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Cruel Nature

von

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Prolog

Prolog
 

Eine junge, dunkelhaarige Frau mit einem Haarnetz faltet vor ihrem Holzhaus die Wäsche von ihr und ihrem Mann, die zuvor an der Sonne getrocknet ist. Sorglos summt sie ein Lied, mit den Gedanken ist sie bei ihrem Geliebten, der bald vom Feld zurückkommen sollte.

Die meisten armen Menschen sind Bauern, doch so schlecht geht es ihnen nicht.

„Hallo Liliana“, wird die arbeitende Hausfrau plötzlich begrüßt. Sie sieht auf.

Vor ihr steht eine Frau mit langen silbernen Haaren, die sie glücklich anlächelt.

Liliana legt ihre Wäsche beiseite: „Was machst du denn hier?“

„Ich wollte dich mal wieder sehen. Wir haben seit meiner Hochzeit nicht mehr richtig miteinander gesprochen. Dabei bist du meine engste Vertraute.“

„Solltest du sowas wirklich sagen, wo du jetzt verheiratet bist?“; Liliana steht auf; „Gehen wir ein Stück über das Feld.“

Die Besucherin stimmt fröhlich zu. Bei so einem wunderschönen Wetter, weder zu kühl noch zu heiß, und kein Regen, was ist da angenehmer als ein Spaziergang über ein freies Gemüsefeld?

Liliana mustert das Bauerngewand ihrer Freundin und fragt: „Du läufst rum wie einfaches Fußvolk, so wie ich es bin. Ich dachte, das wolltest du nicht mehr? Jetzt hast du es doch nicht mehr nötig.“

„Ich weiß“, sagt die Angesprochene schnell; „Aber ich wollte mich ein wenig anpassen. Wenn ich hier mit nobler Kleidung auftrete, ziehe ich noch mehr Aufmerksamkeit auf mich als sowieso schon.“ Bei den letzten drei Wörtern deutet sie mit ihrem Finger auf ihre Augen, die eine unnormale Augenfarbe aufweisen: Rot. Kein dunkles Orange oder helles Braun, sondern richtiges, tiefes Rot, erinnernd an Blut.

„Darüber hättest du dir keine Sorgen machen müssen. Die Leute hier sind doch daran gewohnt. Du musst keine Hexenjagd oder ähnliches fürchten, immerhin kann ich auch hier leben“, antwortet Liliana gelassen und zeigt auch auf ihre ebenfalls roten Augen.

„Da bin ich ja beruhigt. Wie läuft es eigentlich auf dem Feld?“

„Du siehst es doch.“ Liliana streckt ihre Arme aus: „Es blüht und floriert! Dank diesen Feldern müssen die Landwirtsfamilien wie wir nicht mehr unter Hunger und Armut leiden.“

Man kann ihr nur recht geben: Die Ernte ist überwältigend.

„Allerdings nicht überall“, grinst die Bekannte und starrt auf eine kleinere Fläche, die beinahe unfruchtbar scheint.

Als Liliana das sieht, geht sie sofort hinüber und geht bei dieser Stelle in die Knie:

„Für die Menschen dieses Dorfes...“, murmelt sie und drückt ihre Hände in die Erde.

Ein paar Sekunden später sprießen urplötzlich grüne Gemüsepflanzen aus der Erde und fangen auch sofort an zu blühen. Liliana zieht ihre Hände wieder aus dem Dreck.

Der scheinbar unfruchtbare Bereich des Feldes gedeiht nun prächtig.

„Du bist wirklich bewundernswert. Ohne dich wären die Menschen in diesem Dorf verloren.“

Liliana erhebt sich: „Danke, dass du das sagst, Emily. Ich tue, was ich kann.“

Die Frau, deren Name Emily ist, mustert Liliana von unten bis oben:

„Du siehst so blass aus. Zu blass. Ernährst du dich richtig?“

„Soweit es geht. Es gibt leider zu wenig passende wilde Tiere in der Umgebung. Gemüse haben wir zwar mehr als genug, aber ich bin hier wohl die Einzige, die davon nicht satt werden kann.“

„Du trinkst also nie von Menschen?“, hakt Emily nach.

„Nein, nie“, gibt Liliana selbstbewusst zurück.

„Das muss doch schwer sein, ich meine, ich würde sicher niemanden töten, aber gar kein Menschenblut trinken... Dass du so ein normales Leben führen kannst...“

„Es ist nicht so schwer wie es aussieht. Ich bekomme nur nicht soviel Blut wie andere unserer Art.“

Die beiden Frauen sind mittlerweile wieder auf dem Weg zurück zum Haus.

„Deine Lebensweise ist löblich, aber bitte achte auch auf deine Gesundheit“, ermahnt Emily ihre Freundin, welche anfängt zu lachen und erwidert: „Aber sicher. Sorge dich nicht.“

Emily lächelt. Sie will nur das Beste für ihre Vertraute.

Drei Tage später fährt Emily wieder in das kleine Dorf, mit einer Kutsche, die ihr Ehemann bereitgestellt hat. Als Geschenk hat sie Jagdpfeile dabei, mit denen Liliana besser Tiere erlegen kann.

„Schon gut, von hier werde ich laufen“, sagt Emily und steigt aus.

Sie möchte nicht, dass jemand die Kutsche sieht und sie dadurch direkt dem Adel zugeordnet wird.

Den Korb mit den Pfeilen im Arm tragend läuft sie den Pfad hinunter bis sie zu den Feldern kommt. Aber was ist das? Emily kann ihren Augen nicht trauen. Die Gemüsefelder, vorher noch in voller Pracht, brennen lichterloh! Es steigt eine erhebliche Menge Rauch auf, alle Pflanzen werden von den roten Flammen verbrannt.

Wie kann das sein? Wer ist dafür verantwortlich?

Gegen das Feuer kann sie nichts unternehmen, aber um ihre Freundin besorgt rennt sie am Feld vorbei bis sie zum kleinen Holzhaus kommt.

Sie erschrickt, als sie die riesige Menge an Menschen sieht, die mit Fackeln vor der Tür stehen und schreien: „Hexe!“ oder „Dämonenbrut! Scher dich zur Hölle!“

Rücksichtslos schlagen sie gegen die Tür.

Voller Angst, man könne sie entdecken, geht Emily hinter dem Haus in Deckung.

„Komm raus oder wir fackeln dein Haus ab! Dein teuflisches Werk brennt schon nieder“, schreit ein Mann mit einem hasserfüllten Gesichtsausdruck.

„Nein, nein, nein...“, wimmert Emily; „Egal was du tust, mach nicht auf, mach nicht die Tür auf...“

Quietschend öffnet sich die Tür, und Liliana tritt ernst aus ihrem Haus.

Alle Bürger weichen einen Schritt zurück.

„Gib zu, dass du eine Hexe bist!“, fordert ein junger Mann sie auf, aber sie antwortet:

„Ich bin keine Hexe. Warum... habt ihr die Ernte niedergebrannt?“

„Sie ist das Werk des Teufels!“, kreischt eine Frau und wirft eine Fackel nach Liliana, die geschockt einen Schritt zur Seite geht.

„Man hat dich gesehen! Man hat dich hexen sehen! Wie du am Feld herumgespielt hast und die Früchte des Verderbens aus der Erde schossen!“

Die Menschenmenge stimmt mit lautem und aggressivem Rufen zu.

„Ich werde es euch zeigen“, murmelt Liliana und hockt sich hin. Dann berührt sie mit zwei Fingern leicht den Boden, und eine Sekunde später bricht ein kleiner Stängel heraus, der sich rapide zu einer gelb blühenden Butterblume entwickelt.

„Soll das wirklich das Werk des Teufels sein?“, fragt sie lächelnd.

Die Menschen reagieren nicht so, wie sie es erhofft haben: „Dämon! Hexe! Monster! Rotäugiges Biest!“, schreien sie und gehen auf Liliana los; Jetzt, wo sie alle ihre „Hexenkunst“ gesehen haben, halten sie einen Prozess für unnötig und gehen direkt zur Hinrichtung über.

Emily steht da wie angewurzelt. Warum tun sie das? Ihre Hand bildet sich zu einer Faust, und sie rennt zu den anderen Leuten und drängelt sich vor sie. Sie muss sie da einfach rausholen.

Aber zu spät. Als sie nur noch einen Meter von ihrer Freundin entfernt ist, bekommt diese eine Axt ins Herz gerammt, von einem muskulösen, großen Mann.

„Neiiiin!!!“, schreit Emily und rennt zu ihr hinüber.

Der Mann spuckt auf den Boden: „Das war kein Mensch! Sei nicht traurig, es war nicht mehr als eine Marionette des Teufels.“

Emily starrte Liliana an, die Unmengen an Blut verliert, bevor sie schließlich stirbt.

Lachend und zufrieden wenden sich die Bürger wieder ab, aber Emily springt auf und schreit:

„Keine Bewegung!“ Alle drehen sich zu ihr um und schauen sie verwirrt an.

Dann schreit plötzlich eine Frau: „Oh mein Gott! Seht ihr diese Augen! Genau wie bei dieser Hexe!“ „Wollt ihr mich jetzt töten?“, fragt Emily herausfordernd.

„Nein“, sagt ein Mann, doch bevor er weitersprechen kann, greift Emily nach der Axt am Boden und sagt atemlos: „Gut. Ich werde euch töten. Jeden Einzelnen von euch. Denkt ihr, wir Vampire wären euch Menschen nicht würdig? Wir seien Dämonen?“ Sie wirft einen traurigen Blick auf Liliana: „Ihr seid hier die Dämonen. Menschen sind Dämonen! Ihr sollt alle sterben!“

Voller Wut und Hass sprintet sie auf die ängstlichen Bürger zu und schlägt dem Ersten den Kopf ab.

Der Bruder und der Freund

Der Bruder und der Freund
 

Eine sternenklare, warme Sommernacht in der Stadt Logaly ist nicht selten.

„Aber diese ist auch noch romantisch...“, sagt eine junge Frau verträumt.

„Hm? Was hast du gesagt, Miho?“, fragt sie ihr Freund. „Nichts, nichts“, sagt Miho und kichert.

„Ich finde nur, dass wir einen echt schönen Abend gehabt haben, Cliff.“ Das Auto, in dem das Liebespaar sitzt, hält an. „Wir sind da“, bemerkt Cliff; „Ich hatte auch eine Menge Spaß!“

Cliffs goldbraune Augen glänzen im Licht der nahe stehenden Straßenlaterne, und seine hellblonden, aufgestylten Haare sitzen wie immer perfekt.

Er ist so... cool, denkt Miho. „Miho, ich...“ Cliff sieht sie durchdringend an. „Ja?“, fragt Miho hoffnungsvoll. Denn sie weiß, was jetzt passieren würde. Zumindest denkt sie das.

„Ich muss auf die Toilette“, seufzt Cliff. „Oh Cliff, ich dich a-was?!“

Cliff grinst sie an: „Darf ich noch mit zu dir reinkommen?“ Miho steigt aus dem Auto aus.

„Das ist... keine gute Idee. Fahr lieber nach Hause und gehe da auf Toilette...“

Cliffs Blick verfinstert sich: „Das dauert doch mehr als eine halbe Stunde bis ich da bin. Und ich muss wirklich dringend!“ Miho seufzt. „Na gut, dann komm eben mit rein. Ich hoffe, das geht gut.“

„Worüber machst du dir eigentlich Sorgen?“, fragt Cliff auf dem Weg zur Haustür. „Ist es wegen deiner Familie?“ Miho bleibt kurz vor der Tür stehen: „Meine Eltern sind schon vor langer Zeit gestorben... Und mein Bruder, naja...“ „Sakito? Ich kenne ihn doch, er mag mich, weißt du nicht mehr?“ „Ähm, ja, ja, richtig...“, sagt Miho zögerlich und schließt die Haustür auf. Die beiden treten ein. „Das Badezimmer ist am Ende das Flurs, einfach an der Treppe nach oben vorbeigehen.“

Cliff bedankt sich und macht sich auf den Weg zum Badezimmer.

Wenigstens scheint er mich auch zu mögen, denkt Miho, als sie sich im Wohnzimmer hinsetzt. Für einen kurzen Moment überlegt sie, den Kamin an zumachen, doch im nächsten Moment springt ihr eine kleine, braune Katze auf den Schoß und miaut zur Begrüßung.

„Shya! Meine Liebste!“ ruft Miho und knuddelt das Kätzchen ganz fest.

Nach einem kurzen Moment öffnet sich die Tür leise, und ein Junge kommt ins Wohnzimmer.

„Oh, Keisuke. Guten Morgen“, lächelt Miho, während sie Shya streichelt.

Keisuke ist ein paar Jahre jünger als Miho, und seine Haut ist blasser als ihre. Er hat silberne Haare und leuchtend rote Augen, aber sonst sieht er wie ein normaler Teenager aus.

„Warst du schon wieder den ganzen Tag zu hause?“ „Ähm, ja...“, sagt Keisuke verlegen; „Hast du mir denn Sonnencreme mitgebracht? Ich hasse es, ohne raus zu gehen.“

„Oh tut mir Leid, daran habe ich nicht gedacht. Ich rufe gleich Sakito auf dem Handy an, vielleicht findet er einen Laden, der noch offen ist. Äh, was hast du da eigentlich in der Hand?“

„Hallo!“, ertönt eine Stimme hinter Keisuke, der sich danach umdreht.

Cliff steht hinter ihm. „Wer bist du denn?“, fragt Cliff und schaut Keisuke an. Beim Anblick seiner roten Augen weicht Cliff etwas zurück, fängt sich aber wieder.

„Ich bin Keisuke“, antwortet er lachend. Miho setzt die Katze ab, damit sie aufstehen kann und geht dann auf die beiden zu. „Das ist mein Bruder, mein... anderer.“ Cliff sieht geschockt aus. Er stellt sich neben Miho und fragt sie flüsternd: „Sag mal, hat er irgendeine Krankheit, oder warum sieht er so... seltsam aus?“ Mihos Hand verkrampft sich: „Nein, nicht ganz. Es klingt komisch, aber...

Er ist ein Vampir.“

Cliff muss lachen: „Was echt? Da habe ich aber Angst, haha.“ „Sie macht keine Scherze“, sagt Keisuke beleidigt; „Schau dir meine Zähne an!“ Keisuke öffnet den Mund. Seine Eckzähne sind wirklich größer als normalerweise, aber das kann Cliff nicht überzeugen, er muss schon wieder lachen: „Wie geil ist das denn! Dein Bruder ist ja echt ein Freak!“ Keisuke schaut ihn böse an, dann offenbart er, was er in seiner Hand hat: Eine Plastiktüte, gefüllt mit einer roten Flüssigkeit.

Er ist doch nicht schon wieder bei der Blutbank eingebrochen, denkt Miho.

Keisuke grinst die Beiden an, und einen Moment später rammt er seine Zähne in den Plastikbeutel und fängt an, ihn leer zu saugen. Miho sieht Cliff besorgt an; würde er jetzt Angst bekommen?

Aber so war es nicht, Cliff muss immer lauter lachen.

„Oh Mann, sowas habe ich noch nie gesehen! Miho, dein kleiner Bruder ist echt gestört. Darum haste mich wohl nie zu dir nach Hause eingeladen, oder?“ Cliff schaut Miho lachend an:

„Na so ein kranker Bruder wäre mir auch peinlich!“

Das war genug.

KLATSCH! So schnell hat Miho ihrem Freund eine runter gehauen.

„Mach dass du wegkommst!“, ruft sie voller Zorn. Cliff sieht sie mit wütenden Augen an, dann dreht er sich um, geht zur Tür und schaut Keisuke verächtlich an. Er hebt die Hand.

Plötzlich springt Shya fauchend an Cliffs Arm und lässt nicht locker.

„Blödes Vieh!“, flucht Cliff und versucht sie abzuschütteln.

„LASS SHYA IN RUHE!!!“ rufen Miho und Keisuke gleichzeitig.

Keisuke gibt Cliff einen Tritt ins Bein, sodass er stolpert und hinfällt. Die Katze läuft aus dem Wohnzimmer.

Cliff richtet sich knurrend auf, und schaut die Geschwister finster an. „Das war es mit uns!“, sagt er in einem überlegenen Tonfall und verlässt das Haus.

„Danke, das war nett von dir“, sagt Keisuke zu Miho; „Aber du hast ihn doch so gemocht. Ich glaube, der wird dich nicht mehr in seinem Auto mitnehmen.“ „Ach, ist mir egal“, antwortet Miho lächelnd; „Mit jemandem, der meinen Bruder runtermacht, will ich ganz sicher nicht zusammen sein.“ Mit diesen Worten verschwindet Miho nach oben.

„Ob sie wohl schon schlafen geht?“, fragt sich Keisuke. Langsam setzt er sich auf einen Stuhl und betrachtet seine Blutkonserve. Er hat noch Hunger, aber er zögert mit dem Trinken.

Hunger und Durst, es ist das gleiche für Keisuke seitdem er ein Vampir ist. Aber es gibt nur eins, was dieses Verlangen stillen kann, und das ist Blut.

Normalerweise saugen Vampire Menschen aus, bis sie blutleer sind, aber das hat Keisuke noch nie gemacht, und er hat es auch nicht vor. Ich will nie meine Menschlichkeit verlieren, denkt er.

Seine Geschwister sind Menschen, sie altern normal und können bei Tageslicht rausgehen, ohne das es wehtut. Keisuke ist oft neidisch auf sie beiden, denn ihm scheint der einzige Vorteil am Vampirdasein ist die verbesserte Sehfähigkeit im Dunkeln.

Keisuke entschließt sich, in sein Zimmer zu gehen und den Computer anzuwerfen.

Er hat ein neues Onlinespiel entdeckt, das er sehr spaßig findet.

Nach zwei Stunden Computerspielen wird er müde, zieht T-Shirt und Hose aus und legt sich ins

Bett.

Vampire sollen Särge brauchen um zu Schlafen? Wer erzählt so einen Blödsinn, denkt Keisuke vor dem Einschlafen.

Aber sie brauchen Blut, und in nächster Zeit wird er wieder die Blutbank um ein paar Blutkonserven erleichtern müssen, um zu überleben.
 

Vorschau auf Kapitel 2:
 

Wissen bekommt man nicht umsonst.

Wer viel wissen will, muss hart arbeiten, und nicht nur Schweiß und Tränen opfern, sondern auch Blut. Für wen ist der Kampf um das Blut gefährlicher?

Für den jungen Vampir oder den hochmütigen Menschen?

Kapitel 2: Blutspende

Blutspende

Blutspende
 

„Argh, ich kriege es einfach nicht hin“, flucht Desmond, und wirft seine Arbeit zur Hinterfragung des Atomteilchenmodells auf das Bett. Eine Pause wäre wohl angebracht... Als Wissenschaftler hat man es eben nicht leicht, denkt Desmond. Seine Forschungen machen ihm zwar Spaß, aber viel verdient hat er noch nicht dadurch. Jetzt ist es schon fast Mitternacht und er ist immer noch nicht fertig. Desmond weiß, dass er theoretisch schlafen gehen könnte, und dann morgen weiterarbeiten könnte, aber er hasst es, etwas nicht zu Ende zu bringen. Und er ist doch schon so nah dran...!

Er setzt sich wieder an seinen Schreibtisch. Geduld und einen klaren Verstand, das ist es, was gute Wissenschaftler brauchen, sagt er sich.

Nach einer Stunde intensivem Arbeiten legt er den Stift hin. Sein Hemd ist nass vor Schweiß und Desmond ist froh, endlich fertig zu sein, da klingelt das Telefon.

„Wer ruft denn so spät noch an?“, fragt er das Telefon genervt, aber er nimmt ab und meldet sich mit einem freundlichen: „Hallo, Desmond Corin hier?“

„Hallo mein Schatz!“, antwortet eine heitere Frauenstimme.

„Shou!“, ruft Desmond glücklich. Mit seiner Freundin hat er nicht mehr gerechnet.

„Schön, dass du anrufst! Aber weißt du, wie spät es bei uns ist?“

Shou kichert etwas: „Keine Ahnung, bei uns in Kanada ticken die Uhren etwas anders. Aber ist doch auch egal, du hast bestimmt noch gearbeitet.“

Desmond ist erstaunt darüber, wie gut Shou ihn kennt. „Richtig... Ich bin auch todmüde. Und auf morgen freue ich mich auch schon, ich muss die neuen Laborgeräte bezahlen, fragt sich nur von was.“

„Hast du Geldprobleme?“ Shou klingt besorgt; „Du hattest so ein hohes Startguthaben als du dir das mit dem Labor in den Kopf gesetzt hast.“

„Stimmt, aber das Geld war schnell weg. Ich bin permanent dabei, mir nebenbei noch etwas zu verdienen, zumindest bis ich mit meinen Forschungsergebnissen erste Erfolge erzielt habe.“

„Du könntest ja Blut spenden gehen, da gibt es auch Geld für. Wenn auch nicht viel.“

Desmond denkt kurz darüber nach, immerhin weiß er, dass sich das Blut in seinem Körper regeneriert, so würde er keinen Verlust machen.

„Das ist eine gute Idee. Ich fahre morgen zur Klinik.“

Shou gibt einen zufriedenen Ton von sich. „Was würdest du nur ohne mich tun...“
 

Am nächsten Tag ist Desmond schnell fertig, um zur Klinik zu fahren und Blut zu spenden. Er trägt einen schwarzen Anzug, um dort wo er hingeht auch einen guten Eindruck zu hinterlassen.

Nach einer kurzen Autofahrt ist er da, er steigt aus und geht auf die Tür der Klinik zu, doch bevor er sie öffnen kann, klingelt sein Handy.

Er geht weg von der Tür und nimmt ab: „Hallo?“

„Desmond? Wo bleibst du? Ich untersuche gerade ein hoch giftiges Destillat. Wann kommst du zur Arbeit?“

„Das Labor gehört mir, ich komme zur Arbeit wann ich will“, antwortet Desmond genervt und legt auf. Sein Kollege Michael ist ein komischer Typ, denkt er. Er hat keine Ahnung von Physik und Chemie, aber nimmt trotzdem einen schlecht bezahlten Job als Laborassistent an.

Desmond weiß, dass er ihn besser im Auge behalten sollte, man weiß ja nie.

Aber genug Zeit vergeudet, Desmond betritt die Klinik durch die sich automatisch öffnenden Türen und spricht die Frau an der Rezeption an.

„Guten Tag, ich heiße Desmond Corin, ich würde gerne Blut spenden.“

„Bitte hier entlang“, sagt die Frau und führt ihn in einen kleinen Raum dahinter.

Dann bückt sie sich, um ein paar Formulare aus einer Schublade zu kramen und sie vor Desmond auszubreiten. „Bitte füllen Sie das alles aus.“

„Natürlich“, antwortet Desmond gleichgültig. Während er sich die Blätter durchliest, fällt ihm auf, dass die Frau ihn permanent anlächelt. Sie ist freundlich, aber langsam wird es auch nervig.

Er reicht ihr die Blätter zurück. „Danke“, sagt sie; „Ich bin Frau Richter. Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich Ihnen das Blut abnehmen.“

Desmond lässt sie machen. Was sollte er auch dagegen haben? Frau Richter scheint zwar jung zu sein, aber deswegen ist sie bestimmt nicht unqualifiziert. Mit ihm ist das ja genauso.

„Danke für Ihre Spende“, sagt Frau Richter nach der Prozedur; „Wir haben es bitter nötig.“

„Warum das?“, fragt Desmond.

„Sie werden lachen, aber seit ein paar Wochen bricht alle paar Tage jemand in die Klinik ein und stiehlt die Blutkonserven aus den Kühlkammern.“

Desmond muss schmunzeln, von sowas hat er noch nie gehört.

„Warum sollte jemand sowas stehlen?“

„Keine Ahnung“, antwortet Frau Richter gelassen; „Aber dem Chef ist es wohl wirklich wichtig, dass diese Person geschnappt wird. Er bezahlt Tipps sogar mit Geld.“

„Warum kümmert sich die Polizei nicht darum?“, fragt Desmond.

„Sie haben es versucht, aber sie schaffen es einfach nicht, sich unauffällig zu verhalten.

Da ist es ja klar, dass der Dieb nicht auftaucht.“

Desmond grinst: „Wenn ich den Dieb für euch fange, wie viel wäre da wohl für mich drin?“

Frau Richter sieht ihn erstaunt an: „Ähm, ich weiß nicht. Aber bestimmt eine ordentliche Summe.“

„Gut zu wissen“, sagt Desmond; „Ich fahre jetzt nach Hause, ich muss etwas vorbereiten...“

Mit diesen Worten verlässt er den Raum und kurz darauf die Klinik.
 

Ich muss es tun, denkt Keisuke. Er sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer und streichelt Shya, während er darüber nachdenkt, sich wieder Blut zu besorgen.

Er hat zwar noch etwas Blut vom letzten Einbruch übrig, aber die Gelegenheit diesen Abend ist unverwechselbar günstig, denn Miho und Sakito sind beide auf einer Feier, und würden erst in der tiefen Nacht nach Hause zurückkehren.

„Meine große Schwester mag es zwar nicht, wenn ich Blutkonserven klauen gehe, aber ich muss mich ja auch irgendwie am Leben halten“, sagt Keisuke sich und verlässt das Haus.

Die Klinik ist nicht weit weg, gerade mal zehn Minuten von seinem Haus. Die Luft bei Abend gefällt Keisuke sehr gut, und er freut sich, dass sie Sonne schon fast untergegangen ist.

Als er bei der Klinik ankommt, ist es fast ganz dunkel.

So wie immer, denkt Keisuke und begibt sich auf die hintere Seite des Gebäudes. Dort führt eine kleine Treppe nach unten zu einer Tür, durch die man in die Klinik gelangt, aber sie ist verschlossen.

Keisuke nimmt sich eine Haarnadel aus seiner Hosentasche, die er sich von seiner Schwester „geliehen“ hat und fängt an, damit am Schloss rumzufummeln.

So steht er 15 Minuten lang bis es endlich „Klack“ macht und die Tür offen ist.

Die Dunkelheit im Keller stört ihn nicht weiter, da er ja auch im Dunkeln sehen kann.

Zum Glück ist kein Mensch da... Keisuke geht am Ende des Kellergangs eine Treppe hoch und gelangt zum Lagerraum.

Er ist schrecklich aufgeregt und sein Herz schlägt schnell.

Hoffentlich würde ihn niemand erwischen...

Die Kühlräume sind nicht weiter verschlossen, also nimmt Keisuke sich einfach ein paar Tüten voll Blut raus und geht langsam zurück zu der Treppe, die zum Keller führt.

Plötzlich geht im gesamten Komplex das Licht an, Keisuke erschreckt sich.

„Keine Bewegung!“ Keisuke dreht sich um. Hinter ihm steht ein erwachsener Mann.

Er hat blonde Haare und trägt einen Anzug, aber was viel wichtiger ist... Er hat eine

Schusswaffe auf Keisuke gerichtet.

Keisuke hat Angst, jetzt ist es vorbei. Was soll er machen? Versuchen zu fliehen?

Was, wenn der Fremde die Pistole abfeuert?

Er ist zwar ein Vampir, aber könnte ihn das töten?

Und selbst wenn nicht, es würde trotzdem höllisch wehtun.

„Du kommst jetzt mit mir, du Dieb“, sagt der Fremde mit einem grinsen im Gesicht.

Nein, denkt Keisuke, das geht nicht. Er muss fliehen... Schnell!

Und so tut er es, er stürzt sich in einem rasenden Tempo die Treppe runter und merkt, dass

der Fremde währenddessen Schüsse abgibt, die zum Glück nicht getroffen haben.

Er verfolgt mich, denkt Keisuke, und er läuft durch den ganzen Keller, stolpert dabei über alle möglichen herumliegenden Sachen und hält die Blutkonserven fest in der Hand.

Jetzt kann er schon die Tür sehen, sie ist nicht mehr weit!

Doch dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Die Kellertür lässt automatisch von innen ein Eisengitter runter!

Keisuke versucht verzweifelt, es hoch zu heben, aber es ist einfach zu schwer.

Er dreht sich nach hinten, und der Fremde steht vor ihm, in der rechten Hand die Pistole auf Keisuke gerichtet und in der linken Hand eine Fernbedienung.

„Hab dich“, sagt er triumphierend.

„Nein, bitte, lass mich erklären...“, fängt Keisuke an, doch der Mann unterbricht ihn indem er ihm Handschellen anlegt. „Erkläre es der Polizei.“

Er betätigt die Fernbedienung und das Eisengitter verschwindet wieder nach oben.

Polizei... Wenn Keisuke zu Polizei gebracht wird, gibt es Ärger, und es könnte noch schlimmer kommen. Was, wenn er ins Gefängnis muss? Dort hat er kein Blut zum Trinken... Dort würde er sterben.

„Die Pistole kann ich wegtun, meinst du nicht?“, fragt der Mann und steckt seine Waffe weg.

„Und jetzt komm mit zu meinem Auto.“

Was mache ich jetzt, fragt sich Keisuke. Wenn ich ihm sage, dass ich ein Vampir bin, wird er es mir nicht glauben, aber ich wüsste nicht, wie ich es ihm beweisen soll. Ich kann mich ja nicht in eine Fledermaus verwandeln oder all so ein Zeug!

„Steig ein“, sagt der Mann forsch, nachdem er die Autotür geöffnet hat.

Keisuke gibt keine Widerworte und tut wie geheißen. Er hat eh keine Wahl.

Das Auto wird in Bewegung gesetzt und fährt los. Nach fünf Minuten fragt der Fremde:

„Nur mal so aus Interesse. Warum stiehlst du Blutkonserven? Was bringt es dir?“

„Ich bin ein Vampir“, antwortet Keisuke ehrlich, doch der Fremde muss nur lachen.

„Ja, genau, das ist wohl das wahrscheinlichste!“

Plötzlich gibt es eine große Erschütterung, und der Fremde macht eine Vollbremsung.

Zum Glück ist Keisuke angeschnallt, darum hat sich der Mann noch gekümmert.

„Verdammt, was war das?!“, ruft er, doch dann erscheint vor ihnen auf der Straße ein großer, schwarzer Schatten, dem Keisuke spontan keinen Tier oder Mensch zuordnen könnte.

Aber das ist noch nicht alles: Der Schatten scheint zu leben! Allmählich nimmt er Gestalt an, und wirkt wie ein großer, schwarzer Stier.

Das Monster rennt auf das Auto zu und springt nach oben, woraufhin sich der Fahrer abschnallt und aus dem Auto rollt, aber Keisuke kann sich nicht bewegen, also hält er seine Hände schützend vor sich und schließt die Augen.

Er hört ohrenbetäubenden Lärm von zersplitterndem Glas und das ganze Auto wird einen Satz nach hinten geschleudert, aber Keisuke ist nichts passiert. Er hat überhaupt nichts vom Monster gemerkt,

es ist, als wäre nie ein Riesen-Schatten-Stier auf ihn zugesprungen, wenn man mal von den ganzen Schäden am Auto absieht.

Keisuke macht die Augen auf und stellt fest, dass seine Handschellen durchtrennt sind. Er kann es sich nicht erklären, aber er nutzt die Gelegenheit um aus dem Auto zu stürmen und zu fliehen.

Vom schwarzen Stier merkt er nichts mehr, und wo der Fremde ist, will er gar nicht wissen.

Er rennt nur so schnell er kann nach Hause.
 

Desmond richtet sich langsam auf, und sieht, dass sein Auto nun nicht mehr als ein Schrotthaufen ist. Völlig geschockt setzt er sich erstmal hin, er kann nicht glauben was gerade passiert ist.

Plötzlich bemerkt er einen großen Mann mit langem, schwarzen Mantel, der gemächlich an ihm vorbeigeht.

„Du hast Glück... Ich habe heute schon gespeist“, murmelt der Mann im Mantel.

„Was willst du damit sagen?“, fragt Desmond furchtlos.

„Und was war das gerade?“

Der Mann lacht laut: „Das werde ich dir wohl kaum sagen. Aber ich rate dir wirklich, Keisuke in Ruhe zu lassen. Du weißt nicht, was mit dir passieren könnte.“

Mit diesen Worten geht er schnellen Schrittes weg.

„Der Junge heißt also Keisuke... Das sollte ich mir merken“, denkt Desmond.
 

Der Mann im schwarzen Mantel schreitet ruhig durch die Nacht und flüstert:

„Ich werde auf dich aufpassen. Ich will ja nicht, dass meinem Sohn etwas zustößt.“
 


 


 

Vorschau auf Kapitel 3:
 

Das Licht des Morgens wird überschattet von falscher Freundlichkeit.

Über die Rückkehr eines guten Freundes sollte man glücklich sein, aber wer selbst ein Wesen der Nacht ist, wird es schwer haben, Freund und Feind zu unterscheiden.

Der Vampir, von Menschen umringt.

Kapitel 3: Erklärung

Erklärung

Erklärung
 

Diese Nacht ist Keisuke erst sehr spät nach Hause gekommen, aber zum Glück waren seine Geschwister noch nicht da. Er hat beschlossen, ihnen von nichts zu erzählen.

Denn erstens würde Miho wieder sauer werden, wenn sie hört, dass Keisuke wieder versucht hat, Blut zu stehlen, und zweitens würde man ihm die Geschichte mit dem Schatten sowieso nicht abkaufen.

Die Türklingel weckt Keisuke am nächsten Morgen. Besser gesagt Tag, denn als Keisuke auf den Radiowecker schaut, sieht er, dass es schon zwei Uhr ist.

Unten wird die Tür geöffnet. Wer das wohl ist? Seine Geschwister haben beide einen Schlüssel.

Wenn die Großeltern zu Besuch kommen, kündigen sie das vorher an, und das wüsste Keisuke.

Sonst kommen nicht viele Leute bei ihnen vorbei.

Wäre sein Zimmer nicht durch die Rollladen verdunkelt, wäre Keisuke schon vor Stunden unangenehm durch das Sonnenlicht geweckt worden, aber seitdem er ein Vampir ist, sind die Rollladen bei ihm nur noch unten.

Keisuke hört Schritte im Flur, irgendwer kommt da nach oben. Gespannt, aber auch noch sehr müde, setzt er sich auf, und dann klopft es an seiner Tür.

„Herein“, sagt Keisuke gelangweilt und rechnet mit Miho, die ihm zum Mittagessen holen möchte, aber sie ist es nicht.

Es ist der fremde Mann, der ihn gestern noch mit einer Pistole bedroht hat.

Keisuke schreckt auf, als er ihn sieht. Jetzt ist alles vorbei.

Er war sich so sicher, dass er es geschafft hat, zu entkommen, doch nun ist er hier.

Hier, bei ihm zu Hause! In SEINEM Zimmer!

„Hallo“, sagt der Mann; „Erinnerst du dich an mich?“

Keisuke antwortet nicht. Natürlich erinnert er sich an ihn, wie soll er ihn auch vergessen haben?

Der Typ hat ihn immerhin fast umgebracht!

„Wollen Sie mich festnehmen?“, fragt Keisuke misstrauisch.

„Nicht unbedingt“, sagt der Mann lächelnd und streckt seine Hand aus.

„Desmond.“ Keisuke erwidert nichts.

Desmond zieht die Hand zurück und setzt sich auf das Bett zu Keisuke, der daraufhin ein ganzes Stück zurück rutscht.

Was will der nur hier, denkt er.

„Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.“

Keisuke will davon nichts hören: „Woher wissen Sie, wo ich wohne?“

Desmond lacht kurz: „Das ist nicht wichtig.“

Er steht auf und geht zu den Fenstern: „Es ist stockdunkel hier drinnen. Du hast doch bestimmt nichts dagegen, wenn ich...“ Mit diesen Worten zieht er die Rollladen etwas hoch.

„Lassen Sie das!“, ruft Keisuke sauer. Was fällt diesem Spinner nur ein?

„Warum?“, fragt Desmond und hält inne.

Keisuke sagt nichts. Er würde ihm nicht schon wieder sagen, dass er ein Vampir ist, er würde ja ohnehin nur ausgelacht werden.

Desmond geht zur Tür und schaltet das Licht an, woraufhin Keisuke seinen gesamten Ober- und Unterkörper unter der Bettdecke versteckt.

Elektronisches Licht ist zwar ungefährlich, aber trotzdem trägt Keisuke nur ein T-Shirt und eine Boxershorts und dieser Desmond ist ihm gar nicht geheuer.

„Was war das gestern? Das schattenartige Wesen, was uns angegriffen hat?“

„Woher soll ich das wissen?“, fragt Keisuke und sieht Desmond böse an.

„Da sitze ich einmal mit einem Typen wir dir im Auto, dann taucht ein komisches Monster auf, dessen Auftauchen ich nicht logisch erklären kann. Es beschädigt mein Auto und kurz darauf bist du verschwunden. Du musst da was mit zu tun haben!“

„Habe ich aber nicht“, sagt Keisuke gleichgültig.

Desmond seufzt, dann geht er wieder zum Fenster und spielt mit den Rollladen.

„Du hast mir gestern gesagt, dass du ein... Vampir bist.“

Keisuke nickt: „Genau, und dann hast du mich ausgelacht.“

Desmond mustert Keisuke und sagt ruhig: „Nachdem was gestern passiert ist, glaube ich dir vielleicht.“

„Aha“, meint Keisuke.

„Wie kommt es eigentlich dazu? Ist deine Schwester, die ich unten getroffen habe, auch ein Vampir?“

„Nein, sie ist ein Mensch.“

Desmond setzt sich wieder auf Keisukes Bett, der dieses mal aber nicht wegrutscht.

„Wie bist du zum Vampir geworden?“, fragt Desmond.

„Ich wurde gebissen“, sagt Keisuke zögerlich; „Es war mein eigener Wunsch.“

Desmond starrt ihn mit großen Augen an: „Dein eigener Wunsch? Du wolltest das?“

„Ja... Meine Mutter hat mir eine Krankheit vererbt, an der ich bald gestorben wäre, wenn man mich nicht in einen Vampir verwandelt hätte. Sie ist auch an dieser Krankheit gestorben, vor ein paar Jahren.“ „Das tut mir Leid“, sagt Desmond, doch so sah er nicht aus: „Und deine Schwester?“

„Mein Bruder und meine Schwester haben sie nicht“, sagt er; „Und seitdem ich ein Vampir bin, habe ich sie auch nicht mehr. Anscheinend werden Vampire wirklich nie krank.“

„Interessant“, flüstert Desmond und holt sich einen kleinen Notizblock aus der Hosentasche, in den er direkt irgendetwas reinschreibt.

Jetzt hat Keisuke auch mal eine Frage: „Sag mal, hast du eigentlich keine Angst vor mir? Ich bin immerhin ein blutsaugendes Monster...“

Desmond muss lachen: „Angst? Vor dir? So weit kommt es noch! Schau dich doch nur an. Seit gestern bist du bisher nur vor mir geflohen. Gefährlich bist du echt nicht.“

So eine Gemeinheit... Was denkt sich der Kerl? Keisuke ist immerhin ein Vampir, das nennt er ungefährlich? Für einen ganz kurzen Moment überlegt er, Desmond das Blut auszusaugen. Dann würde er ihn nicht mehr belästigen...

„Wie ist dir das passiert?“

„Warum stellst du all diese Fragen?“, will Keisuke wissen.

„Nun, das kann ich dir sagen. Ich bin Wissenschaftler... Ich werde dich erforschen!“

Keisuke ist geschockt: „Was?!“

„Was dagegen? Ich könnte dich immer noch ausliefern... Aber beantworte mir erstmal meine Fragen. Also, wie ist es passiert?“

Keisuke seufzt, dann fängt er an zu erzählen: „Der Wald... Nachdem mein Arzt mir mein 'Todesurteil' verkündet hat, bin ich zum kleinen Bach im Wald gegangen. Da gehe ich immer hin, wenn ich mich schlecht fühle.

Und dann ist der Kerl aufgetaucht... Der Vampir.“

„Aha? Wie sah er aus?“, fragt Desmond.

„Er war viel größer als ich und trug einen schwarzen Mantel. Er hatte rote Augen und blaue Haare, glaube ich.“

Desmond schreckt auf.

„Was ist?“

„Ähm, nichts...“, antwortet er; „Nur war er bestimmt sehr furchteinflößend.“

„Nein, gar nicht“, erwidert Keisuke; „Eigentlich sah er richtig nett aus, nicht wie ein böser Kerl.

Er hat mich angelächelt.“

„Hattest du Angst?“

Keisuke muss kurz überlegen, dann: „Nein, nicht wirklich. Ich habe mich erschreckt, weil er plötzlich da war, aber gefürchtet habe ich mich nicht. Allerdings... Er hat mir in die Augen gesehen, und ich konnte mich nicht rühren.“

Desmond schmunzelt: „Und dann?“

„Er hat mir angeboten, mich von meiner Krankheit zu heilen.“

„Wieso hat er das getan?“

Keisuke zögert: „Ich... Ich weiß es nicht... Er hat mir einige Dinge erzählt, aber ich kann mich an so gut wie nichts mehr erinnern. Er kam auf mich zu, bevor er direkt vor mir stand... Dann hat er sich links über meinen Hals gebeugt... Ich dachte zuerst, er wollte irgendetwas betrachten, was hinter mir ist, aber dann hat er mir seine Fangzähne in den Hals gestoßen.“

„Hat es wehgetan?“

So eine dumme Frage: „Na klar hat es wehgetan! Ich bin auch in Ohnmacht gefallen... Als ich wieder aufwachte, war ich... naja, ein Vampir.“

„Woher wusstest du das?“

„Ein Blick in den Spiegel reicht völlig aus! Glaubst du, ich hatte schon immer rote Augen und silberne Haare? Und die Zähne?“

Desmond schaut ihn fragend an: „Spiegel? Du siehst dich im Spiegel?“

„Ähm ja. Ich konnte noch nicht viel über Vampire erfahren, aber dass sie kein Spiegelbild haben, ist definitiv falsch. Außerdem habe ich seitdem oft diesen unnatürlichen Hunger... nach Blut...“

„Verstehe... Wie lange ist das denn schon her?“

„Drei Wochen“, sagt Keisuke lächelnd; „Und seitdem stehle ich alle paar Tage Blutkonserven aus der Klinik, weil ich mich dagegen sträube, Menschen zu verletzen.“

„Hast du mal darüber nachgedacht, dass du durch diese Diebstähle auch Menschen schadest? Stell dir mal vor, jemand hat durch einen Unfall viel Blut verloren und dann sind keine Blutkonserven da, um ihn zu retten.“

Darüber hat Keisuke noch nie nachgedacht.

„Aber... Was soll ich denn sonst machen? Menschen töten?“

Desmond steht auf: „Vielleicht finde ich einen Weg, dich wieder zum Menschen zu machen. Dann hat dieses Dilemma endlich ein Ende.“

„Eigentlich will ich kein Mensch werden...“, sagt Keisuke leise; „Sonst bekomme ich vielleicht wieder die Krankheit. Außerdem gefällt es mir als Vampir ganz gut, nur das mit dem Blut saugen...“

„So so...“, Desmond runzelt die Stirn; „Hast du morgen irgendetwas vor? Wenn nein, hole ich dich mit dem Auto ab und fahre dich in mein Labor.“

„Und dann?“, fragt er ängstlich. Die Vorstellung, was der da alles mit ihm machen könnte, lässt ihn schaudern.

„Wir machen ein paar Tests. Erstmal werde ich dein Blut untersuchen, und dann vergleiche ich deinen Körper mit dem eines normalen Menschen deines Alters um die Unterschiede festzustellen.

Außerdem werde ich deinen Körper auf Regenerationsfähigkeiten testen, dafür muss ich dir leider etwas wehtun. Ach Moment, es gibt ja auch Narkose...“

Nein, das kann er nicht machen. Keisuke ist doch kein Versuchskaninchen! Lieber will er Vampir bleiben statt in irgendeinem Labor als lebendes Testobjekt zu dienen.

„Nein, ich will das nicht!“, ruft er.

„Was? Jetzt komm schon, wir waren uns doch einig.“

„Wann waren wir uns einig?! Sie wollen sich an mir doch nur dumm und dämlich verdienen!“, knurrt er vorwurfsvoll.

Desmond seufzt und faltet seine Hände zusammen: „Du wirst wohl nicht kooperieren. Dann bleibt mir keine Wahl.“ Er steckt seine Hand unter seine Tasche und blickt Keisuke verstohlen an.

„Was haben Sie vor?“, fragt dieser.

„Tja...“

Doch plötzlich geht die Tür auf, und Desmond geht einen Schritt zurück.

Miho spaziert ins Zimmer, sie hat eine graue Jacke an und trägt ihre Handtasche mit einem Arm.

„Keisuke? Ist alles okay? Du bist so laut.“

Miho kommt genau richtig, denn vor ihr würde sich Desmond nicht trauen, irgendetwas zu machen.

„Ich gehe jetzt zur Arbeit, ich wollte dir das nur noch sagen. Essen steht im Kühlschrank...“

„Ähm, Miho... Ich muss doch nichts essen.“

„Hm... Ja, stimmt“, sagt Miho langsam mit einem Seitenblick auf Desmond.

„Wärst du so nett und begleitest den Herrn zu Tür? Er wollte eh gerade gehen.“

Desmond sieht mich verächtlich an, aber Miho meint nur:

„Klar. Ich freue mich doch, dass du auch mal wieder Besuch bekommst. Kommen Sie?“

Und so bringt Miho Desmond aus dem Haus.

Keisuke weiß, dass Desmond nicht aufgeben wird, und er wird wiederkommen.

„Ich muss aufpassen, wem ich erzähle, dass ich ein Vampir bin. Wenn es öffentlich wird, dann muss ich wahrscheinlich wirklich komische Experimente über mich ergehen lassen...“

Keisuke liegt noch ein wenig auf seinem Bett, doch dann geht er runter in die Küche und schaut in den Kühlschrank.

