehen. Sein Atem verlief hektisch und stoßweise und er schaffte es kaum, seine Stimme zu formen und Worten Ausdruck zu verleihen. Als er es jedoch schaffte, kam sie krätzig und brüchig über seine blassen Lippen. „Wer oder...was bist du?!“ Der kalte Schweiß rann ihm über das Gesicht, lief ihm in die Augen und perlte an den dunklen Wimpern ab. „Ich bin hier, um mit dir über dein Leben zu reden, Gary. Über deinen Vater, deine Frau. Deinen Scheißcharakter.“ „Warum?! Warum ich?“ Er schnappte nach Luft, als wäre sie Mangelware in der ungebändigten Natur Kentuckys. Das laute, markerschütternde Lachen drang tief in sein Bewusstsein ein, ließ seinen Körper zittern und elektrisierte jede einzelne Synapse in seinem übergewichtigen Körper schmerzhaft. Die Stimme...sie schien von weit her zu ihm zu dringen und war gleichzeitig so beängstigend nah. Rauh, hart und furcheinflössend. „Weil du es verdient hast. Nun sag mir, warum freut dich der Tod des alten Geoffreys, deines Vaters?“ „Er freut mich nicht! Er freut mich ganz und gar nicht!“ Er wischte sich mit einer plumpen Bewegung den Schweißfilm aus dem Gesicht. „Du wirst lernen müssen, dass man mich nicht anlügen sollte, Garrett. Du wusstest, dass er verrottete. Das er dahinvegetierte wie ein Hund. Und es war dir scheißegal.“ „Das war es nicht! Wirklich! Ich...ich...“ Tränen erstickten seine Stimme und vermischten sich mit dem Schweiß, der ihm in die aufgerissenen Augen lief. Seine Hände zitterten dermaßen stark, dass der Wagen nach links und rechts abdriftete, immer schneller werdend. „Wusstest du, dass die Pfleger ihn in seinen Fäkalien liegen ließen? Dass er versuchte, selbstständig aus dem Bett zu kommen und bei dem Versuch, seinen Rollstuhl zu erreichen, fiel und die Scheiße ihm das Bein hinunter lief, während er auf dem kalten, harten Boden lag und weinte?“ „Nein...nein...das wusste ich nicht...“ Sein Weinen wurde von erstickten Schluchzern begleitet. „Wusstest du, dass die Pfleger ihn auf eine so brutale Art und Weise wieder auf die schwachen Beine zerrten, dass er aufschrie vor Schmerz und Angst hatte, Todesangst davor, dass seine Knochen brechen würden?“ „Nein...nein...!“ „Wusstest du, du gottverdammter Scheißhaufen, dass er die Radios liebte, weil sie ihn an seinen einzigen, beschissenen Sohn erinnerten? Da ihr zusammen davor gesessen habt, als du ein Scheißkind warst?“ „Es...es tut mir Leid! Oh, Gott, es tut mir Leid!“ Sein schwerer Körper wurde von Schluchzern erschüttert, er geriet immer öfter auf die Gegenspur. Er konnte ihr nicht entfliehen. Die Stimme hallte in seinem Kopf wider, drang in jede Pore. Hass, nichts als Hass hatte sie für ihn übrig. Abscheu, Anwiederung und Ekel. „Nein, du weißt es nicht, Garrett. Du beschissener Fettkloß weißt rein gar nichts.“ Plötzlich ein helles, aufschreiendes Lachen. „Du weißt noch nicht mal, dass deine liebe Jenniffer mit dem Nachbarn vögelt.“ Garretts Augen weiteten sich entsetzt. Spuckfäden liefen ihm aus dem vor Angst und Unglauben geöffneten Mund. Sein fettes Gesicht war nichts weiter als eine verzogene, grimassenähnliche Maske, blass vor Todesangst. „Das ist nicht wahr...“, wimmerte er, während die langen Speichelfäden seinem Mundwinkel entwichen und auf sein Hemd tropften. Das Lenkrad in seinen Händen vibrierte nicht mehr, es erbebte unter der steigenden Geschwindigkeit. „Oh, doch. Genau in diesem Moment treiben sie es in deinem Bett. Schau sie dir doch an, schlank und blond ist sie, und schön. Und schau dich an, du erbärmlicher, wiederwertige Fettsack. Erzähl mir, was mit Emma Adgecombe passiert ist.“ „Emma... Adge...combe?“ Der Mustang grölte unter der Geschwindigkeit von 180 km/h auf. „Genau, mit deren Altgold du einen Teil deiner Hypothek gezahlt hast.“ Plötzlich fluteten die Erinnerungen an Emma zurück in sein Bewusstsein. Es war, als hätte eine fremde Macht Besitz von ihm ergriffen und zwang ihn dazu, sich an das Ereignis zu erinnern. Garrett schaffte es in der Panik, die ihn in einem eisernen Klammergriff gefangen hielt, nicht, auch nur einen nachvollziehbaren Gedankenstrang zu bilden, doch das Bild der alten Emma Adgecombe flackerte schmerzhaft klar wieder auf. Zwischen den zahlreichen, brüchstückhaften Stoßgebeten, die er geistig gen Himmel schickte und dem leisen Flehen in seinem Kopf, dass die Stimme doch endlich verstummen möge, zeichnete sich deutlich und scharf das Gesicht der alten Emma ab, die ihre letzten Tage ebenfalls im „Sonnenschein-Pflegeheim für bedürftige Senioren“ erlebt hatte. Sie war eine zerbrechliche Frau gewesen, an die 90 Jahre alt, ausgemergelt und dem Tod auf der Schippe stehend. Und sie wusste es, sie wartete nur noch auf den Tod und hoffte, dass er schmerzlos vonstatten gehen würde. Sie war eine Frau, die alles aufgegeben hatte, sich aber immernoch vor Schmerzen fürchtete. Mit einem schwachen Lächeln- ihr Gesicht, deren Haut ledrig und furchig über ihre Wangenknochen gespannt war, verzog sich dabei zu einer schiefen Grimasse- hatte sie Garrett gebeten, ihr ein wenig Gesellschaft zu leisten. Ihr Zimmer hatte die Seniorin neben Geoffreys und Garrett hatte sie einst als eitle Frau kennengelernt, die sich ihrem Alter zwar bewusste war, es sich jedoch nicht nehmen ließ, täglich ein wenig Make-up aufzutragen und die feinen, weißen Haare in große Lockenwickler zu drehen, bevor sie zu Bett ging. Gegen Ende ihrer Zeit war sie nur ein Schatten ihrer selbst, ihr fehlte die Kraft, sich weiterhin um ihr Aussehen zu kümmern, und es war traurig, war es in dem Rattenloch das einzige, was ein bisschen Normalität in ihren Alltag zauberte. Wenn man auf den Tod wartete, war ein Funken Normalität eine ausgesprochene Genugtuung, ein Anzeichen von Menschlichkeit, von Leben. Garrett tat ihr den Gefallen, hauptsächlich um dem bemitleidenswerten Anblick seines Vaters und seinen müden, glasigen Augen zu entfliehen, die für ihn stets einen anklagenden Ausdruck beinhielten. So hatte er sich an Emma Adgecombes Bett gesetzt, ab und an die dürre Hand der alten Frau getätschelt, weil es sie glücklich machte und unzähligen Geschichten über den zweiten Weltkrieg gelauscht, den sie miterlebt und vorallem überlebt hatte. Sie war schottischer Abstammung und hatte sich unsterblich in einen polnischen Soldaten jüdischen Glaubens verliebt. Zusammen mit ihrer kränklichen Mutter war sie dem Mann nach Polen gefolgt, bis die Hetzjagd begonnen hatte. Die alte Frau wurde erschüttert von lautlosen Schluchzern, während sie erzählte und Garrett nickte