Eine angebrochene Blutkonserve liegt im unteren Fach, aber Keisuke hat noch nicht so einen

großen Hunger und beschließt, sie später zu verzehren.

Aber was ist das? Ein Tortenstück? Das muss jemand von der Feier gestern mitgebracht haben.

Hmm...

Keisuke nimmt das Stück raus und setzt sich an den Küchentisch.

Er schnuppert ein wenig am Kuchen, es riecht gut. Es riecht besser als Blut.

Schnell steht Keisuke wieder auf um sich eine kleine Gabel zu holen, mit der er dann anfängt das Tortenstück zu essen.

Es ist so lecker... Viel besser als Blut. Aber satt wird er nicht davon.

Ich bin gerne ein Vampir, denkt Keisuke; So bleibe ich immer etwas Besonderes.

Ich kann sogar normale Lebensmittel essen, aber trotzdem... Nur Blut kann Vampire am Leben halten.

Wo soll er sein Blut jetzt nur hernehmen? Keisuke liebt Tiere, deshalb kommt es nicht in Frage für ihn Tiere auszusaugen.

Mit einem traurigen Blick betrachtet er Shya, die vor der Spülmaschine liegt und schläft.

Nein, denkt Keisuke; sowas könnte ich nie tun.

Das Telefon klingelt.

Keisuke läuft ins Wohnzimmer und nimmt ab: „Hallo?“

„Hallo, bin ich verbunden mit den Valleys?“, fragt eine Mädchenstimme.

„Ja,bist du hier. Hier ist Keisuke.“

„Keisuke? Hier ist Shizuka! Wie waren deine Ferien bisher?“

„Oh, hallo! Ähm, es sind einige Dinge passiert, aber wir sind nicht weggefahren.“

Shizuka ist Keisukes beste Freundin, sie geht mit ihm in eine Klasse. Die Ferien hat sie bisher in Frankreich verbracht, und es ist das erste mal seit Beginn der Ferien, dass sie sich meldet.

Sie weiß nichts davon, was mit Keisuke passiert ist, und Keisuke zweifelt daran, ob es klug wäre, ihr davon zu erzählen. Shizuka hat die Angewohnheit, alles in ihr Tagebuch zu schreiben, und das lässt sie dann überall rumliegen. Man findet es auf dem Fernseher bei ihr zu Hause, in der Kantine der Schule oder es liegt mitten auf der Straße. Alles schon passiert.

„Bist du noch da?“, fragt Shizuka laut.

„Ja klar... Was wolltest du jetzt?“, antwortet Keisuke gedankenversunken.

„Ich bin wieder zurück aus Frankreich, musst du wissen.“ Keisuke wird hellhörig.

„Heute Abend gebe ich eine Party bei mir zu Hause, wir haben sturmfrei.“

„Klingt gut“, sagt Keisuke; „Wer kommt denn alles?“

Shizuka fängt an, einen Haufen Namen aufzuzählen, von denen die meisten Keisuke unbekannt sind. Shizuka ist viel beliebter als er, was Keisuke nicht ganz verstehen kann.

Sie ist eine nette Person und hat ein reines Herz, aber manchmal wirkt sie ein bisschen dumm.

„Wann fängt es an?“, fragt er.

„So um neun Uhr. Ich hoffe, das ist nicht zu spät. Wenn du willst, kannst du auch bei mir übernachten.“

So ein Angebot von einem Mädchen zu bekommen ist ungewöhnlich für Keisuke, aber es wäre nicht das erste mal, dass er bei Shizuka schläft. Zwischen den beiden ist keine Beziehung, sie sind

nur gute Freunde.

„Klar, ich komme dann“, sagt Keisuke und legt auf. Seine beste Freundin ist endlich wieder da.

Das ist ein gutes Gefühl. Die ganzen Ferien fühlt Keisuke sich schon alleine.

Die Gesellschaft von Menschen kann da ja wohl kaum schaden, oder?
 


 


 

Vorschau auf Kapitel 4:
 

Seine beste Freundin heißt ihn willkommen, im Haus voller Trug.

Der Vampir als Gefangene der Wollüstigen.

was mit einer sanften Melodie beginnt, endet mit dem tiefen Klang der Angst.

Man kann nicht in jede Falle tappen.

Kapitel 4: Curser

Curser

Curser
 

„Eine Party? Heute Abend?“ Mihos Stimme klingt etwas verunsichert.

„Ich habe schon zugesagt“, spricht Keisuke ins Telefon.

„Naja, wenn es nur bei Shizuka ist, dann geh ruhig hin. Bleibst du bis morgen?“

Gute Frage. Will Keisuke bis morgen bleiben? Dann müsste er den Rest seiner Blutkonserve mitnehmen, oder er versucht eine Weile ohne Blut auszukommen.

„Ich weiß noch nicht, wie lange ich da bleibe... Ich schau mal.“

Miho scheint von der Antwort nicht gerade begeistert zu sein, denn sie schnaubt hörbar in den Telefonhörer.

„Eine Frage, Keisuke. Wie machst du das mit deinen Haaren?“

Ein Blitzschlag trifft ihn, zumindest fühlt es sich so an. Die Haare, Keisukes silberne Haare. Als Shizuka und Keisuke sich das letzte Mal getroffen haben, waren seine Haare noch braun. Er war ja auch noch ein Mensch. Und die roten Augen?

Warum hat er nicht daran gedacht, bevor er zugesagt hat?

„Mist!“, ruft er in den Hörer; „Das habe ich ganz vergessen! Aber was soll ich machen?“

Miho schweigt eine Weile, dann sagt sie:

„Du könntest ja einfach behaupten, deine Haare seien gefärbt.“

Keine schlechte Idee, denkt Keisuke, aber das würde ja nicht die roten Augen erklären.

„Und die Augen?“

„Ähm, meine Pause ist jetzt vorbei, ich muss weiterarbeiten. Lass dir etwas einfallen, oder geh einfach nicht hin“, sagt Miho, bevor sie auflegt.

Wirklich hilfreich war sie jetzt auch nicht, aber was soll Keisuke schon machen?

Dieser Vampirismus ist nicht so toll, wie er dachte.

Nicht nur, dass er ständig darum sorgen muss, dass er an Blut kommt, wie er sein verändertes Aussehen seinen Freunden und Klassenkameraden erzählen soll, bleibt auch ein Problem.
 

Jetzt ist es bald soweit. In einer halben Stunde muss er bei Shizuka sein, wenn er rechtzeitig zur Party kommen will.

Selbst wenn er ihr erzählen würde, dass er ein Vampir ist, müsste er immer noch seine ganzen anderen Bekannten anlügen. Freunde hat er ja nicht so viele.

Aber Shizuka will er unbedingt wiedersehen. Dann geht er eben zur Party. Shizuka würde schon Verständnis dafür haben, dass er sich die Haare silbern „gefärbt“ hat. Und was irgendwelche anderen Typen dachten, kann ihm ja egal sein.

Langsam nimmt Keisuke die schwarze Sonnenbrille, die auf der Kommode im Flur herumliegt und setzt sie sich auf. Ein Blick in den Spiegel verrät ihm, dass sie ihm zwar nicht wirklich gut steht, aber man zumindest die roten Augen nicht erkennen kann.

So macht Keisuke sich auf den Weg zu Shizukas Haus. Zum Glück wohnt sie nicht allzu weit weg, die Strecke im bequemen Tempo zu gehen würde wohl ungefähr zehn Minuten in Anspruch nehmen.

Shizukas Haus ist wirklich prachtvoll, aber so reich, wie ihre Eltern sind, ist das auch kein Wunder. Das Haus ist zwar keine Villa, doch trotzdem beträchtlich groß und es gehört zu den schönsten der Straße.

Jetzt steht Keisuke direkt vor der Haustür, in dessen Glas sein Abbild zu sehen ist.

Er hatte ein schwarzes Hemd und eine schwarze Hose angezogen, und mit der Sonnenbrille sieht er ein wenig aus wie ein Agent. Für einen Moment zweifelt er daran, dass Shizuka ihn überhaupt erkennen wird.

Er klingelt. Die Klingel gibt einen wunderschönen Ton von sich, den Keisuke schon immer mochte.

Bei ihm zu Hause macht die Klingel nur ein langweiliges „Ding-Dong“ .

Keisuke wartet eine gute halbe Minute vor der Haustür, doch niemand macht auf.

Was soll das, fragt er sich, und klingelt noch zweimal direkt hintereinander.

Nicht, dass Shizuka nur einen Spaß mit ihm getrieben hat, und in Wirklichkeit gibt es gar keine Party. Aber das würde ich ihr nicht zutrauen, mit so einem Streich würde sie zu weit gehen und das weiß sie.

Langsam öffnet sich die Tür, und Shizuka blickt ihn an. Sie hat sich nicht wirklich schön gemacht, denn sie trägt nur einen weißen Pullover zu einer weiten Hose. Ihre schwarzen Haare sind zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Komisch, das hat sie bisher noch nie gemacht.

„Ähm, hallo!“, sagt Keisuke verunsichert.

„Hallo, Keisuke, schön dich zu sehen. Folge mir doch nach drinnen.“

Keisuke nickt. Warum redet Shizuka überhaupt so seltsam geschwollen? Das passt gar nicht zu ihr.

Er folgt ihr ins Innere des Hauses. Der Fliesenboden sieht etwas verstaubt aus, aber das ist ja kein Wunder, immerhin kam die Familie erst heute aus dem Urlaub zurück.

„Ähm, ist sonst noch keiner da?“, fragt Keisuke, als sie das Esszimmer betreten.

Shizuka schüttelt den Kopf und weist ihn mittels Handzeichen an, sich auf den roten Sessel zu setzen. Zögernd setzt Keisuke sich hin. Gibt es überhaupt eine Party?

Es scheint niemand anwesend zu sein, und die Mühe zu dekorieren hat sich Shizuka offensichtlich auch nicht gemacht. Keisuke sieht sie erwartungsvoll an.

Sie stellt sich direkt vor ihn, greift mit ihrer Hand nach seiner Sonnenbrille, und nimmt sie ihn ab.

Verdammt, denkt Keisuke.

„Hmm, gut“, sagt Shizuka, nachdem sie ihm in die Augen gesehen hat.

Irgendwas ist nicht normal mit ihr, das steht fest.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragt sie. Keisuke schüttelt den Kopf, aber sie geht zum Schrank, holt ein Weinglas heraus um es mit Rotwein zu füllen. Schließlich hält sie es ihm hin.

Rotwein? Was soll das, seit wann trinkt Keisuke denn Rotwein? Außerdem hat er 'nein' gesagt.

„Shizuka...“, flüstert er kaum hörbar.

„Trink nur, vertrau mir. Es wird schmecken.“

Keisuke riecht langsam an Glas, und erschrocken stellt er fest:

Im Glas ist kein Wein. Es ist Blut.

Dass ihm das nicht schon früher aufgefallen ist! Als Vampir kennt er den Geruch von Blut nur zu gut. Aber was hat das mit seiner Freundin zu tun?

„Warum trinkst du nicht?“, fragt sie mit unschuldiger Miene.

Keisuke weiß nicht, was er sagen soll. Ist ihr klar, was sie ihm da angeboten hat?

Sie muss wissen, dass er ein Vampir ist. Das ist die einzig logische Erklärung dafür.

Er trinkt das Glas in einem Zug aus, und stellt es danach auf den Boden.

„Ich weiß, was du bist“, sagt sie gleichgültig. Also doch...

„Aber ich wollte dir sagen, dass es nichts schlimmes für uns ist. Wir verstehen das. Aber du wirst bald auf Wesen treffen, die dir nicht so gut gesinnt sind. Wir wollen dich beschützen.“

Was redet sie plötzlich da? Keisuke weiß nicht, was er zuerst fragen soll.

Er entscheidet sich für: „Wer ist 'wir'?“

Kaum hat er die Frage gestellt, stürzt Shizuka wie auf Befehl zu Boden, wo sie regungslos liegen bleibt. Schnell steht Keisuke auf und bückt sich, um nach ihr zu sehen.

Sie lebt... Er kann ihren Puls fühlen.

Was ist nur los? Was soll das alles? Shizuka...

Keisuke hört Schritte und steht erschrocken auf. Aus der Küche kommen plötzlich zwei Menschen raus. Waren die schon die ganze Zeit da?

Ein blonder Mann im schwarzen Anzug und ein junges Mädchen mit verhülltem Gesicht.

„Wir wollen dir nichts tun“, sagt der Mann. Erst jetzt erkennt Keisuke, dass er auch rote Augen hat.

„Ihr seid Vampire...“, flüstert Keisuke voller Angst.

Der Vampir geht näher an Keisuke heran: „Du musst keine Angst haben. Wir helfen dir.“

Das können sie behaupten, aber wie soll man ihnen vertrauen, nachdem sie Shizuka in die Sache reingezogen haben. Eigentlich wollen sie doch Keisuke, nicht sie. Und trotzdem liegt sie bewusstlos auf dem Boden.

Das Mädchen nimmt die blutrote Kapuze runter, die ihr Gesicht bisher verdeckte.

Ihre langen, silbernen Haaren und ihre roten Augen. Sie ist auch ein Vampir.

Traurig starrt sie zu Boden. Dann flüstert sie kaum hörbar: „Samuel... Sie kommen.“

Der blonde Vampir, der anscheinend Samuel heißt und bis jetzt die Ruhe selbst war, wird plötzlich panisch: „Was sagst du? Jetzt schon?! Wo sind sie?“

Das Mädchen macht die Augen zu und drückt ihre Finger an ihre Stirn, als ob sie Kopfschmerzen hätte.

„Der Weg ist vollendet bei Einbruch der Nacht“, keucht sie.

„Also wenn es dunkel wird?!“, ruft Samuel mit zitternder Stimme.

Keisuke schaut aus dem Fenster.

„Hm... Habt ihr mal raus geguckt? Es ist schon lange dunkel.“

Der blonde Vampir schaut ihn entgeistert an.

Plötzlich gibt es einen riesigen Knall und eine Erschütterung. Scheinbar ist irgendwo im Haus etwas explodiert. Keisuke sieht die beiden Vampire fragend an.

„Wie immer müssen sie sich ankündigen...“, flüstert Samuel genervt, doch dann steht plötzlich ein Mann vor ihm, der wahrscheinlich fast doppelt so groß ist wie Keisuke.

Samuel schreit auf und springt einen Satz nach hinten, während das Mädchen in die Küche läuft.

Und plötzlich kommt noch eine Person aus dem Wohnzimmer, eine junge Frau mit roten Haaren.

„Waren wir etwa langsamer als ihr?“, gibt sie spöttisch von sich.

Samuel knurrt , aber der große Kerl sieht nur an ihm herunter.

„Lure, kümmer du dich um den Kleinen. Überlass den hier mir.“ Während er das sagt, schaut er Samuel unentwegt an.

Die Frau mit den roten Haaren geht hastigen Schrittes zu Keisuke.

Dieser weiß nicht, was er sagen soll. Was geht hier eigentlich vor?

„Schau mir in die Augen...“, sagt die Rothaarige, und Keisuke tut es. Warum auch nicht?

Sie grinst, und Keisuke sieht ihre Zähne. Er blickt sie ängstlich an: „Du bist ein Vampir...“

Danach wird alles schwarz...
 

Als Keisuke wieder zu sich kommt, tut ihm alles weh. Langsam öffnet er die Augen.

Er befindet sich in einem Schlafzimmer, um genauer zu sein auf dem Bett. Ein Doppelbett.

Erschrocken stellt er fest, dass seine Hände an die Bettkante gefesselt sind. Wie ist es dazu gekommen?

Er schaut nach vorne und sieht die rothaarige Frau, die gerade dabei ist, sich auszuziehen.

„Lass mich frei!“, ruft Keisuke sauer, aber er wird ignoriert.

Erst jetzt fällt ihm auf, wo er ist: Es ist das Schlafzimmer von Shizukas Eltern. Er ist also immer noch im Haus...

Die Frau trägt jetzt nur noch einen blauen B.H. und einen Slip. Anstatt sich weiter auszuziehen, bewegt sie sich stumm aufs Bett zu.

„Was hast du vor?“, fragt Keisuke als sie sich neben ihn auf das Bett legt.

„Ganz ruhig“, haucht sie; „Ich bin Lure... Ich möchte nur ein wenig mit dir... reden..“

Seltsam, normalerweise muss man sich zum Reden nicht bis auf die Unterwäsche ausziehen.

Gefühlvoll schmiegt sie sich an Keisuke, aber dieser bewegt sich nicht.

Die Frau kommt ihm nicht sehr böswillig vor, trotzdem hat sie ihn gefesselt.

„Lass mich bitte gehen, ich will einfach nur...“, fängt Keisuke an.

„Pssssst“, unterbricht sie ihn und legt ihren Finger auf seinen Mund. Danach fängt sie an, Keisukes Hemd aufzuknöpfen. Sein Herz pocht extrem schnell. Naja, für einen Vampir zumindest.

Jetzt streichelt sie ihm sanft den Bauch: „Du bist ja nicht gerade muskulös“, lächelt sie.

Keisuke schaut sie missmutig an. Sie soll aufhören, ihn anzufassen und ihn endlich gehen lassen.

„Sag mal... Wie denkst du über Menschen?“, fragt sie ruhig. Warum will sie das denn jetzt wissen?

Ohne wirklich eine Antwort abzuwarten seufzt sie: „Ich hasse die Menschen. Wir Vampire können wegen ihnen nicht frei leben, wir können wegen ihnen nicht zu unserer Natur stehen. Weil sie uns nicht tolerieren würden. Deswegen... wollen wir alle Menschen vernichten. Sie auslöschen.“

Mit dem was sie sagt, hat sie eigentlich ja recht. Aber alle Menschen auslöschen?

Ist das nicht eine etwas übertriebene Maßnahme?

„Es ist eine schwierige Aufgabe... Wir brauchen deine Hilfe.“

Sie schaut Keisuke direkt in die Augen. Eigentlich ist es sehr angenehm, wie sie ihm den Bauch streichelt. Das hat vorher noch nie jemand für ihn gemacht. Trotzdem ist diese Frau eine Unbekannte für ihn, und dass sie ihn gefesselt hat, passt ihm auch nicht.

„Wer genau braucht meine Hilfe?“, fragt er.

Lure zögert mit der Antwort: „Ich... und meine Freunde...“

Keisuke denkt nach. Wenn er zustimmt, ihr zu helfen, wird sie ihn wahrscheinlich gehen lassen. Wenn nicht, wird sie wer weiß was mit ihm anstellen. Allerdings... Er hat nicht diesen Hass auf die Menschheit, den sie hegt. Er hat Menschen, die er liebt. Miho, Sakito, Shizuka...

„Nein“, sagt Keisuke entschlossen; „Ich teile deine Ansichten nicht. Und alle Menschen vernichten, bei so etwas will ich auch nicht helfen!“

Lures Hand verkrampft sich in seiner Haut. Vor Schmerz muss er aufschreien, doch da lockert sie den Griff auch schon wieder.

„Ich habe auch noch andere Mittel, mich durchzusetzen“, sagt sie wütend.

Keisuke schluckt. Gewaltsam öffnet sie seine Hose, mit einem Ausdruck des Zornes im Gesicht.

Die ganze Einfühlsamkeit, die ganze Zärtlichkeit von vorher, all das war jetzt einfach weg.

„Du hast die Wahl, entweder kommst du mit mir, oder ich töte dich.“

„Ich hab dir doch gar nichts getan!“, schreit Keisuke empört, und versucht Lure zu treten.

Seine Beine sind immerhin frei.

Aber sie drückt seine Beine mit einer Hand auf das Bett zurück, und es scheint sie keine Anstrengung zu kosten, beide so festzuhalten.

Wie kann sie nur so stark sein?

Mit der anderen Hand streichelt sie nun über seine Wange. Keisuke überlegt kurz, sie in den Finger zu beißen, entscheidet sich aber dagegen.

„Ich könnte hier alles mit dir machen...“, flüstert sie; „Und wenn du mit mir kommst, und dich uns anschließt, mache ich auch alles mit dir, was du willst...“

So ein nettes Angebot. Er wird fast von dieser Vampirfrau vergewaltigt, die dann noch droht ihn zu töten. Er weiß zwar nicht, was in ihr vorgeht, aber geil findet er das nicht wirklich.

Egal wie viel er betteln würde, sie würde ihn nicht gehen lassen. Nicht, bevor er ihr zugestimmt hat.

Lure sieht auf und bewegt ihren Kopf auf den von Keisuke zu.

Immer näher kommt sie ihn... Nein! Er weiß, was sie vorhat. Sie will ihn küssen.

Aber von ihr will er nicht geküsst werden. Er dreht den Kopf zur Seite, aber sie drückt ihn kurzerhand wieder zu ihr.

Jetzt ist sie direkt vor ihm. Schaut ihm in die Augen. Und sie küsst ihn.

Von einer Sekunde auf die nächste fühlt er ihre weichen Lippen auf seinen.

Sein erster Kuss.... Und ausgerechnet mit dieser Person. Keisuke ist traurig.

Der Kuss wird sprunghaft unterbrochen, als die Tür mit großen Krachen auffliegt.

Ein Mann betritt den Raum. Er trägt einen langen, schwarzen Mantel über einem weißen Hemd, hat blaue Haare und ist sehr blass.

Lure steht auf und sieht ihn misstrauisch an.

„Ihr habt verloren, Lure“, sagt der Mann monoton.

Sie erwidert nichts darauf, doch da erkennt Keisuke, wer dieser Typ eigentlich ist.

Es ist der Vampir, der ihn damals verwandelt hat.

„Raito...“, knurrt Lure.

„Mein armer, kleiner Keisuke. Kaum, dass er Vampir ist, wird er von keiner Seite mehr in Ruhe gelassen...“, lacht Raito. Es ist aber kein spöttisches Lachen, sondern eher ein freundliches.

„Naja, da schaffst du schon mal einen Vampir. Was dachtest du denn, was wir machen?“, sagt Lure wütend.

Raito antwortet nicht, sondern geht zum Bett. Keisuke ist verwirrt.

Schnell greift Raito in die Tasche seines Umhangs und zieht ein Messer heraus.

Er wird ihn doch nicht?!

Aber nein, er durchtrennt lediglich Keisukes Fesseln.

„Du bist frei“, flüstert er.

Endlich mal eine gute Nachricht. Keisuke macht sein Hemd und seine Hose zu, als Raito sich Lure zuwendet.

Sie starrt ihn wutentbrannt an: „Irgendwann wird die Königin dich auslöschen!“

„Nur ist sie nicht meine Königin...“, sagt Raito und sieht zu Boden.

Lure nutzt die Chance um zu fliehen, und Raito macht keine Anstalten sie zu verfolgen.

Er schaut Keisuke an: „Bist du in Ordnung?“

„Ja...“, flüstert Keisuke. Dieser Raito ist auf jeden Fall auf seiner Seite, das weiß er.

Bei allen anderen Vampiren ist er sich nicht sicher, aber bei Raito hat er dieses Gefühl.

Ein Gefühl von Schutz...

„Gehen wir runter.“

Als wir die Treppe hinuntersteigen, fragt der Jüngere zögerlich:

„Sind die beiden Vampire von eben gut oder böse? Der Blonde und das Mädchen...“

Raito bleibt stehen und muss lachen. Was daran jetzt so lustig ist, bleibt Keisuke schleierhaft.

„Gut oder böse? Hm, sie stehen in jeden Fall auf unserer Seite. Und sie zwingen dich nicht, etwas zu tun, was du nicht willst.“

Im Wohnzimmer angekommen, sieht Keisuke sogleich die beiden Vampire. Das Mädchen mit der roten Kapuze sitzt auf dem Sofa und betrachtet mit traurigem Blick den blonden Mann, der verletzt und schwer atmend auf dem Boden liegt, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

„Ich möchte dir meine Gefährten vorstellen: Das sind Samuel Spider und Verena Engels.“

Verena nickt Keisuke zu, doch Samuel zeigt keine Reaktion.

„Er war unterlegen“, sagt sie gelangweilt. Sie selbst ist offenbar unverletzt.

„Was waren das für Typen?“, fragt Keisuke.

„Mitglieder der Curser-Gesellschaft. Das ist eine Organisation von Vampiren, die alle Menschen vernichten wollen“, sagt Raito ohne Keisuke anzusehen.

„Und wir gehören nicht dazu“, ergänzt Verena.

„Aber warum wollen sie ausgerechnet mich?“, will Keisuke wissen.

Raito ist so nett, die Frage zu beantworten:

„Weil es nur noch wenige Vampire auf der Welt gibt. Die Cursers wollen so viele wie möglich auf ihre Seite ziehen, und wer sich weigert, muss um sein Leben fürchten.“

Wie unsozial ist das denn?! Diese Typen sind richtige Mörder.

„Du hast bestimmt noch viele Fragen“, lächelt Raito; „Aber die beantworte ich dir ein anderes Mal.“

Er duckt sich und nimmt Samuel auf den Arm. Er trägt ihn zur Haustür.

„Ich werde ihn zurück ins Hauptquartier bringen. Verena, bring Keisuke bitte nach Hause.“

Das versteht Keisuke nicht. Verena ist doch gut zehn Zentimeter kleiner als er.

Und sie soll ihn beschützen?

Andererseits ist sie wahrscheinlich viel länger ein Vampir als er. Unter Umständen könnte sie dann sogar älter sein.

Raito verlässt das Haus, und Verena steht auf.

„Komm“, sagt sie knapp und macht sich auch auf den Weg zur Haustür. Keisuke folgt ihr.

Sie ist schon draußen, da ruft er: „Warte!“

Sie dreht sich um: „Das Mädchen?“

Keisuke hat Shizuka ganz vergessen. Sie liegt immer noch bewusstlos auf dem Boden.

„Sie ist meine beste Freundin! Ich kann sie da nicht rumliegen lassen!“

„Die Cursers werden kein Interesse an ihr haben. Und wenn sie wieder zu sich kommt, wird sie sich auch an nichts mehr erinnern.“

Keisuke gibt sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden und folgt Verena auf die Straße.

„Was habt ihr überhaupt mit ihr gemacht?“, fragt er sie.

„Sie benutzt. Das ist Samuels Fähigkeit.“

Was immer sie damit meint, es ist Keisuke nicht geheuer.

„Fähigkeit?“

Verena seufzt: „Ich erinnere mich noch daran, wie ich so unwissend war, wie du.“

Das er unwissend ist, weiß Keisuke auch. Deswegen stellt er ja die Fragen.

Gerne würde er Verena auch fragen, wie lange sie schon ein Vampir ist, aber das wäre vielleicht ein wenig zu persönlich.

Auf dem Weg nach Hause erklärt sie ihm einiges:

„Jeder Vampir hat eine ganz besondere, individuelle Fähigkeit. Samuel kann Menschen seinen Willen aufzwingen und sie tun lassen, was er will.“

„Was?!“, ruft Keisuke entgeistert.

„Im Kampf gegen die Curser ist uns diese Kraft aber nicht allzu nützlich. Erinnerst du dich an die Frau, die dich auf ihre Seite ziehen wollte?“

Keisuke verkrampft sich. Wie könnte er sie vergessen? Ist doch auch eben erst passiert.

„Du weißt, was sie mit dir gemacht hat? Bevor ihr oben wart?“

Er überlegt: Bevor er oben war, stand er bei den anderen im Esszimmer. Lure kam auf ihm zu und... sie schaute ihm in die Augen. Dann war alles weg.

„Sie kann andere mit ihrem Blick einschläfern, oder?“

Verena nickt. Keisuke nimmt sich zuerst vor, es nicht zu tun, aber dann fragt er doch:

„Und was kannst du?“

„Ich kann in die Zukunft sehen...“, sagt sie leise.

Klingt ja nicht gerade mächtig. Wie auch immer sie ihn mit so einer Kraft beschützen soll, er weiß es nicht. Aber sie sind eh gleich da.

„Ich weiß, was du denkst“, sagt Verena und starrt ihn finster an; „Aber ich habe dir schon das Leben gerettet.“

Davon weiß Keisuke aber nichts: „Du? Wann denn das?“

„Als du von Lure mitgenommen wurdest, habe ich Raito geholt. Schon vergessen?“

Kann sein, denkt Keisuke.

„Dieser Raito... Wieso arbeitet ihr für ihn?“ Sie stehen jetzt direkt vor Keisukes Haustür.

Verena senkt den Kopf: „Diese Curser... Sind mir zuwider. Außerdem... Raito will mir helfen, wieder ein Mensch zu werden.“

„Warum willst du ein Mensch werden?“, fragt Keisuke. Ein Leben als Vampir ist doch nicht schlecht.

Ab jetzt flüstert Verena nur noch: „Vampire... Sie sind ekelhaft. Sie laben sich am Blut der Menschen. Ich will sowas nicht sein... Ich würde lieber sterben.“

Keisuke weiß nicht recht, was er dazu sagen soll. Eigentlich hat sie ja Recht.

Sie scheint den Gedanken daran, Menschen auszusaugen, wohl auch abstoßend zu finden.

Verena verabschiedet sich mit den Worten:

„Wir haben immer ein Auge auf dich. Dir wird nichts passieren. Aber du solltest uns auch helfen.“

Keisuke schließt die Haustür auf und geht rein.

Er sieht eine Zeitung auf dem Fußboden liegen und hebt sie auf.

„Hmm, was ist denn so passiert...“

Normalerweise findet Keisuke Zeitungen völlig uninteressant, aber wenn sie schon so auf dem Boden herumliegt, warum nicht gleich die Schlagzeilen checken?

Er sieht sie sich an: Ein schwerer Autounfall, Geschiedene Prominente, und eine vermisste Frau.

Das Foto von der Frau schaut Keisuke sich genauer an, denn er hat das Gefühl, sie irgendwo schon mal gesehen zu haben.

Ihm fällt aber nicht ein, wo, also liest er den Artikel dazu:

„Bettina Richter, 27 Jahre alt, eine Arzthelferin aus Logaly. Niemand weiß, wo sie geblieben ist.

Ihre Eltern und ihr Lebensgefährte sind für jede Hilfe der Bevölkerung dankbar.

Die Polizei sagt, dass ein Verbrechen nicht ausgeschlossen werden kann.“

Dann sieht Keisuke das Datum:

Die Frau wurde seit dem Tag, an dem Desmond Keisuke in der Klinik gestellt hatte, nicht mehr gesehen. Und genau das ist die Klinik, in der die Arzthelferin gearbeitet hat.

Geschenk von Verena

Geschenk von Verena
 

Vampire haben besondere Fähigkeiten. Nur eins von vielen Dingen, die Keisuke gestern erfahren hat. Trotzdem lässt die Frage ihn nicht mehr los, was wohl seine Kraft ist. Wenn er überhaupt eine besitzt. Aber eigentlich müsste er eine haben, immerhin ist er auch ein Vampir.

Müde starrt er an die Zimmerdecke. Weder weiß er, wie lange er geschlafen hat, noch, wie spät es überhaupt ist.

In Gedanken geht er die Fähigkeiten der anderen nochmal durch:

Mit dem Blick Leute in Schlaf versetzen, in die Zukunft sehen, Menschen kontrollieren.

Was ist eigentlich Raitos Spezialfähigkeit?

Keisuke bereut es, Verena gestern nicht danach gefragt zu haben.

Hoffentlich kann ich irgendwas mächtiges, denkt Keisuke.

Etwas kratzt und miaut an der Tür, und er steht auf, um sie zu öffnen.

Leider stolpert er dabei über den Rucksack, der auf dem Boden liegt, und fällt hin.

Er hat sich nichts gestoßen; trotzdem wäre es erstmal genug, wenn er nicht so ein Tollpatsch wäre.

Langsam steht er auf und geht zur Tür. Kaum ist sie offen, stürmt Shya ins Zimmer, dicht gefolgt von einer Maus, die sie verfolgt.

Ängstlich springt das Kätzchen auf den Kleiderschrank, sodass die Maus nicht an sie herankommt.

Schon eine komische Katze, überlegt Keisuke; hat Angst vor Mäusen.

Aber er selbst ist auch nicht besser.

Schon ein komischer Vampir; weigert sich Menschen auszusaugen.

Keisuke geht zum Schrank und nimmt die graue Maus auf die Hand, die durch lautstarkes Piepsen ihren Widerwillen deutlich macht.

Mit dem Tier in der Hand geht er die Treppe runter, und bringt die Maus in den Vorgarten.

Die Sonne ist schon aufgegangen, und sie strahlt ihm unangenehm auf die Haut.

Er beeilt sich, zurück in das Haus zu gehen und macht sich auf den Weg ins Wohnzimmer, aber da ist keiner.

In der Küche findet er schließlich Miho, die am Tisch sitzt und frühstückt.

„Du bist zu Hause!“, ruft sie, als sie erschrocken aufsieht; „Ich dachte, du schläfst bei Shizuka!“

Als Keisuke am Tag davor nach Hause gekommen ist, war Miho schon im Bett.

Also hat sie bis jetzt nichts von ihm bemerkt.

„Ähm, ich habe doch gesagt, dass ich mir nicht sicher bin, ob ich da schlafe...“, sagt Keisuke unsicher.

„Ja, stimmt“, lächelt Miho und beißt herzhaft in ihr Brötchen; „Wie war die Party? Waren viele Freunde von dir da?“

„Nein, aber Vampire...“, sagt Keisuke müde.

Miho lässt plötzlich ihr Brötchen fallen. Mit der mit Marmelade bestrichenen Seite unten fällt es auf die Küchenfliesen.

„Vampire?“

Verdammt, kann er nicht aufpassen, was er sagt?!

Wenn er Miho von den Cursers erzählt, dann würde sie sich endlos Sorgen machen!

Keisuke beschließt, sie anzulügen:

„Ähm, ja, es waren auch Vampire da. Aber keine bösen Vampire, sondern ganz nette! Ich habe mich mit ihnen angefreundet.“

„Wirklich?“, hakt Miho nach.

„Jaaa... Du musst dir keine Sorgen machen“, sagt Keisuke.

„Wenn du es sagst.“ Ihr Blick strahlt ein gewisses Misstrauen aus.

„Übrigens hat Desmond Corin gestern Abend für dich angerufen“, erzählt sie; „Aber da warst du schon weg.“

Desmond? Der schon wieder? Keisuke hat so schon genug Probleme, da kann er Desmond wirklich nicht gebrauchen.

„Hm... Seltsam, dass er noch so spät für dich angerufen hat“, sagt Miho nachdenklich, und hebt das Brötchen auf. Kurz darauf geht sie zum Mülleimer und lässt es hineinfallen.

„Eigentlich nicht... Er weiß, dass ich ein Vampir bin“, gibt Keisuke zu.

„Er weiß es? Hast du es ihm gesagt?“

Sie holt einen Lappen aus dem Schrank und macht ihn an der Spüle nass.

Keisuke gibt keine Antwort.

„Ist ja auch egal“, sagt Miho, während sie den Boden sauber macht; „Aber du solltest es nicht allen deinen Freunden erzählen.“

Miho denkt anscheinend, dass Keisuke und Desmond 'Freunde' sind.

„Und meinem Freund hast du es auch gesagt...“

„Du meinst doch Ex-Freund, oder?“, antwortet Keisuke.

Miho sieht schweigend auf den Boden.

„Ich werde wohl nie einen gescheiten Mann finden...“, flüstert sie traurig.

Gerne würde Keisuke ihr etwas anderes sagen, aber leider stimmt es, dass Miho bisher immer nur Pech mit Männern gehabt hat.

Er versucht, sie auf andere Gedanken zu bringen: „Hast du die Küche aufgeräumt? Es ist schön ordentlich hier.“

Miho nickt und geht wieder zum Mülleimer, dieses mal wirft sie den schmutzigen Lappen hinein.

„Wenigstens habe ich heute frei“, seufzt sie; „Ich werde in die Stadt gehen und mir ein paar neue Klamotten holen. Kommst du mit?“

Ein nettes Angebot, aber heute möchte er lieber zu Hause bleiben.

Außerdem kann shoppen mit Miho sehr anstrengend sein.

Er schüttelt den Kopf und geht in sein Zimmer zurück.

Shya ist inzwischen weg, also macht Keisuke seinen Computer an, damit er sein Onlinespiel weiterspielen kann.

Nach ein paar Stunden klopft es an der Tür, und Miho kommt herein.

Nachdem sie das Licht eingeschaltet hat, stellt sie etwas auf sein Bett.

Keisuke steht auf: „Was ist das?“

Miho zuckt mit den Schultern: „Dieses Paket wurde gerade für dich abgegeben.“

Ein Paket für Keisuke?

Er hat bisher noch nie ein Paket geschickt bekommen, und er wüsste auch nicht, von wem.

Das einzige, was ihm möglich erscheint, ist, dass es sich um ein Geschenk von seinen Großeltern handelt.

„Steht kein Absender darauf?“, will er wissen.

„Nein“, antwortet Miho knapp; „Soll ich rausgehen? Oder darf ich sehen, was drin ist?“

„Natürlich darfst du es sehen, aber ich weiß selbst nicht, was es ist. Ich habe nichts im Internet bestellt oder so.“

Dann macht er sich daran, das Paket zu öffnen, aber er schafft es nicht, mit den Händen die Pappe aufzureißen.

„Ich gehe dir eine Schere holen“, sagt Miho mit ein bisschen Mitleid im Gesicht.

Solange sie weg ist, schaut Keisuke sich das Paket ein bisschen genauer an.

Es ist ziemlich groß, und auch sehr schwer. Seine Schwester muss ja Bärenkräfte haben, dass sie es geschafft hat, das Ding die Treppe hochzuschleppen!

Doch jetzt kommt sie schon wieder, mit einer Schere in der Hand.

Rapide schneidet sie damit die Pappe auf, und öffnet den Karton. Als sie hineinsieht, weicht sie erschrocken zurück: „Keisuke!“

Keisuke fragt sich, was los ist, und schaut sich den Inhalt des Pakets an:

Es liegen ungefähr zehn bis zwanzig Blutkonserven im Karton, alle dicht aufeinander gestapelt.

Wer auch immer ihm das geschickt hat, Keisuke ist ihm dankbar.

Dann entdeckt er einen Zettel, der zwischen den Plastikbeuteln liegt.

„Steht da drauf, von wem das ist?“, fragt Miho und versucht, Keisuke über die Schulter zu schauen.

„Warte, ich lese es mal vor...“, antwortet er, und fängt sofort an:

„Dieses Blut ist für Keisuke, den Vampir.

Es muss kühl gelagert werden, sonst verkümmert es.

Ich habe zwischen uns eine Verbindung gespürt.

Ich möchte nicht, dass du anfängt, wie die anderen, Menschen zu töten.

Ich hoffe, von diesem Blut kannst du dich eine Weile ernähren.

Bleib wie du bist.

Verena.“

Miho lächelt Keisuke an: „Also hast du eben wirklich die Wahrheit gesagt, als du meintest, dass du dich mit Vampiren angefreundet hast. Das ist ja toll!“

Keisuke weiß nicht, was er sagen soll.

Dieses Geschenk ist so besonders, Verena muss gewusst haben, dass Keisuke demnächst wahrscheinlich verhungern wird.

Sie scheint so einiges zu wissen...

„Miho, hilfst du mir, das Blut in den Eisschrank zu bringen?“, fragt er.

„Ähm, klar.“

Keisuke würde wirklich gerne wissen, wo sie das Blut hergenommen hat.

Ob sie auch Blutbanken plündert?

Er beschließt, sie demnächst zu fragen. Aber von den Konserven wird er bestimmt ein paar Wochen leben können, er muss ja nur alle paar Tage eine trinken.

Die Blutkonserven passen gerade noch in den Schrank, und Miho geht aus der Küche.

Wahrscheinlich macht sie sich jetzt fertig, sie wollte ja shoppen gehen.

Gerade überlegt Keisuke noch, ob er sich schon eine Blutkonserve nehmen soll, da sieht er einen Schatten an der Wand.

Was ist das? Er geht zur Wand, doch der Schatten ist weg.

Hat er sich das eingebildet? Leidet er schon so sehr unter Blutmangel?

Eigentlich kann er sich das nicht vorstellen.

„War bestimmt nur eine optische Täuschung oder sowas...“, flüstert er und nimmt sich etwas Blut aus dem Eisschrank.

Na dann, Mahlzeit!

Geteiltes Schicksal

Geteiltes Schicksal
 

Miho stürmt in die Küche, während Keisuke sich gerade über eine Blutkonserve hermacht.

„Hm? Wolltest du nicht in die Stadt?“, fragt er leicht verwirrt, mit einem Blick auf die Uhr.

Halb fünf... So lange, wie Miho sich immer in den Geschäften aufhält, würde es sich bald nicht für sie lohnen, shoppen zu gehen.

„Ich weiß, ich weiß“, sagt sie ein bisschen gehetzt; „Ich wollte dich nur noch schnell fragen, ob ich mir deine Sonnenbrille ausleihen kann. Es ist eben August...“

Sonnenbrille? Die Sonnenbrille, die er bei Shizuka zu Hause vergessen hat?

Sie stand unter der Kontrolle von diesem Samuel, der wohl an Keisukes roten Augen prüfen wollte, ob auch der richtige Fisch ins Netz gegangen ist.

„Ähm...“, stottert Keisuke; „Die habe ich letztens auf der Party vergessen.“

Miho blickt ihn überrascht an.

„Oh... Na wenn das so ist, werde ich Shizuka anrufen, und sie bitten, sie mir zu bringen.“

Keisuke seufzt: „Ich habe schon versucht, bei ihr anzurufen, aber es geht keiner ran.“

Das ist die Wahrheit, er hat es wirklich nicht geschafft, sie zu erreichen, seit dem Vorfall gestern.

„Sie ist bestimmt wieder in den Urlaub gefahren...“, überlegt Miho laut; „Die Ferien sind ja noch nicht vorbei. Aber macht nichts. Wärst du so lieb, und gehst zu ihr nach Hause um sie zu holen?“

Keisuke besitzt zwar den Schlüssel zu Shizukas Haus, aber er würde eigentlich ungern da reingehen, wenn niemand da ist.

Besonders nicht, wenn die Sonne so hell scheint.

„Na gut. Ich bin gleich wieder da. Aber vorher gehe ich mich eincremen.“

„Mach das“, sagt Miho dankbar und verlässt die Küche.

Nachdem Keisuke sich mit der Sonnenmilch eingerieben hat, macht er sich auf den Weg.

Geduscht hat er zwar nicht, aber es ist ja sowieso keiner da. Oder?

Vor dem Haus holt er sich den Schlüssel aus der Hosentasche.

Shizuka hat ihn ihm damals anvertraut, aber bis jetzt hat er ihn so gut wie noch nie eingesetzt.

Es ist einfach nie wirklich notwendig gewesen.

Keisuke schließt die Tür auf und öffnet sie langsam.

Der Flur ist leer, allerdings brennt das Licht.

Muss wohl noch von gestern sein, denkt er.

Schnellen Schrittes geht er ins Wohnzimmer, schließlich hat er die Brille hier das letzte Mal getragen. Nach ein bisschen Suchen findet er sie dann auf dem Fußboden.

Glücklicherweise ist sie nicht beschädigt, und Keisuke will gerade wieder gehen, da hört einen dumpfen Knall von oben.

Nicht dass schon wieder Vampire hier sind, überlegt er.

Er entscheidet sich, einfach nachzuschauen, wer oben ist. Das Geräusch ist anscheinend aus Shizukas Zimmer gekommen.

Langsam macht er die Tür auf, vorbereitet auf angreifende Vampire und schattenartige Stiere, aber was er jetzt erblickt, versetzt ihm einen ungeahnten Schock:

Shizukas Eltern liegen vor dem Bett auf dem Fußboden, von einer Blutlache umgeben.

Sie sind offensichtlich tot.

Keisuke bleibt für einen Moment die Luft weg, so schwer kann er fassen, was er da sieht.

Diese beiden Menschen waren immer gutmütig und fröhlich. Nach dem Tod von Keisukes Eltern haben sie sich um ihn und seine Geschwister gekümmert, als wäre es selbstverständlich.

Wer kann ihnen das angetan haben? Etwa Vampire? Die Curser?!

Er macht ein paar Schritte auf das Paar zu, um sie sich genauer anzusehen.

Vielleicht leben sie noch... Vielleicht...

Mit zwei Fingern versucht er, den Puls der Mutter am Hals zu fühlen, doch vergebens.

Beim Vater das selbe Ergebnis.

Gerade spürt Keisuke, wie ihm die Tränen kommen, da bemerkt er eine dritte Person im Zimmer.

Shizuka liegt auf dem Bett, ohne sich zu bewegen.

Nicht sie auch noch... Hastig eilt er zum Bett und beugt sich über sie.

„Sie lebt noch...“, flüstert er.

Sie erzittert am ganzen Körper, als er sie berührt.

„Shizuka... Bist du verletzt?“, fragt er vorsichtig.

Sie schüttelt den Kopf, ohne ihn anzusehen. Aber Keisuke weiß auch so, dass sie weint.

Er ist überglücklich, dass wenigstens ihr nichts passiert zu sein scheint.

„Sag mir... Was ist passiert?“

Schon wieder schüttelt sie den Kopf, und fängt an, immer lauter zu schluchzen.

Sanft legt er seine Hand auf ihre Schulter: „Bitte... Rede mit mir!“

Ihm ist bewusst, dass sie total aufgelöst ist und wahrscheinlich keine ganzen Sätze zustande bekommen wird, aber es ist einfach unerträglich für ihn, sie so zu sehen.

„Er hat sie... beide... um-umgebracht...“, stottert sie, den Kopf immer noch in den Händen vergraben.

„Wer ist 'er'?“, will Keisuke sofort wissen.

„Ich... weiß es nicht!! Ich kenne ihn nicht...“, weint sie mit lauter Stimme.