verständnisvoll, interessierte sich jedoch kaum an der Geschichte. Er lauschte nur halbhörig, sorgte sich mehr um die nächste, fällige Rate seiner Hypothek. Bis Emma plötzlich zu Husten begann. Ihr gesamter, porzellanartiger Körper wurde von Krämpfen geschüttelt und sie krallte die dürren, knochigen Finger in das klinisch weiße Bettlaken. Nervös war Garrett hochgefahren und redete auf die Frau ein, versuchte sie ein wenig aufzurichten und ihr auf den krummen Rücken zu klopfen. „...k-keine...Luft!“, stieß die alte Dame hervor; nasse, weiße Strähnen fielen ihr in das schmerzverzerrte Gesicht und verschleierten den Blick in ihre aufgerissenen, glasigen Augen, die unentwegt zuckten und doch weit, weit entfernt ins Leere starrten. Garrett rief nach Hilfe, das Erbeben ihres Körpers ließ nach und ihre Atmung verlangsamte sich, bis sie gänzlich verstummte. Er packte die Frau an den spitzen Schultern und schüttelte sie sanft, versuchte wieder Lebensenergie in ihren Körper zu treiben, rief unentwegt nach irgendjemanden, doch die Tür blieb geschlossen. Emma Adgecombes Pupillen waren geweitet und ihre Augen rollten sich dermaßen weit nach hinten in die Augenhöhlen, dass nach wenigen Sekunden nur noch das gallertartige Weiß der Augäpfel zu sehen war, untersetzt mit roten, geplatzten Äderchen. Sie war tot. Garrett ließ sie auf das Bett sinken und bedeckte sie bis zu den mageren Schulter mit der Bettdecke. Er musste so schnell es ging einem der Pfleger Bescheid geben. Ihm war eben eine alte, senile Frau unter den Händen weggestorben. Einfach so, ohne ihn vorzuwarnen. Er rieb sich die pochenden Schläfen und wollte gerade das Zimmer verlassen, als sein Blick auf Emmas Nachttischchen haften blieb. Ein kleines, überfülltes Schmuckkästchen thronte herausfordernd auf der Tischplatte und zwinkerte ihm entgegen. Tatsächlich beherbergte die alte Emma tonnenweise Schmuck, vorzugsweise Gold, was sich an den unzähligen Ringen erahnen ließ, die ihre dünnen Fingerchen schmückten. Garrett wandte sich ab, selbst ein Charakterschwein wie er wusste, dass dies falsch war. Doch die verdammte Hypothek hämmerte in seinem Kopf wie ein Vorschlaghammer. „Oh, Jesus, vergib mir“, hatte er geflüstert, einen verstohlenen Blick gen Tür geworfen und das Kästchen geöffnet. Doch als er das Innere erblickte, viel jegliche Heuchelei von ihm ab und ein schelmisches Grinsen schob sich auf sein fettes Gesicht. „Genau, du hast eine tote, alte Frau ausgeraubt.“ Die Stimme schnaubte verächtlich. Garrett spürte, wie ihm die Magensäure die Kehle hinaufkroch. Am liebsten hätte er sich übergeben. Stattdessen weinte er mittlerweile lautlos, obgleich er den Drang verspürte zu schreien. Zu brüllen, die Stimme zu übertönen. Die nächste Stadt war noch ein paar Meilen entfernt. Er war allein mit der allwissenden, vorwurfsvollen Stimme. „Wusstest du, Gary, dass der meiste Schmuck, den du der armen, toten Emma Adgecombe geklaut hast, Vermächtnisse ihrer Mutter waren? Sie hat dir doch erzählt, wie kränklich sie gewesen war. Doch Emma starb, bevor sie an dem Punkt der Geschichte angelangte, als die Nazis die alte Frau an den Haaren aus der Wohnung in Polen gezerrt und sie abtransportierten hatten.“ „Ab...-transportiert?