Der Verdacht, dass einer der Vampire ihre Eltern auf dem Gewissen hat, wird immer stärker.

Diese Lure kann es nicht gewesen sein, sie ist ja eine Frau... Aber der andere?!

Shizuka, die immer heftiger weint, dreht sich spontan um und nimmt Keisuke in den Arm.

Fest drückt sie ihn an sich, und schon bald fühlt er ihre Tränen in seinem Nacken.

„Ich weiß jetzt, wie es ist...“, flüstert sie mit zitternder Stimme; „Wie es ist, wenn man... seine Eltern verliert. Es tut mir so leid, dass ich es damals nicht verstanden habe...“

Damit hat er nicht gerechnet.

„Ist schon gut...“, sagt er, und versucht die Umarmung zu lösen, doch sie will einfach nicht loslassen.

Schließlich ist trotzdem Shizuka diejenige, die sich von ihm löst und ihn ansieht.

Eine Weile sagt sie gar nichts... Doch dann:

„Sag mal, Keisuke, hast du dir eigentlich die Haare gefärbt?“

Das gibt ihm beinahe den Rest. Wieso achtet sie in dieser Situation auf seine Haare?!

Keisukes Fassungslosigkeit scheint ihm ins Gesicht geschrieben zu sein, denn Shizuka fügt hinzu: „Steht dir wirklich gut“, und fängt an zu kichern.

Keisuke streckt seine Hand nach ihr aus: „Komm mit, wir gehen nach unten...“

Er muss sie unbedingt aus ihrem Zimmer rausbringen, denn solange sie ihre toten Eltern vor sich liegen hat, wird sie sich nicht wirklich beruhigen können.

Sie greift seine Hand und richtet sich auf. Dann folgt sie ihm aus dem Zimmer.

Als sie einen Blick auf ihre Eltern werfen will, sagt Keisuke schnell:

„Sieh nicht hin.“

Shizuka nickt nur und begleitet ihn nach unten.

Im Wohnzimmer angekommen, lässt sie sich erst einmal auf das Sofa fallen.

Man kann immer noch Tränen in ihren Augen sehen, aber zum Glück hat sie sich beruhigt.

„Wir... Wir müssen die Polizei anrufen...“, seufzt sie.

„Das stimmt“, erwidert Keisuke; „aber kannst du vorher bitte mir erzählen, was passiert ist?“

Shizuka schweigt.

„Ich weiß, das es schwer ist. Aber vielleicht kann ich dir ja helfen!“

„Na gut...“, sagt Shizuka traurig; „Ich erzähl's dir. Aber ich verstehe es ja selbst nicht mal.“

Keisuke hört gespannt zu.

„Wir waren ja in Frankreich... Gestern sind Mama, Papa und ich dann zurückgekommen. Ganz früh morgens... Und dann kam dieser Mann hierher, der gesagt hat, dass er meinen Vater sprechen will.

Aber das war ein Trick... Er hat ihn sofort... sie beide...“ Shizuka muss laut aufschluchzen.

„Und dann?“, will Keisuke wissen.

„Ich kann mich an nichts weiteres mehr erinnern... Nur dass ich... heute morgen hier im Wohnzimmer auf dem Fußboden lag! Ich habe im ganzen Haus meine Eltern gesucht und... und dann habe ich sie in meinem Zimmer gefunden!“

Keisuke überlegt. Sie sagt, sie kann sich an nichts mehr erinnern.

Dann ist sie vielleicht eingeschlafen? Also doch Lure? Moment mal, oder...

„Shizuka... Wie sah dieser Mann eigentlich aus?“

„Er hatte einen schwarzen Anzug an... Und blonde Haare...“

Keisuke kann es nicht glauben. Es war zwar ein Vampir, der ihre Eltern getötet hat, aber es war kein Curser! Es war einer von Raitos Leuten... Samuel!

Er war es also... Man kann diesen Vampiren doch nicht trauen! Es sind eiskalte Mörder, die versucht haben, Keisuke auf ihre Seite zu ziehen und im heimlichen die Eltern seiner besten Freundin töten!

Sie sind böse... Sie sind nicht besser als die Curser!

„Keisuke? Alles in Ordnung? Oder kennst du den Mann etwa?“

Keisuke zögert etwas, und antwortet dann:

„Ich dachte, dass ich ihn vielleicht kenne, aber ich habe mich geirrt.“

Shizuka sieht eine Weile auf den Boden. Nach einer Weile sagt sie:

„Es waren die besten Eltern, die man sich vorstellen kann. Immer für mich da... Und auch für meine Freunde. Sie waren immer gerecht, und ich konnte ihnen alles, wirklich alles erzählen. Es ist ungerecht. Es gab bestimmt keinen Grund, sie zu töten. Nichts, womit sie das verdient hätten.“

Keisuke denkt zuerst, dass Shizuka gleich wieder zu Weinen anfangen würde, und überlegt sich schon mal ein paar Worte des Trosts, doch er liegt daneben. Sie bleibt ganz ruhig.

Plötzlich fällt es ihm ein: Warum sie gestorben sind. Es ist alles seine Schuld. Wäre er nicht zum Vampir geworden, dann wäre es zu dieser Konfrontation bei Shizuka zu Hause nie gekommen.

Dann hätten sie keinen Grund gehabt, ihre Eltern zu ermorden.

Aber ist es wirklich seine Schuld? Er konnte es ja nicht wissen, und nicht er hat sie umgebracht, sondern dieser Samuel! Genau, dieser dreckige Mistkerl war es!

„Was ist eigentlich mit deinen Augen?“, unterbricht Shizuka seine Gedanken.

Verdammt, jetzt würde sie merken, dass seine Augenfarbe gewechselt hat. Das wird er nicht so leicht erklären können...

„Seit wann hast du rote Augen?!“, fragt sie erschrocken.

„Ähm... Ich hatte schon immer rote Augen!“, lügt er.

„Ganz bestimmt nicht!“, ruft sie und sieht ihn zornig an. Schnell springt sie auf und verlässt den Raum. Keisuke will ihr gerade folgen, da hört er schon ihre Stimme: „Bleib da!“

Also setzt er sich hin und wartet. Jetzt hat er echt ein Problem. Er kann Shizuka doch nicht sagen, dass er ein Vampir ist? Noch nicht! Das würde ihr endgültig den Rest geben!

Lächelnd betritt sie wieder das Wohnzimmer:

„Tut mir leid, ich habe mich geirrt... Du hattest wirklich schon immer rote Augen.“

Was? Wie kommt die jetzt darauf? Das stimmt ja noch nicht mal, das war nur eine billige Lüge!

„Hier“, sagt sie und zeigt ihm ein Foto, auf dem er als kleiner Junge in ihrem Garten zu sehen ist.

Auf dem Bild hat er rote Augen, was beim Benutzen von älteren Kameras durchaus passieren kann.

Offensichtlich weiß Shizuka das nicht!

„Ich werde aber jetzt die Polizei anrufen... Gehst du nach Hause?“

„Warum? Willst du nicht, dass ich bei dir bleibe?“

„Nein... Ich möchte dich da nicht mit hineinziehen.“

Er schaut ihr in die Augen. Irgendwas kommt ihm komisch vor.

Aber eigentlich wäre es wirklich besser für ihn, zu gehen. Die Polizei darf nicht herausfinden, was Keisuke in Wirklichkeit ist.

Er verabschiedet sich von Shizuka und macht sich auf dem Weg nach Hause.

Den Vampiren kann man nicht trauen... Auch Raito nicht, und wahrscheinlich nicht einmal Verena...

Sie haben sie einfach getötet, das wird Keisuke ihnen nicht verzeihen.

Und an diesem Samuel wird er sich rächen! Er hat ihre Eltern einfach aufgeschlitzt, als wären sie Vieh. So ein Monster.

Keisuke ist sich sicher, er wird ihn bestrafen! Für Shizuka...

Café "Lexy"

Café „Lexy“
 

Eine Stimme dringt durch das Treppenhaus, so laut, dass sie in Keisukes Zimmer zu hören ist:

„Keisuke!!! Du hast Post!“

Post? Von wem? Er unterbricht sein Computerspiel und schaltet den Bildschirm aus. Nach den traurigem Ereignis vor ein paar Tagen hat er sich nur noch damit abgelenkt.

Shizuka hat sich noch nicht bei ihm gemeldet, und wenn er bei ihr anruft, kann er höchstens mit dem Anrufbeantworter sprechen, was auch nicht gerade hilfreich ist.

Er steht auf und geht aus dem Zimmer. Miho wartet unten am Treppenabsatz mit einem Brief in der Hand.

Keisuke hat ihr erzählt, was bei Shizuka passiert ist, allerdings verschwieg er, dass Vampire im Spiel waren. Sie soll sich ja keine Sorgen machen, nein, sie hat wirklich schon genug Probleme.

„Dich bekommt man ja kaum noch zu Gesicht!“, sagt sie lächelnd.

„Kann schon sein...“, antwortet er mit gedämpfter Stimme.

Er weiß, dass es Miho keineswegs kalt lässt, das Shizukas Eltern getötet wurden, immerhin haben die beiden ihr damals sehr viel Arbeit abgenommen, nach dem Tod von Keisukes Eltern...

Er seufzt. Es werden viel zu viele Kinder zu Waisen, stellt er fest.

„Also hier ist ein Brief für dich. Ein Absender steht nicht drauf.“

Er nimmt den Brief und sieht ihn sich an. Der letzten Brief, den er bekam, war von Verena.

Ob dieser auch von ihr ist? Vielleicht weiß sie ja durch ihre Gabe, was passiert ist, und will mit ihm sprechen. Oder er ist von jemand ganz anderem.

Auf der Rückseite des Umschlags steht „Für Keisuke“ geschrieben, jedoch ist die Handschrift ihm völlig unbekannt.

Miho ist schon wieder in der Küche verschwunden, als Keisuke den Brief öffnet.

Er setzt sich auf die Treppe, um ihn zu lesen:

„Keisuke, entschuldige, dass ich mich nicht bei dir gemeldet habe. Ich habe in letzter Zeit eine Menge Stress. Und ich muss etwas loswerden, ich muss dir etwas sehr wichtiges sagen.

Es liegt mir am Herzen. Kommst du heute Nachmittag um 17:00 Uhr in das Café 'Lexy' ? Ich möchte dich dort treffen. Ich werde da sein. -Shizuka“

Was, der Brief ist von ihr? Warum schreibt sie ihm denn einen Brief anstatt einfach anzurufen? Keisuke weiß, dass sie seine Telefonnummer auswendig kennt.

Hat sie irgendwelche Probleme? Oder...

Er sieht sich den Brief genauer an. Irgendwas ist da faul. Diese Art zu schreiben, und sich so gewählt auszudrücken, das ist untypisch für sie.

Auch die Handschrift... Ist das wirklich ihre? Keisuke ist sich nicht sicher.

Das Café, was im Brief erwähnt wird, kennt er auch nicht.

Er faltet den Brief zusammen und verschränkt die Arme vor dem Kopf.

Was soll er tun? Ist das wieder eine Falle?

Dann sollte er lieber nicht darauf eingehen... Aber wenn nicht? Dann würde er seine beste Freundin in Stich lassen, jetzt, wo sie seine Hilfe so dringend braucht. Und anscheinend will sie ihm etwas sehr wichtiges sagen.

Er muss einfach hingehen. Er will Shizuka nicht enttäuschen, erst recht nicht, nachdem was sie gerade durchgemacht hat. Die Neugier lässt ihm keine Ruhe.

Ein Blick auf die Uhr verrät Keisuke, dass es kurz nach zwei ist. Er betritt die Küche, in der seine Schwester das Geschirr abspült

„Miho?“

Sie dreht sich zu ihm um: „Ja? Hast du den Brief gelesen?“

„Ähm, ja...“, sagt er zögerlich; „Es ist eine Einladung von Shizuka... Ich soll mich in einem Café mit ihr treffen.“

Miho kichert etwas: „Nur ihr beide? Ist das ein Date?“

Nicht zu glauben! Wie kann sie jetzt sowas sagen? Keisuke und Shizuka sind nur gute Freunde, nicht mehr. Und jetzt gibt es sowieso wichtigere Dinge!

„War doch nur ein Scherz, du musst mich nicht gleich so böse anschauen“, lächelt sie.

Anscheinend hat sie heute wirklich gute Laune.

„Ich fände es ja schon toll, wenn wenigstens mein kleiner Bruder eine Freundin hätte, wenn ich schon niemanden finde...“

Keisuke beschließt, nicht weiter darauf einzugehen, und fragt stattdessen:

„Das Café, wo sie mich treffen will, heißt 'Lexy'. Weißt du, wo das sein könnte?“

„Lexy, Lexy... Ist das nicht das Café mit den vielen Blumen, wo immer die ganzen Senioren hingehen? Es ist rechts neben Schneiders Tierhandlung.“

Ein Café für Senioren? Ausgezeichnete Wahl, Shizuka... Nein, das passt jetzt wieder zu ihr.

„Wo die Tierhandlung ist, weiß ich. Danke, Miho.“

Sie nickt.

„Ach ja, übrigens habe ich jemanden zum Abendessen eingeladen. Eine junge Medizinstudentin, ich habe sie gestern auf der Arbeit kennengelernt. Ich würde es toll finden, wenn du ihr nicht an den Kopf werfen würdest, dass du ein Vampir bist, ja?“

Wenn es weiter nichts ist...
 

Um halb fünf schaut Keisuke ein letztes Mal in den Spiegel. Er hat sich wirklich hergerichtet für sie. Warum eigentlich? Es ist doch nur Shizuka, die über etwas reden möchte.

Er beschließt, sich auf den Weg zum Café zu machen, er will ja nicht zu spät kommen.

Nach etwas mehr als einer halben Stunde steht er bei Schneiders Tierhandlung, und daneben befindet sich wirklich ein unauffälliges Café mit gestreiften Markisen und dem Schriftzug: „Lexy“.

Vor dem Eingang stehen ein paar Tische, an denen alte Damen sich bei Kaffee und Kuchen unterhalten. Keisuke geht an ihnen vorbei in das Innere des Ladens.

Das Café hat eine sehr düstere Atmosphäre. Auch hier stehen viele Tische, aber sie sind allesamt verstaubt und Gäste sitzen auch keine an ihnen.

Shizuka scheint noch nicht da zu sein.

Keisuke setzt sich an einen Tisch in der Ecke.

Es ist typisch für sie, zu spät zu kommen. Das war schon immer so, wenn sie sich verabredet hatten. Er war tierisch besorgt um sie und später stellt sich heraus, dass sie sich nur mal wieder beim Telefonieren verquatscht hatte.

Ein älterer, korpulenter Herr reißt Keisuke aus seinen Gedanken:

„Hallo, junger Mann. Was kann ich Ihnen bringen?“

Der Mann hat ein sehr freundliches Gesicht, und irgendwie kommt er Keisuke bekannt vor.

Aber das ist wahrscheinlich nur ein Zufall. Keisuke bestellt einen Kakao, den er nach ein paar Minuten auch an den Tisch gebracht bekommt.

„Möchten Sie sofort bezahlen?“, fragt der ältere Herr.

„Hmm... Ja, warum eigentlich nicht“, antwortet Keisuke schulterzuckend.
 

Keisuke wartet und wartet. Zehn Minuten, zwanzig Minuten, dreißig Minuten... Die alte Standuhr neben der Theke macht ihm immer wieder deutlich, wie lange Shizuka sich verspätet.

Langsam beschleicht Keisuke das Gefühl, dass da was nicht stimmt. So lange nicht aufzutauchen, ist selbst für Shizuka ungewöhnlich.

„Kann ich Ihnen noch etwas bringen?“, fragt der alte Mann.

„Nein...“, antwortet Keisuke; „Haben Sie vielleicht ein Mädchen mit schwarzen Haaren gesehen? Sie ist ungefähr so alt wie ich. Ich wollte mich hier mit ihr treffen, aber sie kommt einfach nicht.“

Der alte Herr fängt an zu lachen: „Meinst du das Ernst, Junge? Ein Mädchen mit schwarzen Haaren? Die ist doch schon die ganze Zeit da!“

Keisuke ist verwirrt: „Wie, die ganze Zeit? Wo denn?“

Der Mann zeigt auf eine alte Tür an der hinteren Wand des Raumes:

„Da unten sind auch noch Gäste! Sie hat sich schon dahingesetzt, bevor du hier hineingekommen bist.“

Keisuke betrachtet die Holztür. Er hat angenommen, der Bereich hinter ihr wäre privat und nicht für Gäste. Und anscheinend wartet Shizuka schon total lange da!

Er bedankt sich bei dem Mann und öffnet die knarrende Holztür.

Eine Steintreppe führt in eine Art beleuchteten Keller. Langsam steigt er die Treppe hinunter und sieht sich um. Hier stehen ein paar alte Tische und Stühle, aber es ist kein einziger Mensch zu sehen.

Was soll das denn? Der alte Kerl wird ihn doch nicht angelogen haben?

Keisuke macht ein paar Schritte vor: „Shizuka? Bist du hier irgendwo?“

Plötzlich erklingt ein lauter Knall hinter ihm, gefolgt von einer Männerstimme:

„Ihr Vampire seid wirklich dumm.“

Keisuke dreht sich blitzschnell um. Hinter ihm steht ein junger Mann mit schwarzen Haaren.

Reflexartig rennt Keisuke auf die andere Seite des Raumes und versteckt sich hinter einem Tisch.

„Was willst du von mir?“, ruft er verzweifelt.

„Ich will nur die Brut des Teufels auslöschen. Und naja – das schließt dich mit ein.“

Wie konnte Keisuke nur so dumm sein. Es ist also doch eine Falle, und er ist voll hinein getappt.

Aber warum will dieser Typ ihn töten? Er hat ihm doch nichts getan!

Keisuke hört die Schritte des Unbekannten, der auf ihn zukommt.

„Wer... Wer bist du?“, fragt er, obwohl er weiß, dass es ihm nicht weiterhelfen wird, wenn er den Namen seines Mörders kennt.

„Du kennst mich nicht?“ Der Mann bleibt stehen. „Du bist ein Vampir, und trotzdem kennst du mich nicht? Ich bin Epheral Locover, der Präsident der Provitas!“

Das alles sagt Keisuke nichts.

„Was ist 'Provita'?“ Ihm ist bewusst, dass er die Fragen nur stellt um Zeit zu schinden, und nicht, weil es ihn wirklich interessiert.

„Hmm... Also entweder bist du extrem dumm, oder du bist noch nicht lange ein Vampir. Beides macht es mir sehr viel einfacher. Und jetzt halt still!“

'Halt still'?

Langsam wendet Keisuke seinen Kopf nach hinten, und sein Herz pocht mit solcher Kraft, dass ihm schlecht davon wird.

Epheral Locover steht hinter ihm, mit einem langen, schwarzen Gewehr in beiden Händen, welches er Keisuke direkt an den Kopf hält.

In Epherals Augen ist nur eins zu sehen: Purer Hass!

Keisuke weiß, dass er ihn jetzt jeden Moment töten wird. Er wird abdrücken, und dann wird Keisuke sterben. Ihm schießen Tränen in die Augen.

Shizuka, Sakito, Miho, Mama und Papa...

Plötzlich fängt die Erde an zu beben. Mit einem lauten Krachen fliegt die Holztür auf und es betritt eine weitere Person den Raum.

Epheral richtet seine Waffe jetzt auf diese Person, was Keisuke die Gelegenheit gibt, hinter die andere Seite des Tisches zu rutschen und zu sehen, wer da reingekommen ist.

Ein junges Mädchen steht vor ihnen, mit langen orangenen Haaren und blutroten Augen.

Ist sie etwa ein Vampir? Dann fallen Keisuke die Ohren des Mädchens auf, die wie die eines Fuchses oder einer Katze aussehen.

Ihr blassroter Kimono leuchtet wie ihre Augen, und mit hallender Stimme spricht sie:

„Ich bin die heilige Fuchsgöttin Kitsune! Ich verbiete die Anwendung von Gewalt in meinem Bereich!“

Fuchsgöttin? Keisuke dachte, dass es nur ein Mädchen ist, dass sich komisch anzieht. Aber so wie sie am ganzen Körper leuchtet und wie ihre Stimme ein Echo erzeugt, könnte es sein.

„Ich glaube nicht an alte Märchen!“, ruft Epheral; „Du bist doch eine Dienerin der Vampire...“

„Ich bin die heilige Fuchsgöttin! Wenn du mir nicht glaubst, sehe die Kraft, die in meiner linken Hand steckt!!“ Mit diesen Worten hält sie ihre Hand hoch. Keisuke betrachtet sie gespannt, aber für ein paar Sekunden scheint nichts zu passieren. Und dann...

Ein dumpfer Knall sowie ein kurzer Aufschrei: Die Fuchsgöttin hat Epheral eine Sprühdose an den Kopf geschleudert!

„Jetzt oder nie!“, schreit sie, nimmt Keisukes Hand und zerrt ihn nach draußen.

Ohne zurückzublicken rennen die beiden aus dem Café zu einem Parkplatz weit hinter den Gebäuden der Innenstadt.

Außer Atem setzt Keisuke sich hin.

Seine Retterin ist ebenfalls erschöpft: „Gerade nochmal gutgegangen!“

Er blickt sie an: „Warum hast du mich gerettet, Fuchsgöttin Kitsune?“

Plötzlich verfällt sie in einen Lachkrampf: „Was? Hahaha, Fuchsgöttin Kitsune? Du bist echt blöd! Hast du mir das abgekauft? Habe ich so gut gespielt?“

Keisuke kommt sich im nächsten Moment wirklich dumm vor.

Selbstverständlich gibt es keine Fuchsgötter, das sind alles nur alte Mythen.

„Mein Kimono ist so präpariert, dass ich nur an diesem Faden ziehen muss, damit er leuchtet. Das ist eine tolle Erfindung, oder? Ich habe sie einem Wissenschaftler abgekauft, der dringend Geld brauchte. Ich kann damit Leute erschrecken, wenn ich will.“

Keisuke sieht sie etwas ungläubig an: „Macht es dir Spaß, Leute zu erschrecken?“

„Aber klar!“, antwortet sie bestimmt.

„Und wie hast du das mit deiner Stimme gemacht?“, will er wissen.

„Was habe ich denn gemacht? Ich habe eine sehr laute Stimme. Das kann ich natürlich zu meinen Vorteil einsetzen, hihi!“

Dieses Mädchen ist irgendwie verrückt, aber sie hat auch etwas süßes an sich.

„Weißt du... warum dieser Typ mich töten wollte?“

„Er ist ein Vampirjäger“, erwidert sie gelangweilt; „Ich glaube, sogar ihr Anführer. So unvorsichtig wie du bist, war es ja klar, dass sie dich kriegen. Aber zum Glück ist er auf meinen Trick mit der linken Hand reingefallen; in der Zeit, wo ihr auf die Linke geachtet habt, habe ich mit der Rechten ein Antiflohspray nach ihm geworfen! Cool, oder?“

Keisuke schaut sie entsetzt an. Sie weiß, dass er ein Vampir ist? Und Vampirjäger jagen ihn? Wenn sie darüber Bescheid weiß, dann...

„Du bist auch ein Vampir, oder?“

„Nö, voll daneben“, lautet ihre kurze Antwort.

Seltsam, bei ihren blutroten Augen hatte er das angenommen.

„Ich würde gerne wissen, warum du mir geholfen hast“, fragt Keisuke ein wenig depressiv.

Sich von einem kleinen Mädchen das Leben retten lassen ist schon ein bisschen peinlich.

„Weil ich immer versuche, anderen zu helfen. Ist doch ganz klar!“

Ist das wirklich so klar? Sie hat ohne Zweifel ihr Leben riskiert. Keisuke weiß nicht, ob er für einen völlig fremden Menschen auch dazu in der Lage wäre.

„Dieses Café gehört übrigens meinen Eltern! Und ich habe keine Ahnung, wer dieser komische alte Mann war, der am freien Tag meines Vaters einfach das Café geöffnet hat!“

Es gehört ihren Eltern? Der alte Mann dort hat Keisuke auch in die Falle gelockt. Dem kann man also auch nicht trauen...

„Also, ich gehe dann nach Hause!“, ruft das Mädchen munter.

„Warte! Wie heißt du?“, fragt Keisuke.

Sie dreht sich um und lächelt ihn an:

„Ich bin Yuri. Yuri Monou. Freut mich dich kennenzulernen, Keisuke!“

Mit diesen Worten verschwindet sie blitzschnell zwischen den Autos.

Mittlerweile ist es dunkel geworden. Er bleibt noch eine Weile dort sitzen, und denkt nach.

Wieso trachtet ihm alle Welt nach dem Leben? Er hat doch nichts schlimmes getan.

Das ist wirklich ungerecht... Bald wird es wieder Ärger geben, da ist er sich sicher.

Vielleicht wäre es besser gewesen, sich nicht in einen Vampir zu verwandeln.

Aber dann hätte ihn die Krankheit dahingerafft... So hat er wenigstens noch eine Chance, zu überleben.

Nach einer Weile steht er auf und beschließt, nach Hause zu gehen.

Plötzlich muss er sich fragen, woher Yuri denn seinen Namen weiß?! Beängstigend...

Dinner for six

Dinner for six
 

Die Suppe ist fast fertig, der Wein steht bereit und das Fleisch ist auch gleich durch. Hoffentlich langweilt sie sich dahinten im Wohnzimmer nicht, denkt Miho.

„Alles in Ordnung? Kann ich vielleicht helfen?“, fragt plötzlich die junge Frau, die hinter Miho aufgetaucht ist.

„Ähm, nein, nein, ist schon in Ordnung. Immerhin sind Sie heute Abend mein Gast, Frau Mitsuki. Sie können ins Wohnzimmer zurückgehen, ich komme gleich.“

Die Rothaarige nickt und antwortet: „Okay. Du kannst mich ruhig Luna nennen. Ich möchte doch, das wir uns näher kennenlernen. Habe ich nicht recht, Miho?“

Mit diesen Worten geht Luna in das Wohnzimmer zurück.

Miho sieht aus dem Fenster. Warum ist sie so nervös? Sie versucht nur, einen guten Eindruck zu machen. Den gesamten unteren Bereich des Hauses hat sie geputzt und aufgeräumt, damit alles gepflegt aussieht. Sie ist immer die einzige, die sich um das Haus kümmert.

Ihre Brüder helfen ihr fast nie bei der Hausarbeit, aber das ist schon in Ordnung. Die beiden sollen sich vergnügen können und sich nicht mit solch trivialen Dingen herumschlagen müssen.

Sie macht sich Sorgen um ihren kleinen Bruder Keisuke, denn er ist immer noch nicht zu Hause. Hoffentlich hat er Spaß mit Shizuka, die er heute treffen wollte.

Hätte er ein Handy, würde Miho ihn anrufen um zu fragen, ob alles in Ordnung sei.

Ein leichter Rauch steigt ihr plötzlich in die Nase.

„Oh nein! Die Filets!!!“ Panisch nimmt sie das Fleisch aus der Pfanne und begutachtet es:

„Ob man das noch essen kann?“

Jetzt beeilt sie sich, die Teller in das Wohnzimmer zu tragen, wo Luna auf dem Sofa sitzt und Shya streichelt.

„Sie ist süß...“, sagt sie zufrieden. Miho stellt die Teller auf den Tisch.

Plötzlich ist ein Piepsen zu hören und eine Maus kommt unter dem Sofa hervor.

Oh mein Gott, denkt Miho; Was denkt sie jetzt nur? Wir haben Ungeziefer...

Shya springt wie von der Tarantel gestochen auf und rennt in den Flur, dicht gefolgt von der Maus.

„Normalerweise haben wir keine Mäuse hier... denke ich...“, stottert Miho.

„Warum rennt die Katze vor der Maus weg?“, will Luna wissen; „Ist sie vielleicht krank? Das sollten wir uns einmal ansehen, oder?“

Miho sieht bedrückt zu Boden: „Ähm, das war immer schon so. Aber die Maus kann ihr ja nicht gefährlich werden oder so. Setzen Sie sich jetzt an den Tisch? Ich bringe das Essen herein.“

Luna geht zum Tisch: „Sag ruhig 'du' zu mir. Wir sind zwar für die nächste Zeit Kollegen, aber das heißt ja nicht, dass wir keine Freundinnen werden können.“

Miho lächelt sie freundlich an und macht sich daran, das Essen aus der Küche zu bringen.

Als sie dann am Tisch sitzen und mit dem Essen anfangen, fragt Miho:

„Du studierst doch Medizin? Warum machst du dann ein Praktikum bei einem Tierarzt?“

Luna muss lachen: „Das fragt man mich sehr oft. Du musst wissen – Ich liebe Tiere. Deswegen studiere ich auch ihre Anatomie. Eigentlich will ich nach dem Studium Ärztin werden, aber ich will Menschen und Tieren gleichermaßen helfen können.“

Miho ist beeindruckt. So viel Offenheit hat sie nicht erwartet.

„Aber sprechen wir nicht über den Beruf. Du hast erzählt, dass du mit deinen Brüdern zusammen lebst? Wo sind die denn?“

Miho zögert zu antworten: „Hm, naja, ähm... Keisuke, der Jüngste, ist mit einer Freundin verabredet. Er müsste eigentlich bald wiederkommen.“

„Und der andere?“, fragt Luna ungehemmt.

„Sakito? Ich weiß nicht, wo er ist. Irgendwie ist er so gut wie nie zu Hause. Frag mich nicht warum.“

Beide fangen gleichzeitig an zu lachen.

Unerwartet klingelt es an der Haustür.

„Hast du noch jemanden eingeladen?“, kommt es von Luna.

„Eigentlich nicht“, sagt Miho und geht zur Haustür. Sie macht sie auf, und vor ihr steht ein blonder Mann mit Brille, der ein graues Hemd und eine Jeans trägt.

„Oh, hallo Desmond“, begrüßt ihn Miho.

„Ja, guten Abend. Ich wollte gerne mit Keisuke sprechen, wenn er zu Hause ist.“

„So spät noch?“, hakt Miho nach.

Desmond räuspert sich: „Als Forscher stecke ich in sehr viel Arbeit, und ich kann mir meine Freizeit leider nicht immer so einteilen, wie es für alle anderen am Günstigsten ist. Kann ich hier warten, bis er zurückkommt?“

Miho wird ein bisschen nervös: „Ähm, Sie müssen wissen, ich habe Besuch...“

„Macht doch nichts! Lass ihn ruhig rein!“, ertönt Lunas Stimme aus dem Wohnzimmer.

Miho seufzt: „Sie haben sie ja gehört. Setzen Sie sich einfach zu uns, ich hole dann noch einen Teller.“

Der Wissenschaftler bedankt sich und tritt ein.

Zum Glück habe ich genug für drei gekocht, denkt Miho, als sie wieder beim Essen sind. Sakito taucht heute aber wahrscheinlich eh nicht mehr auf und Keisuke braucht keine Nahrung wie wir sie essen...

„Also Desmond, du bist ein Forscher? Was sind denn deine Gebiete?“, fragt Luna interessiert.

Desmond antwortet: „Theoretische Physik und chemische Analysen. Außerdem arbeite ich im Bereich der Mechanik, und ich habe schon die ein oder andere Erfindung gebaut.“

„Erfindung? Klingt interessant. Ich interessiere mich mehr für Biologie“, sagt Luna.

Von einer Medizinstudentin ist das aber auch irgendwie zu erwarten.

Gerade freut Miho sich, dass der Abend so gut läuft, da klingelt es schon wieder an der Haustür.

„Ist das Keisuke?“, fragt Desmond.

„Kann eigentlich nicht sein, er hat ja einen Hausschlüssel“, erwidert Miho und geht an die Tür.

„Hier ist echt viel los“, lacht Luna.
 

Keisuke, der inzwischen fast zu Hause ist, bereut es, keine Armbanduhr zu tragen.

Miho wird ihn bestimmt wieder mit Fragen löchern, warum er so spät kommt. Naja, eigentlich tut sie sowas nie, aber Keisuke will nicht, dass sie sich Sorgen machen muss. Wem kann er eigentlich vertrauen? Raito wahrscheinlich nicht, Yuri vielleicht. Aber ganz sicher kann er seinen Geschwistern vertrauen, denn diese haben ihn noch nie im Stich gelassen.

Auch wenn er es oft nicht bemerkt, seine Schwester ist immer für ihn da.

Vielleicht sollte er sich ihr anvertrauen?

Ein erschreckender Anblick reißt ihm aus seinen Gedanken.

Er ist zu Hause angekommen, aber er traut seinen Augen nicht:

Im Vorgarten seines Hauses steht doch allen ernstes ein Pferd!

Keisuke geht näher an das Tier heran. Es ist ein schönes, braunes Pferd mit schwarzen Haaren, und es sieht sehr gepflegt aus. Jemand hat es an den Holzzaun des Vorgartens angebunden, aber es macht auch keine Anstalten, fliehen zu wollen. Als Keisuke an dem Tier vorbeigeht, ignoriert es ihn völlig.

Ihm ist nicht klar, was das zu bedeuten hat, aber er hat ja nichts gegen Pferde und Miho würde ihn schon aufklären. Möglicherweise hat sie es ja aus der Praxis mitgebracht, um sich um es zu kümmern.

Er schließt die Haustür auf und geht rein. Dabei ruft er: „Miho, ich bin wieder da!“

Kurz darauf hört er ihre Stimme:

„Keisuke? Wir sind alle hier im Wohnzimmer!“

Wie meint sie das, 'alle' ?

Jetzt erinnert Keisuke sich daran, dass sie eine Kollegin erwähnt hat, die zum Essen kommen sollte. Genau! Die muss gemeint sein.

Er geht ins Wohnzimmer. Eine junge Frau und Desmond Corin sitzen am Tisch.

„Desmond?!“

Miho steht daneben und ist gerade dabei, den Tisch abzuräumen:

„Er kam eben vorbei. Das ist noch nicht alles, es sind noch zwei Freunde von dir da.“

Hinter ihr erscheinen zwei Gestalten, eine junge Frau mit blutroten Haaren und zierlichem Körper, sowie ein sehr großer Mann mit weißem Haar und weißem Hemd: Es sind die Curser.

„Nein!!!“, ruft Keisuke panisch; „Nicht ihr!“

Die beiden fangen an zu lachen, Miho dreht sich fragend um und wird direkt vom Großen gepackt und festgehalten. „Aaaaaaaah!!!“

Lure stürmt währenddessen auf den Tisch zu, Desmond steht auf und ruft: „Es sind also Vampire!“, während Luna nur wie angewurzelt sitzen bleibt und verwirrt umherschaut.

Lure beugt sich direkt über sie, Keisuke ruft: „Schau ihr nicht in die Augen!“

Doch es ist zu spät, Luna sackt zu Boden. Dann widmet sie sich Desmond, der sich auch nicht wehren kann und friedlich einschläft.

Zitternd muss Keisuke sich hinsetzen: „Bitte... Bitte lasst meine Schwester in Ruhe...“

Lure beugt sich über ihn, mit einem süffisanten Lächeln und gibt ihm einen kurzen Kuss auf dem Mund.

Warum tut sie das nur? Macht es ihnen soviel Spaß, Keisuke zu quälen? Jetzt wird seine Schwester in diese Sache verwickelt...

Miho versucht, etwas zu sagen, aber der Riese hält ihr den Mund zu.

Dann flüstert Lure mit einem Blick in Keisukes Augen:

„Vielleicht bringt dich das dazu, unser Angebot zu überdenken.“

Danach wird alles schwarz...

Rettungsaktion

Rettungsaktion
 

„Keisuke? Steh auf, mach schon!“

Langsam öffnet er die Augen. Er liegt auf dem unbequemen Fußboden des Wohnzimmers, und vor ihm steht Desmond. Eine Sekunde lang weiß Keisuke nicht, warum er auf dem Boden liegt, doch dann fällt ihm alles wieder ein: „Miho!“

Desmond reicht ihm seine Hand, damit er aufstehen kann.

Keisuke schaut sich um. Es ist mittlerweile schon morgens, das unangenehme Sonnenlicht dringt durch das Fenster ein.

Luna sitzt auf dem Stuhl, auf dem sie auch gestern saß, nur dass sie ihren Kopf in ihren Armen vergräbt.

Keisuke geht besorgt zu ihr hin: „Bist du okay?“

Sie antwortet nicht.

„Ich habe ihr gerade erzählt, was es mit den Vampiren auf sich hat“, erklärt Desmond; „Also all das, worüber du mit mir gesprochen hast.“

Keisuke setzt sich neben sie.

Miho... Diese verdammten Vampire, was haben sie nur getan?

Er schaut Luna an: „Wer ist das überhaupt?“

Desmond will gerade zur Antwort ansetzen, da hebt die junge Frau ihren Kopf und spricht selbst: „Luna Mitsuki. Deine Schwester hat mich zum Abendessen eingeladen...“

Dann ist sie also der eigentliche Gast von Miho gewesen.

Fragend sieht Keisuke Desmond an: „Und was machst du hier?“

„Ich wollte zu dir, aber du warst noch nicht da. Also habe ich gewartet... Aber ist das jetzt nicht vollkommen egal? Denk doch mal an Miho...“

„Ich denke schon die ganze Zeit an sie!“, entgegnet Keisuke wütend; „Aber ich habe keinen Schimmer, wo sie sein könnte!“

„Hat sie ein Handy?“, fragt Desmond.

„Nein... Nur mein Bruder hat eins.“

Plötzlich steht Luna auf. Desmond und Keisuke sehen sie mit fragendem Blick an.

Schnellen Schrittes geht sie zum Telefon: „Ich werde jetzt die Polizei rufen. Oder hat von euch jemand eine bessere Idee?“

Im Moment gibt es wirklich nichts anderes, was man machen könnte, überlegt Keisuke. Aber wenn sie mit der Polizei sprechen, müssen sie alles was mit Vampiren zu tun hat verschweigen. Das könnte schwierig werden...

„Oh, Keisuke? Ich glaube, ihr habt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter...“, bemerkt Luna.

Keisuke geht zu ihr und betätigt die Taste für die Wiedergabe der Nachricht. Es ertönt die arrogante Stimme von Lure aus dem Apparat:

Hey hey, süßer Keisuke! Hast du mich vermisst? Wir hatten ja eine Menge Spaß gestern Abend. Deine Schwester amüsiert sich hier mit uns, aber wenn du nicht bald auch kommst, ist die Feierstimmung bald zu ende... Falls du dich fragst, wo wir sind, komm einfach zum Haus von Desmond Corin. Wir bleiben heute den ganzen Tag da. Ciao!“

„Also so, wie sie das ganze formuliert hat, können wir es nicht der Polizei vorlegen!“, seufzt Luna. „Was soll das heißen, in meinem Haus! Das ist doch ein Scherz, oder?!“, ruft Desmond zornig; „Woher wollen die denn wissen, wo ich wohne?!“

„Weil sie dich beobachten... Genau wie sie mich beobachtet haben...“, flüstert Keisuke traurig.

„Und warum beobachten sie mich?“, fragt Desmond fassungslos.

Da muss man nicht lange überlegen: „Sie wollen die gesamte Menschheit ausrotten... Es ist doch irgendwie klar, dass sie mit denen anfangen, die über sie Bescheid wissen.“

„WAS???“, ruft Desmond empört.

„Na super!“, beklagt sich Luna.

Ja, die beiden sind jetzt auch in Gefahr...

Keisuke steht auf und geht zur Tür:

„Desmond, fährst du mich zu dir nach Hause? Wenn ich nicht dahingehe, dann... töten sie Miho...“

„Sie wollen doch die Menschheit auslöschen? Töten sie sie dann nicht sowieso?“, antwortet er.

Eigentlich hat er damit nicht Unrecht. Aber Keisuke kann jetzt nicht dastehen und nichts machen. Er weiß, dass er jetzt geradewegs wieder in eine Falle tappt, aber es ist ihm egal.

Wenn es nur eine kleine Chance gibt, seine Schwester zu retten, dann wird er sie nutzen.

Sie würde dasselbe auch für ihn tun...

„Ich komme mit dir“, sagt Luna plötzlich, als hätte sie Keisukes Gedanken gelesen.

Er weiß nicht, was er sagen soll. Er ist sich auch nicht sicher, warum sie dies tut.

Desmond schaut sie fragend an, aber sie erwidert nur:

„Ein Kind alleine dahingehen lassen? Das ist doch unverantwortlich. Außerdem sind die Vampire ja sowieso schon hinter mir her, wenn ich das richtig verstanden habe.“

Desmond nickt: „Du hast Recht. Ich fahre euch zu mir. Ich kann den Cursers nicht verzeihen, dass sie sich in meinem Haus einnisten!“

Entschlossen gehen die drei nach draußen.

Desmond und Keisuke steigen in seinen Wagen, während Luna es bevorzugt, auf ihrem Pferd zu reiten.

Die Strecke ist nicht sehr lang. Keisuke weiß, dass er sich auf etwas gefährliches einlässt, aber am meisten Angst hat er um Miho. Sie darf ihm nicht weggenommen werden, nein, nicht sie auch noch.

Das Auto hält, und Desmond sagt laut, damit auch Luna es hört: „Wir sind da!“

Sie steigen aus. Luna bindet ihr Pferd am mechanischen Briefkasten des Hauses fest:

„Das wird halten...“

Zu dritt betreten sie das Haus.

„Alles sieht normal aus...“, sagt Desmond, nachdem er sich gründlich umgeschaut hat.

„Sind sie wirklich hier?“, fragt Luna nach einem Blick in die Küche.

„Könnte schon sein... Kommt mit nach oben“, beschließt der Forscher.

Aber auch im oberen Stockwerk des Hauses werden sie nicht fündig.

Keisuke zweifelt immer mehr daran, dass die Vampire hier sind.

„Also wenn sie hier irgendwo sind, waren sie sehr vorsichtig. Sie haben keine Spuren hinterlassen, und die Alarmanlage wurde ja auch nicht ausgelöst“, stellt Desmond fest.

„Jetzt könnten sie nur noch... Im Keller sein!“

Die drei gehen wieder nach unten und Desmond führt sie in einen schmalen Durchgang hinter dem Badezimmer. Von hier führt eine Treppe nach unten.

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie da unten sind“, überlegt Desmond laut; „Da unten ist eine Tür aus Eisen, und die habe ich immer abgeschlossen. Wollen wir trotzdem nachsehen?“

„Selbstverständlich!!“, rufen Keisuke und Luna gleichzeitig.

„Dann gehe ich vor“, sagt Desmond und steigt die Treppe hinunter. Luna dreht sich um und ruft: „Ähm, Desmond?“

Genervt fragt er, was los ist.

„Du hast keine Katze, oder?“

Keisuke blickt sie fragend an, und Desmond antwortet: „Nein, ich bin gegen sie allergisch... Warum fragst du mich sowas?“

Luna sieht zu Boden: „Ähm... Ist schon gut. Ich dachte nur, ich hätte da was gesehen...“

Jetzt machen sich auch die beiden daran, hinter Desmond die Treppe runterzugehen. Aber plötzlich bleibt er stehen: „Oh mein Gott!“

Keisuke und Luna versuchen, über Desmonds Schulter zu sehen, um herauszufinden, was passiert ist.

Die Eisentür ist aufgebrochen worden!

„Was, was ist los?“, ruft Luna; „Ich bin zu klein, ich sehe nichts...“

Mit finsteren Blick sagt Desmond:

„Diese Tür ist aus massiven Eisen. Kein Mensch kann die einfach so aufbrechen. Da unten warten wohl richtige Monster auf uns. Jetzt wird es wirklich gefährlich.“

Ohne sich noch einmal umzudrehen gehen die drei durch die aufgebrochene Tür in den Keller.

Überraschenderweise ist das Licht an, und es liegen überall alte Werkzeuge sowie kaputte Möbel herum.

„Miho!!!“ Keisuke sieht Miho, die bewusstlos auf dem kaputten Sofa liegt. Gerade will er zu ihr laufen, da kommt hinter dem Sofa eine Person hervor.

Eine Frau mit langen, grauen Haaren und roten Augen. Sie trägt ein schwarzes Abendkleid und hat ein freundliches Lächeln aufgesetzt:

„Keisuke... Wie schön, dass du da bist.“

„Wer bist du?“, fragt Keisuke die fremde Dame.

Sie breitet ihre Arme aus, so als würde sie ihn in umarmen wollen, aber Keisuke macht keine Anstalten, sich zu ihr zu bewegen.

„Warum bist du nur so misstrauisch... Ich bin die Königin, Emily. Weißt du, wie lange ich darauf gewartet habe, dich persönlich kennenzulernen? Es ist mir eine Freude...“

„Ich weiß zwar nicht, was Sie von mir wollen, aber...“, fängt Keisuke an.

„Aber ich weiß was du von mir willst“, sagt Emily und deutet auf Miho.

Keisuke weiß, dass es nicht so einfach geht, doch trotzdem fragt er hoffnungsvoll:

„Darf... Darf ich sie wieder mitnehmen...?“

Die überraschende Antwort von Emily lautet: „Aber sicher darfst du das. Nur eine kleine Bedingung habe ich...“

Irgendwie war es Keisuke schon vorher bewusst, dass so etwas kommen würde:

„Sie... Sie wollen, dass ich mich den Cursers anschließe, oder?“

Stumm geht Emily einen Schritt auf Keisuke zu, parallel gehen Desmond und Luna einen Schritt zurück, nur Keisuke bleibt auf seinem Platz.

„Aber nein...“, sagt Emily leise: „Ein Blick in deine Augen reicht schon, um zu sehen, dass du das niemals machen würdest. Du willst die Menschheit scheinbar nicht zum Feind haben. Das ist dann deine Sache...“

„Aber welche Bedingung dann?“, will Keisuke wissen. Ihm schießen tausend Ideen durch den Kopf, was sie alles von ihm wollen könnte. Als sie es dann sagt, merkt er überrascht, wie falsch er lag: „Ich möchte nur, dass du mich umarmst.“

Alle drei schauen sie verständnislos an.

Was hat sie denn davon? Da steckt doch garantiert irgendetwas hinter!

Man kann ihr sicher nicht trauen...

„Tue es nicht, Keisuke!“, ruft Luna; „Vielleicht bringt sie dich um, wenn du ihr so nahe kommst!“

Emily sieht sie verachtend an: „Ich verspreche, dass ich ihm nichts antun werde...“

„Versprechen sind nicht automatisch bindend“, sagt Desmond skeptisch.

„Es ist aber eure einzige Chance, das Mädchen wieder zu bekommen. Sonst werde ich sie mitnehmen“, lächelt sie hinterhältig.

„Na gut, ich mache es“, ruft Keisuke; „Mir ist egal, was mit mir passiert, aber ich werde es tun.“

Desmond wird wütend: „Keisuke, das ist DUMM!“

Luna legt die Hände vor ihr Gesicht und schüttelt den Kopf.

Keisuke lässt sich von den beiden nicht weiter verunsichern und geht auf Emily zu, die schon wieder ihre Arme ausbreitet.

Jetzt steht er direkt vor ihr, und langsam legt er seine Arme um ihren Körper, und sie tut es ihm gleich.

Keisuke merkt, dass ihm immer kälter wird, je länger er sie festhält.

Sie flüstert ihm ins Ohr: „Ich liebe es, von Vampiren umarmt zu werden. Sie wissen nicht, was sie damit anrichten. Du wirst es wahrscheinlich gar nicht merken...“

Keisuke erschrickt und löst die Umarmung: „Was hast du vor!?“

Emily lacht nur: „Nicht zu glauben, wie dumm du bist. Du bist wie ein Mensch! Eine Schande für die Vampire... Raid!! Lure!! Ihr könnt sie jetzt umbringen. Alle.“

Lure taucht hinter einem Schrank auf und stellt sich demonstrativ vor die drei.

Und im selben Moment erscheint Raid, der große Vampir mit den weißen Haaren hinter ihnen.

Er ist scheinbar aus dem nichts gekommen.

„Ich gehe dann“, sagt Emily, als sie ohne zu zögern an den drei vorbeigeht; „Übrigens vielen Dank für deine Vampirkraft, Keisuke!“

Wie meint sie das? Vampirkraft?

Hat sie ihm etwa seine Spezialfähigkeit geraubt? Die er noch gar nicht einsetzen konnte?

„Lasst sie ruhig ein bisschen leiden“, lacht Emily und verlässt gemütlich den Keller.

Lure und Raid drängen die drei immer mehr zurück, bis sie mit dem Rücken zur Wand stehen.

„Was hältst du davon?“, fragt Lure; „Ich werde einen nach dem anderen einschläfern und du darfst sie dann zerhacken. Gute Idee?“

„Gute Idee!“, wiederholt Raid mit einem fetten Grinsen im Gesicht.

Lure macht ein paar Schritte auf sie zu, aber Desmond ist schneller:

Er wirft einen auf dem Boden liegenden Hammer nach Lure, die gerade noch ausweichen kann, dabei aber auf den Boden fällt: „Hey!“

Desmond nimmt blitzschnell die Hände von Keisuke und Luna und versucht, sie wegzuzerren, aber kaum stehen sie vor der Eisentür, steht Raid plötzlich wieder vor ihnen.

„Du warst doch gerade noch... Wie kommst du denn jetzt da hin?!“, ruft Desmond entsetzt.

Raid lacht nur dreckig, und Keisuke flüstert:

„Er kann sich teleportieren, wohin er will. Das ist also seine Fähigkeit.“

„Genau“, sagt Raid kurz und zieht ein großes Messer hervor. Luna schreit.

„Und aus diesem Grund könnt ihr mir auch nicht entkommen!“

Er sticht mit dem Messer nach Keisuke, der sich gerade noch wegducken kann. Dann holt er aus, um Desmond anzugreifen, aber dieser kann seinen Messerangriff geschickt mit einer Eisenstange vom Boden parieren.

Luna rennt inzwischen in die andere Seite des Raumes, obwohl dort kein Ausgang ist.

Desmond kämpft noch mit Raid, und Keisuke versucht sich hinter dem Schrank zu verstecken, hinter dem Lure etwas früher hervorkam.

Diese hat sich übrigens wieder aufgerafft und kommt Luna immer näher.

Ich muss ihr irgendwie helfen, denkt Keisuke, und sieht hinüber zu Desmond, der es gerade noch schafft, sich gegen den riesigen Vampir zu verteidigen.

Luna ruft: „Hau... Hau ab du Tussi!“, als Lure sie immer weiter in die Ecke drängt.

„Du darfst ihr nicht in die Augen sehen!“, ruft Desmond, ohne seinen Blick von Raid abzuwenden.

Keisuke fasst sich an den Kopf. Was soll er machen? Die Cursers sind klar im Vorteil. Sie sind viel stärker... Es sieht aus, als würden sie verlieren und getötet werden.

„Es tut mir leid, dass ihr da mit reingezogen wurdet!“, sagt er mit zitternder Stimme.

Die beiden sind fast am Ende, denkt er.

Luna versucht irgendwie mit geschlossenen Augen gegen Lure zu kämpfen, was ihr nicht im Ansatz gelingt, und Desmond wurde gerade von Raid seiner Eisenstange beraubt.

Jetzt ist es vorbei...

Lure fängt an zu lachen: „Tja, es kann ja nicht immer jemand kommen, um euch zu retten. Hier im Haus ist ja niemand anderes als wir und ihr.“

„Und einer schattenartigen Katze...“, flüstert Luna und wird ohnmächtig. Alle schauen sie an.

Schattenartig? Katze?

Jemand tritt durch die Eisentür, ein Mann mit blauen Haaren, der einen langen, schwarzen Mantel trägt.

Raid teleportiert sich sofort ein paar Meter nach hinten, als er ihn sieht.

Der auf dem Boden liegende Desmond flüstert: „Dich... Dich habe ich doch schon mal gesehen...“

Keisuke ist erstaunt: Es ist Raito. Raito ist gekommen. Aber...

„Zum Glück habe ich auch hier ein Wesen platziert. Schon wieder ihr? Lure und Raid?“

„Schon wieder wir!“, schreit Lure voller Hass;

„Warum musst du immer dann auftauchen, wenn alles so gut läuft? Kümmer dich doch um deinen eigenen Kram!“

Raito lächelt: „Mache ich. Aber ihr solltet jetzt verschwinden. Oder wollt ihr etwa gegen mich kämpfen?“

Raid macht ein paar Schritte auf Raito zu: „Wollen wir!“

„Dieses mal bist du ganz alleine, Raito“, fügt Lure hinzu; „Die Menschen sind alle am Boden und der kleine Vampir dahinten kann uns auch nicht mehr gefährlich werden. Dieses Mal wird abgerechnet!“

Raito geht ein paar Schritte zurück: „Wie ihr wollt.“

Er faltet die Hände zusammen, so als wollte er beten, aber plötzlich entspringt ein schwarzer Schatten seinen Händen. Geschwind nimmt er die Form eines Löwen an, der sich den beiden Cursers entgegenstellt.

Raid rennt auf das schwarze Ungetüm zu und versucht, auf es einzuschlagen, aber jeder Schlag geht ins Leere, als wäre das Wesen ein Geist.

Der Löwe stößt ein lautes Brüllen aus und greift Raid mit seinen riesigen Pranken an. Die Kralle reißt ihm nicht nur seine Kleidung, sondern auch den halben Oberkörper auf: „Aaaarh!!!“

Lure hat sich währenddessen hinter Raito geschlichen, und lacht:

„Haha, immer du mit deinen Schattenwesen. Das sind doch nur Tiere. Du musst mir, nur mir in die Augen sehen...“ Mit diesen Worten drängt sie sich vor Raito und steckt ihm ihre Hand in die Hose.

Er verzieht keine Miene, sondern schließt nur die Augen und sagt:

„Mit solchen Tricks kann man mich nicht überrumpeln.“ Dann packt er, immer noch mit geschlossenen Augen, Lure am Arm und schleudert sie daran durch den gesamten Keller.

Mit lautem Krachen fliegt sie an die Wand, wo sie auch ohnmächtig liegen bleibt.

„Du kannst jetzt rauskommen“, sagt Raito mit ruhiger Stimme.

Schüchtern kommt Keisuke aus seinem Versteck: „Du hast mich schon wieder gerettet...“

„Ich habe es leider nicht geschafft, rechtzeitig zu kommen. Die Frau, die du eben getroffen hast, ist Emily Halo, die Anführerin der Curser. Sie hat eine grauenvolle Fähigkeit.“

„Welche?“, will Keisuke sofort wissen.

„Wenn ein Vampir sie umarmt, gibt er automatisch alle seine Vampirkräfte an sie ab. So hat sie schon endlos viele Kräfte gesammelt.“

„Dann ist das also der wahre Grund, warum sie Miho entführen ließ! Sie wollte meine Kraft haben!“, ruft Keisuke sauer.

„Und sie hat sie auch bekommen“, sagt Raito und schüttelt den Kopf;

„Man kann es nicht mehr ändern. Deine Kraft wird ihr aber sowieso nicht viel nützen.“

Woher kann er das wissen? Vielleicht...

„Raito, kennst du meine Kraft?“

Raito blickt Keisuke jetzt direkt in die Augen. Keisuke ist nervös, und er merkt, das sein Herz schneller schlägt als sonst.

„Ich habe dich wegen deiner Kraft zu einem Vampir gemacht, Keisuke. Verena hat mir schon vorher verraten, welche Kraft du als Vampir haben würdest. Und in deiner Lage...“

Das geht ihm jetzt ein bisschen zu schnell:

„Was heißt das, nur wegen meiner Kraft? Ich dachte, du hast es getan, damit ich geheilt bin?“

„Nun, das stimmt auch. Aber jeder Vampir hat eine individuelle Fähigkeit, und wenn ich jemanden zum Vampir mache, dann gewöhnlich, weil wir seine Fähigkeit gegen die Cursers brauchen. Weil du aber eine Krankheit hattest, und bald gestorben wärst, konnte ich nicht länger warten.“

Keisuke sieht traurig zu Boden: „Ich verstehe... Kannst du mir denn sagen, welche Kraft ich hatte?“

Raito lächelt ihn an: „Du kannst tote Menschen wiederbeleben. Die Kraft ist das genauer Gegenteil zum Ziel der Cursers, nämlich alle Menschen zu töten.“

Keisuke glaubt nicht, was er da hört.

Er kann Menschen wiederbeleben? Dann könnte er ja... Mama und Papa, Shizukas Eltern... Er könnte alle wieder zum Leben erwecken! Wenn diese Emily ihm nicht seine Fähigkeit gestohlen hätte!

„Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?!“, fragt Keisuke mit Tränen in den Augen.

„Jeder Vampir muss seine Kraft selbst entdecken. Wenn du sie nicht eben verloren hättest, hätte ich dir auch jetzt nichts davon erzählt.“

„Ich will die Fähigkeit zurück haben! Damit kann ich soviel wieder gut machen... Damit kann ich so vielen Menschen helfen... Wie kann ich sie zurückbekommen?“

„Da gibt es nur einen Weg...“, sagt Raito leise; „Emily Halo muss sterben.“

Also wird jemand sie töten müssen.

„Dann... dann muss ich wohl darauf verzichten. Ich will nicht, das jemand stirbt, damit andere leben können... Es tut mir leid...“

Plötzlich ertönt ein Stöhnen; Luna ist dabei, wieder aufzuwachen.

Raito geht zu Lure und Raid und trägt beide problemlos in seinen Armen.

Er muss wirklich stark sein, wenn er das so einfach kann.

„Ich werde jetzt gehen... Ich melde mich bei dir.“

„Warte! Ich habe noch eine Frage!“, ruft Keisuke schnell;

„Du weißt nicht zufällig, wer Shizukas Eltern getötet hat? Ich glaube, es war Samuel!“

Raito verzieht mal wieder keine Miene. Er antwortet gleichgültig:

„Du hast Recht. Er hat sie umgebracht.“

Keisuke kann nicht glauben, was er gerade gehört hat.

Wütend schreit er: „Sag mal, ist dir das eigentlich egal oder was?!“

Raito geht auf Keisuke zu, bis er direkt vor ihm steht. Keisuke muss ein bisschen nach oben blicken, denn Raito ist einige Zentimeter größer als er.

„Es tut mir Leid... Ich habe ihm aufgetragen, dass er sie für den Tag, an dem wir mit dir Kontakt aufnehmen, aus dem Weg räumt. Ich habe ihn gebeten, sie nicht zu töten, weil ich weiß, dass sie wichtige Menschen für dich waren. Es tut mir Leid. Ich hätte mich mehr durchsetzen müssen.“

Ohne Keisukes Antwort abzuwarten geht er hastigen Schrittes aus dem Haus.

Das war ja eine nette Entschuldigung, aber so einfach wird Keisuke das nicht vergessen.

Die Eltern seiner besten Freundin... Das wird er Samuel nicht verzeihen.

„Keisuke...? Wo sind die Vampire?“ Keisuke dreht sich um.

Luna ist aufgewacht. Glücklicherweise scheint sie nicht verletzt zu sein.

„Raito hat sie besiegt und weggeschafft“, antwortet Keisuke lächelnd.

„Wer ist Raito?“, fragt Luna.

Da fällt Keisuke etwas ein. Eilig rennt er zum Sofa: „Miho! Miho, bist du in Ordnung?!“

„Lass mich das machen“, sagt Luna bestimmt; „Ich studiere Medizin.“

Sie untersucht die bewusstlose Miho und stellt fest:

„Ihr fehlt nichts, sie schläft nur sehr fest. Tragen wir die beiden am besten nach oben.“

Auch Desmond wacht nach kurzer Zeit wieder auf:

„Sind wir außer Gefahr?“, ist die erste Frage, die er stellt.

„Ja, fürs erste...“, antwortet Keisuke.

Desmond erklärt sich bereit, Keisuke und Miho nach Hause zu fahren, damit sie sich dort ausruhen kann. Luna reitet auf ihrem Pferd nach Hause, denn sie muss auch erstmal verdauen, was alles passiert ist.

Als sie angekommen sind, bringt Desmond Miho in ihr Bett, bevor er sich auch verabschiedet und nach Hause fährt.

Keisuke setzt sich eine Weile zu ihr. Er hat Hunger, er wird sich gleich eine Blutkonserve aus dem Kühlschrank holen. Aber noch nicht...

Noch will er bei seiner Schwester bleiben, und sich darüber freuen, dass sie wieder da ist.

Alle haben sich Mühe gegeben, um sie zu retten. Und es hat funktioniert.

Selbst wenn Keisuke dadurch etwas verloren hat, das ist ihm nicht halb so wichtig, wie dass es Miho gut geht.

Plötzlich macht sie die Augen auf.

„Hallo, Keisuke...“, gähnt sie.

„Miho! Du bist wieder wach!“, freut er sich.

„Ja... Warum sitzt du auf meinem Bett?“

„Ähm, ähm...“ Keisuke weiß nicht, was er sagen soll.

„Ach, du glaubst gar nicht, was ich geträumt habe“, kichert Miho; „Etwas total Verrücktes!“

Neue Mitbewohnerin

Neue Mitbewohnerin
 

Ein paar Tage später hat sich alles wieder ein bisschen eingerenkt.

Keine Vampire greifen mehr an, keine Mädchen werden entführt, niemand wird umgebracht.

Miho geht davon aus, dass der Überfall der Cursers beim Abendessen nur ein Traum war, und Keisuke, Desmond und Luna behaupten nichts anderes.

Es gefällt Keisuke zwar gar nicht, Miho anzulügen, aber sie würde sicher Angst bekommen, wenn sie wüsste, was wirklich passiert ist.

Miho kommt in die Küche, als Keisuke gerade eine Schüssel voll Blut mit dem Löffel leert.

„Seit wann trinkst du Blut mit dem Löffel?“, kichert Miho und sieht ihm eine Weile zu.

„Ich wollte eben mal etwas neues probieren“, antwortet Keisuke; „Es ist auf Dauer auch ein bisschen eklig, das Blut direkt aus dem Plastikbeutel zu trinken...“

„Die bösen Vampire trinken ihr Blut sogar direkt aus ihren Opfern!“, bemerkt Miho;

„Ich bin wirklich froh, dass du nicht so einer bist.“

Keisuke nickt.

„Übrigens hat Shizuka gerade angerufen“, erwähnt Miho beiläufig.

Er springt geschockt auf: „Was? Shizuka hat sich gemeldet? Warum sagst du mir nichts???“

„Ist ja gut, beruhige dich“, ernüchtert Miho ihn; „Sie wird gleich vorbeikommen. Sie sagt, sie muss mit uns über etwas wichtiges sprechen.“

Schon wieder? Das könnte ja wieder eine Falle sein...

Shizuka wird ja oft benutzt, um Keisuke zu täuschen, aber diesmal ist es irgendwie komisch.

Warum sollten sie dann anrufen, anstatt so hier hereinzuplatzen?

„Ich möchte ihr etwas leckeres kochen“, sagt Miho; „Weißt du, was sie gerne isst?“

„Ähm, Eis...“, lautet Keisukes nicht sehr durchdachte Antwort.

„Sehr witzig, ich meine richtiges Essen!“, entgegnet Miho.

Sie geht zum Herd und schaltet die Platte an: „Ich werde einfach einen Eintopf zubereiten. Das wird sie schon mögen...“

Keisuke löffelt aufgeregt seine Schüssel leer, als seine Schwester ihn mit einem scharfen Seitenblick auffordert, sich zu duschen und umzuziehen.

„Warum?“, fragt Keisuke genervt; „Es ist doch nur Shizuka...“

Miho lächelt: „Ja... Stimmt, es ist nur Shizuka... Schade.“

Was will sie denn damit sagen? Keisuke beschließt, sie zu ignorieren.

Nach einigen Minuten klingelt es an der Tür.

„Das wird sie sein!“, ruft Keisuke.

„Aber ich habe den Eintopf doch noch nicht fertig!“, beklagt sich Miho aus der Küche.

Keisuke öffnet die Tür und Shizuka steht vor ihm.

Sie sieht sehr blass aus.

„Hallo, Keisuke. Miho weiß, dass ich komme. Kann ich reinkommen?“

„Klar“, gibt er zurück.

Die beiden gehen ins Wohnzimmer und setzen sich nebeneinander auf das Sofa.

Miho kommt aus der Küche um Shizuka zu begrüßen.

„Das Essen ist leider noch nicht fertig“, entschuldigt sie sich.

„Aber das macht doch nichts!“ Shizuka wird rot. Sie war schon lange nicht mehr bei Keisuke.

„Ich... Ich muss euch etwas sagen...“, fängt sie an, und Miho holt sich einen Stuhl, damit sie sich zu den beiden setzen kann.

Keisuke und Miho sehen sie gespannt an. Würde sie jetzt irgendetwas beichten?

„Ihr wisst ja, was mit meinen Eltern passiert ist...“

Keisuke nickt. Er weiß sogar, wer es getan hat. Aber darum geht es jetzt nicht.

„Ich darf nicht alleine in meinem großen Haus wohnen, also werde ich ins Waisenhaus müssen.

Es sei denn... Ihr nehmt mich bei euch auf!“

Flehend sieht sie die beiden an.

Damit hat Keisuke nicht gerechnet. Würde Shizuka bei ihnen wohnen können?

Es wäre ja irgendwie schon ganz cool, aber dann wäre es sogar noch schwerer, sein wahres Wesen vor ihr zu verbergen.

„Wenn es weiter nichts ist, gerne“, sagt Miho fröhlich.

Shizuka und Keisuke fällt gleichzeitig der Mund auf.

„Bist du sicher, Miho?“, hakt Keisuke nach.

„Warum denn nicht? Ich habe sie gerne hier. Sie braucht jetzt unsere Unterstützung, Keisuke.“

„Vielen Dank, Miho.“ Shizuka steht mit Tränen in den Augen auf und nimmt Miho in den Arm.

Keisuke sitzt etwas betreten daneben und schaut die beiden an.

Dass seine Schwester so einfach ja gesagt hat, verwundert ihn.

„Außerdem waren es deine Eltern, die nach dem Tod unserer mich und meine Geschwister versorgt haben, bis ich alt genug war, das alleine zu übernehmen. Und jetzt sind wir an der Reihe...“

Auch Miho kommen ein paar Tränen, aber sie schafft es, sie vor Shizuka zu verbergen.

Jetzt blickt Shizuka Keisuke an: „Freust du dich nicht?“

„Ähm, doch...“, sagt er, ohne wirklich überzeugend zu klingen.

Wenn Shizuka bei ihm wohnt, wird sie früher oder später herausfinden, dass er ein Vampir ist. Und wenn das passiert, muss er sie auch darüber aufklären, was bei ihr zu Hause geschah.

„Miho? Du musst dann aber mit mir zum Jugendamt kommen, die Sozialarbeiter wollen dich sprechen, wenn du bereit bist, mich bei dir aufzunehmen.“

Miho stimmt ihr zu, und nach einer guten Stunde verlassen die beiden zusammen das Haus.

Wo wird sie überhaupt schlafen? Im Haus ist ja kein Bett mehr frei, sie könnte höchstens noch das Sofa benutzen, aber auf Dauer ist das ziemlich unbequem.

Keisuke geht in die Küche und stellt fest, das eine leere Blutkonserve noch auf dem Küchentisch steht. Die wird er in Zukunft immer verstecken müssen, wenn Shizuka da ist.

Und was, wenn sie den Eisschrank öffnet? Da sind doch noch die ganzen Blutkonserven drin, die Verena ihm geschickt hat?!

Da soll Miho sich was einfallen lassen, sie ist immerhin diejenige, die so schnell und anscheinend ohne darüber nachzudenken zugestimmt hat.

Im nächsten Moment kommt Keisuke sich selbst wie ein Idiot vor.

Shizuka ist seine beste Freundin! Er sollte alles in seiner Macht stehende tun, um ihr zu helfen, anstatt sich nur Sorgen um sich selbst zu machen.

Keisuke versucht, sich mit seinem Computer zu beschäftigen, allerdings vergeht ihm schnell die Lust daran, es schießen ihm einfach zu viele Dinge durch den Kopf.

Es klingelt an der Tür.

Ist Miho schon zurück? Sie hat doch einen Schlüssel? Dann ist es wohl jemand anderes.

Er geht die Treppe hinunter und öffnet die Haustür.

Vor ihm steht ein Mädchen mit langen, grauen Haaren und roten Augen. Sie trägt eine rote Strickjacke.

„Hallo Verena“, begrüßt Keisuke sie.

„Hallo... Ich wollte dich mal wieder sehen“, sagt sie und lächelt sanft.

Die beiden gehen rein und setzen sich an den Tisch in das Wohnzimmer.

„Verena, dass du mir die ganzen Blutvorräte geschickt hast... Dafür muss ich mich wirklich bedanken!“, sagt Keisuke, und Verena errötet.

„Die hat Raito mir geschenkt... Weil er weiß, dass ich keine Menschen aussauge.“

Keisuke sieht sie an. Sie scheint irgendwie bedrückt zu sein. Weiß sie etwas?

„Ich bin in letzter Zeit in viele gefährliche Situationen gekommen“, erzählt Keisuke;

„Die Cursers waren sogar bei mir zu Hause... Ich fühle mich nicht mehr sicher. Bin ich gerade in Gefahr?“

Verena schüttelt den Kopf: „Ich glaube nicht. Ganz sicher kann ich mir da auch nicht sein, aber...“

Keisuke sieht sie fragend an: „Verena? Ist irgendetwas los?“

Sie seufzt: „Eigentlich habe ich keinen Grund, mir Sorgen zu machen. Raito hat die Fähigkeit, Schattentiere aus einer Parallelwelt zu beschwören, die seinen Befehlen gehorchen.

Er positioniert sie fast überall dort, wo ihr euch aufhaltet. Dann senden sie ihm direkt ein Signal, wenn etwas passiert.“

„Sind sie Schattenwesen böse?“

Verena schaut ihn fragend an: „Böse? Was meinst du damit? Sie sind auf Raitos Seite... Er hat hier im Haus eins platziert, bei Mihos Arbeitsstelle, bei Desmond und Luna zu Hause, und an ein paar anderen Orten. Sie passen auf euch auf, damit ihr nicht angegriffen werdet.“

Keisuke versteht nicht, wo dann das Problem ist:

„Wieso machst du dir dann Sorgen? Bist du gekommen, um mir das zu sagen?“

„Ähm, nein...“, sagt Verena verunsichert; „Mir ist aber aufgefallen, dass du keine Möglichkeit hast, mit uns Vampiren Kontakt aufzunehmen. Ich wollte dir meine Telefonnummer aufschreiben.“

Das ist doch mal interessant, wenn Keisuke Verenas Nummer hat, wird er noch öfter mit ihr sprechen können. Sie ist ihm etwas ähnlich, findet er.

Keisuke steht auf und holt ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus der Schublade unter dem Fernseher. Er legt sie vor Verena auf dem Tisch, und sie bedankt sich lächelnd.

Irgendwie ist sie hübsch, fällt Keisuke auf, und er wird rot.

Verena kümmert das nicht weiter, und sie schreibt eine Nummer auf das Papier.

„Hier. Darunter kannst du mich und Raito erreichen.“

Keisuke mustert die Nummer. Eine Nummer?

„Wieso teilt ihr euch eine Nummer?“, fragt Keisuke sie.

„Weil wir zusammen wohnen“, antwortet Verena.

Das ist ja grandios, denkt Keisuke, jetzt kann er auch Raito anrufen wann er möchte. Sein Herz macht einen Hüpfer, doch dann kommt ihm etwas komisch vor:

„Wenn ihr zusammen wohnt... Heißt das, ihr seid verwandt?“

Verena schüttelt den Kopf.

„Also seid ihr... ein Paar?!“ Keisuke erwartet gespannt die Antwort, aber Verena schüttelt wieder den Kopf: „Nichts dergleichen. Raito hat sich um mich gekümmert, nach dem er mich verwandelt hat. Deswegen kann ich bei ihm wohnen. Meine eigentlichen Eltern haben mich ausgestoßen, als sie erfahren haben, dass ich ein Vampir bin.“

In diesem Moment tut sie Keisuke wirklich leid. Wie kann man das seiner eigenen Tochter nur antun? Er stellt sich vor, wie es gewesen wäre, wenn seine Eltern noch gelebt hätten... Nein, er ist sicher, sie hätten ihn so akzeptiert.

„Du magst Raito, oder?“, unterbricht Verena seine Gedanken.

Keisuke ist verwirrt, was soll die Frage jetzt?

„Ähm, ja, schon. Er ist richtig cool. So stark...“

Verena schaut ihn traurig an: „Ich mag ihn auch. Aber sowohl er, als auch Samuel, und die anderen... Sie haben alle Blut an ihren Händen kleben. Sie haben alle schon gemordet. Nur wir beide, sind davon noch rein.“

Keisuke schweigt. Dass Samuel Menschen getötet hat, wusste er schon vorher. Und Raito hat es also auch getan. Das kann man nicht mehr ändern, aber er hofft wirklich, dass er nie jemanden umbringen muss.

„Ähm, Verena... Werde ich einmal jemanden töten?“, fragt er.

Sie schließt die Augen. Nach einer Weile öffnet sie sie wieder:

„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht alles, was in der Zukunft passiert. Nur bestimmte Dinge...“

Das bedeutet, er wird weiter im Ungewissen bleiben.

„Keisuke... Ich würde so gerne wieder ein Mensch sein“ flüstert Verena und vermeidet es, ihn anzusehen; „Es ist so schrecklich... Ich will endlich von den Vampiren in Ruhe gelassen werden, ich will in Frieden bei meinen Eltern leben können, ich will altern... Ich würde die Sonne so gern genießen können... Mich verlieben, irgendwann Kinder haben. Es ist einfach nur schrecklich, ein Vampir zu sein!“

Keisuke weiß nicht, was er sagen soll. Ihm gefällt es ja ganz gut, aber er weiß auch, dass Verena schon länger Vampir ist als er.

„Ich hoffe, Raito findet einen Weg, dich zurückzuverwandeln“, sagt Keisuke, um sie zu trösten.

Verena antwortet nichts darauf.

Eine ganze Weile sitzen die beiden am Tisch und schweigen sich an, blicken einander nicht in die Augen.

Schließlich steht Verena auf, mit den Worten: „Entschuldige bitte, ich wollte dich damit nicht belasten. Ich habe nur gedacht, dass du... mich vielleicht verstehst. Aber ich glaube das nicht.“

Dann geht sie in schnellem Tempo durch die Haustür nach draußen.

„Verena, warte!!“, ruft Keisuke, aber sie reagiert nicht.

Er kann ihren Wunsch schon verstehen, aber er teilt ihn nicht.

Wartend sitzt er vor dem Fenster im Wohnzimmer.

Wann kommen die beiden endlich zurück?

Miho, und seine neue Mitbewohnerin.

In nicht einmal mehr einer Woche sind die Sommerferien zu ende.

Dann kommen wieder hundert neue Probleme auf ihn zu, und böse Vampire kann er dabei echt nicht gebrauchen.

Seufzend legt er seinen Kopf auf die Fensterbank.

Ob Verena sauer auf ihn ist? Keisuke spürt, dass er sie mag.

Vielleicht sollte er ja mal dort anrufen, aber jetzt wäre es dafür zu früh.
 


 

Vorschau auf Kapitel 11:
 

Auch ein strahlender Tag verbirgt Schatten.

Die Wachsamkeit der Unscheinbaren unterschätzend,

besucht der Vampir das Café der Erinnerungen.

Wer mit offenen Karten spielt, verliert das Spiel.

Kapitel 11: Er kann es ihr nicht sagen

Er kann es ihr nicht sagen

Er kann es ihr nicht sagen
 

Shizuka wohnt jetzt schon zwei Tage bei Keisuke.

Sie schläft auf einer Matratze in Mihos Zimmer, solange sie noch kein zusätzliches Bett haben.

Irgendwie haben sie es bisher geschafft, Keisukes wahre Gestalt geheim zu halten.

Als Shizuka die Blutkonserven im Eisschrank gefunden hat, sagte Miho ihr einfach es sei gefrorener Rotwein.

Natürlich glaubt Shizuka das.

Keisuke ist gerade dabei, den Computer anzuwerfen, da geht die Tür auf und Miho kommt rein.

„Du verbringst den ganzen Tag in deinem Zimmer. Du könntest wenigstens etwas mit Shizuka unternehmen, sie will unbedingt shoppen gehen.“

Er schaut seine Schwester fragend an:

„Dann geh du doch mit ihr? Du magst shoppen doch so.“

„Aber ich muss gleich zur Arbeit“, seufzt Miho; „Irgendwie muss ja etwas Geld reinkommen...“

Es ist schon wahr, Miho ist die einzige in der Familie, die ein Einkommen hat, wovon die gesamte Familie ernährt werden muss. Jetzt, wo sie eine neue Mitbewohnerin haben, wird das sogar noch schwerer. Zum Glück muss Keisuke ja nichts essen, da gibt es wenigstens eine Ecke, an der man sparen kann.

„Wie sieht es eigentlich mit den Schulbüchern aus?“, fragt Miho beiläufig; „Ihr braucht doch neue für das nächste Schuljahr? Shizuka scheint da nicht viel drüber zu wissen...“

Keisuke überlegt kurz. Sie sollten wirklich neue bekommen, aber...

„Also ich glaube, das wurde uns noch gar nicht gesagt. Das erfahren wir wohl erst nach Schulanfang.“

Miho macht eine Miene, die darauf hindeuten lässt, dass sie nicht ganz einverstanden ist, mit dem was sie hört, aber schließlich geht sie stumm aus dem Zimmer.

Keisuke sieht den Zettel mit Raitos und Verenas Telefonnummer auf dem Schreibtisch liegen.

Seit Verenas Besuch sind ja jetzt ein paar Tage vergangen, man könnte ja mal dort anrufen.

Aber hat Verena ihm die Nummer nicht gegeben, damit er in Notlagen schnell Hilfe holen kann?

Und Keisuke weiß auch nicht so genau, worüber er mit ihnen sprechen sollte.

„Miau!“

Miho hat wohl die Tür offenstehen lassen, denn Shya kommt rein und springt auf Keisukes Schoß.

Sie ist wirklich ein liebes Tier, so zutraulich.

Ob sie spüren kann, das Keisuke ein Vampir ist?

Ihr Verhalten ihm gegenüber hat sie jedenfalls nicht verändert.

Ein Vampir... Ein Vampir, dem seine Kraft geraubt wurde. Ist er jetzt eigentlich noch nützlich für Raito? Raito, Verena, Samuel... Sie haben alle noch ihre Vampirkraft. Nur Keisuke hat seine verloren, weil er so unvorsichtig war.

Hätte er noch ein bisschen länger gewartet, wäre Raito noch rechtzeitig gekommen, und er hätte seine Kraft nicht verlieren müssen.

Aber er konnte ja auch nicht wissen, was die „Königin“ Emily durch eine Umarmung bezweckt.

„Lust, mit mir shoppen zu gehen?“, fragt Shizuka, die gerade das Zimmer betritt.

Sie trägt eine Schürze und Arbeitshandschuhe, also hat sie wahrscheinlich bis gerade noch Miho bei der Hausarbeit geholfen.

„Heute nicht so“, gähnt Keisuke. Er würde den Tag lieber zu Hause verbringen.

„Schade...“, sagt Shizuka und setzt sich auf sein Bett.

Will sie jetzt hier bleiben, bis er zustimmt, mit ihr zu gehen?

Das kann sie vergessen.

Keisuke beschließt, sie etwas anderes zu fragen:

„Wie kommen die Ermittlungen der Polizei voran?“

Für einen Moment sieht Shizuka ihn erschrocken an, aber sie fängt sich wieder und sagt:

„Sie denken, dass der... Mörder... ein Geschäftsmann ist, der meinen Vater umgebracht hat, damit er weniger Konkurrenz hat...“

Sie hat wieder Tränen in den Augen stehen:

„Kannst du dir das vorstellen? Kann das der Grund sein, einen Menschen zu töten? Und was hatte meine Mutter damit zu tun...“

Natürlich liegt Shizuka falsch, es war kein Geschäftsmann, sondern ein Vampir, der ihre Eltern ermordet hat. Aber das kann Keisuke ihr schlecht sagen.

Er bereut es jetzt, sie wieder darauf angesprochen zu haben, denn wie es aussieht, wird sie gleich wieder heftig anfangen zu weinen.

„Ist schon gut, ich gehe auch mit dir shoppen“, sagt Keisuke, um sie zu beruhigen.

„Danke...“, flüstert Shizuka kaum hörbar und lächelt ihn an.

Verlegen sieht er zu Boden.
 

Der Tag in der Stadt Logaly neigt sich dem Ende zu, als Keisuke und Shizuka durch die Stadt wandern. Sie trägt mehrere Tüten in den Händen, während er sich noch gar nichts gekauft hat außer einer Dose Sonnencreme.

„Warum trägst du eigentlich nicht die Tüten?“, fragt Shizuka ihn; „Immerhin bist du ein Junge!“

„Na und?“, gibt er desinteressiert zurück; „Du musstest ja nicht so übertreiben...“

Shizuka scheint überrascht: „Ich habe gar nicht übertrieben.“

Keisuke antwortet ihr nicht weiter, sondern geht stumm neben ihr her.

Gleich ist die Sonne untergegangen.

Es ist viel schöner, in der kühlen Abendluft durch die Stadt zu gehen als in der prallen Sonne.

Auch wenn es kein anderer als „pralle Sonne“ empfinden würde.

„Können wir noch zu Schneiders Tierhandlung gehen?“, fragt Shizuka.

„Warum? Sag mir nicht, dass du ein Haustier kaufen willst...“, antwortet der Vampir.

„Nein, nein...“, lacht sie; „Ich würde nur mal gerne schauen, was es dort alles gibt.“

Schließlich stimmt er zu und die beiden gehen zur Tierhandlung.

Als sie angekommen sind, ist es schon dunkel, und die Straßenbeleuchtung erhellt die Stadt.

„Mist, es hat schon vor einer Stunde zu gemacht...“, seufzt Shizuka.

Dann sind sie den Weg wohl umsonst gegangen.

Keisukes Blick fällt auf das kleine Café neben der Tierhandlung.

Was ihm vor ein paar Tagen dort passiert ist... Er versucht, nicht daran zu denken.

Aber plötzlich deutet seine Begleiterin auf das Haus und ruft:

„Schau mal da, 'Café Lexy'. Es hat noch geöffnet... Wollen wir uns noch schnell was zu trinken holen, bevor wir zurückgehen?“

Das kann doch jetzt nicht ihr Ernst sein. In diesem Café wurde er beinahe umgebracht.

Sie weiß das zwar nicht, aber dass sie jetzt ausgerechnet da rein will...

Blöder Zufall.

Keisuke schüttelt den Kopf: „Wir haben schon genug Geld ausgegeben... Gehen wir lieber nach Hause.“

Sie schaut ihn verständnislos an: „Du hast fast noch gar kein Geld ausgegeben! Und jetzt komm.“

Mit diesen Worten geht sie in das Café, und Keisuke folgt ihr widerwillig.

Als er den Laden betritt, steht Shizuka schon an der Theke und spricht mit jemandem.

Plötzlich hat Keisuke das Gefühl, dass er etwas im Auge hat.

Das Café, was bei seinem letzten Besuch hier noch verstaubt, unordentlich und klamm war, sieht nun richtig dekorativ aus. Es ist nicht mehr dunkel und unheimlich, sondern an der Wand hängen sehr viele kleine elektrische Lichter, und fast überall stehen Blumenvasen, aus dessen Inhalt ein wohltuender Geruch entweicht.

Keisuke tritt nach vorne, um zu sehen, mit wem Shizuka spricht.

Für einen Moment fürchtet er, dass es der alte Mann ist, der ihn schon einmal in eine Falle gelockt hat, aber es ist jemand anderes.

Ein muskulöser Mann, gut gebräunt mit schwarzen Haaren.

Er grinst Shizuka zufrieden an.

Keisuke hört sie fragen:

„Ähm, also am liebsten wäre der warme Kakao zum Mitnehmen, wissen Sie?“

Der Mann nickt und ruft in die Küche: „Schatz! Einmal warmer Kakao zum Mitnehmen!“

„Ähm, für meinen Freund hier bitte auch einmal“, sagt Shizuka schnell.

Korrigierend ruft der Herr: „Schatz! Zweimal warmer Kakao zum Mitnehmen!“

Aus der Küche dringt eine Frauenstimme: „Also dreimal warmer Kakao?“

„Nein, nur zweimal!“, antwortet er laut.

„Kommt sofort!“, ertönt die Stimme.

Keisuke stellt sich direkt neben Shizuka und sagt:

„Du hättest für mich nicht auch noch einen bestellen müssen.“

Sie sieht in fragend an: „Du magst Kakao doch, oder?“

„Ähm, ja schon, aber es war eben nicht nötig...“

Eine Frau kommt aus der Küche und unterbricht die beiden bei ihrem kurzen Gespräch:

„Hier, der ist für euch. Zweimal warmer Kakao.“

Die Frau, die ein ganzes Stück kleiner ist als ihr Mann, hat lange, blonde Haare und ein freundliches Lächeln.

Shizuka nimmt ihr die Becher ab und bedankt sich.

Nach dem sie bezahlt haben, gehen die beiden Freunde wieder nach draußen.

„Hm... Oh, der ist noch ziemlich heiß“, bemerkt Shizuka, nachdem sie etwas an ihrem Kakao geschlürft hat.

„Hast du dich da drinnen irgendwie unwohl gefühlt oder so?“, fragt sie.

Woher weiß sie das? Keisuke hätte nicht damit gerechnet, dass sie es bemerkt.

„Hm, ach nein, warum denn auch. Ich wollte halt nur langsam mal nach Hause gehen“, lügt er.

„Achso... Wir gehen ja jetzt“, lächelt Shizuka.

Keisuke hat sich heute den gesamten Tag nicht sehr sicher gefühlt, dauernd hatte er Angst, ein Curser könnte auftauchen oder ein Vampirjäger.

Es stellt sich zum Glück als Irrtum heraus.

Verträumt schaut er in den Sternenhimmel, als er mit Shizuka nach Hause geht.

In ein paar Tagen fängt die Schule wieder an, dann würde er jeden Tag nach draußen gehen müssen und könnte sich nicht mehr zu Hause verstecken.

Bei dem Gedanken dreht sich ihm der Magen um.

Vor der Haustür hält Shizuka ihn kurz zurück, als er den Schlüssel benutzen will um die Tür zu öffnen.

Er sieht sie fragend an. Traurig blickt sie ihm in die Augen.

Was ist los mit ihr? Denkt sie wieder an ihre Eltern?

„Keisuke“, flüstert sie...

Er weiß nicht, was er sagen soll, aber er fühlt, dass sein Herz etwas schneller schlägt als gewöhnlich. Etwas irritiert sieht er zu Boden.

„Keisuke... Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst, oder?“, fragt sie leise.

„Ähm, sicher“, antwortet er, ohne sie anzusehen.

Er schließt die Haustür auf und sie gehen rein.

Etwas bedrückt sagt Shizuka: „Ich gehe duschen...“

Und sie verschwindet ins Badezimmer.

Keisuke steht noch eine Weile im Flur herum.

Er würde ihr gerne sagen, was mit ihm los ist. Aber er kann einfach nicht...

Direktor

Direktor
 

Es ist soweit.

Die Schule fängt wieder an, und die wunderbaren Sommerferien sind leider vorbei.

Keisuke dreht sich noch einmal um, es ist einfach noch zu früh, um aufzustehen.

Das waren die aufregendsten Ferien, die er in seinen ganzen Leben je hatte, stellt er fest.

Er wurde in einen Vampir verwandelt, ist in eine Falle nach der anderen getappt, hat Bekanntschaft mit verrückten Wissenschaftlern, Cursers und Vampirjäger gemacht, und irgendwie ist immer noch alles gutgegangen.

Shizuka kann nicht dasselbe behaupten, immerhin sind in den Ferien, die für sie so schön mit Urlaub in Frankreich angefangen haben, ihre Eltern umgekommen.

Es klopft an der Tür, und ohne lange zu warten, kommt Miho in das Zimmer und schaltet das Licht ein: „Aufstehen!“

Keisuke zieht sich die Decke über den Kopf.

Er hört Miho näher kommen, genervt sagt sie: „Du musst aufwachen!“

„Ich bin schon lange wach“, antwortet Keisuke müde; „Wie viel Uhr?“

„Kurz vor sieben... Du musst in einer halben Stunde fertig sein.“

Mit diesen Worten verlässt sie den Raum, wahrscheinlich um Shizuka zu wecken, wenn sie nicht schon auf ist.

Keisuke bleibt noch eine Minute (oder zwei) liegen, bevor er sich aufrappelt.

Es ist schon hell draußen... Das wird bestimmt ein qualvoller Tag.

Unten im Wohnzimmer trifft er Shizuka, die sich zusammen mit Miho auf dem Sofa sitzt und sich eine Morgensendung ansieht.

Stumm geht er an den beiden vorbei in die Küche, macht den Eisschrank auf.

Nach kurzem Stöbern findet er schon eine Blutkonserve, in die er, ohne nachzudenken hineinbeißt.

„Wah! Kalt!“ Ein eisiger Schmerz durchfährt sein Gebiss, geschockt lässt er die Tüte voll Blut fallen.

Miho, die gekommen ist, um nachzusehen, warum er denn geschrien hat, hebt sie für ihn auf.

„Hast du vergessen, sie auftauen zu lassen?“

Keisuke nickt.

Seine Schwester muss sich ein Lachen verkneifen:

„Ach komm schon, wir müssen sie im Eisschrank aufbewahren, sonst werden sie ja schlecht.“

„Das weiß ich auch“, sagt Keisuke sauer. Er ärgert sich über seine eigene Dummheit.

„Was ist denn hier los?“, fragt Shizuka, die wohl auch neugierig gewesen ist.

Erschrocken hält Miho die Blutkonserve hinter sich, sodass Shizuka sie nicht sehen kann.

„Ähm, äh...“, stottert Miho.

„Miho, wie kommen wir eigentlich zur Schule?“, lenkt Keisuke ab; „Am ersten Tag fahren noch keine Busse.“

Miho überlegt kurz:

„Hm... Ihr könnt ja mit dem Fahrrad fahren.“

Keisuke stöhnt: „Mein Fahrrad ist doch schon lange kaputt.“

Und jetzt? Wenn sie nicht zur Schule gelangen, ist das Keisuke auch recht.

Er hat ohnehin nicht viele Freunde dort.

„Dann wird euch wohl jemand fahren müssen... Ich kann nicht, ich habe keinen Führerschein.“

Sie legt die Blutkonserve unvorsichtig auf die Küchentheke, und verlässt den Raum.

Das ist Shizuka aufgefallen, schnell huscht sie neben Keisuke und schaut sich den Plastikbeutel an.

Na großartig, wie soll er das nur erklären? Miho und er dürfen nicht so unvorsichtig sein...

„Ähm, Keisuke... Das ist doch der gefrorene Rotwein. Warum hat Miho den vor mir versteckt?“

Er weiß nicht, was er antworten soll. Sie denkt wirklich immer noch, dass es sich bei dem Blut um Wein handelt. Das man Rotwein normalerweise nicht einfriert, scheint sie auch nicht zu wissen.

Plötzlich ist Shizuka todernst. Sie sieht Keisuke durchdringend an:

„Hör mal zu, du musst mir jetzt die Wahrheit sagen. Schluss mit den Versteckspielchen!“

Keisuke schluckt. Sie kann es doch nicht schon herausgefunden haben?!