“ Der Mustang schoss mit 240 Stundenkilometer über die raue, erbarmungslose Fahrbahn, über die Interstate 71. „Am Bahnhof hatte Emma die Nazis angefleht, zu ihrer Mutter und ihrem Mann in den Zug steigen zu dürfen, auch wenn es ihren Tod bedeutet hätte. Durch die schmalen Ritzen des Waggons hindurch hatte ihre Mutter ihr den gesamten Schmuck zugeschoben, den sie ständig bei sich getragen hatte. Zwei Ketten, Armbänder, ein paar Ringe. Alles aus Gold. Emmas Mutter und ihr Mann waren nackt und eingepfercht in einer Gaskammer gestorben.“ „Nein...Nein...“, Garrett gebar ein erbärmliches Wimmern. Er umklammerte das Lenkrad mit einer derartigen Kraft, dass seine Nägel tiefe Halbmonde in dem schwarzen Leder hinterließen. Er hatte das Altgold zu Geld gemacht, hatte es bei einem Juwelier verkauft. „Ja, und du hast erbärmliche 196 Dollar für den Schmuck bekommen. War es den Tod der alten Emma wert, Gary? Genau wie der Tod deines Vater es wert ist, mit einem Glas Bourbon Whiskey anzustoßen und sein Allerheiligstes zu verkaufen?“ Der Whisky... Mit zitternder Hand umfasste Garrett den Hals der Flasche und zog sie aus der braunen Tüte. Ein tröstliches Gefühl erfüllte seinen gepeinigten Körper, der erschüttert war von Angst und Selbsthass. Fast kam er von der Straße ab, als er auch die andere Hand von dem Lenkrad nahm, um den Whisky zu öffnen. Mit einem großen, vernichtenden Zug verschwand ein Viertel des Gebräus in seinem Schlund. Es brannte höllisch in seinem Rachen und fegte seinen Kopf fast völlig leer. Nur die Stimme, die vermochte es nicht zu verbannen. „Trink nur, Gary. Proste auf deine erbärmliche Existenz!“ „Bist du...Gott?“, flüsterte Garrett über das laute, irre Lachen der Stimme hinweg. „Gott? Oh, nein, Garrett, ich bin nicht Gott. Schau es dir an, das kleine Holzkreuz, das von deinem Spiegel baumelt. Schau es dir genau an.“ Garrett nahm einen weiteren Schluck aus der Flasche und erblickte das kleine Kreuz, dass beruhigend ruhig neben dem Duftbäumchen aus der Tankstelle vom Innenspiegel schaukelte. Gemächlich hin und her. Panisch schrie Garrett auf und hätte beinahe das Lenkrad herumgerissen, als das Holzkreuz zu brennen anfing. Aus dem Nichts, innerhalb eines Wimpernschlages, brannte es lichterloh. Das Bäumchen daneben blieb von den lodernden Flammen verschont, nur das Kreuz wurde zur Fackel. „Gott hasst dich, Garrett. Du bist Abschaum. Schau dich an, du erbärmliche Kreatur. Du hast niemanden. Du bist ganz allein auf dieser von Gott verlassenen Welt. Dein Vater ist tot, deine Frau vögelt einen anderen Mann und wird dich verlassen. Du wirst sterben, wie Geoffrey gestorben ist. Er starb in einem Rattenloch, doch du wirst als Ratte sterben!“ Er schrie immernoch, wie am Spieß, als das Bändchen, an dem das Kreuz baumelte, durchbrannte und das verkohlte Stück Holz auf seinen Oberschenkel fiel. Ein Schmerz, reinem Strom gleich, schoss durch seinen gesamten Körper, als das Kreuz ein Loch durch seine Jeans brannte und auf seine Haut traf. Feine Rauchfäden stiegen auf, als die Haut verkohlte und das Autoinnere mit dem herben, ätzenden Geruch verbrannten Fleisches erfüllt wurde. Garrett glaubte, es zischen zu hören. Er warf den Whisky zu Boden, kurbelte das Fenster herunter und war das verkohlte Holzkreuz auf die Fahrbahn. Verzweifelte