„Sei ehrlich, Keisuke, ist Miho eine Säuferin?“

Uff, das ist typisch Shizuka. Und er hat sich schon ernsthafte Sorgen gemacht.

„Natürlich ist sie keine“, lacht er.

„Es ist gerade mal sieben Uhr! Und sie holt sich schon Alkohol aus dem Schrank?“

Keisuke weiß nicht, was er da entgegensetzen soll.

Es tut ihm Leid für Miho, wenn Shizuka jetzt etwas falsches von ihr denkt, aber vielleicht ist es besser so. Dann kommt sie wenigstens nicht so schnell hinter sein Geheimnis.
 

Letzten Endes ist es Luna, die die beiden zur Schule fährt.

Miho bedankt sich tausend mal bei ihr, woraufhin sie nur versichert, dass sie sowieso so früh aufstehen musste, immerhin geht sie an die Universität.

Ihr Auto ist sehr klein, es passen höchstens vier Menschen hinein.

„Eigentlich reite ich ja lieber“, erzählt Luna munter auf der Fahrt;

„Aber bei der Universität gibt es keinen Pferdestall oder etwas ähnliches.“

Shizuka lauscht gespannt ihren Worten, doch Keisuke ist fast schon wieder dabei, einzuschlafen.

Es ist noch so unendlich früh, muss das denn sein?

Bei der Schule steigen die beiden aus und verabschieden sich von Luna.

Sie gehen den fast schülerleeren Hof entlang zum Haupteingang.

„Hast du eine Ahnung, wo wir hin müssen?“, fragt Shizuka irritiert.

„Erstmal in die Aula, wie jedes Jahr“, antwortet Keisuke genervt.

Die prächtige Aula ist gefüllt mit Schülern und Lehrern, die herumstehen und sich unterhalten.

Ein paar jüngere Kinder laufen wild umher und spielen.

Natürlich sieht Shizuka schon nach ein paar Minuten ein paar Freunde und stürmt auf sie zu, um sie zu begrüßen. Keisuke lässt sie dabei stehen.

Er weiß, dass sie zwar nichts dagegen hätte, wenn er sich mit ihr zu den anderen gesellt, aber ihre Freundinnen sind Keisuke gegenüber ziemlich abweisend.

Deshalb spart er sich lieber ein Gespräch mit ihnen und bleibt alleine stehen, inmitten der lauten Aula.

Alleine ist er nicht sehr lange, denn ein erwachsener Mann kommt auf ihn zu.

Keisuke versucht, ihn zu ignorieren, aber da diese Person sein Klassenlehrer ist, fällt ihm das nicht so leicht.

„Guten Morgen!“, sagt er vergnügt.

„Guten Morgen, Herr Hughes...“, antwortet Keisuke gelangweilt.

Er mag diesen Lehrer nicht besonders, zum Teil wegen den schlechten Noten, die er in seinen Fächern immer bekommt, zum Teil auch, weil er rechthaberisch und taktlos ist.

„Wie waren die Ferien? Hast dir ja die Haare gefärbt.“

Was geht ihn das denn an? Kann er nicht jemand anderen nerven?

Wahrscheinlich ist er auf Keisuke zugegangen, weil dieser so alleine herum stand, im Gegensatz zu den ganzen anderen Schülern hier.

„Hast du etwas an den Augen?“, fragt der Lehrer plötzlich, und Keisuke dreht sich sofort um.

„Nein, nein... Kann sein, dass sie etwas rot sind, aber das ist, weil ich noch müde bin...“

Als er keine Antwort bekommt, schaut Keisuke nach, was mit Herrn Hughes ist.

Beruhigt stellt er fest, dass dieser gelassen weitergegangen ist, bestimmt, um anderen Schülern auf den Senkel zu gehen.

Keisuke spürt, dass er sehr schlechte Laune hat.

Nur weil die Ferien zu Ende sind?

„Hey. Langweilst du dich?“, fragt Shizuka, die gerade wieder aufgetaucht ist.

„Ich warte, darauf, dass das endlich vorbei ist“, antwortet Keisuke;

„Aber erstmal muss der Schülersprecher vom letzten Jahr seine Rede halten...“

Shizuka lächelt ihn an:

„Ach, das wird doch nicht so schlimm. Ich bin schon gespannt, welche Lehrer wir dieses Jahr bekommen.“

Die meisten Lehrer mag Keisuke zwar nicht, aber er ist auch gespannt darauf.

Plötzlich ertönt ein Signal aus den Lautsprechern, gefolgt von einer Durchsage:

„Liebe Schülerinnen und Schüler, bitte findet euch jetzt alle in der Aula ein. Der Schülersprecher wird dort eine Rede halten. Im Übrigen wird Keisuke Valley aus der Sechsten gebeten, sich umgehend beim Direktor zu melden. Danke. Wir wünschen einen guten Einstieg in das neue Schuljahr.“

Was hat sie da gesagt? Keisuke soll zum Direktor gehen? Warum? Er hat doch nichts angestellt?

Shizuka sieht ihn überrascht an, aber er zuckt nur mit der Schulter.

„Gehst du da jetzt hin?“, fragt sie verwirrt.

„Muss ich ja wohl“, antwortet Keisuke und seine Stimme zittert ein bisschen.

Warum eigentlich? Er hat nichts getan, also muss er sich auch keine Sorgen machen.

„Aber wenn du jetzt gehst, verpasst du die Rede des Schulsprechers!“, wendet Shizuka ein.

Das ist Keisuke eigentlich ganz egal, die Rede ist irgendwie jedes Jahr fast zum Verwechseln gleich, sodass es keinen Weltuntergang darstellt, sie mal auszulassen.

Er deutet an, die Aula zu verlassen, aber bevor er überhaupt raus kann, rempelt Shizuka ihn an:

„Ich komme mit.“

Ob das so einfach in Ordnung geht?

Eigentlich hat Keisuke nichts gegen ein bisschen Unterstützung, aber sie könnte Ärger bekommen.

Er beschließt, ihr keine Widerworte zu geben und sie gehen zusammen in das Sekretariat.

„Ja?“, fragt die blonde Sekretärin mit einem Telefonhörer am Ohr.

„Der Direktor hat mich zu sich gerufen“, sagt Keisuke etwas schüchtern.

Die Frau macht eine Handbewegung, die andeutet, dass sie durchgehen können.

Sie klopfen an die Tür.

Kurz darauf ertönt ein: „Herein!“, und die beiden betreten das Direktorat.

Der alte Direktor sitzt an seinem Schreibtisch und raucht sich genüsslich eine Zigarette.

Da fällt es Keisuke wie Schuppen von den Augen:

Der alte Mann, der ihn im Café Lexy eine Falle gestellt hat:

Es ist sein Direktor! Der Direktor seiner Schule!

Keisuke hat ihn noch nicht allzu oft zu Gesicht bekommen, weswegen es ihm nicht sofort aufgefallen ist. Aber nun, wo er vor ihm steht, ist er sich sicher.

„Guten Morgen“, haucht der Direktor seelenruhig.

„Guten Morgen, Direktor Sagheim“, antwortet Shizuka freundlich, aber Keisuke schweigt.

Dieser Mann weiß, dass er ein Vampir ist.

Er hat zugelassen, nein, eigentlich hat er es erst möglich gemacht, dass Keisuke beinahe von dem Vampirjäger getötet wurde.

Wie eingefroren steht er da und sagt nichts.

Shizuka schaut ihn besorgt an, aber der Direktor lacht nur.

„Freust du dich, mich wiederzusehen?“

Keisuke antwortet nichts darauf. Vielleicht würde er ihn gleich angreifen...

Sollte er wegrennen? Aber was ist mit Shizuka?

Außerdem ist es doch nur ein alter Mann, mit dem sollte Keisuke notfalls fertig werden.

„Ich gehe mal davon aus, dass sie Bescheid weiß?“, und Direktor Sagheim zeigt auf Shizuka, die immer nur voller Unverständnis dreinschaut.

Jetzt besteht kein Zweifel mehr, dass es sich nicht um eine Verwechslung handelt!

Keisuke schüttelt den Kopf, aber der Direktor sagt laut:

„Ihr blutsaugenden Monster, sogar auf meiner Schule hat sich eins eingenistet!

Du bist hiermit gezwungen, die Logaly High School zu verlassen.

Meine Schüler sind wie meine Kinder, ich kann sie nicht der Bedrohung aussetzen, die durch einen Vampir verursacht wird!“

Er nimmt kein Blatt vor dem Mund, und Keisuke ist sich nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hat: Er wird von der Schule geworfen?

„Bei unserem letzten Treffen...“, sagt der Direktor, nun wieder etwas ruhiger;

„habe ich nicht gewusst, dass du Schüler hier bist. Meinen Schülern tue ich nicht weh.

Aber ich kann sie sehr wohl auffordern, die Schule zu verlassen, und hiermit tue ich das.

Raus! Verschwinde, du Vampir, und lasse dich hier nie wieder blicken!“

Auf einmal ergreift Shizuka das Wort:

„Sie Ekelpaket von Direktor! Was reden Sie da überhaupt? Sie wollen Keisuke von der Schule schmeißen?! Sie scheinen wohl irgendetwas gegen ihn zu haben, sonst würden Sie sich nicht so einen Quatsch ausdenken, mit Vampiren und so! Wenn Keisuke gehen muss, gehe ich auch!!“

Sie ist sichtlich wütend, aber ist ihr auch wirklich klar, was sie da sagt?

Wenn sie auch von der Schule geht, dann ist das alles Keisukes Schuld.

Direktor Sagheim steht auf und dreht sich um, sodass er aus dem Fenster schauen kann:

„Ich habe euch nichts mehr zu sagen.“

Shizuka ergreift Keisukes Hand und zerrt ihn nach draußen, raus aus dem Direktorat, raus aus dem Sekretariat, raus aus der Schule.

„Wieso hast du das getan?“, fragt Keisuke, berührt von Shizukas Mut;

„Ich meine, wenn ich die Schule verlassen muss... Naja, denn gehe ich eben auf eine andere. Aber du! Du hast so viele Freunde hier. Willst du das alles wirklich hinter dir lassen?“

Shizuka hat Tränen in den Augen:

„Wenn es... sein muss... Dieser Direktor tickt nicht mehr richtig... Wir müssen das Miho erzählen.“

Sie glaubt also nicht, was der alte Mann gesagt hat.

Sie denkt, das Keisuke ein Vampir ist, sei eine Ausrede vom Direktor, damit er einen Grund hat, ihn von der Schule zu werfen.

Keisuke betrachtet seine Hände. Ich bin kein blutsaugendes Monster, denkt er.

„Aber wie kommen wir zurück?“, fragt Shizuka; „Es fahren ja keine Busse...“

„Müssen wir wohl zu Fuß gehen...“, antwortet Keisuke traurig.

Seinen ersten Schultag hat er sich so nicht vorgestellt.

Am ersten Tag von der Schule fliegen, das ist bestimmt ein neuer Rekord.

Shizuka klopft ihm beruhigend auf die Schulter.

Leise flüstert sie ihm ins Ohr:

„Als meine Eltern gestorben sind, warst du für mich da. Und ich bin auch für dich da...“

In diesem Moment ist er ihr einfach nur dankbar, und er weiß, dass sie eine besondere Freundin für ihn ist. Ihm wird bewusst, dass er sie einweihen muss, er darf ihr nicht verheimlichen, dass er ein Vampir ist. Aber noch nicht, noch ist es zu früh. Das wäre auch etwas viel für einen Tag.
 

Nach fast einer Stunde sind die beiden wieder zu Hause.

Miho scheint zuerst nicht da zu sein, aber schließlich finden sie sie ihn ihrem Zimmer, als sie die Betten deckt.

„Das ging aber schnell“, sagt sie überrascht; „Wer hat euch nach Hause gefahren?“

Zögerlich klärt Shizuka sie darüber auf, was im Direktorat passiert ist.

Miho bekommt zuerst einen großen Schock, aber danach ist sie einfach nur noch sichtbar besorgt.

„So etwas schlimmes. Keisuke, Shizuka, ich möchte nicht, dass ihr auf diese Schule geht. Mit dem Personal dort scheint wirklich etwas nicht zu stimmen.“

„Und dann?“, fragt Keisuke depressiv. Seltsam. Wenn er schon depressiv ist, wie muss Shizuka sich dann fühlen? Sie hat sich die ganzen Ferien darauf gefreut, ihre Freunde wiederzusehen.

„Ich werde mir heute die anderen Schulen anschauen, die es in Logaly noch gibt. Und dann suche ich eine für euch beide aus, einverstanden?“

Die beiden Freunde nicken.

Miho wird schon keine schlechte Wahl treffen, da verlässt Keisuke sich auf sie, und Shizuka anscheinend auch.

Die beiden gehen runter, und setzen sich nebeneinander stumm auf das Sofa.

Eigentlich kann Keisuke glücklich sein, dass er noch lebt.

Wenn er sich an das letzte Treffen mit dem Alten erinnert, ist es sein Glück, dass heute kein Vampirjäger in der Nähe war.

Überhaupt ist es irgendwie seltsam, dass sich der Vampirjäger Epheral nicht mehr gemeldet hat, seit seiner Falle damals. Hat Raito sich um ihn gekümmert? Hoffentlich...
 

Im Laufe des Tages sieht Miho sich nach einigen Schulen um. Keisuke und Shizuka beschäftigen sich solange zu Hause, und er stellt überrascht fest, dass Shizuka nicht so traurig zu sein scheint, wie er gedacht hat. Mit guten Freunden kann man auch so noch den Kontakt halten, wird sie denken. Und das stimmt ja auch...

Spät abends kommt Miho endlich wieder nach Hause.

Shizuka begrüßt sie:

„Hallo Miho, ich bin dabei uns dreien etwas zu kochen.“

„Oh, das ist nett von dir“, sagt sie freundlich.

Keisuke sitzt schon gespannt am Tisch, als die beiden ins Wohnzimmer kommen.

„Ich habe mich für eine Schule entschieden“, verkündet Miho;

„Leider ist die Auswahl nicht so groß, wie ich gehofft habe, aber ich denke, ihr werdet von nun an zur Sanary High gehen. Einverstanden?“

Sanary High? Die Schule sagt ihm nicht besonders viel.

Er hat zwar schon hin und wieder von ihr gehört, aber er war nie da.

Shizuka nickt zufrieden.

„Und das beste ist, ihr könnt zu Fuß dahingehen. Von hier ist es höchstens eine Viertelstunde“, sagt Miho, zufrieden mit sich selbst, dass sie eine passende Schule gefunden hat.

„Aber wir wissen doch gar nicht, wo das genau ist“, wendet Keisuke ein.

Miho schaut ihn finster an: „Ich aber. Ich kann euch den Weg ja beschreiben.“

Shizuka geht in die Küche und holt das Essen ins Wohnzimmer.

Als alle am fertig gedeckten Tisch sitzen, und Keisuke in den Topf schaut, muss er diese Frage einfach stellen: „Ähm... Was ist das?“

Miho wirft ebenfalls einen etwas angewiderten Blick in den Topf.

„Das ist der Salat“, antwortet Shizuka beleidigt.

Keisuke will ihr zwar keinen Vorwurf machen, er kann ja auch nicht besser kochen, aber trotzdem muss er es erwähnen: „Aber Shizuka... Das ist braun und riecht nach alten Autoreifen.“

Sanary High

Sanary High
 

Am Tag darauf bleiben Shizuka und Keisuke zu Hause, denn die Anmeldung an der neuen Schule steht noch aus, und Miho muss arbeiten, sodass sie nicht dort hingehen kann.

„Ich freue mich total auf die Sanary High!“, ruft Shizuka munter, und Keisuke antwortet nur:

„Schlimmer als unsere vorherige Schule kann sie ja kaum sein...“

Sie sieht ihn lächelnd an. Keisuke mag ihre positive Einstellung, er ist selbst auch sehr aufgeregt.

Auf der neuen Schule würde niemand die beiden kennen, also könnten sie noch einmal ganz von vorne anfangen...
 

Schließlich ist der Tag gekommen:

Schon früh morgens verabschiedet Miho sich mit den Worten:

„Ich gehe dann mal eure neue Schule besuchen. Eigentlich müsstet ihr beide angenommen werden, Zeugnisse und sowas habe ich alles dabei.“

Dann macht sie sich zu Fuß auf den Weg.

Das die Sanary High näher an Keisukes Haus liegt, gefällt ihm gut.

Jetzt muss er nicht mehr mit dem Schulbus fahren, und er kann länger schlafen.

„Glaubst du, dass wir in eine Klasse kommen?“, fragt Shizuka ihn leicht besorgt, während sie zwei Tassen Tee ins Wohnzimmer bringt und auf den Tisch stellt.

„Ich hoffe mal...“, seufzt Keisuke und nimmt sich eine Tasse.

Es wäre viel leichter für ihn, wenn sie zusammen in eine Klasse gehen.

Dann würde er sich nicht so stark wie ein Neuzugang fühlen, und er hätte jemanden, den er gut kennt. Außerdem macht Shizuka sich für gewöhnlich immer schnell beliebt. Die Klassenkameraden würden ihn schon mögen, wenn sie wissen, dass er eng mit ihr befreundet ist.

„Warum trinkst du nicht?“, fragt Shizuka, die ihre Tasse schon ausgetrunken hat.

Keisuke blickt das unattraktive Getränk an.

Tee ist so ziemlich das letzte, was er jetzt trinken möchte, aber weil sie sich schon soviel Mühe gemacht hat, ihm auch etwas einzufüllen, ist er mal nicht so.

Er nimmt einen tiefen Schluck des scheußlichen Getränks und verbrennt sich fast die Zunge dabei, woraufhin Shizuka anfängt zu lachen.

Die beiden albern noch eine ganze Weile rum, ohne sich weiter Gedanken zu machen, da klingelt urplötzlich das Telefon.

Keisuke springt auf und geht ran. Shizuka bittet ihn durch eine Geste, den Lautsprecher anzuschalten, damit sie mithören kann.

Nachdem er das getan hat, spricht er in den Hörer:

„Hallo?“

Er hört die Stimme seiner Schwester antworten:

„Hey! Ich bin's.“

Keisuke ist überrascht: „Miho? Von wo rufst du an?“

„Von der Schule, ihr habt hier ein Telefon, dass man gegen eine Gebühr benutzen kann...“

Das hört man gerne, so einen Service hatte die alte Schule nicht.

„Ich habe gerade mit dem Direktor gesprochen. Er ist ein sehr netter Mann.“

„Was hat er gesagt?!“, rufen Keisuke und Shizuka gleichzeitig in den Hörer.

„Ähm, ihr seid angenommen! Aber ihr sollt auch direkt herkommen, damit ihr schon am Unterricht teilnehmen könnt.“

„Sind Shizuka und ich in einer Klasse?“, will Keisuke wissen.

Zum Glück bejaht Miho die Frage, sodass er sich darum schon mal keine weiteren Sorgen machen muss. Aber trotzdem ist es irgendwie komisch, dass sie jetzt schon kommen sollen.

Sind denn schon alle Angelegenheiten geregelt?

Er fragt Miho danach, aber sie geht nicht darauf ein:

„Beeilt euch bitte herzukommen. Ich habe euch den Weg ja gestern erklärt.

Wir wollen doch einen guten Eindruck machen. Oder?“

Keisuke seufzt, und Shizuka läuft ins Badezimmer.

So, wie sie jetzt aussieht, will sie wohl nicht aus dem Haus gehen, aber das ganze kommt ja auch ziemlich unerwartet.

Miho erklärt ihm, dass sie für heute nur etwas zu schreiben brauchen, den Rest wird sie im Laufe der Woche besorgen. Keisuke dankt ihr und verspricht, in spätestens einer halben Stunde da zu sein.
 

Etwas mehr als einer halben Stunde später stehen die beiden vor dem Haupteingang der Sanary High. Der richtige Weg war leichter zu finden, als Keisuke dachte, denn trotz Mihos Erklärung hat er befürchtet, sie könnten sich verlaufen und zu spät kommen.

Das Gebäude ist nicht gerade prachtvoll, eigentlich ziemlich monoton.

Aber es hat viele Fenster, viel mehr als die vorherige Schule.

„Wo müssen wir überhaupt hin?“, fragt Shizuka verwirrt.

Oh! Das hat Miho ihm gar nicht gesagt...

Die beiden beschließen, erst einmal reinzugehen.

Die Eingangshalle ist aufgebaut wie eine Kreuzung.

Shizuka schaut mit fragendem Blick umher.

„Wo sind denn all die Schüler?“

„Die sind wohl im Unterricht“, ist Keisukes spontane Antwort, auch wenn er sich selbst nicht sicher ist. Plötzlich tritt seine Schwester aus der rechten Tür und begrüßt beide freundlich.

„Euer Klassenzimmer ist Raum 72. Der Lehrer weiß, dass ihr kommt.“

Miho deutet auf die gläserne Tür, die vom Eingang nach links führt, und nervös geht Keisuke durch den Flur, dicht gefolgt von Shizuka, der man die Aufregung auch ansehen konnte.

Fast am Ende des Korridors finden sie schließlich den Raum mit der Nummer 72, aus dem Stimmen zu hören sind.

Keisuke fasst sich ans Herz und klopft an.

Die Stimmen verstummen, und nach ein paar Sekunden öffnet eine Frau mit kurzen, schwarzen Haaren die Tür.

„Wir... wir sind die...“, fängt Keisuke an, aber die Frau unterbricht ihn:

„Ich weiß schon, wer ihr seid. Keisuke Valley und Shizuka Palma, richtig?“

Die beiden nicken.

„Ich bin Frau Ophis. Kommt bitte hinein.“

Zögerlich folgen die beiden ihr in das Klassenzimmer, dass nicht allzu groß ist.

„Stellt euch nach vorne“, fordert die Lehrerin die Neuzugänge auf.

Die ganze Klasse starrt die beiden an, Keisuke blickt verlegen zu Boden.

Die Lehrerin ergreift das Wort: „Das sind Shizuka Palma und Keisuke Valley. Sie gehen von jetzt an in diese Klasse.“

Die anderen Schüler schweigen und mustern ihre neuen Klassenkameraden interessiert.

Auf einmal springt ein Mädchen in der ersten Reihe auf und ruft freudestrahlend mit lauter Stimme: „Keisuke! Du bist das!!!“

Shizuka sieht die beiden verwirrt an, und erst jetzt bemerkt Keisuke, wen er da vor sich sitzen hat.

Lange orangene Haare, blutrote Augen und auffälliger Kopfschmuck in Form von Tierohren:

Seine Lebensretterin Yuri.

„Yuri Monou!“, donnert plötzlich Frau Ophis; „Setz dich sofort wieder hin!“

„Kennst du dieses Mädchen?“, flüstert Shizuka und Keisuke nickt.

Er hat nicht damit gerechnet, sie nochmal wiederzutreffen, aber anscheinend werden sie von nun an sogar in die selbe Klasse gehen.

„Und ihr beide sucht euch jetzt bitte auch einen Platz, damit die Französischstunde weitergehen kann.“

Seufzend machen Shizuka und Keisuke sich auf die Suche nach freien Stühlen.

Dass er gut mit dieser Lehrerin auskommen wird, bezweifelt er stark.

„Setzt ihr euch zu mir?“, fragt Yuri in normaler Lautstärke, und erntet einen zornigen Blick von Frau Ophis.

Keisuke bemerkt überrascht, dass die Plätze links und rechts von Yuri frei sind, also deutet er Shizuka an, sich mit ihm nach vorne zu setzen.

Schließlich nimmt er links von Yuri Platz, und Shizuka rechts.

Die Lehrerin fährt mit dem Unterricht fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben,

aber anstatt ihr zuzuhören, denkt Keisuke über die Mädchen neben ihm nach.

Yuri weiß, dass er ein Vampir ist. Womöglich wird sie es Shizuka sagen, und das muss Keisuke irgendwie verhindern. Er will er ihr selbst sagen, und niemand anderes soll das tun.

Keisuke beschließt, erst nach der Stunde mit Yuri zu sprechen, denn am ersten Tag will er sich nicht gleich mit einer Lehrerin verscherzen.
 

Als nach scheinbar endlos vielen Minuten endlich die Klingel ertönt, und die meisten Schüler aufstehen und den Raum verlassen, erklärt Yuri ihnen:

„Jetzt ist große Pause. Wir haben gleich Mathe, also können wir direkt hier blieben.“

Anscheinend kann man es sich in dieser Schule aussuchen, ob man in den Pausen im Klassenraum bleibt oder auf den Schulhof geht. Auf seiner alten Schule hatte man diese Wahl nicht.

„Du bist Yuri, oder?“, begrüßt Shizuka das Mädchen freundlich. Während der Stunde haben die drei fast überhaupt nichts sagen können.

„Woher kennt ihr beiden euch denn?“, will Shizuka von ihr wissen.

„Ich habe ihm das Leben gerettet!“, ruft Yuri glücklich.

Oh nein, sie darf nichts weiter sagen, sonst erfährt Shizuka alles.

Keisuke fügt hinzu: „Ja, wenn du mir damals kein Kleingeld für den Bus geliehen hättest, wäre ich echt gestorben. Dann hätte ich den Weg nach Hause zu Fuß laufen müssen.“

Shizuka fängt an zu lachen, und Yuri dreht sich mit fragendem Blick zu ihm um: „Was?“

Keisuke schüttelt leicht den Kopf und macht ihr so verständlich, dass Shizuka seine wahre Gestalt nicht kennt. Yuri scheint es verstanden zu haben, denn sie reagiert mit der Bitte:

„Ich möchte mal mit Keisuke alleine reden, okay? Wir kommen gleich wieder.“

Shizuka nickt, ein bisschen enttäuscht.

Yuri führt ihn hinaus in den Flur.

Keisuke will anfangen, zu erklären, aber sie unterbricht ihn direkt:

„Hier sind zu viele Leute, komm mit...“

Er folgt ihr in den Keller, wo sich eine staubige Bücherei befindet, aber niemand ist dort.

„Hier können wir reden“, sagt Yuri und setzt sich auf einen Tisch.

Keisuke setzt sich auf den Stuhl daneben und sagt zögerlich:

„Du weißt, dass ich... ein Vampir bin.“

Yuri nickt: „Das Mädchen da soll es nicht erfahren, oder? Warum nicht?“

Keisuke flüstert: „Ihre Eltern wurden von einem Vampir getötet. Ich befürchte, dass sie mich dann hassen würde...“

Yuri sieht traurig zu Boden: „Dann ist sie aber keine gute Freundin...“

Er versteht gerade nicht, warum sie das so traurig macht, aber er hat auch eine Frage:

„Wieso trägst du immer noch diese Verkleidung?“, und er deutet auf ihre Ohren und ihren Schwanz; „Spielst du immer noch Fuchsgöttin?“

Yuri sieht ihn durchdringend an: „Ich spiele nicht Fuchsgöttin! Die Dinger sind... Nunja, echt.“

Das kann ja wohl nicht wahr sein, denkt Keisuke, sie will ihm wohl einen Bären aufbinden?

Er steht auf und untersucht ihre Fuchsohren mit den Fingern. Überrascht stellt er fest, dass sie echt sind!

„Aufhören, das kitzelt!“, schreit Yuri und schüttelt sich vor Lachen.

Keisuke geht ein paar Schritte zurück. Unglaublich, sie scheint wirklich ein Fuchsmädchen zu sein.

Aber wie kann es so etwas geben? Andererseits hat er damals auch nicht an die Existenz von Vampiren geglaubt, und sie gibt es auch.

„Was hast du den Lehrern erzählt? Und den anderen Schülern?“, fragt Keisuke.

„Ich habe ihnen die Wahrheit gesagt... Aber sie glauben mir nicht, und finden mich komisch. Sogar meine Freundinnen haben sich von mir abgewendet, als ich mit diesem verändertem Körper in die Schule zurück gekommen bin.“

„Heißt das, dass du nicht schon immer ein Fuchsmensch warst?“, fragt er sie interessiert.

„Ich wurde zu einem gemacht!“, ruft sie kurz.

Dann ist es mit ihr ja wie mit ihm, er hat sich auch über die Sommerferien gravierend verändert.

Nur mit dem Unterschied, dass es bei ihm nicht so auffallend ist.

„Was ist denn passiert?“, fragt er sie, aber sie winkt direkt ab:

„Darüber will ich nicht reden, tut mir leid.“

Im ersten Moment fühlt Keisuke sich beleidigt, doch er kann es auch irgendwie verstehen. Er würde auch nicht mit jedem darüber sprechen wollen, wie er zum Vampir wurde.

Die Klingel ertönt, und nachdem die beiden Schüler wieder in die Klasse kommen, geht der Unterricht weiter, mit dem Fach Mathematik.

Gewiss nicht sein Lieblingsfach, genauer gesagt hat er in keinen Fach mehr Probleme, aber der Lehrer, Herr Umbala ist sehr freundlich, im Gegensatz zur strengen Französischlehrerin.

Die Schule ist auf jeden Fall besser, als die alte, überlegt Keisuke.

Sie hat einfach mehr Stil, interessante Schüler und irgendwie fallen ihm die meisten Fächer nicht mehr so schwer. Zwar sind viele Lehrer unsozial, aber das war auf der alten Schule ja auch so.

Und wahrscheinlich auf allen anderen auch.
 

Nach den vier Stunden, die sie noch hatten, verlassen Keisuke und Shizuka das Gebäude um sich auf den Weg nach Hause zu machen, aber er entdeckt Yuri, die hinter einem Baum steht und ihn zu sich winkt.

„Shizuka, gehst du schon mal vor? Ich komme gleich nach“, sagt er, und lässt sie verwirrt stehen.

Yuri möchte wohl noch einmal kurz mit ihm reden, bevor alle nach Hause gehen.

„Keisuke, kommst du wieder mit nach unten, in die Bibliothek?“, fragt Yuri ihn.

Er würde zwar ungern wieder ins Gebäude, aber da sie sich scheinbar dort wohl fühlt, willigt er ein.

Die Bibliothek im Keller ist mal wieder leer, als sie reingehen.

Yuri führt Keisuke nach hinten, zwischen die Regale.

Sie sieht sich noch einmal um, ob auch wirklich niemand im Raum ist.

„Was ich dir heute gesagt habe...“, fängt sie an;

„Ich möchte dir erzählen, warum ich so geworden bin. Ich konnte bisher nur mit meinen Eltern darüber sprechen. Und du bist hier der erste, der mich ernst nimmt...“

Keisuke setzt sich hin und hört gespannt zu.

„Ein Vampir hat mich zu dem gemacht, was ich bin...“, flüstert sie.

„Was?“, ruft Keisuke erschrocken; „Wie kann das denn sein?“

„Du müsstest das doch wissen“, nörgelt sie; „Vampire haben besondere Fähigkeiten. Und ein Vampir hat mich in ein Fuchsmädchen verwandelt. Was ich dir jetzt erzähle, ist sehr privat.

Irgendwie vertraue ich dir, Keisuke. Ich glaube, dass du mich verstehst. Kann ich anfangen?“

Keisuke nickt, und ist auf alle möglichen absurden Geschichten vorbereitet.

Vigor

Vigor
 

Eine regnerische Nacht.

Hastig rennt ein junges Mädchen mit orangenen Haaren und roten Augen durch die dunklen Gassen von Logaly.

Sie ist schon so spät dran, jetzt muss sie sich beeilen. Ihre Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen um sie. Aber sie hat heute soviel Spaß mit ihren Freundinnen gehabt, sie wollte schlicht und einfach noch nicht von da weg.

Und dafür ist es jetzt dunkel, es regnet in Strömen und es ist eiskalt.

Im Fernen kann sie eine Ampel erkennen: Gut, dann ist sie so gut wie da.

Plötzlich bemerkt sie jemanden, der direkt vor ihr steht, kann aber nicht mehr ausweichen und rempelt die Person an.

„Entschuldigung“, keucht Yuri erschrocken.

Der Mann trägt einen schwarzen Regenschirm, und schaut sie finster an.

Gerade denkt Yuri darüber nach, sich noch einmal zu entschuldigen und danach aus dem Staub zu machen, da kommt ein anderer Mann um die Ecke und steuert geradeaus auf die beiden zu.

„Was ist das denn?“, fragt er mit tiefer Stimme und Yuri kann sein hinterhältiges Grinsen sehen.

„Hat mich gerade gerammt“, antwortet der andere Mann mit dem Regenschirm genervt.

„Ach echt...“ Der Mann mit der tiefen Stimme fängt an, zu lachen.

Dann geht er schnellen Schrittes auf das Mädchen zu, packt sie mit den Händen an die Schultern und zieht sie gewaltsam an ihn heran.

„Hey!“, ruft Yuri sauer; „Was machst du da?!“

Schon wieder lacht der Mann: „Findest du nicht, dass du uns... entschädigen solltest?“

Wollen diese Typen etwa Geld? Dann haben sie ja wohl Pech gehabt, Yuri hat gerade nämlich nichts dabei.

Plötzlich lässt der Mann seine Hand unter Yuris T-Shirt gleiten, diese versucht verzweifelt, sich loszureißen, schafft es aber nicht.

Der andere Mann, mit dem Regenschirm, steht nur daneben und starrt die beiden an.

Auf einmal ertönt eine fremde Stimme: „Ihr Ungeziefer!“

Ein Junge mit schwarzem, langen Haar und leuchtend roten Augen tritt an die drei heran.

„Ihr habt alle keinen Respekt vor dem Alter!“, ruft der Mann mit dem Regenschirm und geht mit zornigem Blick auf den Fremden zu, aber dieser muss nur seine Hand ausstrecken, und sein Gegner liegt mit dem Rücken auf dem Boden.

Der ist ja cool, denkt Yuri, und der verbrecherische Typ lässt sie los.

„Ich wollte mich ein wenig mit diesem Mädchen vergnügen... Du scheinst ja ziemlich stark zu sein. Willst du Geld haben? Ich zahle dir was, und du verschwindest, okay?“

Aber der junge Mann antwortet ihm nicht, stattdessen legt er die Hände übereinander und hält sie in die Richtung des Perversen.

„Du bist wie eine Ratte, also werde auch zu einer!“, ruft er mit lauter Stimme.

Ein gleißender Blitz lässt die dunkle Stadt für den Bruchteil einer Sekunde hell erstrahlen, und der Mann, der vorher noch Yuri bedroht hat, schrumpft in rasender Geschwindigkeit, bis er nicht mehr da zu sein scheint. Schließlich sieht man nur noch eine kleine Ratte über den Boden laufen.

Der Fremde geht auf Yuri zu: „Bist du verletzt? So spät noch in der Stadt zu sein, ist gefährlich.“

Sie steht nur für einen Moment da und starrt ihn an, und dann springt sie auf ihn zu und umarmt ihn fest. Glücklich ruft sie:

„Danke, dass du mir geholfen hast! Wie du diese Kerle fertig gemacht hast, das war echt cool! Und am allerbesten war dein Zaubertrick!“

Gespannt wartet Yuri auf eine Antwort.

Sie fühlt, wie sich das Gesicht vom Fremden auf ihren Hals zu bewegt.

„Wie hast du das gemacht?“, fragt sie.

Er antwortet nach einer kurzen Pause:

„Wenn ich es dir erzählen würde, würdest du Angst bekommen.“

Die beiden gehen gemeinsam ein Stück durch die Straße.

„Ich werde keine Angst haben, versprochen! Aber ich will wissen, wie das geht. Im ersten Moment dachte ich, ich träume.“

Der junge Mann lacht. Er hat ein schönes Lachen, überlegt das Mädchen.

„Ich bin Vigor“, sagt er schließlich; „Vigor, der Vampir.“

Yuri muss lachen: „Hahaha, Vampir? Das ist ja komisch...“

„Glaubst du mir nicht?“, fragt er.

Sie reagiert, indem sie einfach ihren Zeigefinger in seinen Mund steckt.

Überrascht blickt er sie an.

Sie fühlt ihm mit ihrem Finger durch den gesamten Mundraum, irgendwie ist es einfach nicht eklig für sie. Sogar irgendwie angenehm, denn seine Mundhöhle ist warm und feucht.

Dann entdeckt sie die verlängerten Eckzähne, und bittet ihn, den Mund zu öffnen.

Als er das tut, nickt Yuri und ruft: „Ich glaube dir. Mit solchen Beißerchen kannst du ja nur ein Vampir sein, hehe!“

„Du hast keine Angst?“, fragt Vigor irritiert, aber man kann Yuri ansehen, dass sie sich nicht fürchtet. „Ich bringe dich nach Hause“, entscheidet der Vampir, und die beiden machen sich auf den Weg.

So hat Yuri Vigor kennengelernt.

Durch seinen mutigen Einsatz hat sie jede Furcht vor Vampiren verloren, im Gegenteil, sie findet sie sympathisch und interessant.

So kommt es, dass sie sich nicht nur mit ihm anfreundet, sondern auch nach und nach in ihn verliebt. Dass er kein Mensch ist, ist ihr dabei egal.

Sie unternehmen viel miteinander, zum Beispiel geht Yuri mit ihn seine Wohnung oder er besucht sie bei sich zu Hause.

Ihren Eltern verschweigt sie vorerst, dass er ein Vampir ist.

Sie würden sich dann nur Sorgen machen, obwohl das gar nicht von Nöten ist.

Vigor erzählt Yuri eine Menge über Vampire, über ihre besonderen Fähigkeiten, und dass es seine Spezialfähigkeit ist, Menschen in Tiere zu verwandeln.

Er erklärt außerdem, dass es Vampirjäger gibt, die von der katholischen Kirche bezahlt werden, damit sie alle existierenden Vampire auslöschen.

Und letzten Endes spricht er mit ihr über die Curser-Gesellschaft, eine Vereinigung von Vampiren, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, irgendwann den Planeten von der Menschheit zu befreien, damit die Vampire dort in Frieden leben können. Und auch, dass er dieser Organisation angehört.

Yuri erschrickt, als sie das hört, aber Vigor kann sie schnell wieder beruhigen, indem er ihr versichert, dass er aus dieser Gruppierung austreten wird.

Seit er sie kennengelernt hat, hasst er die Menschen nämlich nicht mehr und wünscht ihnen weder Tod noch Verderben.

So kommt es, dass Vigor in den nächsten Tagen für Yuri nicht zu erreichen ist, aber als er eines Abends schwer verletzt vor ihrer Tür steht, ist sie außer sich vor Sorge.

„Was ist passiert?! Warum siehst du so aus? Wer hat dir das angetan???“, ruft sie.

„Curser“, bringt Vigor geschwächt hervor; „Sie haben abgelehnt... Da kann man... wohl nicht so einfach austreten... Ich bin so dumm...“

„Du bist gar nicht dumm!“, antwortet Yuri.

„Sie werden mich töten, wenn sie mich finden...“, keucht er.

Dann werden sie ihn eben einfach nicht finden!

Aber wo könnte man ihn denn verstecken? Bei ihr zu Hause wäre das kaum möglich, das würde ihren Eltern auffallen.

Da kommt ihr eine Idee.

„Kannst du gehen?“, fragt sie ihn.

„Ja, kann ich... Habe es ja auch hierhin geschafft...“

Yuri zieht sich schnell Schuhe an und nimmt seine Hand:

„Komm mit!“

Sie läuft mit dem schwer atmenden Vigor durch die Stadt.

Als sie mit ihm an ihrem Zielort angelangt ist, ist es schon dunkel geworden.

„Was? Café 'Lexy'?“, stöhnt Vigor als er das Gebäude vor sich sieht.

„Das Café hat einen Keller, wo wir alte Möbel und sowas abstellen... Da kann ich dich verstecken. Zum Glück hat es jetzt schon geschlossen...“

Sie gehen zur Tür und Yuri schließt sie auf.

Vigor folgt ihr zu einer hölzernen Tür an der hinteren Wand:

„Möchtest du nicht das Licht einschalten?“, fragt er.

„Ach was“, winkt Yuri ab; „Ich kenne das Café in und auswendig!“

Die beiden gehen durch die Tür und die Treppe runter, sodass sie sich im Keller wiederfinden.

„Hier kannst du bleiben“, sagt Yuri; „Ich gehe mal oben schauen, ob irgendwo Verbandszeug ist, ich glaube, du blutest noch...“

Sie geht wieder nach oben, und schaltet dieses mal das Licht an.

Er hat ernsthafte Schwierigkeiten, denkt sie.

Aber es tut ihr gut, dass sie ihm helfen kann. So wie er ihr vorher geholfen hat.

Weil sie unter dem Tresen kein Verbandszeug findet, geht sie in die Küche, um dort nachzuschauen.

Sie untersucht einen Schrank nach dem anderen, als sie plötzlich hört, wie die Tür nach draußen sich öffnet, und daraufhin wieder schließt.

Yuri bleibt wie angewurzelt stehen. Sie hat vergessen, die Tür wieder abzuschließen, nachdem sie reingekommen sind.

Auch die Holztür geht knarrend auf. Yuri rennt aus der Küche, um nachzuschauen, wer eingedrungen ist, aber er ist schon niemand mehr zu sehen, als sie im Gästebereich ist.

Wer auch immer da gekommen ist, er oder sie muss nach unten gegangen sein.

Nach unten... Zu Vigor?!

Mit einen Mal sprintet Yuri los, die Treppe runter und sieht wie Vigor von einem fremden Mann an die Wand gedrängt wird.

Der Mann, viel größer als Vigor, trägt schwarze Sachen und einen schwarzen Hut, mehr kann Yuri in der Dunkelheit nicht erkennen.

Der Fremde lacht: „Hahaha! Da ist ja unser kleiner Verräter... Bis jetzt dachte ich ja, dass die Fähigkeit von Sense nutzlos ist, aber dadurch konnte ich dich finden!“

„Ich sterbe lieber, als dass ich mich euch Mördern weiter anschließe!“, brüllt Vigor voller Protest.

„Dann stirb du nur“, antwortet der Mann gleichgültig und packt mit seiner Hand in die noch blutende Wunde von Vigor.

Dieser unter Höllenqualen auf, dann sieht er Yuri und ruft:

„Yuri! Hau ab, schnell!!!“

Aber sie steht nur wie angewurzelt da.

Sie kann doch jetzt nicht verschwinden, und ihm diesen Typen überlassen?

Aber was soll sie machen, was nur?!

Der Fremde steckt seine Hand zurück.

„Das ist erledigt. Du bist gleich tot... Hmm... Wer ist das denn?“

Er schaut sich Yuri an, und kommt ihr näher.

Hinter ihr legt Vigor mit seiner letzten Kraft seine Hände übereinander, und richtet sie auf die beiden.

Als der Fremde das bemerkt, springt er schnell zur Seite.

Ein gleißender Blitz, und Yuri merkt, wie sich ihr Körper verändert.

Im ersten Moment wird ihr sehr schwindlig, und ihr wird schwarz vor Augen.

Sie merkt, dass sie hinten etwas hat, was sie bewegen kann... Einen Schweif?!

Auch sind ihre Ohren scheinbar höher angesetzt, was hat Vigor nur gemacht?

„Verdammt... Meine Kraft... reicht nicht mehr...“, flüstert er und bricht zusammen.

Dann wendet sich der Fremde wieder Yuri zu.

„So ein Idiot“, lacht er; „Dir Tierohren zu geben, wird auch nicht helfen.“

Tierohren?

Hat er sie etwa in ein Tier verwandelt?

Aber sie ist doch noch ein Mensch...

Der Mann kommt ihr immer näher. Er ist sicher ein Vampir, denkt Yuri.

Plötzlich bemerkt sie die stärke Kraft in ihren Beinen.

Blitzschnell läuft sie rückwärts und springt mit einem Satz die Treppe hoch.

Das kann sie wohl, durch die Verwandlung...

Sie rennt schnell aus dem Café, bis sie bei einem Parkplatz hinter den Gebäuden der Stadt eine Pause macht.

Ist Vigor wirklich tot? Das kann doch nicht wahr sein?

Er hat seine letzte Kraft gebraucht, um sie zu retten.

Ohne die zusätzliche Schnelligkeit hätte sie es bestimmt nicht geschafft, zu entkommen.

Aber vielleicht hätte sie gegen ihn kämpfen sollen?

Wäre sie ihm überhaupt gewachsen gewesen.

Tränen fließen ihr über die Wangen.

Er hat Vigor einfach umgebracht, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Diese Cursers sind böse... Wenn sie einfach so Menschen und gute Vampire töten!

Und sie hat es nie geschafft, ihm ihre Liebe zu gestehen.

Aber sie fühlt, dass er es wusste, dass er es die ganze Zeit gewusst hat.

Sie muss weiterleben, denkt sie.

Weiterleben, um gegen die Cursers zu kämpfen, um andere vor ihnen zu beschützen.

Nach einiger Zeit steht sie auf und trottet nach Hause.

Wann wohl die Verwandlung nachlässt...
 

Keisuke merkt gar nicht, wie ihm der Mund offen steht.

„Genau so war es...“, seufzt Yuri; „Die Verwandlung hat immer noch nicht nachgelassen. Ich frage mich, ob sie das überhaupt noch tut. Meinen Eltern habe ich danach alles erzählt, ich konnte sie nicht anlügen. Und irgendwie muss man das hier ja erklären, oder?“, sagt sie und deutet lächelnd auf ihre Ohren.

„Und Vigor? Ist er gestorben...?“, fragt Keisuke vorsichtig.

„Sie sind beide am nächsten Tag nicht mehr im Keller gewesen. Dafür aber... eine riesige Blutlache...“

Keisuke versteht schon.

Aber der Vampir, der ihn getötet hat, kommt ihm nicht bekannt vor.

Wie viele von diesen Cursers gibt es eigentlich?

„Es ist ja gar nicht so schlecht, ein Fuchs zu sein, wenn man es so nennen kann! Ich kann schneller laufen, sehr hoch springen, und habe mit meinen Ohren ein gutes Gehör. Daher wusste ich auch damals deinen Namen, weißt du noch? Ich habe den alten Mann mit dem Präsident der Provitas reden gehört. Über dich.“

Jetzt wird Keisuke einiges klar.

So ist sie also in diese ganze Situation gekommen...

Sie scheint mindestens genauso viele Probleme zu haben wie er.

Jetzt streckt Yuri ihre Arme aus und gähnt laut.

„Ah, es ist gut, wenn man mit jemandem darüber reden kann. Hast du etwas, worüber du mit mir reden möchtest?“

Keisuke schüttelt den Kopf. Eigentlich gäbe es da schon einige Dinge, die er ihr gerne erzählen würde, aber zweifelt stark daran, dass sie ihm helfen kann.

Also warum sollte er sie damit belasten?

Plötzlich krabbelt sie zu Keisuke herüber und drückt ihm einen Kuss auf die Wange.

Er bekommt einen Schreck, und sieht sie fragend an, doch sie lächelt nur.

Warum macht sie denn sowas? Außer Miho hat noch nie jemand sowas bei ihm gemacht.

„Ach, nur so!“, ruft Yuri und fängt an, zu kichern. Keisuke spürt, wie er rot wird.
 


 


 

Vorschau auf Kapitel 15:
 

Sie ist schön, hat eine gute Figur und ein selbstbewusstes Auftreten.

Kein Mann kann ihrem Charme widerstehen.

Wird der Vampir der Versuchung standhalten?

Wer sich müht, einen Schein zu wahren, kann sich selbst vergessen.

Kapitel 15: Die schöne Lure

Die schöne Lure

Die schöne Lure
 

An ihrem ersten Schultag haben Keisuke und Shizuka zwar schon am Unterricht teilgenommen, aber ihnen fehlen immer noch die Bücher und Arbeitsmaterialien für das neue Schuljahr.

„Das wird nicht gerade billig“, sagt Miho verbittert, als sie Keisuke Geld reicht, doppelt soviel wie es gewöhnlich kosten würde, aber Shizuka braucht all die Sachen ja auch.

„Ähm, das muss doch nicht sein! Ich habe auf meinem Konto noch genug Geld, davon kann ich das Zeug, dass für mich ist, bezahlen“, versucht Shizuka, Miho zu überreden, aber diese verneint.

Eigentlich ist es schade, dass Shizuka erst an das Erbe von ihren Eltern kommt, wenn sie volljährig ist, denkt Keisuke; unvorstellbar, was man sich mit dem ganzen Geld alles kaufen könnte.

Jetzt versucht Shizuka, Miho zu versprechen, ihr das Geld irgendwann zurückzugeben, aber ohne Erfolg. Miho antwortet nämlich: „Nein, das geht alles in Ordnung so. Dass es etwas enger wird, war mir schon klar, als wir dich hier aufgenommen haben. Du musst gar nichts zurückzahlen. Außerdem hilfst du mir im Haushalt mehr als dreimal so viel wie die beiden Jungs.“

Shizuka kichert, und Keisuke sieht beschämt zu Boden.

Sie fragt ihn ja auch fast nie, ob sie Hilfe bei etwas braucht.

„Normalerweise würde ich ja selbst zu einem Bücherladen gehen, aber ich muss gleich zur Arbeit. Der Zettel mit den Büchernummern und so liegt auf dem Tisch im Wohnzimmer. Wir sehen uns dann heute Abend!“

Dann geht sie aus dem Haus, und macht sich auf den Weg zur Arbeit.
 

Etwas später, im Buchladen, kauft Keisuke die Schulbücher und bezahlt eine ordentliche Summe dafür, als sie wieder auf der Straße sind fragt Shizuka ihn:

„Sollen wir jetzt direkt schon wieder nach Hause gehen? Oder noch ein bisschen rumlaufen?“

Keisuke versteht nicht, was sie mit „Rumlaufen“ meint: „Wo willst du denn hin?“

„Erstmal was essen“, antwortet Shizuka fröhlich; „Wollen wir wieder ins Café 'Lexy' gehen?“

Dahin schon wieder? Dieses mal nickt Keisuke.

Als er das letzte mal dort war, ist auch nichts passiert, also macht er sich etwas weniger Sorgen.

Im Café bestellt Keisuke sich einen Kakao, und Shizuka ein Stück Käsekuchen.

Der muskulöse, gebräunte Mann verschwindet in der Küche um die Bestellung durchzugeben.

„Warum hast du dir nur was zu Trinken bestellt?“, fragt Shizuka.

Keisuke seufzt: „Es haben nicht alle soviel Geld wie du...“

Nebenbei muss er nichts essen oder trinken, außer Blut, aber das kann er ihr ja wohl schlecht sagen.

Jetzt betritt ein Mädchen das Café.

„Das ist doch Yuri!“, flüstert Shizuka, warum auch immer sie flüstert.

„Ja, ihren Eltern gehört das Café“, gibt Keisuke in normaler Lautstärke zurück.

Ein paar alte Leute, die an einem Tisch in der Nähe von der Tür sitzen, begrüßen Yuri herzlich und winken ihr zu.

Sie grüßt zurück, und sieht dann ihre Schulkameraden ein paar Tische weiter sitzen und sie anstarren.

„Hey, ihr kommt mich besuchen!“, ruft sie freudestrahlend und springt zu ihnen mit einem Satz.

Shizuka schaut sie verdutzt an: „Du... Du kannst wirklich weit springen...!“

„Danke!“, ist das einzige, was Yuri dazu sagt.

Sie setzt sich zu ihnen, neben Keisuke, und die drei fangen an, etwas zu plaudern.

„Das Café ist von deinen Eltern? Wohnst du auch hier?“, will Shizuka wissen.

„Nein, wohnen tue ich woanders. Aber ich helfe Mama und Papa manchmal ein bisschen, denn wir haben sonst fast gar kein Personal. Gerade eben habe ich mir die Tiere im Tierladen neben uns angeguckt, und als ich wieder zurück gekommen bin, wart ihr auf einmal da.“

„Du kannst echt froh sein, noch Eltern zu haben...“, flüstert Shizuka, und Keisuke hat im Stillen das Gleiche gedacht.

Seinen Eltern bei der Arbeit helfen? Das ist ein Privileg, das Waisenkinder nicht haben.

Eine kurze Zeit lang scheint die Stimmung depressiv zu sein, aber Yuri ruft einfach:

„Bin ich auch!“, und steht auf.

Auf die fragenden Blicke von Keisuke und Shizuka sagt sie:

„Ich rede mal mit Papa, wenn ich ihm sage, dass ihr meine Freunde seid, müsst ihr nichts bezahlen.“ Und sie verschwindet hinter dem Tresen bei ihrem Vater.

Es ist ja kein Wunder, dass sie falsche Freunde bekommen hat, wenn sie jeden hier gratis essen lässt. Da wollten bestimmt viele Leute mit ihr befreundet sein.

Shizuka schaut aus dem Fenster: „Ich würde mir gerne ein paar neue Klamotten kaufen... Was sagst du dazu?“

„Von mir aus“, antwortet Keisuke gleichgültig; „Sollen wir Yuri fragen, ob sie mitkommen will?“

„Yuri... Warum verkleidet sie sich eigentlich so komisch?“

„Das ist keine Verkleidung!“, ruft plötzlich Yuri, die wieder hergekommen ist.

Shizuka schaut sie überrascht an: „Wirklich nicht?“

Daraufhin kommt Yuri nah zu Shizuka und hockt sich auf den Boden, damit Shizuka ihre Ohren untersuchen kann.

Aber sie sitzt nur auf ihrem Stuhl und schaut sie verständnislos an:

„Sag mal... Was machst du da unten?“

„Bist du blöd!“, ruft Yuri; „Du sollst meine Ohren untersuchen, damit du merkst, dass sie echt sind! Aber sei vorsichtig!“

Shizuka fängt an, an ihren Fuchsohren herumzufummeln, das geht eine halbe Minute so, da springt Yuri auf und fährt Shizuka an: „Was machst du da eigentlich?! Du sollst nur prüfen, ob sie echt sind!“

Shizuka rückt etwas nach hinten: „Woher soll ich wissen, ob die echt sind?!“

Keisuke kann das Lachen kaum noch unterdrücken.

Die anderen Gäste schauen sie schon alle an.

„Du bist echt... begriffsstutzig“, bringt Yuri hervor und geht zu ein paar anderen Gästen, die etwas bestellen wollen.

„Frag sie nicht, ob sie mitkommen will“, bittet Shizuka Keisuke; „Irgendwie ist die mir unheimlich.“

Er nickt.

Er findet sie zwar nicht unheimlich, aber sich so über Shizuka aufzuregen, das hätte auch nicht sein müssen. Die beiden stehen auf, und gehen Richtung Tür, da werden sie von Yuri noch einmal angesprochen: „Geht ihr schon?“

Shizuka schaut zu Keisuke, der, zur Lüge gedrängt, antwortet: „Wir gehen nach Hause.“

Etwas enttäuscht verabschiedet sich Yuri von ihnen, draußen fragt er Shizuka:

„Wo sollen wir denn genau hingehen?“

Shizuka überlegt kurz, dann sagt sie: „Am besten zu 'Vestis'! Das ist der größte Laden in ganz Logaly, wenn es um Damenmode geht.“

Da Shizuka zu wissen scheint, wo es hingeht, folgt er ihr durch die Stadt, bis sie an einem großen, gelben Haus ankommen, mit vielen Schaufenstern.

Eine Menge Leute gehen durch die automatischen Glastüren ein und aus, und über dem Eingang hängt ein mit bunten Leuchtkugeln dekoriertes Schild mit der Aufschrift „Vestis“.

„Komm mit rein, Keisuke!“, ruft Shizuka und läuft rein.

Es sagt ihm zwar nicht besonders zu, wenn er sich in einem Laden nur für Damenmode aufhält, immerhin sind dort auch fast nur Frauen drinnen, aber er will ihr diesen Gefallen mal tun.

Im Geschäft durchsucht Shizuka eilig die Regale, und murmelt dabei irgendwelche unverständlichen Dinge vor sich hin.

Keisuke steht daneben und schaut stumm zu.

Schließlich zieht sie ein Kleidungsstück aus dem Regal und hält es vor ihren Körper.

„Wie findet du das?“, fragt sie.

Ein weißes, dünnes Kleid ohne Ärmel, für heiße Tage.

Er ist sich nicht sicher, was er davon halten soll.

„Ganz nett“, sagt er schließlich; „Aber es passt irgendwie nicht zu dir...“

„Echt?“, fragt Shizuka und schaut an sich herunter.

Kurz danach hängt sie das Kleid enttäuscht wieder auf.

Sie sagt ihm, dass sie etwas anderes suchen möchte, und schaut sich weiter um.

Keisuke schaut ein bisschen umher.

Hier gibt es wirklich nur Frauensachen, stellt er fest.

Da kann er sich nicht mal umsehen...

Jetzt fällt ihm hinten an der Kasse ein Gestell auf, an dem viele Sonnenbrillen hängen.

Keisuke geht dorthin und sieht sie sich an.

Die Sonnenbrillen hier wirken auch alle mehr oder weniger feminin... Aber vielleicht sollte er Miho eine kaufen? Dafür würde sein Geld noch reichen. Und dann müsste sie sich nicht immer seine ausborgen, er braucht sie ja eigentlich viel dringender.

Gerade ist er dabei, sich eine Sonnenbrille für seine Schwester auszusuchen, da bemerkt er eine Frau neben sich, die die Kassiererin anspricht:

„Ich würde dieses Shirt gerne zurückgeben. Ich habe gemerkt, dass es doch zu groß ist.“

Ein kalter Schauder jagt über Keisukes Rücken, denn diese Stimme kennt er.

Langsam und unauffällig dreht er sich zu ihr.

Die junge Frau hat blutrote, lange Haare und ist sehr schlank. Lure.

Das darf nicht wahr sein... Wie kann er ihr hier begegnen?

So viel Pech kann man doch gar nicht haben!

„Hier haben Sie ihr Geld wieder“, sagt die Kassiererin und hält Lure ein paar Scheine hin, die sie annimmt. Ohne sich zu verabschieden wendet sie sich Keisuke zu.

„Na sowas, wen man hier nicht alles trifft. Was hast du denn hier zu suchen?“

„Verschwinde, Curser! Bist du hier, um mich zu töten?!“, ruft Keisuke voller Angst.

Ein paar Frauen sowie die Kassiererin schauen die beiden an, woraufhin Lure Keisuke den Mund zu hält: „Sag mal, spinnst du? Soll die ganze Welt erfahren, was wir sind?! Verhalte dich gefälligst unauffällig!“

Das war ja sonnenklar.

Hier, in einem Geschäft mit so vielen Leuten, da wird sie ihn nicht töten, das würde zu viel Aufsehen erregen.

Ohne noch ein Wort mit ihm zu wechseln, geht Lure in die Unterwäsche-Sektion und schaut sich dort um.

Wo ist eigentlich Shizuka?

Keisuke muss versuchen, sie so schnell es geht hier raus zu schaffen.

Oder sollten sie lieber so lange wie möglich hier bleiben?

Hier sind sie ja mehr oder weniger sicher...

Keisuke grübelt noch, da sieht er Shizuka, die ein graues T-Shirt mit einem blauen Logo in den Händen hält: „Wie findest du das? Ein bisschen langweilig, aber man kann es eigentlich immer anziehen...“

Keisuke nickt, ohne sich das Kleidungsstück noch genauer anzuschauen.

„Willst du es kaufen, und dann gehen?“

Shizuka sieht ihn beleidigt an: „Eigentlich möchte ich schon mehr als nur ein T-Shirt kaufen, wenn wir schon einmal hier sind. Ich bin nur zur Kasse gekommen, weil ich es dir zeigen wollte, du stehst ja zufällig hier.“

Mit diesen Worten geht Shizuka zurück und sieht sich Oberteile an.

Keisuke fällt auf, dass Lure scheinbar verschwunden ist. Oh nein, das ist schlecht, er muss sie im Auge behalten, Immerhin gehört sie zur Curser-Gesellschaft, wer weiß, was sie anstellen wird.

Schüchtern geht Keisuke zur Unterwäsche-Abteilung, in der quasi nur Lure steht, die sich gerade einen rosafarbenen BH ansieht.

Sie bemerkt Keisuke recht schnell: „Was ist? Man kann ja nicht einmal in Ruhe neue Sachen kaufen...“

„Tut mir leid!“, entschuldigt sich Keisuke, und im nächsten Moment fragt er sich, warum er das eigentlich tut.

Jetzt kommt Lure auf ihn zu: „Was ist denn? Willst du mir irgendetwas sagen?“, fragt sie lächelnd.

Sie ist eigentlich sehr hübsch, nur schade, dass sie so ein Miststück ist.

„Nur, dass du uns in Ruhe lassen sollst!“, sagt er wütend.

Lure seufzt. Dann geht sie zu den Umkleidekabinen: „Komm mal mit!“

Das ist ihm jetzt wirklich zu dumm. Mit der Mörderin mitgehen? Mit der schönen Mörderin... Hm...

„Mit dir gehe ich nicht!“, ruft er ihr nach.

„Dann bleib eben da!“, ertönt ihre Stimme.

Komische Antwort. Keisuke hat das Gefühl, wenn er ihr nicht folgt, wird er irgendetwas wichtiges verpassen. Außerdem kann sie ihm hier eh nichts tun.

Er geht ihr hinterher, und sieht sie, wie sie vor einer Umkleidekabine steht.

„Hier rein“, sagt sie und verschwindet da rein.

Zögerlich folgt Keisuke ihr. Wenn sie irgendetwas versuchen würde, kann er immer noch schreien oder weglaufen, oder eben beides.

In der Kabine setzt Lure sich auf den schwarzen Hocker:

„Du nervst ehrlich gesagt ein bisschen. Du bist zwar süß, aber das gibt dir nicht das Recht, mir so auf den Keks zu gehen!“

„Das sagt die Richtige!“, entgegnet er wütend.

Sie hat doch versucht, ihn umzubringen, ihn zu vergewaltigen und was noch alles.

Da fällt ihm ein, dass er sich in einer Umkleidekabine alleine mit ihr befindet.

Oh nein, was hat sie wohl vor?

„Du musst wissen, ich will dich gar nicht umbringen. Dass wir uns heute hier begegnet sind, war nur ein Zufall.“

„Willst du nicht?“, fragt Keisuke ungläubig.

„Nein“, antwortet sie schlicht; „Wir Cursers versuchen, die Menschheit auszurotten, nicht die Vampire. Du bist ein Vampir. Du bist mir egal.“

„Aber ich helfe Raito!“, sagt Keisuke hitzig.

Was tut er da überhaupt? Warum versucht er, Lure zu überreden, ihn umzubringen?

Erst jetzt merkt Keisuke, dass er da etwas total Unsinniges tut.

„Du hilfst Raito?“ Lure fängt an zu lachen: „Also bitte, du hast deine Kraft an die Königin verloren. Der kann dich ja nicht mal mehr gebrauchen, und für uns bist du auch keine Gefahr. Deshalb kannst du ruhig weiterleben.“

Irgendwie ist Keisuke beruhigt.

Aber das ändert nichts daran, dass diese Frau weiterhin eine Gefahr für Shizuka, Yuri, Miho, Desmond und all die anderen ist.

Denn sie sind Menschen, und werden von den Cursers ohne zu Zögern getötet.

„Würdest du dann bitte rausgehen?“, fragt sie halbwegs nett; „Ich will wirklich diesen BH anprobieren, aber wenn du möchtest, kannst du auch hier drinnen bleiben, wenn ich mich umziehe.“

Sie hat ein erotisches Grinsen aufgesetzt, und Keisuke spürt, wie er rot wird und verlässt eilig die Kabine.

Er weiß nicht, was er von dieser Lure halten soll.

Ist sie gut oder böse? Gibt es sowas wie 'gut' oder 'böse' überhaupt?

„Wohl eher nicht“, lacht er, und sieht, wie Shizuka um die Ecke kommt, mit einem grünen Pullover im Arm: „Keisuke? Warum stehst du hier herum?“

„Nur so“, sagt er spontan.

Ohne darauf einzugehen hängt Shizuka ihr Oberteil in die Kabine, die direkt neben Lures ist:

„Ich probiere das mal an, ich bin nicht sicher, ob es passt...“

Dann macht sie den Vorhang zu, und nicht mehr als ein paar Sekunden später geht Lures Vorhang auf. Selbstbewusst tritt sie aus der Kabine, nur bekleidet mit einem blassen, rosafarbenen BH und einem Slip in derselben Farbe.

„Na? Würdest du sagen, das sieht gut aus?“, fragt Lure lachend.

Was soll Keisuke nur sagen?

Ja, es sieht gut aus. Aber an ihr würde wohl alles gut aussehen, bei diesem Körper...

Moment, was denkt er da überhaupt? Ganz langsam, sie ist eine Curser, eine Feindin...

Jetzt betrachtet Lure sich selbst im Spiegel:

„Nein, mein Teint ist zu dunkel dafür... Ich kann so helle Sachen einfach nicht tragen... Schade.“

Sie geht in die Kabine zurück und macht den Vorhang wieder zu.

Kurze Zeit später kommt Shizuka aus ihrer Kabine heraus, der grüne Pullover, den sie trägt, sieht zwar nicht hässlich aus, aber auch nicht besonders schön. Normal eben.

„Ich glaube, den werde ich mir nicht kaufen. Oder Keisuke? Auch wenn er schön weich ist, er ist zu teuer...“ Ohne eine Antwort abzuwarten geht sie auch wieder in ihre Kabine zurück, um sich wieder umzuziehen.

Wirklich lustig, wie die beiden aneinander vorbeisehen, aber wie lange geht das noch gut?

Lure kommt in ihren normalen, engen Sachen aus der Kabine heraus und spricht Keisuke an:

„Du stehst ja immer noch hier. Hast wohl auf mich gewartet, was?“ Und sie kichert.

Weil ihm einfach nicht einfällt, was er sagen soll, schaut er sie bloß stumm an.

„Eigentlich...“, fängt sie an, und macht einen Schritt auf ihn zu; „habe ich heute Nacht nichts vor. Wenn du möchtest, können wir ja ein bisschen Spaß haben.“

Das ist doch nicht ihr Ernst? Keisukes Herz schlägt schneller, vor Aufregung, aber auch wenn sie extrem gut aussieht, mit ihr würde er es nicht tun.

Sein erstes Mal soll aus Liebe geschehen, und für diese komische Lure ist Sex sicher nichts weiter, als eine plumpe, alltägliche Angelegenheit.

Vielleicht hat sie ja sogar Geschlechtskrankheiten, auch wenn er sich nicht sicher ist, ob Vampire so etwas überhaupt bekommen können, geschweige denn, ob sie überhaupt an irgendetwas erkranken.

Der andere Vorhang geht auf und Shizuka kommt in Alltagskleidung auf die beiden zu:

„Oh, Keisuke.“

Lure schaut sie an: „Na sowas... Ist das deine Freundin?“

„Sie ist nicht meine Freundin!“, ruft Keisuke sauer, und Shizuka schweigt.

„Siehst ja eigentlich ganz süß aus“, sagt Lure arrogant; „Schade, dass du ein Mensch bist.“

Nicht schon wieder, Lure darf Shizuka auf keinen Fall verraten, dass sie Vampire sind.

Das will Keisuke ihr doch selbst schonend beibringen.

„Mensch?“ Shizuka sieht fragend zu Keisuke, und Lure tut dasselbe.

Er schüttelt den Kopf, als Lure ihn ansieht, und sie scheint verstanden zu haben:

„Vergiss, was ich gesagt habe“, sagt sie genervt zu Shizuka.

Mit diesen Worten verlässt sie den Laden nach draußen.

„Wer ist das? Eine Freundin von dir?“, fragt Shizuka.

„Ich... weiß nicht“, antwortet Keisuke ein bisschen verwirrt.

Spontan entscheidet er, Lure zu folgen.

„Warte hier! Bin gleich wieder da!“, ruft er, und lässt Shizuka im Geschäft stehen.

Als er draußen ist, kann er gerade noch erkennen, wie sie in einer Gasse verschwindet.

Keisuke beschließt, ihr hinterher zu rennen, selbst wenn es gefährlich ist.

Es ist bereits dunkel draußen, was Keisuke aber wegen seiner Vampiraugen nicht weiter stört.

Lure lehnt an einer Hauswand, und wartet scheinbar auf irgendwas.

Keisuke geht einfach auf sie zu.

Sie sieht ihn fragend an: „Du schon wieder? Ich hatte eben den Eindruck, du willst nichts von mir. Oder...“ Jetzt geht sie langsam, in einer Art Tanz auf ihn zu; „oder hast du deine Meinung geändert?“

Keisuke schluckt: „Nein, habe ich nicht... Ich wollte nur wissen, was du jetzt machst.“

Lure geht zurück, und lehnt sich wieder an die Wand: „Ich warte auf ein Opfer. Wir Cursers müssen, zusätzlich zu den Aufträgen der Königin, pro Tag drei Menschen töten. Normalerweise fahre ich dafür in eine andere Stadt, aber es ist schon Abend und es bleibt mir nicht mehr viel Zeit.“

„Was?!“, ruft Keisuke erschrocken, für einen Moment dachte er wirklich, dass sie gar nicht so böse ist, wie sie tut. Lure zuckt einfach mit den Schultern, als wäre sie völlig unbeteiligt.

Dann kommt ein etwas älterer Mann die Gasse entlang.

„Sie da!“, ruft Keisuke, aber Lure hält ihm den Mund zu, und dreht den jungen Vampir zu sich.

„Ich hatte schon befürchtet, dass du mich behindern wirst...“, flüstert sie.

Sie lässt seinen Mund los, aber bevor Keisuke wieder etwas rufen kann, hat sie schon ihre Lippen auf seine gepresst.

Warum? Schon wieder tut sie das, obwohl er es nicht will... Sie ist grausam.

Keisuke versucht, sich zu wehren, schafft es aber nicht.

Sie löst den Kuss und schaut ihm in die Augen.

Keisuke schaut hinein, ohne nachzudenken.

Er spürt, wie er schwächer wird, langsam wird alles schwarz, und er sackt zu Boden.
 


 


 


 

Vorschau auf Kapitel 16:
 

Der Vampir macht einen Fehler, der bei ihm Angst vor sich selbst auslöst.

Sogar wenn niemand ihn fürchtet, würde er am liebsten weglaufen.

Die Sünde, die man sich selbst nicht verzeihen kann, wiegt am schwersten

Kapitel 16: Katzenjammer

Katzenjammer

Katzenjammer
 

Keisuke spürt, dass jemand über ihn gebeugt ist, und ihn rüttelt.

Er nimmt eine laute Stimme wahr, aber er ist so müde...

„Keisuke!!! Wach auf!!!“

Langsam öffnet er die Augen, eins nach dem anderen.

Sein Blick trifft den des Fuchsmädchens Yuri Monou, die über ihn hockt und ihn anstarrt.

Sie streckt ihre Hand aus und hilft ihm hoch:

„Ich habe dich überall gesucht!“

Plötzlich fällt Keisuke alles wieder ein, er wurde hier von Lure eingeschläfert.

„Wie spät ist es?“, fragt er Yuri.

„So circa halb elf, würde ich sagen.“

Er schaut sich die Gasse an. Außer Yuri und ihm ist niemand hier...

Weder jemand lebendiges, noch eine Leiche. Ob sie den alten Mann getötet hat?

Cursers töten mindestens drei Menschen pro Tag... Wie grausam.

„Woran denkst du?“, will Yuri wissen, aber er antwortet mit einer Gegenfrage:

„Was machst du so spät eigentlich noch hier?“

„Dich suchen!“, ruft sie lachend; „Miho hat mich angerufen, nachdem Shizuka zu Hause war. Bestimmt haben sie die Telefonnummer von Café 'Lexy' aus dem Telefonbuch. Sie hat mich gefragt, ob du bei mir bist, und ich musste nein sagen... Aber ich habe beschlossen, dich zu suchen! Wer weiß, von wem du jetzt wieder gejagt wirst!“

Keisuke versucht ein paar Schritte zu gehen, aber ihm wird oft schwindelig, und beinahe fällt er wieder hin.

„Was hast du, bist du noch müde?“, fragt Yuri etwas besorgt.

„Ich weiß nicht!“, antwortet Keisuke; „Aber ich habe großen Hunger... Irgendwie fühle mich schwach.“

Großen Hunger... Na toll. Bis er zu Hause ist, und sich dort über eine Blutkonserve hermachen kann, ist sicher wieder eine Stunde vergangen, wenn er in diesem Tempo weitergeht.

Und dabei ist morgen Schule!

„Möchtest du...“, fragt Yuri leise, und macht die rechte Seite ihres Halses von ihren langen, offenen Haaren frei; „vielleicht etwas von mir haben?“

Was? Warum fragt sie das jetzt? Keisuke hat doch noch nie Menschen ausgesaugt...

Er schaut ihren Hals eine Weile an. Eigentlich... Sie hat ja nichts dagegen, und er hat so großen Hunger...

„Nein!“, ruft er plötzlich; „Sowas mache ich nicht!“

Yuri schaut ihn enttäuscht an: „Und wenn es mich nicht stört? Damals habe ich es auch ein paar mal für Vigor getan.“

So ist das also, sie kennt das schon.

Aber er schüttelt den Kopf: „Es wird schon so gehen.“

„Wenn du das sagst... Also ich wollte gerade nach Hause gehen. Übernachtest du vielleicht bei mir?“ Keisuke schaut sie fragend an: „Wie kommst du jetzt darauf?“

„Dich kann man nicht alleine rumlaufen lassen, weil dir immer irgendwas passiert. Heute bist du sogar auf dem Boden eingeschlafen, das ist doch nicht normal.“

Keisuke lacht.

Schließlich stimmt er zu, bei ihr zu übernachten, aber er macht sich Sorgen wegen seiner Schulsachen, wenn er dann am nächsten Tag von Yuri aus zur Schule gehen würde.

Yuri schlägt vor, wenn sie bei ihr zu Hause sind, Miho anzurufen und Bescheid zu sagen. Shizuka kann Keisukes Sachen dann direkt morgen für ihn mitnehmen.

„Aber jetzt rück mal raus mit der Sprache... Du lagst doch nicht zufällig da?“

Auf dem Weg zu ihr entschließt Keisuke, ihr alles zu sagen, was er über die Cursers weiß.

Das meiste überrascht sie zwar nicht, aber hin und wieder staunt sie schon:

„Drei Menschen pro Tag? Kein Wunder, dass sie Vigor getötet haben, er hat, nachdem er mich getroffen hat, keinen einzigen Menschen mehr getötet...“

Keisuke will gerade versuchen, sie aufzuheitern, aber er merkt, dass es gar nicht mehr nötig ist, sie kann ihre Laune schon selbst oben halten.
 

In Yuris Wohnung ruft sie erst einmal Miho an, die außer sich vor Sorge ist.

Während sie mit ihr spricht, schaut Keisuke sich in der Wohnung um.

Die Küche ist ungewöhnlich groß, also werden in dieser Familie wohl alle gerne kochen.

Yuris Eltern sind noch gar nicht zu Hause, laut ihrer Tochter machen die beiden noch das Café sauber, ehe sie gehen.

Das Fuchsmädchen kommt aus dem Wohnzimmer in die Küche:

„Ich habe alles geklärt, glaube ich jedenfalls. Miho weiß, dass eine böse Vampirfrau dich in Schlaf versetzt hat, aber von den Cursers und so weiter habe ich nichts erzählt.“

„Gut...“, antwortet Keisuke erschöpft; „Ist es für deine Eltern okay, wenn ich hier übernachte?“

„Muss es sein!“, ruft Yuri; „So viel, wie ich denen heute geholfen habe, dürfen sie mir das gar nicht abschlagen!“

Das hört sich nicht allzu überzeugend an. Nicht, dass er nachher doch noch rausgeschmissen wird.

„Wir haben wohl kein Gästezimmer. Aber das ist egal, du kannst bei mir im Zimmer auf dem Boden schlafen.“

Das hört man doch wirklich gerne, denkt Keisuke, ihm ist so schon übel, und nun wird er noch gezwungen sein, auf dem unbequemen Fußboden zu schlafen.

Yuri verlässt das Wohnzimmer und er folgt ihr, nachdem sie durch eine Tür gehen befinden sie sich ziemlich sicher in Yuris Zimmer.

Es ist etwas kühler hier als in den anderen Räumen, und einige Teddybären sitzen zusammen neben dem Bett.

Auf dem hellen Schreibtisch liegt neben Arbeitssachen und Stiften ein Stapel von Werbeplaketten für das Café 'Lexy'.

Jetzt holt Yuri ein Betttuch aus dem Schrank und legt es halbwegs ordentlich auf den Boden.

Dann legt sie ein Kissen dazu und breitet zwei Decken darüber aus: „Fertig!“

Keisuke schaut sie an. Das wird wohl sein Schlafplatz sein, heute Nacht.

Naja, hätte schlimmer kommen können.

„So schlimm sieht es doch gar nicht aus, oder?“, fragt Yuri; „Ich weiß, du bist es meistens gewohnt in Särgen zu schlafen, wie es sich für einen Vampir gehört, aber heute...“

„Quatsch!“, ruft Keisuke dazwischen; „Es ist gut so. Danke.“

Man hört, wie die Haustür aufgeschlossen wird.

„Das werden sie sein. Leg dich schon mal hin, sie sollen dich nicht vor morgen früh sehen.“

„Was?!“, ruft Keisuke geschockt; „Du verheimlichst mich?“

„Nein, nein. Ich sage ihnen, dass du da bist, aber wenn sie dich sehen, erkennen sie womöglich, dass du ein Vampir bist, und ob du dann noch hier schlafen darfst...“

Mit diesen Worten verlässt sie ihr Zimmer um ihre Eltern zu begrüßen.

Keisuke legt sich derweil hin. Trotz des Betttuchs ist der Boden immer noch recht unbequem, aber viel besser als der Steinboden draußen.

Nach gut zehn Minuten, vielleicht etwas mehr, kommt Yuri zurück.

„Meine Mutter hat gesagt, dass du auf dem Bett schlafen kannst, und ich soll auf dem Boden schlafen...“

Keisuke schaut sie überrascht an: „Wie kommt das?“

„Mein Vater hat da so ein Sprichwort, an das wir uns halten: 'Der Gast ist den Gastgebern heilig, im Restaurant als auch zu Hause.'“

Sie würde bestimmt lieber im Bett schlafen, und Keisuke findet, dass er schon genug Umstände gemacht hat: „Ist schon gut, du kannst es haben.“

Yuri wird sauer: „Nein, kann ich nicht“, und zieht ihm die Decken weg, sodass er sie böse anblickt.

„Steh auf und geh ins Bett, ich schlafe hier.“

Also geht Keisuke ins Bett hinüber.

„Solltest du dich nicht ausziehen?“, fragt Yuri ihn.

Keisuke hat gehofft, dass sie das nicht fragen würde.

Aber eigentlich muss er nur die Hose und die Socken ausziehen, den Rest wird er anlassen.

Als er das gemacht hat, bittet Yuri ihn: „Ich würde mich auch gerne umziehen, drehst du dich um?“

Blitzschnell ist Keisuke umgedreht.

Er hört, wie sie ihre Sachen auszieht, und versucht nicht darauf zu achten.

Nach einer Minute sagt Yuri: „Ich mache dann das Licht aus...“

Und Keisuke schweigt.

Er kann im Dunkeln fast genauso gut sehen wie bei Licht, also ist es für ihn kein großer Unterschied.

Er kann und kann nicht einschlafen. Ein Blick auf den Radiowecker verrät ihm, dass Mitternacht schon vorbei ist. Wieso kann er nicht schlafen?

Liegt es daran, dass er sich etwas unwohl fühlt? Dass er vorher schon geschlafen hat? Oder dass er diesen großen, kaum noch zu bändigen Hunger hat, und er so dringend Blut braucht?

Jetzt fällt ihm ein, wie dumm es überhaupt war, hierhin zu kommen.

Morgen würde er direkt zur Schule gehen, ohne zu Hause vorbeizuschauen.

Das bedeutet, dass er keine Gelegenheit hat, Blut zu sich zu nehmen.

Es graust ihm schon vor dem morgigen (eigentlich heutigen) Tag, da hört er Yuris Stimme:

„Keisuke? Bist du wach?“

Seltsam, woher weiß sie das? Er hat doch gar nichts gesagt...

„Ja...“

Er hört, wie sie leise aufsteht, und sich zu ihm aufs Bett setzt.

Er öffnet die Augen und sieht sie an.

„Das Licht muss ausbleiben, aber ich weiß, dass du mich sehen kannst...“, flüstert sie;

„Ich merke, wie du ihn unterdrückst. Diesen Hunger. Aber glaube mir, es hilft dir nicht, ihn zu unterdrücken. Wenn du nicht bald etwas Blut zu dir nimmst, dann wirst du zu einer Gefahr für andere! Du könntest sogar sterben...“

Sie legt sich neben ihn, und kriecht unter die Bettdecke:

„Du darfst... Es ist schon okay, tue es einfach!“

„So einfach ist das nicht!“, entgegnet Keisuke, aber sie will nichts weiter hören:

„Es wird schon nicht so sehr wehtun, ich spende immerhin nicht zum ersten Mal mein Blut.“

Was soll er sagen? Er hat diesen unnatürlichen Hunger, diesen Appetit auf den roten Saft des Lebens, aber er will doch nicht seinen Freunden Schaden zufügen?

Es ist gefährlich für sie, denkt Keisuke, er darf es einfach nicht tun!

Weil Yuri merkt, dass er sie nicht so einfach beißen wird, legt sie sich jetzt enger an ihn, und hält ihm ihren Hals direkt vor dem Mund: „Jetzt mach schon!“

Keisuke will nicht, er will wirklich nicht, aber... Er ist so in greifbarer Nähe, er muss nur einmal kurz zubeißen, dann wird es ihm besser gehen.

Von dem einen Moment auf den anderen spürt er, wie eine unbekannte Kraft die Kontrolle über ihn bekommt, er packt Yuri mit seinen Händen und beißt mit seinen Reißzähnen in ihren Hals.

All das Blut fließt direkt in seinen Mund. Der Geschmack ist unvergleichlich, es ist viel besser, als alles, was er je gegessen oder getrunken hat, viel besser als die alten Blutkonserven!

Er hat schon das Gefühl, dass er ihr zu viel Blut abnimmt, aber er will noch nicht aufhören, nur noch ein bisschen, nur noch ein bisschen mehr. Er spürt, wie sein Körper neue Kraft gewinnt, mit jedem Schluck.

„Keisuke, es reicht, jetzt, oder?“, fragt Yuri aber Keisuke trinkt weiter.

Es ist zu gut, einfach viel zu gut. Ein ganz kleines bisschen wird er schon noch dürfen, das schadet doch niemanden...

„Keisuke!“, ruft Yuri und drückt seinen Kopf mit Gewalt zurück.

Er fühlt sich, als wäre er aus einer Art Traum erwacht.

Was ist los mit ihm? Was ist gerade genau passiert?

Er sieht, dass Yuris Oberkörper überströmt mit Blut ist, das alles aus der Wunde ihres Halses ausgetreten ist.

Das kann doch nicht alles er gewesen sein, oder? Das ist gar nicht möglich!

Yuri hebt ein Taschentuch vom Boden auf und wischt sich ihre Wunde damit ab:

„Es wird gleich aufhören, zu bluten...“, sagt sie leise.

Keisuke versteckt sich unter der Bettdecke.

Was hat er nur getan? Sie hat ihm Blut angeboten, und er hat nicht mehr aufgehört, zu saugen!

Beinahe wäre ihr etwas passiert. Das hätte Keisuke sich nicht verzeihen können.

Ein blutsaugendes Monster... Das wollte er nie werden.

Und jetzt, jetzt ist er scheinbar nichts anderes mehr.

Ihm laufen Tränen die Wangen herunter.

Er ist eine Gefahr für seine Freunde, stellt er fest.

„Weinst du?“, fragt Yuri überrascht, und sie nimmt ihm die Decke weg, aber Keisuke dreht sich sofort um.

Wie peinlich... Jetzt weint er auch noch. Er ist ein Junge, er sollte nicht weinen.

Auf einmal spürt er, wie eine Hand seinen Rücken streichelt.

Ein schönes Gefühl, denkt er.

Sie scheint ihm wirklich nicht böse zu sein, aber Keisuke muss aufpassen, dass ihm sowas nicht noch einmal passiert. Seinem Körper geht es jetzt viel besser als vorher, aber es schmerzt ihn, dass er so rücksichtslos und gierig war.

„Tut mir leid“, sagt er ruhig.

Sie gibt ihm keine Antwort, hört aber auch nicht auf, seinen Rücken zu streicheln.

„Danke, Yuri...“
 

Am nächsten Tag in der Schule läuft Shizuka voller Sorge auf die beiden zu und will wissen, ob auch alles in Ordnung ist, und was überhaupt passiert sei.

Keisuke erklärt ihr, er wäre einfach noch ein bisschen in der Stadt herumgelaufen und dann zu Yuri gegangen, worauf Shizuka sauer auf die beiden wird und in den nächsten zwei Stunden kein Wort mehr mit ihnen spricht.

Ein paar Stunden später vergisst sie es allerdings wieder.
 

Als er nach der Schule nach Hause kommt, bittet Miho ihn, kurz alleine mit ihm sprechen zu können. In der Küche fragt sie:

„Yuri hat mir erzählt, du wurdest von einem Vampir angegriffen? Bist du in Ordnung? Ich habe Shizuka nichts davon erzählt, sie weiß nur, dass du bei Yuri geschlafen hast...“

„Mach dir keine Sorgen um mich, war halb so wild“, versucht Keisuke sie zu beruhigen, und Miho nickt: „Bring dich bitte nicht unnötig in Gefahr.“

Sie verlässt die Küche wieder, und Keisuke holt sich eine Blutkonserve aus dem Eisschrank.

Es wird nicht so gut schmecken, wie das Blut dieser Nacht, aber sowas darf nie wieder passieren.

Er hat sie noch nicht geöffnet, da kommt die Katze Shya herein, sieht Keisuke und bleibt sofort stehen.

„Hallo“, begrüßt er sie, aber sie schaut ihn nur mit leuchtenden Augen an.

Unvorhersehbar gibt sie laute, heulende Geräusche von sich, das fast schon quälenden Schreien gleicht.

„Was ist los?!“, ruft Keisuke erschrocken und geht schnell ein paar Schritte auf sie zu, aber Shya rennt aus der Tür von ihm weg.

Komisch, überlegt er, bisher ist sie noch nie von ihm weggelaufen. Und was waren das für Laute?

„Hey, Keisuke, komm mal, ich brauche mal deine Hilfe!“, ertönt eine männliche Stimme aus dem Wohnzimmer.

Direkt vor dem Fernseher sitzt ein junger Mann mit braunen Haaren, der ein weites, schwarzes Shirt trägt.

Keisukes Bruder Sakito.

„Der Fernseher ist schon wieder kaputtgegangen“, ruft er.

„Und was habe ich damit zu tun?“, gähnt Keisuke.

Miho kümmert sich um den Haushalt, und wenn einmal etwas kaputtgeht, repariert es Sakito.

Helfen musste Keisuke eigentlich noch nie.

„Ja ja, ich weiß, dass du mit sowas nicht umgehen kannst...“, sagt Sakito schlecht gelaunt;

„Ich kann den mit dem Zeug was ich hier habe aber auch nicht reparieren... Gehst du mal schnell in den Supermarkt und holst mir ein paar Dinge?“

Darauf hat Keisuke wirklich gar keine Lust.

Wegen ihm ist der Fernseher ja auch nicht kaputt gegangen, er benutzt ihn so gut wie nie.

Wer schaut schon hier fern? Außer...

„Ich hole die Sachen“, sagt die plötzlich aufgetauchte Shizuka, die sich mit einer gelben Bürste ihr langes Haar kämmt.

„Danke, Shizuka“, antwortet Sakito und erhebt sich.

Er schreibt ihr ein paar Sachen auf einen Zettel und steckt ihn ihr zu.

„Hier, für das Geld musst du Miho fragen, ich habe gerade keins.“

Shizuka nickt und geht aus der Küche.

Mein Bruder sieht mich mit einer Mischung aus Wut und Enttäuschung an:

„Also ehrlich, jetzt lässt du ein Mädchen einkaufen anstatt selbst zu gehen. Du bist kein Gentleman.“

Keisuke antwortet nicht.

Shizuka hat sich nicht melden müssen, wenn sie meint, für die Reparatur einkaufen zu gehen ist das ihre Entscheidung. Außerdem ist sie die Einzige, die den Fernseher regelmäßig benutzt.

Keisuke gefallen die meisten Sendungen nämlich nicht, Miho ist mit Arbeit beschäftigt und Sakito ist zu oft außer Haus.

Trotzdem kann Keisuke nicht leugnen, dass er Schuldgefühle hat.

Sie wird schon nicht sauer sein, hofft er.

Sakito schüttelt den Kopf und setzt sich aufs Sofa:

„Man muss Frauen immer gut behandeln, Keisuke. Wenn du immer zuvorkommend bist, und gut zuhören kannst, hast du sicher auch bald eine Freundin.“

Das hasst er an meinem Bruder.

Ja, sie alle wissen, wie viele Frauen er mit seinem arroganten Charme schon rumgekriegt hat.

Das kann Keisuke ja egal sein, aber Sakito soll bitte aufhören, es ihm immer wieder auf die Nase zu binden.

Genervt geht der Vampir auf sein Zimmer.

Um sich ein wenig abzulenken, will er den Computer anschalten, aber dann bemerkt er den Zettel auf dem Schreibtisch.

Stimmt, den hat Verena ihm gegeben.

Und Keisuke hat bisher immer noch nicht dort angerufen, weil er entweder nicht daran gedacht hat, oder einfach nicht wusste worüber er mit ihnen sprechen sollte.

Er möchte sie ja auch nicht nerven.

Aber der Vorfall mit Lure, den sollte er Raito auf jeden Fall melden.

Eilig geht er mit dem Zettel wieder ins Wohnzimmer, wo sein großer Bruder immer noch rumhängt.

„Kannst du mal kurz rausgehen? Ich möchte telefonieren.“

Sakito lacht: „Hast du Geheimnisse? Ne kleine Freundin vielleicht?“

Anstatt zu antworten wirft Keisuke ihm einen wütenden Blick zu, worauf Sakito endlich rausgeht.

Keisuke nimmt den Hörer des roten Telefons und wirft schaut sich das Zifferblatt an.

Warum haben sie eigentlich kein schnurloses Telefon? Wäre viel praktischer...

Er wählt die Nummer und setzt sich.

Freizeichen. Ob überhaupt jemand zu Hause ist?

Keisuke ist ziemlich aufgeregt, aber als eine Person am anderen Ende der Leitung abnimmt, versucht er, so ruhig wie möglich zu klingen.

„Hallo, Keisuke“, grüßt Verena.

Natürlich wusste sie, dass er anrufen würde.

Der Blick in die Zukunft...

Bei dieser mächtigen Fähigkeit fragt Keisuke sich, warum Verena nicht schon zehn mal in Lotto gewonnen hat. Aber fragen will er sie danach nicht.

Immerhin ist sie kein sehr materieller Mensch, das weiß er.

„Hallo Verena. Ist Raito da? Ich muss ihm etwas erzählen...“

„Meinst du das mit Lure? Das weiß er schon, ich habe es ihm schon gesagt.“

Sie nimmt ja immer alles vorweg, denkt Keisuke.

„Kann ich trotzdem mal mit ihm sprechen?“, fragt er.

Er hört, wie sie wortlos den Hörer überreicht.

„Keisuke, was gibt es?“

Raito ist wirklich am Telefon.