Tränen vermischten sich mit kaltem Angstschweiß, schmerzerfülltes Jaulen entwich seiner Kehle und die Spucke lief sein doppellagiges Kinn hinunter. An der Stelle, an dem das Kreuz auf seinen Oberschenkel getroffen war, klaffte ein Loch im Stoff seiner Jeans und eine schmerzhafte Brandblase in Form des Kreuzes hatte sich auf der nackten Haut gebildet. Es war eine ernsthafte Verbrennung, Blut sickerte aus der Wunde und färbte seine Jeans rot. Garrett weinte bitterliche Tränen, als ihm auffiel, dass das Kreuz falsch herum auf seine Haut getroffen war. Nun trug er das Brandmal des „Kreuzes der Sünde“; ein umgedrehtes Kreuz, Satans Werk. „Du bist der Teufel!“, schrie Garrett, der Schlangenlinien quer auf der eigenen und der Gegenfahrbahn fuhr und spie einen Sprühregen aus Speichel über das Armaturenbrett. „Nicht ich bin der Teufel, Gary.“ Ein kehliges Lachen entwich den Lautsprechern. „Du hast ihn in dir. Kennst du die alte, indianische Lebensweisheit? Jeder Mensch trägt zwei Bestien, zwei Wölfe in sich. Einer ist gut, der andere hingegen böse. Ob du ein guter, oder ein grundauf schlechter Mensch bist, entscheidet die einfach Tatsache, welchen der beiden Wölfe du fütterst. In dir, Garrett, ist der Gute nur noch ein Skelett bespannt mit Fell, während der Böse fett und träge ist wie du selber.“ Das Lachen, dieses widerwärtige Lachen! Es flötete aus den Boxen und drang Garrett so tief in sein Bewusstsein, dass er es in seinem Kopf hallen hörte, immer und immer wieder. Sein Atem rasselte dermaßen heftig, dass er laute Pfeiffgeräusche bildete. Seine Kleidung war durchnässt und blutig, das Brandmal schickte stoßweise unerträgliche Wellen des Schmerzes durch seinen Körper. „Wusstest du, Gary, das Kentucky, der Staat in dem du sterben wirst, ein Wort indianischer Abstammung ist und „Land der Zukunft" bedeutet? Ich finde, es passt nicht so recht. Dein Leben wird hier enden, Garrett Nightengale. Für dich gibt es keine Zukunft mehr. Endlich wirst du sterben. Deine Frau kann mit dem Nachbarn durchbrennen, dein Vater kann dir in der Hölle ins Gesicht spucken. So wie du es verdient hast!“ Garrett drückte dermaßen heftig das Bremspedal durch, dass er trotz des Gurtes wuchtartig mit der Stirn gegen das Lenkrad prallte und wieder zurückgeworfen wurde. Die Reifen des Mustangs schrien ohrenbetäubend auf und er hatte Probleme zu verhindern, dass der Wagen aus der Bahn geworfen wurde, während er, schwarze Bremsspuren hinter sich ziehend, zum Stehen kam. Die Straße war wie leergefegt, wie schon den ganzen Morgen über, seit diese verhängnisvolle Fahrt ihren Anfang gefunden hatte. Die Reifen des Wagens qualmten und Garrett stieg der beißende Geruch verbrannten Gummis in die Nase, als er sich von dem Gurt befreite und ausstieg. Seine plumpen, kurzen Beine hielten kaum sein Gewicht und zitterten. Seine Knie gaben fast nach, sodass er sich an dem Wagen abstützen musste, während er zum Kofferraum ging. Das rechte Bein, auf dem das brennende Kreuz seine Male hinterlassen hatte, zog er hinkend nach. Als er die Hinterseite seines Wagens erreichte hatte, riss er die Knöpfe seines Hemdes auf und schälte es von seinem aufgequollenen Oberkörper. Es war kalt und nass von Schweiß und Speichel. Prompt fühlte