Für einen kurzen Moment fehlen Keisuke die Worte, aber er fängt sich wieder:

„Hallo Raito... Ähm, wie geht’s?“

„Ich bin gerade etwas beschäftigt“, lautet seine Antwort.

„Ja, also, ich wollte dich etwas fragen. Du weißt ja, dass ich Lure in der Stadt begegnet bin. Aber warum kann sie da einfach so rumlaufen? Du hast sie und Raid damals in Desmonds Haus doch eingesammelt?“

Raito seufzt: „Raid konnte ich nur so lange festhalten, bis er aufgewacht ist. Er ist dann sofort verschwunden. Jedoch, Lure habe ich gegen ihre Freiheit ein paar wertvolle Informationen entziehen können.“

„Dann hast du sie echt freigelassen?!“, ruft Keisuke überrascht.

„Ich stehe zu meinem Wort“, antwortet Raito etwas gelangweilt.

Eigentlich ist das eine gute Eigenschaft, überlegt Keisuke, aber trotzdem freut es ihn nicht, dass die Cursers wieder Menschen töten, wie es ihnen gefällt.

„Was denn für Informationen?“, will Keisuke wissen, aber Raito sagt sofort:

„Das kann ich dir nicht übers Telefon sagen.“

„Dann sag es mir eben persönlich!“, entgegnet Keisuke.

Vertraut Raito ihm etwa nicht?

Eine Weile schweigt sein Gesprächspartner, bis er schließlich sagt:

„Dann treffen wir uns morgen Abend. Komm um 21:00 Uhr zum Springbrunnen im Park. Wir sollten möglichst nicht gesehen werden.“

Keisuke stimmt zu und Raito verabschiedet sich.

Als er aufgelegt hat, geht Keisuke auf sein Zimmer zurück.

Er legt sich ins Bett und denkt nach.

Er möchte mit Raito noch gerne über ein paar Dinge reden, aber das kann er ja dann morgen erledigen. Morgen ist Freitag, also ist es auch nicht gravierend, wenn er sich erst so spät mit ihm trifft.

Keisukes Herz schlägt schneller, wenn er an das Treffen mit Raito denkt.

Er spürt seine Aufregung und weiß, dass irgendetwas an Raito ihn fasziniert.

Schon seitdem er Keisuke zum Vampir gemacht hat.

Plötzlich springt ein braunes Tier auf Keisukes Bett.

„Shya!“, ruft er erschrocken, denn er gar nicht bemerkt, wie sie in das Zimmer geschlichen ist.

In Erwartung, sie wolle sich ins Bett kuscheln hebt Keisuke die Bettdecke etwas hoch, damit sie sich darunter legen kann, aber die Katze regt sich nicht.

Sie sieht ihn nur mit leuchtenden, gelben Augen an.

Dann fängt es wieder an, dieses schreckliche Gejaule, was sie von sich gibt, wie ein wehklagender Wolf. Aber sie ist doch eine Katze? Und warum macht sie das?

Jetzt fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Sie weiß es.

Shya spürt ganz sicher, was Keisuke diese Nacht getan hat, dass er Yuri ausgesaugt hat.

Und dass er die Kontrolle über sich verloren hat, für einen kurzen Moment zur Bestie geworden ist.

Sie weiß es... Menschen kann Keisuke vielleicht etwas verheimlichen, aber der Katze Shya nicht.
 


 

Vorschau auf Kapitel 17:
 

Ein gutes Essen, das dem Vampir nicht schmeckt.

Den Geschwistern spielt das Glück zu, oder ein getrübter Blick in die Zukunft.

Darf man kurz vor dem Ziel noch unvorsichtig werden?

Wer sich in Vorfreude verliert, wird das Ergebnis nicht zu schätzen wissen.

Kapitel 17: Verabredet

Verabredet

Verabredet
 

Als Shizuka und Keisuke nach einem anstrengenden Schultag nach Hause kommen, steht das Essen schon auf dem Tisch und Miho sitzt lächelnd daneben.

„Kommt her, es gibt Nudeln in Tomatensauce und Möhrensalat!“, ruft sie.

Shizuka rennt voller Freude auf sie zu, und setzt sich hin nachdem sie ihre Tasche abgeworfen hat.

Keisuke schaut den Salat etwas angeekelt an: „Muss ich den auch essen?“

„Nein, musst du nicht“, antwortet Miho genervt; „Aber du benimmst dich wie ein Kleinkind.“

Das ist ihm jetzt nicht weiter wichtig, er setzt sich zu den beiden und sie fangen an zu essen.

Keisuke muss regelmäßig normales Essen zu sich nehmen, damit Shizuka keinen Verdacht schöpft. Er kommt damit auch ganz gut klar, solange er nicht zu viel auf einmal isst, denn irgendwie bekommt das seinem Körper nicht mehr gut, seit er ein Vampir ist.

„Wie war es heute denn so in der Schule?“, fragt Miho interessiert.

Keisuke, der gerade erst wieder zu Hause ist, hat wirklich keine Lust, jetzt über die Schule zu reden, aber Shizuka antwortet sofort:

„Es war schön. Unsere Klasse ist eigentlich auch sehr nett. Außer die drei blonden Mädchen, die uns immer so seltsam angucken... Und wir haben in Sport ein Wettrennen gemacht. Ich war sogar schneller als Keisuke!“

Miho grinst, und Keisuke versucht, ihren Blick auszuweichen.

Man könnte annehmen, dass man als Vampir stark und athletisch ist, aber dem ist nicht so.

Früher war Keisuke immer sehr schlecht in Sport, und nun, wo er Vampir ist, ist er einfach durchschnittlich, aber immer noch keine Sportskanone.

„Wer aus eurer Klasse ist denn der Beste in Sport?“, fragt Miho.

„Weiß ich nicht“, antwortet Shizuka, während sie mit ihrer Gabel in ihren Nudeln rumstochert; „Aber die Schnellste ist auf jeden Fall Yuri. Sie hat auch das Wettrennen haushoch gewonnen.“

„Yuri?“ Miho scheint positiv überrascht zu sein: „Bei der hat Keisuke doch neulich geschlafen?“

„Ja...“, sagt Shizuka; „Die beiden kannten sich auch schon vorher. Und ich glaube, sie haben ein paar Geheimnisse vor mir.“

Miho sieht bedrückt auf ihren Teller, und Shizuka dreht sich zu Keisuke um:

„Oder nicht?“

Keisuke stammelt etwas vor sich hin, was er nicht mal selbst versteht, da wechselt Miho ruckartig das Thema:

„Ich muss euch auch etwas Wichtiges erzählen.“

Keisuke und Shizuka schauen sie gespannt an.

Ist sie etwa befördert worden? Oder was will sie sonst verkünden?

„Ich bin...“, Miho holt tief Luft; „Heute Abend mit einem Mann verabredet! Ich habe ein Date!“

Shizuka klatscht Beifall, und Keisuke will sofort von ihr wissen:

„Mit wem? Mit Desmond?“

Ihm ist schon häufiger aufgefallen, dass Miho und der Wissenschaftler sich gut verstehen, da würde es ihn nicht wundern, wenn er nun mit ihr ausgehen will.

„Nein, nicht mit ihm“, lacht Miho; „Desmond hat schon eine Freundin. Hat er dir das nie erzählt?“

Keisuke schüttelt den Kopf.

Dass ein Workaholic wie er noch Zeit für eine Freundin hat, wundert ihn auch sehr.

„Er heißt Stephan und ist ein echt netter junger Mann. Ich habe ihn heute Vormittag auf der Arbeit getroffen, er hatte ein verletztes Kaninchen dabei, dass er auf der Straße gefunden hat.“

Shizuka ist begeistert und Keisuke freut sich auch, dass Miho endlich einmal einen netten Typen trifft.

Er denkt an sein eigenes Treffen, heute Abend mit Raito.

Vorsichtshalber fragt er: „Wo habt ihr denn euer Date?“

Nicht, dass sie auch im Park verabredet sind.

„Im Restaurant 'Silver Prisma'. Stephan hat mich dahin eingeladen.“

'Silver Prisma'? Das ist ein sehr teures Restaurant.

Wenn er Miho dahin einlädt, muss er auf jeden Fall eine Menge Geld haben.

Aber Keisuke weiß, dass Miho auf so etwas keinen Wert legt. Sie sind ja selbst nicht die Reichsten.

Das Essen geht noch eine Weile weiter, da klingelt es an der Tür.

Miho springt auf, um sie aufzumachen.

„Das ist doch nicht Stephan, oder?“, fragt Shizuka leise.

„Glaube ich nicht, die sind doch erst für heute Abend verabredet“, sagt Keisuke.

Miho kommt schließlich zurück, mit Luna im Schlepptau, die die beiden Jugendlichen freundlich begrüßt.

„Ich helfe heute deiner Schwester“, lacht sie.

„Wobei?“, fragt Shizuka, und Luna sagt:

„Hat sie euch noch nicht erzählt, dass sie heute Abend ein Date hat? Ich helfe ihr, die richtigen Sachen auszusuchen.“

„Ist ja gut!“, ruft Miho und schiebt sie beiseite.

Luna ist von der Größe her die Kleinste im Raum, obwohl sie nicht jünger ist als Miho.

Neben ihrer engen, blauen Jeans fallen auch die langen Stiefel auf.

„Bist du hergeritten?“, fragt Shizuka und schaut aus dem Fenster.

„Nein, ich bin mit dem Auto gefahren“, lacht Luna und versucht, sich auf das Sofa zu setzen.

Leider verfehlt sie das Sofa und plumpst auf den Teppichboden.

Keisuke, Miho und Shizuka versuchen krampfhaft, das Lachen zu unterdrücken, woraufhin sie von Luna zornig angefunkelt werden.

„Oh, wen haben wir denn hier?“, ertönt plötzlich eine männliche Stimme.

Sakito betritt das Wohnzimmer, seine Augen auf Luna gerichtet, die gerade wieder aufstehen will.

„Komm, ich helfe dir hoch“, begrüßt Sakito sie und bietet ihr seine Hand an, aber sie nimmt sie nicht an sondern steht einfach so auf.

„Wer bist du?“, fragt sie ihn.

Sakito sieht geschockt aus: „Was, fragst du das wirklich? Ich bin Sakito, ich wohne hier! Ich bin Mihos Bruder!“

Luna sieht ihn skeptisch an: „Komisch, ich habe dich noch nie hier gesehen. Und ich bin oft hier zu Besuch.“

Miho geht einen Schritt auf die beiden zu: „Darauf wollen wir jetzt nicht näher eingehen. Sakito, Luna ist Medizinstudentin. Sie arbeitet manchmal zusammen mit mir in der Praxis.“

Shizuka entfernt sich mit den Worten: „Ich gehe mal Hausaufgaben machen...“

Ob das stimmt? Wer macht seine Hausaufgaben schon am Freitag, nach der Schule, wenn man das ganze Wochenende Zeit dafür hat? Keisuke jedenfalls nicht.

„Also ich verstehe das immer noch nicht“, sagt Sakito; „Bist du jetzt Ärztin für Menschen oder für Tiere?“

„Ich bin gar keine Ärztin!“, ruft Luna, die genervt von Sakito langsam die Fassung verliert;

„Ich bin Medizinstudentin, die bei einem Tierarzt arbeitet. Warum soll sich Medizin für Menschen und Veterinärmedizin ausschließen?!“

Sakito amüsiert es offensichtlich, Luna so zu reizen.

„Weißt du, ich habe da so einen stechenden Schmerz am Unterleib, könntest du das nicht mal bitte untersuchen?“, fragt Sakito mit einem Grinsen im Gesicht.

Das war wohl zu viel: Schnell geht Luna zum Tisch, nimmt einen Salatlöffel und fängt an, damit auf Sakito herumzuschlagen.

„Du-nervst!!! Für-dich-bin-ich-doch-gar-nicht-her-ge-kommen!“, ruft sie, während Sakito versucht, sich die Hände schützend vor den Kopf zu halten.

Irgendwie löst es eine Freude in Keisuke aus, mal zu sehen, wie sein Bruder von einer Frau verdrescht wird. Bei so einer perversen Anspielung hat er es aber auch nicht anders verdient.

Schließlich beruhigt sich die wütende Luna und legt den Löffel in die Salatschüssel zurück.

„Ich hätte echt nicht gedacht, dass dieses kleine Ding so ausrasten kann. Die ist ja gefährlich!“, nuschelt Sakito vor sich hin.

„Sie ist nicht nur gefährlich“, korrigiert ihn Miho; „Wenn sie mit Pfeil und Bogen loslegt, kann sie Menschen töten. Und anderes“, fügt sie mit einem Blick auf Keisuke hinzu, der direkt einen Schritt zurückgeht.

„Manchmal... kann ich mich einfach nicht beherrschen!“, sagt Luna lächelnd und geht aus dem Wohnzimmer; „Ich gehe schon mal in dein Zimmer.“

„Ich komme mit“, sagt Miho sofort und folgt ihr.

„Süß ist sie ja“, sagt Sakito leise, als die Frauen außer Hörweite sind.

Keisuke ignoriert die Bemerkung und läuft Miho hinterher: „Warte mal!“

Miho dreht sich um und kommt ein paar Schritte runter: „Was ist?“

Keisuke geht näher auf sie zu, damit er leise sprechen kann:

„Ich treffe heute Abend einen Freund. Ist doch okay für dich, oder?“

Miho schaut ihn skeptisch an: „Wer denn? Kenne ich ihn?“

„Nein, nein..“, antwortet der Vampir; „Aber es kann länger dauern, bis ich wieder da bin.“

Miho seufzt:

„Wenn du mir versprichst, nichts anzustellen, kannst du von mir aus gehen. Aber ruf mich an, wenn du vorhast, bis länger als zwölf Uhr wegzubleiben.“

Keisuke schaut sie überrascht an:

„Wie? Bist du denn um zwölf schon zu Hause?“

Und Miho wird rot.
 


 


 

Vorschau auf Kapitel 18:
 

Die Gelegenheit scheint dem Vampir gekommen, Fragen zu stellen.

Aber nicht jeder nimmt sich die Zeit, zu antworten.

In jeder unscheinbaren Nacht kann es zum Ende kommen, also stille er schnell seinen Durst.

Wer nicht wagt zu fragen, darf keine Antwort erwarten.

Kapitel 18: Schüsse am Brunnen

Schüsse am Brunnen

Schüsse am Brunnen
 

Es klingelt, und Miho öffnet die Tür.

Ihre Haare sind hochgesteckt, ein langes, weißes Kleid mit hellblauem Innenrand ziert ihren Körper, und sie trägt ein charmantes, nicht zu direktes Parfüm.

In der Tat sieht sie aus, als würde sie auf einen Ball gehen wollen, dabei hat sie nur ein Date.

Stephan begrüßt sie mit großen Augen: „Wow, Miho, du bist umwerfend!“

Er selbst trägt ein weißes Hemd zu einem schwarzen Anzug, aber keine Krawatte.

Keisuke und Shizuka sehen den beiden noch nach, wie sie in sein Auto steigen und wegfahren.

Luna, die immer wieder von Sakito angemacht wurde, aber ihn stets abgelehnt hat, war schließlich so genervt dass sie auch gefahren ist.

Keisuke hat eben noch etwas Blut aus einer Konserve getrunken, damit ihm so etwas wie bei Yuri nicht schon wieder passiert. Aber seine Vorräte neigen sich auch dem Ende zu, also würde er Verena bald fragen müssen, ob sie ihm wieder etwas geben könnte.

Er verabschiedet sich von der verwirrten Shizuka und macht sich auf den Weg zum Park.

Auf den Straßen begegnet er kaum Menschen, dabei ist es noch gar nicht so spät.

Gerade mal neun Uhr durch... Keisuke merkt, dass er wahrscheinlich etwas zu spät kommt.

Er biegt ab und geht eine Treppe aus Stein hinunter, und nach ein paar Minuten ist er auch schon im grünen Park von Logaly angelangt.

Nachts hierhin zu gehen ist eigentlich nie eine gute Idee, fällt Keisuke spontan ein.

Hier wurden schon ab und zu Passanten überfallen.

Er sieht sich um, kann aber bis auf einen älteren Mann, der einen Hund an der Leine führt, niemanden entdecken.

Im Park gibt es eine Abkürzung durch das Gebüsch, wenn man zum Brunnen will.

Keisuke huscht durch das Gestrüpp und kann den Brunnen schon sehen.

Eine Person lehnt an ihm, deren Gesicht aber durch eine Kapuze verhüllt ist.

Langsam geht Keisuke auf die Person zu. Er ahnt schon böses.

„Raito...?“, fragt er zurückhaltend.

Die Person nimmt die schwarze Kapuze runter und es kommt Raitos blau schimmerndes Haar zum Vorschein. Keisuke ist erleichtert.

„Setz dich doch“, sagt Raito und deutet auf den Brunnen.

Der Springbrunnen ist nur tagsüber aktiviert, also kann man nachts eigentlich auf dem breiten Rand aus Marmor Platz nehmen.

Zu Keisukes Überraschung ist er nicht nass.

Raito setzt sich ebenfalls hin, und sieht Keisuke ruhig an, ohne ihm einen Vorwurf zu machen, weil er zu spät ist.

„Hallo...“, sagt Keisuke etwas schüchtern.

Es ist das erste Mal, dass er alleine mit Raito ist, seit dem Tag, an dem er zum Vampir wurde.

Zumindest wenn man das Ereignis in Desmonds Keller außer Acht lässt, indem sich noch fünf andere Personen befanden, die allerdings alle bewusstlos waren.

Raito nickt und lächelt ihn an: „Gut, dass du gekommen bist.“

„Ich wollte unbedingt kommen“, sagt Keisuke; „Ihr meldet euch ja nicht mehr bei mir.“

Er versucht, seinen Gegenüber vorwurfsvoll anzusehen, schafft es aber nicht.

„Du willst also wissen, welche Informationen wir bekommen haben?“

Keisuke nickt: „Ich finde, ich habe ein Recht das zu erfahren.“

„Also gut“, er räuspert sich; „Erstens hat Lure uns alle Fähigkeiten aufgezählt, die Emily hat.“

Keisuke erinnert sich an Emily, der Königin der Cursers.

Sie hat die ekelhafte Fähigkeit, anderen Vampiren ihrer Kraft zu berauben.

Keisuke hat durch sie seine Fähigkeit verloren, bevor er sie auch nur einmal anwenden konnte.

„Das hätte dir Verena bestimmt auch sagen können, dafür brauchst du Lure doch nicht“, kritisiert Keisuke.

„Verena kann auch nicht alles sehen“, antwortet Raito kurz;

„Und wahrscheinlich kennt Lure auch nicht sämtliche Fähigkeiten von Emily, aber die meisten wissen wir jetzt. Auch hat Lure uns Emilys Aufenthaltsort bestätigt, aber den wird sie mittlerweile wieder gewechselt haben.“

„Was hat das gebracht?“, will der Jüngere wissen.

„Wir halten sie auf Trab, zwingen sie, sich neu zu organisieren. Dann können wir am besten angreifen.“

Plötzlich raschelt etwas im Gebüsch, und es treten drei Männer heraus.

Der Vordere, ist ein großer Mann mit schwarzen Haaren und kalten Augen.

Neben einer grauen, mit Nieten besetzten Jacke trägt er ein langes, schwarzes Gewehr in seinen Händen.

„Epheral Locover...“, bringt Keisuke leise hervor.

Die beiden Typen hinter ihm tragen Sonnenbrillen und dunkle Mäntel.

„Vampirjäger... Ihr musstet hier ja auftauchen“, sagt Raito in normaler Lautstärke.

Es kann doch nicht sein, dass dieser Epheral, der Präsident der Provitas, jetzt hier auftaucht?

Aber zugegeben, jetzt passt es Keisuke besser als zu einer anderen Zeit, denn jetzt ist Raito an seiner Seite. Da muss er sich ja keine Sorgen machen.

Auf einmal richten alle drei Männer ihre Schusswaffen auf die beiden Vampire.

„Ihr sitzt in der Falle“, lacht Epheral; „Endlich habe ich den berühmten Raito Umi gefunden und kann ihn zur Strecke bringen. Und mit dir muss ich auch noch abrechnen!“ Er schaut Keisuke wütend an.

„Du hättest mich aber seit damals die ganze Zeit töten können... Warum ausgerechnet jetzt?“

Epheral fasst sich mit der Hand an die Stirn:

„Ihr Vampire seid echt dumm... Ich habe dich gebraucht, damit du mich zu den anderen Vampiren führst. Speziell zu ihm. Ich habe euer Telefon abgehört, und als du dich mit ihm verabredet hast, habe ich beschlossen, sofort zur Stelle zu sein... Das kann ich doch nicht an mir vorbeigehen lassen!“

So ein Mist, denkt Keisuke, warum hat Verena das nicht Kommen sehen, als sie ihm die Telefonnummer gab? Wenn Raito jetzt wegen ihm sterben muss, würde er sich das nie verzeihen.

Er würde auch nicht mehr viel Zeit dafür haben.

Raito scheint Keisukes Angst zu spüren, denn er hält seine Hand schützend vor ihn.

„Naja, mir egal was ihr tut. Swift, Klaus, macht die beiden kalt!“

Die komischen, großen Männer hinter Epheral treten plötzlich vor ihn und fangen an, zu schießen.

Keisuke spürt, wie er von Raito gepackt und hinter dem Brunnen geworfen wird, wo er Deckung hat.

„Bleib da!“, ruft der Vampir, und Keisuke versucht zu sehen, was passiert.

Der Gegner schießt mit seiner Handfeuerwaffe immer weiter auf Raito, aber Raito faltet schnell die Hände zusammen, wie als wolle er beten, und ein schattenartiger, großer Vogel taucht auf,

der ihm seine Waffe wegnimmt und davonträgt.

„Was soll das?!“, ruft der Mann zornig. Epheral steht nur stumm dahinter und schaut zu, während der dritte irgendwie verschwunden zu sein scheint.

Jetzt macht Raito einen großen Sprung nach vorne, und gibt dem Fremden einen kräftigen Tritt, der daraufhin ein paar Meter weit wegfliegt.

Epheral schaut ihm nach, verzieht aber keine Miene:

„Das hast du ja gut hingekriegt. Und wie sieht's mit dem Kleinen aus?“

Für einen ganz kurzen Moment bleibt Raito wie angewurzelt stehen.

Dann dreht er sich blitzschnell zu Keisuke um.

Zu ihm? Warum zu ihm?

Plötzlich merkt er, dass jemand hinter ihm steht, und springt gerade noch rechtzeitig zur Seite.

Ein paar Schüsse fallen auf den Brunnen und reißen Löcher in den Marmor.

Keisuke fühlt sich, als wäre sein Herz stehen geblieben.

Der andere Fremde hat seine Waffe direkt auf ihn gerichtet, und Keisuke sieht sein fettes Grinsen:

„Fahr zur Hölle, du Ratte!“, ruft er, und will gerade abdrücken, da erschlafft sein Körper.

Keisuke traut seinen Augen nicht. Ein stählerner, blutgetränkter Dolch ragt dem Mann aus dem Bauch.

Hustend fällt er zu Boden und bleibt liegen.

Raito steht hinter ihm und sieht ihn hasserfüllt an.

„Swift!!!“, schreit Epheral, und rennt zu ihnen.

Raito bückt sich und zieht das Messer aus Swifts Körper heraus.

„Du hast ihn umgebracht, du Monster!“, faucht Epheral zornig.

Keisuke wirft einen Blick auf seinen toten Körper.

Er hat noch nie eine Leiche gesehen, geschweige denn, wie jemand stirbt.

War das richtig, ihn direkt umzubringen?

Keisukes Mitleid hält sich in Grenzen, aber trotzdem...

War es wirklich nötig, so weit zu gehen?

Raito hält Epheral jetzt seinen Dolch entgegen, aus dem immer noch Blut tropft.

„Wer auch immer versucht, Keisuke zu töten... Wird von mir ohne Rücksicht vernichtet!“

Der Ausdruck in Raitos verkörpert eine Mischung aus Hass, Zorn und Leidenschaft.

Bewundernd schaut Keisuke ihn an.

Dass er ohne zu Zögern sogar einen Menschen tötet, wenn es darum geht, ihm zu helfen, macht Keisuke total sprachlos. Auf ihn kann man sich verlassen, denkt er, und schaut etwas mitleidig auf den toten Mann am Boden.

Epheral richtet jetzt auch sein braunes Gewehr mit silbernem Lauf auf Raito.

Eine ganze Weile stehen sie nur da, ohne das etwas passiert.

Keisuke, der sich immer noch hinter dem Brunnen versteckt, will einfach nur, dass dieser ganze Horror schnell aufhört.

Es ist seine Schuld, dass es so weit gekommen ist, immerhin war er so naiv und hat sich von den Vampirjägern verfolgen lassen.

„Ich werde dich nicht dazu kommen lassen, deine Kraft einzusetzen“, sagt Epheral, ohne den Blick von Raito abzulassen.

Im nächsten Moment duckt Raito sich schnell nach unten, und eine Kugel von Epherals Gewehr geht ins Leere, Raito springt mit dem Dolch auf Epheral zu, aber dieser kann die Messerattacke problemlos mit seinem Gewehr parieren.

Das Geräusch, wie Metall aufeinander schlägt, ist noch einige Male zu hören.

Dann läuft Raito ein paar Meter rückwärts, und gerade als Epheral die Gelegenheit nutzen und ihn erschießen will, wirft Raito ihm seinen Dolch entgegen, sodass er zum Ausweichen gezwungen ist.

Jetzt richtet der Vampirjäger wieder entspannt sein Gewehr auf Raito:

„Dumm von dir, dass du deine Waffe weggeworfen hast. Weißt du, dass in meinem Gewehr mit Weihwasser getränkte Silbermunition ist? Wenn ich einen Vampir damit treffe, kann er sich nicht mehr bewegen. Probieren wir es doch aus!“

Und mit diesen Worten jagt Epheral Raito eine Kugel in den Körper, aber da dieser vorher noch versuchte, zur Seite auszuweichen, trifft sie ihm nur im Arm.

Raito fällt zu Boden, und hält sich den Arm unter Schmerzen fest.

„Raito!“, ruft Keisuke voller Angst.

„Bleib... da!“, knurrt Raito, und Keisuke gehorcht.

Was soll er jetzt nur machen? Wenn er nichts unternimmt, wird Raito getötet!

Aber er kann jetzt nicht da sitzen bleiben und zuschauen, er muss etwas tun, und zwar sofort.

Ohne überhaupt zu wissen, was er vorhat, steht Keisuke auf.

Epheral hat seine Waffe immer noch auf Raito gerichtet, er scheint Keisuke wohl nicht für gefährlich zu halten.

„Bitte...“, fängt der junge Vampir an; „Du darfst ihn nicht töten! Er ist... nicht böse!“

Epheral schnaubt nur: „Ihr seid alle böse, ihr Kreaturen der Nacht. Kleiner, warte bis du dran bist. Erstmal wird der Prinz beseitigt.“

Prinz?

Plötzlich ist ein lautes Geräusch zu hören, wie von einem Tier.

Epheral sieht nach oben, und der schattenartige, große Vogel stürzt sich auf ihn – mit Raitos Dolch in den Krallen.

„Nein!“, ruft Epheral erschrocken, aber der Vogel rammt ihm den blutbefleckten Dolch direkt in die Brust, woraufhin er zu Boden fällt und sich nicht mehr bewegt.

Raito, dessen Wunde immer noch sehr schlimm blutet, versucht, sich zu erheben, und Keisuke geht ein paar Schritte auf ihn zu. Er hat das Bedürfnis zu fragen: „Alles okay?“

Natürlich ist es aber offensichtlich, dass es nicht so ist. Raito atmet schwer.

Keisuke hört Sirenen, die immer näher kommen.

„Oh nein! Hat irgendwer die Polizei gerufen?!“, fragt er ängstlich.

Raito versucht, ihn zu beruhigen: „Die kommen hier mit den Autos nicht rein. Aber wir müssen in jedem Fall schnell weg. Keisuke versucht, Raito zu stützen, schafft es aber nicht lange, denn er ist zu schwer für ihn. Besser gesagt ist Keisuke zu schwach für ihn.

„Geht schon“, sagt Raito und läuft, so schnell es eben geht, durch den Park, bis sie am Westausgang sind.

„Die Polizei wird doch gleich auch hier sein?“, vermutet Keisuke.

Plötzlich biegt ein schwarzer Wagen um die Ecke und fährt in schnellen Tempo auf die beiden Vampire zu, um dann einen Meter vor ihnen anzuhalten.

Die Tür geht auf, und Keisuke sieht, dass Samuel der Fahrer ist.

Er! Er, der Shizukas Eltern ermordet hat! Warum ausgerechnet dieser Mistkerl?!

Raito bemerkt, dass Keisuke Samuel voller Groll ansieht und schiebt ihn etwas zurück:

„Steig hinten ein!“

Raito setzt sich nach vorne, auf den Beifahrersitz, und Keisuke nimmt hinten Platz, neben Verena, die auch im Wagen ist.

„Hallo“, sagt sie müde.

„Wie schnell?“, fragt Samuel und schaut in den Rückspiegel.

„Sechzig wird reichen...“, antwortet Verena und der Wagen fährt los, noch ehe Keisuke angeschnallt ist. Eine Weile sagt niemand was.

Dann entscheidet sich Keisuke, die Stille zu brechen und fragt: „Wo fahren wir hin?“

„Zu uns nach Hause“, sagt Verena lächelnd; „Du bleibst auch erstmal bei uns.“

Keisuke nickt. Er weiß nicht, was er sagen soll.

Es gibt schon wieder einige Sachen, die er Raito oder Verena fragen möchte, aber es ist ihm stark unangenehm, wenn Samuel dabei ist.

„Was macht die Wunde?“, fragt der blonde Vampir.

„Geht schon... Aber ich kann den Arm nicht bewegen“, seufzt Raito.

Keisuke bemerkt, dass Raito immer noch blutet.

„Habt ihr kein Verbandszeug im Auto?“, fragt er zurückhaltend.

„Doch, aber warum sollten wir das rausholen? Wir sind doch gleich da“, antwortet Verena; „Außerdem sind Raitos Regenerationskräfte groß genug, dass die Wunde schon verschwinden wird, wenn erstmal die Kugel draußen ist.“

Von der Kugel weiß sie also auch. Keisuke beneidet Verena ein bisschen um ihre Fähigkeit.

Der Wagen hält. „Wir sind da“, sagt Samuel und steigt aus.

Alle anderen tun es ihm gleich.

Die Vampire stehen vor einem normalen, weißem Haus, umgeben von Wald.

Sie gehen den gepflasterten Weg entlang zur Haustür aus Glas.

„Hier wohnt ihr also?“, flüstert Keisuke zu Verena und diese nickt.

Raito kramt einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und lässt die anderen damit rein.

„Erstmal Raitos Wunde versorgen. Wir müssen die Kugel rausholen. Kommt mit in sein Zimmer“, erklärt Verena. Keisuke wagt nicht, zu widersprechen und geht die morsche Holztreppe hoch.

Er folgt den anderen durch den finsteren, und nicht sehr sauberen Flur in einen großen Raum mit dunkelrotem Teppich. Hier und da findet man Spinnweben und umgestoßene Flaschen und Gläser.

Raitos und Verenas Heim ist nicht so majestätisch und schön, wie Keisuke es sich vorgestellt hat.

Die Seherin

Die Seherin
 

Nachdem Raito sich in das ordentliche, aber auch staubige Bett legt, beugt Samuel sich über ihn und krempelt ihm den Ärmel hoch.

„So schlimm ist es jetzt nicht...“, sagt Raito schnell, aber Samuel winkt ab;

„Die Wunde ist viel größer, als sie sein dürfte. Dieser Vampirjäger muss die Kugel mit Weihwasser kombiniert haben!“

Verena schlägt sich die Hand vor dem Mund und stößt einen erschrockenen Laut aus. So eine Reaktion ist nun wirklich ungewöhnlich für sie. Er sieht sie fragend an.

„Weihwasser ist wie Gift für Vampire! Es ist so schon gefährlich, damit in Berührung zu kommen, aber Raito hat eine tiefe Wunde, so dass es direkt in den Körper gelangt!“

Sie hat Tränen in den Augen stehen, und auch Samuel sieht besorgt aus.

Was ist denn auf einmal los? Eben waren sie noch alle zuversichtlich, das alles gut wird!

Der Schuss wird Raito doch nicht töten können, Weihwasser hin oder her, er wurde nur in den Arm getroffen! Verzweifelt blickt Keisuke abwechselnd zu Raito, Samuel und Verena.

„Ist schon gut, ihr müsst euch nicht so aufregen“, sagt Raito und hält sich die blutende Wunde fest.

„Ich werde jetzt die Kugel rausholen“, entschließt Samuel, und schickt Keisuke und Verena raus, denn da müssten sie nicht zuschauen.

Die beiden jüngeren Vampire warten also im Wohnzimmer, in dem die Luft sehr stickig ist.

„Ich hole was zu trinken...“, sagt Verena und geht in die Küche.

Keisuke ist sich sicher, dass Raito wieder gesund wird. Er muss einfach wieder gesund werden...

Er bemerkt ein Bild mit Silberrahmen, das an der schmutzigen Wand hängt.

Zwei Personen sind abgebildet. Bei näherer Betrachtung stellt Keisuke fest, dass es wohl ein Hochzeitsfoto ist, denn die Frau trägt ein weißes, langes Kleid und der Mann einen schwarzen Anzug. Das Paar umarmt sich und sieht sehr glücklich aus.

Wer die wohl sind, fragt sich Keisuke.

Er überlegt, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, das von zerfetzten Gardinen „geziert“ wird, aber lieber setzt er sich wieder hin.

Kurze Zeit später kommt Verena aus der Küche, mit zwei Teetassen in den Händen.

Tee? Sie serviert in so einer Situation Tee?

Keisuke schaut sie ungläubig an, und sie überreicht ihm stumm eine Tasse.

Er blickt hinein und bemerkt, dass sie mit Blut gefüllt ist.

„Ich trinke es gerne aus Tassen, dann kann ich mir einreden, dass es nur Tee ist, und nicht Blut, das einem Menschen entzogen wurde“, seufzt Verena.

Keisuke hat ein bisschen Mitleid mit ihr, und nimmt einen Schluck.

Es schmeckt fast genau so, wie die Konserven die er zu Hause hat, nur ist es wärmer.

Da fällt Keisuke ein, dass er Verena nach neuem Blut fragen wollte, aber die Gelegenheit erscheint ihm ziemlich unpassend, denn das Mädchen starrt nur total besorgt in ihre Tasse.

Sie hat sich ihm gegenüber gesetzt, so dass er sie ansehen kann, aber sie schaut nur nach unten.

Wie soll er sie aufmuntern? Sie kennt doch die Zukunft, kann Keisuke ihr denn etwas sagen, was sie nicht weiß? Aber Moment mal, wenn sie die Zukunft kennt...

„Verena...“, fragt Keisuke zurückhaltend; „Raito wird doch wieder gesund, oder?“

Sie vergräbt ihr Gesicht in den Händen: „Ich weiß es nicht! Ich kann es nicht sehen, ich kann nichts sehen...“

Keisuke spürt, dass es an der Zeit für ihn ist, irgendwas zu tun.

Er stellt die Tasse auf den Tisch und ergreift Verenas Hand, und hält sie sanft fest.

Sie schaut ihn an, ihre Augen sind mit Tränen gefüllt.

Keisuke hat keine Ahnung, ob es hilft, ihre Hand zu halten, aber jetzt nur da zu sitzen wäre falsch.

Verena schluchzt: „Ohne ihn... Wenn ihm etwas passiert, wenn er stirbt... Ohne ihn kann ich gar nichts, ohne ihn bin ich gar nicht...“

Sie kriegt keine ganzen Sätze zusammen.

„Keine Sorge“, versucht Keisuke sie zu beruhigen, obwohl er selbst besorgt ist;

„Ich bin mir sicher, dass er wieder gesund wird. Samuel... macht das schon.“

Verena wirkt nicht überzeugt. Leise spricht sie:

„Ich brauche Raito... Er versucht mir zu helfen, damit ich wieder ein Mensch werden kann.“

Keisuke weiß, dass Verena sich in einen Menschen zurückverwandeln möchte, das hat sie ihm schon mehrmals erzählt. Auch, dass sie Raitos Hilfe dafür braucht.

„Weißt du... Ich will wirklich kein Vampir mehr sein. Nicht nur, weil sie das Blut der Menschen trinken...“

Keisuke schaut sie fragend an, sagt aber nichts.

„Du weißt, dass du als Vampir zum Beispiel nicht an Altersschwäche oder Krankheiten sterben kannst, oder?“

Keisuke nickt. Aber das spricht doch eher für ein Leben als Vampir, anstatt dagegen?

Verena seufzt: „Der Gedanke, in diesem Sinne unsterblich zu sein, mag sich zuerst verlockend anhören. Aber das ist er nicht. Es ist schrecklich. Wir werden nie älter. Wir werden für ewig Jugendliche bleiben. Ich wünsche mir so sehr, dass ich wenigstens so alt gewesen wäre wie du, als Raito mich verwandelt hat.“

Sie hat nicht Unrecht. Keisuke ist 16, aber älter wird er nie werden. Zumindest nicht äußerlich.

Es ist keine so starke Belastung für ihn, aber er versteht, dass Verena, die körperlich etwas jünger ist als er, verbittert ist, dass sie sich nicht weiter entwickeln kann.

„Außerdem... Ich will diese Kraft nicht mehr haben. Als Mensch habe ich keine Kräfte, aber diese Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, ist ein Fluch!“

Keisuke versteht nicht genau, was sie damit meint:

„Heißt das, du weißt schon, dass du kein Mensch mehr wirst?“

Verena schüttelt den Kopf: „Was das angeht, weiß ich fast gar nichts...“

Er bemerkt, dass er immer noch ihre Hand hält.

Anstatt sie loszulassen, hält er sie noch ein bisschen fester:

„Verena, falls Raito... sterben sollte... Ich verspreche dir, ich werde dir helfen, wieder ein Mensch zu werden!“ Voller Entschlossenheit lächelt er sie an.

„Danke“, bringt sie hervor, und schon wieder glitzern Tränen in ihren Augen.

Keisuke weiß, dass er sie jetzt umarmen würde, wenn der Tisch nicht zwischen ihnen wäre.

Er fühlt sich aus irgendeinem Grund stärker als sonst.

Als hätte er was, wofür er kämpfen muss... Wenn Raito diese Sache nicht überleben sollte.

Verena lässt seine Hand los reibt sich die Augen:

„Keisuke... Hast du auch einen Menschen ausgesaugt?“

Was, wieso fragt sie das denn jetzt?

Er sieht sie stumm an.

„Ich kann es spüren. Ich spüre, wie sich deine Aura seit unserem letzten Treffen verändert hat.“

Also weiß sie davon. Dass er Yuri ausgesaugt hat,

Aber sie lebt noch, sie hat ihm ihr Blut sogar freiwillig angeboten.

Nur warum muss ausgerechnet Verena davon wissen... Sie ist doch die einzige, die sich so verhält wie Keisuke, sie trinkt nie direkt von einem Menschen.

„Tut mir leid“, sagt Keisuke bedrückt; „Es ließ sich nicht vermeiden...“

Eigentlich ist das eine Lüge, es hätte sich sehr wohl vermeiden lassen können.

Bestimmt hätte er es geschafft, noch einen Tag ohne Blut auszukommen, selbst wenn es qualvoll gewesen wäre.

Verena schüttelt den Kopf: „Ist schon in Ordnung. Ich bin glücklich, dass es nur einmal passiert ist, und dass du dir solche Mühe gibst. Du musst wissen, ich habe auch einmal jemanden ausgesaugt.“

Keisuke schaut sie überrascht an, damit hat er nicht gerechnet.

Sie war immer so strikt dagegen, da konnte er sich sowas gar nicht vorstellen.

„Ich habe nicht viel getrunken, damals, und ich habe ihn nicht getötet. Auch du, du darfst nie jemanden töten, Keisuke, ja?“

Sie sieht ihn ernst an.

„Ja...“, antwortet Keisuke leise.

Er hat ja nicht vorgehabt, jemanden umzubringen, aber was, wenn er sich in Lebensgefahr befindet? Und seinen Gegner zu töten, der einzige Ausweg ist um zu überleben?

Keisuke verwirft diese Gedanken wieder.

Dazu wird es wahrscheinlich nie kommen, also warum sollte er sich einen Kopf darum machen?

Sie sitzen eine ganze Weile da und schweigen.

Verena hat sich wieder beruhigt, ihre Augen sind trocken und sie starrt in ihre Tasse, aus der sie erst einen einzigen Schluck getrunken hat.

Keisukes Tasse ist dagegen schon leer.

Er weiß, dass sie sich große Sorgen um Raito macht, ihm geht es ebenso.

Und dass Samuel immer noch nicht aus dem Zimmer gekommen ist, kann auch nichts Gutes bedeuten. Keisukes Hand verkrampft sich in seiner Jeanshose.

Diese Vampirjäger waren echt gefährlich. Auch wenn sie am Schluss besiegt werden konnten, haben sie trotzdem Keisuke beobachtet und verfolgt um an Raito heranzukommen.

Sollte er jetzt sterben... Dann wäre es Keisukes Schuld.

Er sieht zu Verena.

Muss es ihr nicht genauso gehen?

Offensichtlich wusste sie, dass er verletzt werden würde, nur das Ausmaß war ihr unbekannt.

Wahrscheinlich gibt sie sich auch die Schuld daran, dass es so weit gekommen ist.

Sie atmet tief aus und nimmt ihre Tasse wieder, jedoch hält sie inne, bevor sie ihre Lippen berührt.

Was hat sie denn auf einmal?

Ihr ganzer Körper ist starr und mit angsterfülltem Blick scheint sie ins Leere zu schauen.

„Verena?“, fragt Keisuke vorsichtig.

Sie antwortet nicht.

Er kann kaum vermuten, was nicht stimmt, da fällt ihr die Tasse aus der Hand und zerbricht mit lautem Klirren auf dem Boden.

Verena springt auf, nimmt Keisukes Hand und zieht ihn mit sich.

„Was... Was ist los?!“, fragt Keisuke geschockt.

Ihr Verhalten macht ihm irgendwie Angst.

Ist ihr etwas wichtiges eingefallen? Oder hat sie etwas gesehen?

Als sie die Treppe hochlaufen, lässt sie seine Hand los: „Komm mit!“, ruft sie panisch.

Er folgt ihr in Raitos Zimmer, in das sie ohne zu klopfen eindringt.

„Was ist?“, fragt der genervte Samuel, der einen weißen Verband um Raitos Arm wickelt.

Dieser schaut Verena stumm an.

Keisukes Blick fällt auf das Bett, dessen grauer Bezug voller Blut ist.

„Sie kommen“, sagt Verena, nun wieder etwas ruhiger; „Die Cursers kommen hierher.“

„Was sagst du da?!“, ruft Samuel aufgebracht; „Das ist unmöglich, wie sollen sie von diesem Haus wissen? Raitos Aura kann man nicht aufspüren, und unsere auch nicht, wenn wir in seiner Nähe sind!“

Verena nickt schnell, beharrt aber trotzdem auf ihrer Vision.

„Vielleicht hast du dich ja geirrt?“, mischt sich Keisuke ins Gespräch ein.

„Das Risiko können wir nicht eingehen“, sagt Raito und versucht, aufzustehen, doch er fällt fast sofort aufs Bett zurück; „Verdammt...“

Die anderen drei Vampire sehen ihn voller Mitleid an, und Raito schließt die Augen, um sich zu konzentrieren.

„Ist schon gut, bleib liegen“, lächelt Samuel.

Entschlossen geht der blonde Vampir zur Tür:

„Wenn sie reinkommen, werde ich ihnen einen warmen Empfang bereiten.“

Keisuke zweifelt daran, ob er es alleine mit den Cursers aufnehmen kann.

Verena fragt besorgt: „Und wenn Raid sich direkt hier rein teleportiert?“

„Versuch, es herauszufinden!“, drängt Samuel sie.

Daraufhin schließt sie die Augen und alle sind still, um ihre Konzentration nicht zu stören.

Doch schon nach einigen Sekunden öffnet sie die Augen wieder und seufzt:

„Es klappt nicht. Ich kann nichts sehen... Gar nichts...“

Samuel nickt und wendet sich wieder Raito zu:

„Kannst du ein Schattenwesen beschwören, das uns hilft?“

Aber Raito schüttelt den Kopf:

„Dafür reicht meine Kraft nicht... Wir sind auf das eine angewiesen, das immer hier ist.“

Er streckt die linke Hand aus und murmelt etwas, was keiner versteht, zumindest Keisuke nicht.

Plötzlich taucht ein großer, schwarzer Schatten auf, der wie ein Wolf aussieht.

Zuerst erschrickt Keisuke, als das Schattenwesen einfach aus dem Boden kommt, aber er fängt sich schnell wieder, weil er weiß, dass diese Tiere auf Raitos und somit auch auf seiner Seite stehen.

„Der bleibt bei dir“, entschließt Samuel kurz und Raito stimmt nickend zu.

Unerwartet ist ein lautes Geräusch von unten zu hören, als wäre etwas explodiert.

„Die Haustüre...“, flüstert Verena.

Samuel nickt den anderen zu: „Ich gehe.“

Das schafft der doch niemals alleine, der hat doch schon gegen Raid alt ausgesehen.

Und wer weiß, welche und wie viele Cursers jetzt angreifen?

„Ich helfe dir!“, sagt Keisuke ängstlich, aber dennoch entschlossen.

Er will jetzt nicht nutzlos sein, sondern irgendetwas machen, um Raito zu helfen.

„Du? Du kannst doch gar nichts!“, knurrt Samuel sauer.