Garrett, wie die Spuckfäden nun seine blanke Brust trafen und gemächlich hinunterliefen. Er hatte den Mund zu einem stillen Schrei verzerrt und heulte stumm. Mit einer raschen Bewegung riss er das Hemd in zwei Teile. Er ging in die Knie, wobei ein glühender Schmerz von seinem Bein ausgehend bis in sein Knochenmark fuhr, und stopfte einen Teil des Hemdes in einen der beiden Auspuffe. Er schob den Stoff so weit hinein, bis das Rohr lückenlos ausgefüllt war. Das Ende des Fetzens hing aus dem Auspuff heraus und berührte fast den Boden, doch die Optik spielte hier keine große Rolle, solange die Funktion die gewünschte war. Er öffnete den Kofferraum und die klobigen Radiogeräte seines Vaters schienen ihm dämonisch entgegenzugrinsen. Er japste erschrocken auf, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Rauschen aus den Lautsprechern ertönte und kurz darauf wieder die Stimme zu hören war. „Fass weit in den Kofferraum hinein, Garrett. Wir wollen ja nicht, dass du den Gartenschlauch übersiehst, der in der hinteren Ecke liegt.“ Während er dem dämonischen Lachen lauschte, schob er die schwerer Radios beiseite und fand tatsächlich den Schlauch, mit dessen Hilfe er seinen Garten bewässerte. Er hatte keinen blassen Schimmer, wann er ihn in den Kofferraum verstaut hatte und vorallem warum, doch es war nicht von Belangen. Er riss die Düse von dem einen Ende des grünen Schlauchs, stopfte ihn weit in den anderen Auspuff hinein und schloss den Kofferraum. Mit rasselndem Atem schaffte er es wieder zum Fahrersitz, zog das andere Ende des Schlauchs durch das geöffnete Fenster in das Wageninnere, bevor er zum letzten mal die Tür schloss. Er kurbelte das Fenster nur so weit hoch, dass ein schmaler Spalt in der Breite des Schlauchs übrig war und achtete penibel darauf, es nicht zu sehr einzuklemmen. Die andere Hälfte des Hemdes in Übergröße stopfte er durch die schmale Lücke und versuchte, es so gut es ging abzudichten. Prompt empfing ihn wieder die Stimme des Teufels, dem war er sich nun mehr als sicher. „Tu es, Garrett. Zögere nicht länger und starte den Motor. Du bist es nicht würdig zu leben, du Scheißkerl. Du wirst schmoren in der Hölle!“ Mit einem tierartigen Schrei riss Garrett das Autoradio aus seiner Verankerung. Funken sprühten und Kabel rissen, begleitet durch schmatzende Geräusche. Er zog so fest er konnte und schrie in die kalte Herbstluft hinaus. Dumpf prallte das Autoradio auf den Boden des Wagens auf und die Stimme war verstummt. Er startete den Motor. Ein schmerzliches Gefühl, als er aufjaulte und zu schnurren begann, wie er es von ihm gewohnt war. Der alte Mustang mit dem Baujahr '68 hatte keinerlei Filter eingebaut und es dauerte nicht lange, bis ihm eine volle Ladung Kohlenmonoxid entgegenwaberte, wie ein verheißungsvoller, durchsichtiger Nebel. Er erblickte die Whiskyflasche auf dem Boden neben dem herausgerissenen Radio. Die Hälfte des Inneren war ausgelaufen, doch was machte dies schon. Träge erhob er die Flasche und setzte sie an die Lippen. Er hatte aufgehört zu weinen, doch sein gesamter Körper klebte vor Schweiß und Spucke. Er roch wie ein Hund, der er letztendlich auch war. Seine Wunde klaffte und erinnerte ihn durch die regelmäßig auflodernde Schmerzen an ihre Präsenz. Garrett genoss die Ruhe, die gespenstische Stille, die ihn nun umgab. Niemand sprach zu ihm. Die Stimme des Teufels war verschwunden. Seine Augenlider wurden schwer und träge. Er wusste nicht, ob es bereits das Resultat des Abgases war oder die erschreckende Müdigkeit, die ihn übermannte wie ein überlegendes Kriegsheer die feindliche Armee. Er lehnte seine pochende Stirn gegen das wuchtige Lenkrad, nahm hin und wieder einen Schluck des Bourbons und wartete. Außer dem bestätigenden Brummen des Motors und seinem eigenen, hektischen Atem, gepaart mit den saugenden Geräuschen, als er einen tiefen Zug aus der Flasche nahm, war es ruhig. Sein Zeitgefühl war ihm auf der I-71 verloren gegangen, sodass er nicht einschätzen konnte, wie lange er jetzt schon wartend verharrte und wie lange es noch dauern würde, bis die Erlösung ihn umfing. War dies der Wunsch der alten Adgecombe gewesen? Friedlich zu dösen und still zu sterben? Er hatte es nicht verdient. Er hatte das Leben nicht verdient. Der untersetzte Wolf in seinem Innern jaulte und erfüllte seinen Kopf mit einem dumpfen, intensiven Schmerz. Der Whisky glitt ihm aus der schweißnassen Hand. Der Speichel tropfte ihm erneut über die Lippen und besudelte das Lenkrad. Ihm war, als hörte er sein leises Tropfen. Tropf, tropf... „Ghm...“ Eine nervtötende, schrille Melodie durchschnitt die Stille seines Freitodes. Gängiges Vibrieren gesellte sich hinzu und erinnerte ihn daran, dass auf der Rückbank sein Handy unter dem riesigen Jackett verborgen lag. Mühselig hob er den Arm und tastete sich zum hinteren Teil des Wagens vor. Er fühlte sich benommen und so verdammt müde, was sich in seinen langsamen Bewegungen, seinen letzten Bewegungen, widerspiegelte. Irgendwie schaffte er es, das Jackett beiseite zu schieben und das vibrierende Mobiltelefon zu umklammern. Während sein Arm langsam wieder nach vorne wanderte, drückte er einen der Knöpfe und nahm den Anruf entgegen. „Garrett?“, ertönte sorgenerfüllt die Stimme seiner Frau, noch ehe er das Handy ans Ohr hielt. Er sagte nichts, sondern lauschte weggetreten und keuchend ihrer Stimme. „Um Gottes Willen, ist alles in Ordnung mit dir?“ Er antwortete nicht, sondern kniff die angestrengten Augen zusammen. Das Kohlenmonoxid drang in jede Pore seines Körpers, waberte in jede Körperöffnung und erinnerte ihn wieder an furcheinflössenden, erbarmungslosen Nebel. Er konnte nicht fliehen, doch er hatte es verdient. „Jenniffer, betrügst du mich?“, seine Stimme versagte fast. „Fickst du unseren Nachbarn?“ Am anderen Ende der Leitung sog seine Frau scharf die Luft ein. „Wie kommst du darauf? Was ist los mit dir, wo bist du? In Teufels Namen, rede mit mir!“ „Ich habe es verdient, Jenniffer. Mein Vater starb in einem Rattenloch und ich werde als Ratte sterben...“ Ihm war, als wehte von weit her das unheilvolle Lachen der Stimme. Als drang es aus jedem der Lautsprecher der gottverdammten Radios, die er bei sich hatte. Verspottete ihn, feierte ihren Triumph und damit sein Ableben. Mit diesem kehligen Lachen im Ohr, entglitt ihm das Telefon und somit die weinerliche Stimme seiner Frau und die Stille nistete sich ein. Das Radio hatte ihr Hörspiel beendet. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)