Eigentlich hat er recht, aber... Keisuke möchte es zumindest versuchen.

„Ist schon gut“, sagt Raito; „Wenn er mitkämpfen will, dann lasst ihn. Keisuke, in der untersten Schublade dort vorne ist ein Dolch. Ich schenke ihn dir.“

Ist das sein Ernst? Raito schenkt ihm eine Waffe?

Keisuke weiß, dass er sie brauchen wird, und die Zeit drängt.

Er huscht hinüber zur Kommode und öffnet die unterste Schublade.

Neben ein paar Leinentüchern findet er das Messer und nimmt es heraus.

Die Waffe ist für einen Dolch ganz schön lang, die messerscharfe Klinge schimmert silbern und der Griff ist perlenbesetzt. Das Teil scheint ganz schön wertvoll zu sein.

„Jetzt los!“, hetzt Samuel, aber Verena wirft ein: „Wartet, ich komme auch mit!“

„Nein, bleib hier“, antwortet der Blonde kurz.

„Aber...“, fängt Verena an, wird aber prompt von Samuel unterbrochen:

„Jemand muss bei Raito bleiben!“

Damit meint er wohl, jemand außer dem großen Wolf, der in der Ecke des Schlafzimmers hockt.

Jetzt reißt Samuel die Tür auf und rennt schnell nach unten, Keisuke folgt ihm, kann aber nicht so schnell laufen, weil seine Furcht ihn etwas zurückhält.

Die beiden rennen ins Wohnzimmer, und sehen, dass die Haustür scheinbar weggesprengt wurde, zumindest klafft dort jetzt ein großes Loch.

Auf dem Sofa sitzen zwei Personen, eine davon ist Frau mit langen, grauen Haaren und roten Augen, die ein altmodisches schwarzes Kleid trägt. Emily Halo.

Die Königin der Cursers.

Oh nein, warum nur ausgerechnet diese Frau.

Diejenige, die Keisukes Fähigkeit gestohlen hat, die sich unsagbar viele Fähigkeiten angeeignet hat.

Er hat im Stillen gehofft, nicht auf sie zu treffen.

Sie lacht laut auf, als sie Keisuke und Samuel entdeckt und erhebt sich.

„Ist das alles? Ich habe euch so viel Zeit gegeben, euch vorzubereiten, und dann kommt nur ihr zwei Unwürdigen? So eine Verschwendung von Zeit.“

Samuel funkelt sie zornig an, ohne etwas zu sagen, und sie spricht weiter:

„Und wenn ich das sage, hat es besonderes Gewicht. Immerhin bin ich unsterblich.“

Sie wendet sich an die andere Person: „Nicht wahr, Sense?“

Keisukes Blick fällt auf den immer noch sitzenden Jungen neben Emily.

Er muss noch ganz jung sein, bestimmt nicht älter als elf, und trotzdem identifizieren ihn seine silbergrauen Haare und roten Augen eindeutig als Vampir.

Er nickt der Königin zu, und Emily kichert.

„Ist er nicht süß? Wir haben es ihm zu verdanken, dass ich euch gefunden habe...“

Also ist der Kleine ein Curser?

Keisuke ist geschockt. Seit wann benutzen die Curser denn Kinder?

„Also hat er die Kraft, Vampire aufzuspüren?“, vermutet er laut.

„Selbst wenn!“, ruft Samuel sauer; „Raitos Aura schützt ihn und die Vampire ihn seiner Nähe vor dieser Art von Lokalisation!“

Über die Aussage kann Emily nur gähnen:

„Kann ja alles sein... Aber wir haben euch gefunden, oder nicht? Raito hat keine Kraft mehr, der Vampirjäger hat ihn so schwer verletzt, dass er sich erst regenerieren muss. Und wir haben die Zeit genutzt...“

Sie streichelt Sense den Kopf: „Warte draußen auf mich, Kind. Ich bin gleich hier fertig.“

Sense nickt und geht gemütlich durch das riesige Loch in der Wand nach draußen, bis er hinter einem Baum verschwindet.

„Und jetzt zu euch...“, sagt Emily grinsend; „Von euch will ich eigentlich nichts. Aber ich kann wohl nicht davon ausgehen, dass ihr mich vorbeilasst, damit ich oben Raito umbringen kann?“

„Richtig geraten!“, ruft Samuel höhnisch, und erst jetzt sieht Keisuke, dass er eiserne Krallen an den Händen trägt. Das ist also seine Waffe... Aber wann hat er sie angezogen?

Keisuke hat nicht mal mehr Zeit, darüber nachzudenken, da stürzt sich Samuel schon brüllend auf Emily, die ihm ihre Hände entgegenhält.

Samuel duckt sich und greift mit seinen Metallklauen ihren Unterkörper an, aber es ist, als würde ihr schwarzes Gewand den Angriff abfedern, und nur das Kleid zerfetzt werden.

Emily bleibt unverletzt und fängt an zu lachen: „Also SO einfach ist das jetzt nicht!“

Sie versetzt ihm einen harten Schlag auf den Kopf, sodass Samuel hinfällt und liegenbleibt.

Das kann doch nicht sein, denkt Keisuke, das ist doch nicht wahr.

Sie hat ihn durch einen Schlag mit bloßer Hand besiegt!

Und Emily ist nun nicht gerade eine muskulöse Frau.

„Oh, so ein Mist. Mein schönes Kleid.“ Sie sieht seufzend an sich hinunter, bevor sie sich Keisuke zuwendet und ihn überlegen anlächelt.

Nein... Er hat keine Chance gegen sie...

Sie ist VIEL stärker... Was soll er nur machen?

Wieder ertönt ihre boshafte Stimme:

„Du hast zwar eine Waffe in der Hand, aber du machst nicht den Eindruck, als würdest du mich ernsthaft aufhalten wollen.“

Sie geht einfach an ihm vorbei. Als wäre er nicht da.

Aber Moment mal...

Wenn er sie jetzt da hochgehen lässt, dann ist er wirklich nicht da!

Dann ist er für Raito nicht da!

Er muss etwas unternehmen...

Emily ist inzwischen schon auf den Weg die Treppe hoch, als Keisuke sich umdreht und sie verfolgt. Dieser fällt das aber erst im Flur des Obergeschosses auf.

„Oh, hast du es dir anders überlegt?“, fragt sie gelangweilt.

„Ja... Töte mich doch, wenn du willst!“, schreit Keisuke und merkt, wie ihm die Tränen in die Augen steigen; „Aber vorher wirst du nicht zu Raito kommen!“

Ihm ist jetzt alles egal.

Wenn sie ihn jetzt umbringt, dann ist er wenigstens sinnvoll gestorben, und konnte doch noch von Nutzen sein.

Emily, sichtlich unbeeindruckt von Keisukes Worten, fängt einfach an zu lachen:

„Du bist es nicht mal wert, von mir getötet zu werden!“

Sie richtet ihre Hände auf Keisuke, und bevor dieser weiß, was er jetzt am besten macht, fühlt er, wie sich etwas um seinen Körper schlingt.

Schattenhafte Bänder, dick wie stahl, umfassen seine Arme, seine Beine, und seinen Brustkorb.

Er fällt zu Boden.

„Was hast du mit mir gemacht?“, fragt er verzweifelt.

Unfähig sich zu bewegen liegt er da, das Atmen fällt ihm schwer.

Die schwarzen Schlingen hindern ihn an jeder Aktion.

Was macht sie jetzt? Wird sie ihn jetzt töten? Wahrscheinlich nicht...

Lachend öffnet sie die Tür zu Raitos Schlafzimmer.

„Nein!“, keucht Keisuke.

Jetzt ist es zu spät... Keisuke kann vom Flur aus sehen, was im Schlafzimmer passiert.

Der schattenartige Wolf springt Emily an, aber sie zerfetzt ihn kurzerhand in der Luft, und der Schatten löst sich auf.

Nein! Wie kann das sein? Nur der Wolf hätte Raito beschützen können...

Jetzt steht er ganz alleine da.

„Tja, mein Lieber...“, flüstert sie; „Irgendwann ist es eben vorbei...“

Das darf nicht sein... Keisuke versucht vergeblich, sich zu befreien.

Emily ist über Raito gebeugt und hält seine Hände fest:

„Du wirst dir kein Helferlein mehr beschwören... Dein Leben ist nun zu Ende.“

Ein lauter Knall, offensichtlich ist die Kommode umgestoßen worden.

„Du hast MICH vergessen!“, ruft eine ziemlich zornige Verena.

Emily schaut sie überrascht an: „Du? Die Kleine Hellseherin? Hau ab, Mädel, hier spielen Erwachsene!“

Verena macht ein paar Schritte auf Emily zu, und bei jedem Schritt scheint die Erde zu erzittern.

Ihre blutroten Augen leuchten hell und sie schreit: „WEG VON RAITO!!!“

Emily grinst und richtet ihre Hände auf Verena, wie sie es bei Keisuke gemacht hat, aber Verena ist schneller: Sie schlägt Emilys Hände einfach runter bevor diese ihre Kraft einsetzen kann.

„Du wagst es!“, faucht Emily und zieht eine scharfe Nadelpfeile aus ihrem Kleid, mit dem sie anfängt, auf Verena einzustechen, aber diese kann absolut jeder Attacke ausweichen.

Das ist also die wahre Kraft der Seherin, überlegt Keisuke, sie sieht jeden Angriff ihres Gegners voraus und kann sich dementsprechend dagegen verteidigen.

Schließlich schafft Emily es trotzdem, Verena bis an die Wand zurückzudrängen.

Gerade holt sie aus, um mit der Nadelpfeile anzugreifen, da hält Verena prompt ihre Hand fest.

Ihre Hände zittern, sie atmet schwer.

Und dann gibt Verena ihr mit der anderen Hand eine schallende Ohrfeige, die scheinbar so stark ist, dass Emily zu Boden fällt.

Wow, denkt Keisuke, er hätte nie vermutet, dass sie so stark ist.

Er merkt, wie sich seine Schlingen lösen.

Zuerst nimmt er an, dass es daran liegt, dass Emily besiegt wurde, aber nein, Samuel ist hinter ihm aufgetaucht und entfesselt ihn.

Keisuke bedankt sich und steht auf.

Verena läuft zu Raito, der immer noch auf dem Bett liegt und sich gerade noch bei Bewusstsein halten kann.

„Bist du in Ordnung? Hat sie dir etwas getan?“, fragt sie voller Sorge.

Raito schüttelt den Kopf: „Danke... Du hast dich für mich eingesetzt.“

Keisuke schaut glücklich zu Samuel, der beruhigt seufzt:

„Tja, jetzt müssen wir noch schauen, was wir mit der... Nein, Verena, VORSICHT!!!“

Keisuke dreht sich blitzschnell wieder um und sieht, dass Emily wieder aufgestanden ist, hinter Verena steht, und sie gerade mit der Nadelpfeile durchbohrt hat.

„NEIIIIN!!!“, schreit Keisuke und will zu ihr laufen, doch Samuel hält ihn fest.

„Nein, lass mich los!“

Verena steht immer noch vor Raitos Bett, und wird wieder und wieder von Emilys Waffe durchstochen.

Keuchend fällt Verena auf das Bett, das Blut fließt aus all ihren Wunden.

Nicht, denkt Keisuke, irgendwer muss ihr doch helfen!

Er weiß nicht, was er machen soll. Samuel hält ihn mit aller Kraft fest.

Sie beugt sich mit letzter Kraft über Raito und flüstert ihm etwas ins Ohr.

Emily steht schwer atmend dahinter und sieht die beiden hasserfüllt an.

Raito nickt Verena zu, und streichelt ihren Kopf, ihr silbernes Haar.

Sanft legt sie ihren Kopf in seinen Schoß.

„Das geschieht dir recht!“, krächzt Emily und bückt sich, damit sie mit einer kleinen Explosion ein Loch in den Boden schießen und dadurch verschwinden kann.

Erst jetzt lässt Samuel Keisuke los, und dieser rennt ungehindert zu Verena.

„Verena! Verena! Was ist los, wach auf!“, ruft er voller Verzweiflung.

Raito legt seine Hand, die bis jetzt Verenas Kopf gestreichelt hat, auf Keisukes Hand:

„Sie ist tot, Keisuke.“

Mihos Schwur

Mihos Schwur
 

„Was sollte das?! Warum hast du mich festgehalten???“, schreit Keisuke Samuel wutentbrannt an.

„Du hättest sie auch nicht retten können“, erwidert dieser abfällig; „Wahrscheinlich wärst du auch noch getötet worden.“

Raito ist in der Zwischenzeit aufgestanden um sich einen neuen Verband umzulegen.

Verena, deren lebloser Körper auf dem Bett liegt, wurde mit der Bettdecke verhüllt.

Das ist ganz gut so, denn ihren toten Anblick kann Keisuke kaum ertragen.

„Warum habt ihr nichts gemacht?!“, ruft er verzweifelt;

„Ihr hättet diese verrückte Frau bestimmt aufhalten können!“

Samuel schüttelt den Kopf: „Bis ich da gewesen wäre, wäre es auch zu spät gewesen. Und von Raito kannst du mit seiner Verletzung auch nichts erwarten.“

Keisuke schaut ihn zornig an: „Ihr habt es nicht einmal versucht!“

Raito macht einen Schritt auf ihn zu: „Keisuke, beruhige dich jetzt.“

Diese Aufforderung macht ihn noch wütender:

„Seid ihr eigentlich verrückt?! Verena ist tot, verdammt nochmal, habt ihr das nicht begriffen, oder seid ihr so kaltherzig, dass es euch einfach egal ist?!“

Ohne damit zu rechnen fühlt Keisuke Raitos flache Hand auf seiner Wange, und Keisuke zuckt erschrocken zurück. Raito hat ihm eine Ohrfeige gegeben.

Keisuke wartet nicht, bis der Schmerz verschwindet, sondern sieht Raito direkt in die Augen und merkt, dass sie mit Verachtung und Zorn gefüllt sind.

„Behaupte das nie wieder...“, flüstert er mit herrschender Stimme.

Schon wieder laufen Keisuke Tränen die Wangen herunter, wie schon so oft am heutigen Tag, und er nickt stumm.

Samuel, der sich die Szene ruhig angesehen hat, fragt Raito halbwegs besorgt, wie es seiner Wunde gehe.

„Das ist jetzt nicht weiter von Belang, ich bin nicht mehr in Lebensgefahr“, antwortet er und bindet den Verband weiter um seinen Arm.

Keisuke will einfach raus hier, er will alleine sein.

Wen interessiert es jetzt, was die anderen denken, er geht.

Ohne den beiden Vampiren noch einen Blick zuzuwerfen verlässt er den Raum.

Er läuft durch das Wohnzimmer, in dem immer noch die Scherben von Verenas fallengelassender Tasse auf den Boden herumliegen.

Nur weg, einfach nur weg...

Als er draußen ist hat er keine Ahnung, wo er hingehen soll, immerhin kennt er diese Umgebung nicht. Schließlich entscheidet er kurzerhand, einfach die Straße entlangzugehen, ist doch egal, wo er am Ende auskommt.

Die Nacht ist sehr ruhig. Es fahren so gut wie keine Autos, und die meisten Menschen schlafen wohl schon.

Keisuke kann die Ruhe der Nacht nicht genießen, denn seine Gedanken sind immer noch bei Verena.

Was für einen brutalen Tod sie sterben musste...

Warum ausgerechnet sie?

Sie wollte niemals jemandem etwas böses, im Gegenteil, sie war stets nett und hat sich sogar geweigert, Menschen auszusaugen.

Sie hätte Emily mit der Nadelpfeile töten können, als diese am Boden lag, aber sie hat es nicht getan. Das hätte sie nie getan, erstmal war ihr wichtig, dass es Raito gut geht.

Ob Verena wohl in Raito verliebt war?

Keisuke bereut, dass er keine Taschentücher dabei hat, aber wenigstens ist niemand auf den Straßen, der ihn weinen sehen könnte.

Er hat sich mit Verena immer so verbunden gefühlt, dass ihm beim Gedanken, sie nie wieder zu sehen, übel wird.

Sie wollte nur wieder ein Mensch werden, sie wollte dieses untote Leben überhaupt nicht.

Nur erwachsen werden, ein glückliches Leben führen, und dann sterben.

Das ist alles, was sie wollte!

Diese Frau... Emily... Keisuke spürt, wie wieder Wut in ihm aufkommt.

Dafür wird er sie töten. Er wird sie dafür büßen lassen, ihr einen qualvollen Tod bescheren.

Er hasst sie! Sie ist ein Untier, eine Bestie, die man auslöschen sollte, bevor sie noch mehr Unheil anrichtet. Sie wird seine Rache zu spüren bekommen.

Im nächsten Moment erinnert er sich an das Versprechen, das er Verena gegeben hat, nie jemanden zu töten. Das wäre das letzte, was sie gewollt hätte.

Keisuke fällt mitten auf der Straße auf die Knie.

Wie konnte er an sowas nur denken? Er wird sein Versprechen niemals brechen.

Jedoch kann er den tiefen Hass, den er Emily Halo gegenüber bringt, nicht leugnen.

Plötzlich hört Keisuke, wie ein Auto mit voller Kraft bremst.

„Hey, du Idiot! Was sitzt du mitten auf der Straße?!“, ruft der Autofahrer aus dem Wagen.

Keisuke sieht sich um.

Er hat gar nicht bemerkt, dass er in den letzten Minuten nur auf der Straße gelaufen ist, als wäre es der Weg für die Fußgänger.

Er steht auf und wischt sich die Tränen aus den Augen.

„Keisuke?!“

Die Tür des Autos öffnet sich, und ein junger Mann mit blonden Haaren und Brille kommt heraus.

„Hallo Desmond“, sagt Keisuke leise und versucht zu lächeln.

Der Wissenschaftler schaut ihn skeptisch an:

„Es geht mich zwar nichts an, aber trotzdem würde mich interessieren, was du hier suchst?“

Er wundert sich bestimmt, Keisuke hier zu treffen, aber dieser kann jetzt nicht die Kraft aufbringen, ihm von all den Dingen, die heute passiert sind, zu erzählen. Und erst recht nicht von ihr...

Eigentlich will er einfach nur seine Ruhe, alleine sein.

Aber wenn er Desmond schon mal zufällig hier trifft...

„Fährst du mich nach Hause?“, fragt Keisuke ihn.

Desmond schnaubt: „Warum sollte ich? Ich weiß nicht mal, was du hier eigentlich machst.“

„Das ist eine lange Geschichte...“, antwortet Keisuke mit zittriger Stimme.

Lächelnd rückt der Wissenschaftler seine Brille zurecht, dann setzt er sich wieder in das Auto.

„Steig ein!“, ruft er Keisuke zu.
 

Die Fahrt verläuft soweit sehr ruhig.

Desmond erzählt Keisuke, dass er immer diesen Weg entlang fährt, wenn er von seinem Labor nach Hause will. Er hat wieder bis in die tiefe Nacht dort gearbeitet und war gerade auf dem Weg nach Hause. Interessiert versucht er, Keisuke darüber auszufragen, was er denn da gemacht habe, aber dieser weicht ihm immer wieder aus.

„Ich erzähle es dir später, nicht heute...“, sagt er traurig.

Einige Minuten später sind sie schon bei Keisukes Haus angekommen.

Er bedankt sich bei Desmond und steigt aus.

Bei Betrachten des Hauses fällt ihm auf, dass alle Lichter aus sind, also werden Sakito, Shizuka und Miho wohl schon schlafen.

Wie spät ist es überhaupt? Keisuke hat sein Zeitgefühl vollkommen verloren.

Er schließt die Tür auf und läuft geradewegs hoch in sein Zimmer, in sein Bett.

Dieser Abend hätte so schön werden können...

Ob er jemals wieder einen schönen Abend haben wird?

Nach vielen unruhigen, verzweifelten Gedanken schläft er schließlich ein.
 

Den Samstag verbringt Keisuke alleine in seinem Zimmer.

Er will jetzt niemanden sehen, deswegen verhält er sich Shizuka und seinen Geschwistern gegenüber abweisend. Miho hat ihn auch nicht gefragt, wann er diese Nacht nach Hause kam, denn anscheinend ist sie selbst bis in die tiefe Nacht weg gewesen und kam todmüde zurück.

Keisuke macht sich keine weiteren Gedanken darüber.

Still arbeitet er an seinen Hausaufgaben. Mathe.

Keisuke hasst Mathe, aber er will diese Qualen jetzt möglichst schnell hinter sich bringen.

Und wenigstens kann er die Hausaufgaben nutzen, um sich abzulenken.

Etwas Zeit vergeht, und ein Klopfen an der Tür unterbricht Keisukes nicht vorhandene Konzentration: „Kann ich reinkommen?“

Ohne seine Antwort abzuwarten wird die Tür geöffnet, und Miho kommt hinein.

In ihrer Hand hält sie ein hohes Glas voll mit Blut.

Keisuke schaut sie fragend an.

„Du sieht nicht gut aus...“, sagt Miho fürsorglich; „Wann hast du das letzte Mal was getrunken?“

Gestern, überlegt Keisuke, das letzte Blut, was er getrunken hat, hat Verena ihm gebracht.

In der Teetasse...

„Stell's dahin...“, erwidert er schlicht und zeigt auf den Schreibtisch.

Miho nickt, stellt das Glas hin und geht wieder.

Sie scheint zu ahnen, dass etwas mit ihm nicht stimmt, aber mit ihr kann Keisuke nicht darüber reden. Sie weiß ja noch nicht mal was von den Cursers...

Etwas angewidert betrachtet er das Blut im Glas.

Er nimmt es in die Hand und nimmt einen Schluck.

Ja... Wir Vampire sind schon ekelhaft, denkt sich Keisuke traurig.

Gestärkt durch die Kraft des Blutes beschließt er, sich wieder an seinen Hausaufgaben zu versuchen, aber schon ein paar Minuten später stört Miho ihn schon wieder.

„Was ist denn jetzt schon wieder?“, fährt Keisuke sie genervt an.

„Es ist jemand für dich am Telefon“, antwortet sie gleichgültig, und geht wieder.

Das war ja komisch, denkt er.

Vielleicht hätte er nicht so grob sein sollen...

Aber er kann sich ja später auch noch entschuldigen. Wer ist wohl am Telefon?

Eigentlich möchte er mit niemandem sprechen, aber ihn würde schon interessieren, wer schon Keisuke anruft? So viele Freunde hat er ja nicht. Yuri vielleicht?

Er läuft die Treppe hinunter bis ins Wohnzimmer, das glücklicherweise leer ist.

Keisuke geht zum Telefon und nimmt den Hörer ab: „Hallo?“

„Keisuke, bist du alleine?“ Es ist Samuels Stimme.

Warum ruft ausgerechnet er ihn an? Ob etwas passiert ist?

„Ähm, ja...“, sagt Keisuke unsicher; „Was ist denn...?“

„Keine Sorge, das Telefon wird nicht abgehört. Ich habe das schon nachprüfen lassen. Raito hat mich darum gebeten, dich anzurufen, und dich zu informieren.“

„Aha...“, erwidert Keisuke gelangweilt.

Ihm ist ziemlich egal, was es jetzt schon wieder für Neuigkeiten gibt.

Wenn es Verena nicht zurückbringt, interessiert es ihn nicht.

„Raito musste sich ein neues Versteck suchen, jetzt, da das alte von den Cursers gefunden wurde. Ich habe ihm angeboten, in meinem Haus zu wohnen, aber das will er nicht.“

„Warum nicht?“, fragt Keisuke.

Samuel räuspert sich: „Geht dich eigentlich nichts an, aber wenn du meinst, es unbedingt wissen zu müssen... Er verträgt sich nicht sonderlich gut mit meiner Familie.“

Also wohnt er bei seiner Familie? Keisuke bohrt nicht weiter.

„Morgen ist Verenas Beerdigung. Raito möchte, dass du auch kommst.“

Jetzt wird Keisuke aber hellhörig: Verenas Beerdigung?

„Sie ist doch erst gestern gestorben! Und schon morgen beerdigt?“, fragt er erstaunt.

Samuel lacht leise: „Ja, das haben wir meinen Fähigkeiten zu verdanken. Menschen sind so leicht zu manipulieren, nicht zu glauben.“

In diesem Moment wird Samuel ihm immer unsympathischer, aber Keisuke sagt nichts.

„Also, morgen früh um zehn Uhr. Der St. Johanna Friedhof.“

„Und wo genau?“, fragt Keisuke, aber Samuel hat schon aufgelegt.

So ein Blödmann, aber da kann man jetzt nichts machen.

Er fragt Miho nach dem Stadtplan.

„Was willst du damit?“, möchte sie wissen.

„Ich suche den St. Johanna Friedhof. Das ist nicht der, wo auch Mama und Papa liegen, oder?“

Miho schüttelt den Kopf: „Nein, ihr Friedhof ist der andere. Aber was willst du da?“

Jetzt hätte Keisuke sich irgendeine Lüge, eine Ausrede einfallen lassen können, aber er hat es satt, das alles geheimzuhalten: „Miho, kannst du dir kurz Zeit für mich nehmen?“

Sie stimmt zu und nimmt sich eine Tasse Kaffee.

Im Wohnzimmer setzt sie sich mit ihrem Bruder auf das Sofa und schaut ihn besorgt an:

„Also, was ist los?“

Und dann fängt Keisuke an, ihr von den Cursers zu erzählen, und davon, was damals auf Shizukas Party in Wirklichkeit passiert ist. Er erzählt ihr, dass er den Mörder ihrer Eltern sogar persönlich kennt, und er spricht über Raito und Verena. Auch daraus, dass er von Vampirjägern fast getötet worden wäre, macht er kein Geheimnis mehr.

Kurz gesagt erzählt er ihr alles.

Miho starrt ihn entsetzt an: „Du treibst doch Witze mit mir, oder?“

Keisuke schüttelt den Kopf: „Wenn du mir nicht glaubst, frag Desmond und Luna. Die können dir das meiste davon bestätigen.“

„Keisuke!“ Miho steht auf:

„Sag mir, warum du mir das verschwiegen hast? Du wärst doch beinahe umgekommen!“

Er schweigt. Er wollte ihr einfach keine Sorgen bereiten, sie steht immer so unter Stress, da hätte sie das nicht auch noch gebrauchen können.

Sie packt ihren Bruder am Arm: „Bitte, hör mir mal zu. Wir haben unsere Eltern verloren. Ich habe mir geschworen, mich um euch zu kümmern, für euch da zu sein, damit wir ein normales Leben führen können, so normal, wie es eben geht. Wir sind doch schon auf den besten Weg dahin. Aber dann möchte ich, dass du mir sowas erzählst... Du vertraust mir doch?“

Keisuke nickt schuldbewusst.

„Du hast ja auch nicht gezögert, mir zu sagen, dass du ein Vampir bist, oder?“

Sie lächelt wieder und geht zum Telefon.

„Was machst du?“, fragt der immer noch auf dem Sofa sitzende Keisuke.

Miho nimmt den Hörer in die Hand: „Ich rufe Desmond an. Wir haben nicht einmal eine Alarmanlage. Vielleicht bringt er uns eine gute an.“ Sie wählt die Nummer.

Keisuke fragt zweifelnd: „Können wir uns überhaupt eine Alarmanlage leisten? Und ich weiß auch nicht, ob sie etwas bringen würde...“

„Das mit dem Geld lass mal meine Sorge sein“, antwortet Miho gleichgültig; „Außerdem ist es besser, als nichts zu tun...“

Sie lässt sich nicht weiter von ihrem Bruder ablenken und fängt ein Telefongespräch mit Desmond an. Keisuke fühlt sich etwas besser, nachdem er ihr alles erzählt hat.

Da er von Mihos Gespräch nur die Hälfte mitbekommt, wartet er geduldig, bis sie fertig ist.

Seufzend legt sie auf.

„Und?“, fragt der jüngere Bruder erwartungsvoll.

„Er installiert uns morgen nachmittag eine Alarmanlage. Ich habe ihn auch noch gefragt, ob er dich morgen früh zum St. Johanna Friedhof bringt, aber da hat er abgelehnt. Er ist ja soooo beschäftigt.“

„Und wie soll ich jetzt dahin kommen?“, fragt Keisuke bedrückt.

„Zu Fuß gehen würde ich nicht, dafür ist er zu weit weg. Logaly ist eben eine Großstadt...“, überlegt Miho laut; „Luna können wir auch nicht fragen, Sonntags kümmert sie sich immer um ihr Pferd. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als ein Taxi zu bestellen.“

Und ein weiteres Mal nimmt Miho den Hörer in die Hand.

Keisuke reicht ihr das Telefonbuch aus dem kleinen Schrank, damit Miho darin die Nummer eines Taxiunternehmens nachschlagen kann. „Um zehn Uhr muss ich da sein“, bittet Keisuke.

Der Mann am Friedhofstor

Der Mann am Friedhofstor
 

Im Flur schaut Keisuke prüfend in den Spiegel. Einen Anzug besitzt er nicht, deswegen hat er ein schwarzes Hemd zu einer schwarzen Hose angezogen, und dabei die schwarzen Schuhe, die er sonst auch immer trägt.

„Kommst du endlich?“, fragt Sakito genervt, der schon an der Haustür wartet.

Miho konnte kein Taxi bestellen, da am Sonntag alle Angestellten des Unternehmens frei haben.

Dazu kommt, dass der einzige Bus, der in diese Richtung fährt, sonntags frühestens um 12:00 Uhr kommt, also ist das auch keine Alternative.

Die einzige Möglichkeit war es also für seine Schwester, Sakito zu bitten, ihn auf seinem Motorrad mitzunehmen. Etwas, das Sakito allgemein nur sehr ungern tut. Das Motorrad ist sein ein und alles.

Keisuke verlässt langsam das Haus und geht mit seinem Bruder zum Motorrad, das in der kleinen Einfahrt steht. Sakito setzt sich darauf, und Keisuke gesellt sich hinter ihm dazu.

Nachdem sein großer Bruder seinen Helm angezogen hat, saust er los.
 

Die Fahrt auf dem Motorrad, mehr als zwanzig Minuten lang, hat Keisukes Haare total zerstrubbelt, als sie ankommen. Sakito stellt sich mit der Maschine weit links vor das Friedhofstor.

„Kommst du nicht mit?“, fragt Keisuke, der gerade losgehen wollte, verwirrt.

Sakito schüttelt den Kopf: „Beerdigungen sind nicht so mein Ding, ich warte hier auf dich. Aber beeile dich besser, ich glaube, du kommst zu spät.“

Keisuke läuft, ohne vorher nach der genauen Uhrzeit zu fragen durch das Tor und dann über den riesigen Friedhof immer weiter geradeaus, bis er an eine Stelle kommt, wo sich der Weg in drei Richtungen gabelt.

Hätte Samuel nicht etwas präziser sein können? Er will die Beerdigung auf keinen Fall verpassen.

Aber Keisuke war bisher noch nie auf dem St. Johanna Friedhof, und hat Probleme sich zurecht zu finden. Wahllos läuft er weiter geradeaus.

Aber nirgendwo ist ein Mensch zu sehen, niemand der ein Grab pflegt, den Rasen mäht, oder einen verstorbenen Verwandten besucht. Nach gut fünf Minuten dämmert es ihm, dass er wohl in die falsche Richtung gelaufen ist, und beeilt sich zurück zum Ausgangspunkt, diesmal geht er nach rechts und läuft immer weiter.

Nach ein paar Minuten sind Stimmen zu hören, denen Keisuke folgt.

Es kommen ihm einige Leute entgegen, manche unterhalten sich, andere schweigen und sehen bedrückt zu Boden.

Keisuke läuft an ihnen vorbei, immer weiter dahin, wo die Menschenmenge hergekommen ist.

Schließlich sieht er es: Eine tiefe Grube, in der ein Sarg liegt, der mausgraue Grabstein bereits dahinter platziert, auf dem in heller, silberner Schrift steht: „Verena Engels“

Es sind nur noch ein paar Leute anwesend. Keisuke hat die Beerdigung wohl verpasst.

Wie konnte ihm das passieren? Aber noch ist es nicht ganz vorbei, immerhin wurde die Grube noch nicht zugeschaufelt.

Keisuke sieht sich nach Raito und Samuel um, kann aber keinen von beiden finden.

Ihm fällt ein Paar auf, das ganz nah am Grab steht.

Eine Menge weiße Lilien liegen zu ihren Füßen – der Blumenstrauß muss einem der beiden hinunter gefallen sein.

Die Frau hat weinend ihr Gesicht in den Händen vergraben und der Mann hält sie schwer atmend im Arm. Irgendwo hat Keisuke diese beiden schon einmal gesehen...

Da fällt es ihm wieder ein: „Die beiden waren auf dem Foto in Raitos Versteck...“, flüstert er.

„Es sind ihre Eltern“, sagt eine Männerstimme hinter ihm.

Erschrocken dreht Keisuke sich um, Raito steht lächelnd hinter ihm.

„Aber... Ich dachte, ihre Eltern haben sie verstoßen...?“, fragt Keisuke, während er das leidende Paar verwundert ansieht.

„Mein Versteck, das ist das Miethaus von Verenas Eltern. Das dort, sind Herr und Frau Engels. Sie...“ Raitos Hände ballen sich zu Fäusten; „Sie haben ihre Tochter immer geliebt.“

Keisuke weiß nicht, was Raito meint.

Haben ihre Eltern sie in Wahrheit aus tiefsten Herzen geliebt?

Würden sie ihre Tochter jetzt, nach ihrem Tod, auch als Vampir, wieder zurücknehmen?

Keisuke entschließt, sein Beileid auszusprechen, und geht zu den beiden hin.

Die Mutter scheint ihn nicht zu bemerken und weint einfach weiter, während der Vater Keisuke traurig anschaut.

Wie schön muss es sein, wenn man Eltern hat, die um einen weinen...

Keisuke kennt das nur umgekehrt, von sich, Miho, Sakito und Shizuka.

Er entscheidet sich aber, diese Gedanken jetzt zu verwerfen, und streckt dem Paar seine Hand aus.

„Mein... aufrichtiges Beileid...“, sagt er leise, und versucht zu lächeln.

Der Vater nickt nur, und seine Frau öffnet die Augen.

Sie sieht Keisuke mit Tränen in den Augen, aber dennoch ruhig an.

„Du bist... auch einer...“, haucht sie und klammert sich noch fester an ihren Mann, der Keisuke daraufhin verachtend ansieht.

„Entschuldigung!“, ruft Keisuke und will zurück zu Raito laufen, der aber mittlerweile nicht mehr da ist. Stattdessen setzt er sich einige Meter entfernt an einen Baum.

Ob man Verena wohl irgendwie zurückholen kann? Das wäre so toll...

Aber Keisuke kann, selbst wenn er seine Fähigkeit von Emily wiedererlangen würde, nur Menschen wieder zum Leben erwecken. Gibt es keine andere Möglichkeit?

Er grübelt eine Weile...

Aber selbst wenn es irgendwie gehen würde, würde Verena das überhaupt wollen?

Sie wollte nichts weniger, als ein Vampir sein.

Vielleicht wollte sie ja sterben...

Keisuke steht nach einer Zeit auf und beschließt, wieder zu gehen, Sakito wartet schon mehr als eine Stunde. Er schlendert über den grünen Friedhof und versucht, den frischen Duft der vielen Blumen zu genießen.

Als er das Friedhofstor sieht, bemerkt er, dass ein Mann davor steht.

Es ist Verenas Vater. Keisuke nickt ihm zu und möchte an ihm vorbeigehen, aber er packt ihn am Arm und hält ihn fest: „Warte bitte.“

Keisuke hält inne und sieht ihn fragend an.

„Du...“ Der Mann lässt den Arm los und holt tief Luft: „Ich wollte mich für unsere abweisende Reaktion dir gegenüber entschuldigen. Es war nett von dir, dein Beileid zu bekunden.“

Keisuke antwortet nicht.

„Meine Frau... verachtet euch Wesen jetzt noch mehr. Aber ich glaube, das ist falsch. Dieser ganze Hass muss doch irgendwann enden! Ich will nicht, dass Verena umsonst gestorben ist...“

Keisuke schaut ihn dankbar an. Er scheint wirklich kein schlechter Mensch zu sein.

„Du warst mit ihr befreundet, oder?“, fragt er Keisuke.

Dieser ist leicht verwirrt: „Woher wissen Sie das?“

Verenas Vater lächelt nun: „Ich habe sie gesehen. Deine Tränen.“

Keisuke berührt seine Augen. Sie sind trocken, vertrocknet um genau zu sein.

Er hat also geweint, ohne es selbst zu merken?
 

Im Haus der Valleys sucht Shizuka währenddessen die Katze.

„Miho? Hast du Shya gesehen?“ Miho, die gerade das Mittagessen vorbereitet, schüttelt nur den Kopf, ohne aufzusehen. „Wo könnte sie sein?“, fragt Shizuka besorgt und setzt sich hin.

„Sie hat sich bestimmt nur irgendwo versteckt...“, vermutet Miho und schaltet den Herd an.

„Was möchtest du denn von ihr?“

„Gar nichts!“, antwortet Shizuka schnell; „Aber mir ist aufgefallen, dass sie das Futter, das ich ihr gestern Abend hingestellt habe, noch nicht gefressen hat.“

„Hmm...“ Miho zieht eine Augenbraue hoch; „Wir suchen sie nach dem Essen, einverstanden? Ich hoffe, Keisuke und Sakito sind bis dahin wieder da.“

„Wo sind die beiden denn?“

Miho hält kurz inne, und erwidert nervös: „Ähm, in einem Freizeitpark...“

„Was? Und warum nehmen sie mich nicht mit?“, fragt Shizuka entsetzt.

Miho zuckt mit den Schultern. Es gefällt ihr gar nicht, dass sie Shizuka anlügen muss, aber es ist Keisukes Entscheidung gewesen, ihr alles zu verheimlichen.

Da wird Miho wohl mitspielen müssen, ob sie will oder nicht. Und auch wenn sie weiß, dass es falsch ist.

Man hört, wie die Haustür aufgeschlossen wird, und Sakito kommt mit Keisuke im Schlepptau ins Haus.

„Mann, diese Beerdigung hat ja ewig gedauert!“, schimpft Sakito.

„Beerdigung?“ Shizuka macht große Augen.

„Ähm, 'Beerdigung', das ist eine Attraktion in diesem Vergnügungspark!“, ruft Miho schnell.

Shizuka seufzt: „Achso...“

Keisuke will hoch in sein Zimmer, aber Shizuka fängt ihn vor der Treppe ab und fragt:

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum ihr mich nicht mitgenommen habt? Habe ich irgendwas falsch gemacht?“

Er antwortet: „Nein, hast du nicht, beim, ähm, nächsten Mal nehmen wir dich mit, okay?“

Shizuka nickt betrübt, und Keisuke rennt hoch in sein Zimmer.

Er wirft seine Schuhe in eine Ecke und legt sich auf das Bett.

Eine Weile versucht er an nichts zu denken, und genießt die Ruhe.

Er hört die Stimmen von Miho und Sakito unten, Shizuka kann er aber nicht hören.

Nur herumliegen und entspannen... Endlich mal wieder abschalten.

Nach zehn, zwanzig, oder dreißig Minuten klopft es an der Tür und Miho kommt rein:

„Essen ist fertig!“

Keisuke, der bei seiner Ruhe gestört wurde, erwidert gelassen: „Du weißt doch genau, dass ich nichts essen muss... Sag den anderen, ich habe keinen Hunger.“

Miho seufzt: „Hm... Ist vielleicht besser so... Ich muss dich um etwas bitten.“

„Ja?“ „Könntest du morgen Abend irgendetwas mit Shizuka unternehmen? Könnt ihr irgendwas machen, sodass ihr nicht hier seid?“

Keisuke blickt sie fragend an, und Miho errötet leicht: „Ich habe Stephan morgen Abend zum Dinner eingeladen... Sakito ist ja sowieso meistens weg, aber Shizuka und du...“

Keisuke muss sich ein Grinsen verkneifen: „Ich habe schon verstanden. Aber hast du vielleicht eine Idee, was ich mit ihr machen könnte?“

Miho sieht selbst überfragt aus: „Ähm, geht doch ins Kino oder ins Einkaufszentrum, euch fällt schon etwas ein. Es ist mir nur wichtig, dass ihr von acht Uhr bis zehn Uhr weg seid. Geht das?“

Keisuke nickt. Er hat sowieso nichts vorgehabt, also würde es für ihn kein Problem darstellen.

„Gut...“ Miho sieht erleichtert aus:

„Das muss ich auch noch Shizuka sagen... Ich glaube aber nicht, dass sie etwas dagegen hat.“

Sie will das Zimmer gerade wieder verlassen, aber da ruft Keisuke noch schnell: „Miho!“

Sie dreht sich um.

„Gefällt dir dieser Stephan?“

Sie wird leicht rot, aber nickt lächelnd, bevor sie endgültig rausgeht.

Keisuke merkt, dass auch er lächelt.

Er freut sich wirklich für seine Schwester, niemand hat es mehr verdient, glücklich zu sein, als sie.

Etwas deprimiert muss er an Verena denken, die nie die Gelegenheit hatte, einen Partner zu finden, mit dem sie glücklich werden konnte.

Ihr wurde diese Möglichkeit genommen, ihr wurde ihr Leben genommen...

Dieses stechende, schmerzende Gefühl in seiner Brust, etwas verloren zu haben, was nie wieder kehren wird.

Wird es je aufhören? Wird es besser?

Keisuke seufzt. Er will endlich an etwas anderes denken!

An etwas, das nicht so weh tut.

Der perfekte Abend

Der perfekte Abend
 

„So, ich bin fertig.“ Desmond packt sein Werkzeug zurück in seinen Beutel.

Die Alarmanlage hat er bei der Haustür installiert.

„Vielen Dank“, sagt Miho, die ihm gerade ein Glas Wasser gebracht hat.

Desmond trinkt das Glas leer, und sie lobt ihn: „Du hast das ja unglaublich schnell geschafft.“

Er lacht: „Wenn man es einmal verstanden hat, ist es sehr einfach. All diese Drähte und Schaltkreise, die für andere so komplex wirken – sind ein Klacks für mich.“ Er rückt seine Brille zurecht.

„Hm, dann kommen wir jetzt wohl zur Bezahlung... Wie viel war das noch gleich?“

Miho ist nervös. Desmond schaut ihr kurz in die Augen und zuckt grinsend mit den Schultern:

„Weißt du was, Miho, vergiss es, es ist dieses mal gratis. Nur dieses eine Mal“, fügt er hinzu.

Dass Desmond eine Gelegenheit auslässt, Geld zu verdienen, macht Miho stutzig.

Überrascht will sie wissen: „Aber... Bist du sicher? Bist du irgendwie an viel Geld gekommen?“

„Früher oder später sicherlich, aber eigentlich habe ich nur gute Laune!“, antwortet er.

„Darf ich wissen, wie das kommt?“, fragt Miho höflich, aber interessiert.

Desmond nickt: „Morgen besucht mich meine Freundin nach langer Zeit mal wieder!“

„Oh, herzlichen Glückwunsch. Sie wohnt in Kanada, wenn ich mich richtig erinnere...“

„Ja“ Desmond strahlt; „Morgen mittag wird sie hier sein, ich hole sie am Flughafen ab. Und dann bleibt sie eine Woche und wohnt bei mir.“

Da kommt Miho eine Idee.

„Das ist ja toll, habt ihr auch schon Ideen, was ihr machen wollt?“

„Ähm, nicht direkt, vielleicht gehe ich mit ihr ins Elektronik-Museum.“

Miho kann sich nicht vorstellen, dass sich dafür wirklich eine Frau interessieren würde, aber sie möchte darüber jetzt auch nicht nachdenken. Stattdessen fragt sie:

„Ähm, ja, schöne Idee, ich meinte aber, vielleicht eher etwas Romantisches? Da würde sie sich bestimmt drüber freuen.“

Desmonds Lächeln erstirbt sogleich: „Romantisch?“

Er schaut Miho an, als hätte sie einen unheilbringenden Fluch ausgesprochen.

„Romantik ist nichts, wofür man Geld ausgeben sollte. Wir können genauso gut in eine Imbissbude gehen, da gibt es das Essen schneller und billiger. Auch wenn es ungesund ist.“

Enttäuscht schaut sie ihn an: „Meinst du das ernst? Was sagt deine Freundin dazu?“

Desmond seufzt: „Ach Miho, ich habe grundsätzlich ja nichts dagegen. Aber ich will eben kein Geld dafür ausgeben, das ist doch nachvollziehbar.“

Miho lächelt: „Wenn nur das dein Problem ist... Ich mache einen Vorschlag. Morgen Abend gebe ich um acht Uhr ein Dinner, eigentlich war es nur für mich und Stephan gedacht, aber warum kommen du und deine Freundin nicht auch, und wir essen zu viert?“

Gespannt wartet sie auf seine Antwort.

„Hm, okay, ich seh' das einfach als Bezahlung für die Installation der Alarmanlage“, lächelt er; „Natürlich frage ich meine Freundin vorher noch. Aber grundsätzlich gerne.“

Miho freut sich über seine Zusage.

Ein Doppel-Date, das hat sie sich schon erträumt, seit sie klein war.

Und schon morgen Abend wird sie eins haben! Nicht zu glauben...
 

„Ich weiß nicht, woran es liegt, aber eure Hausaufgaben sind alle falsch!“, ruft Herr Umbala, der Mathematiklehrer, entsetzt: „Ich schreibe den richtigen Weg, an die Lösungen der Gleichungen zu kommen, nochmal an die Tafel. Bitte übertragt es in euer Heft.“

Keisuke gähnt. Es ist bereits die dritte Stunde, aber er ist immer noch müde. Shizuka, die neben ihm sitzt, sieht dagegen aus wie das blühende Leben.

Während alle von der Tafel abschreiben, fragt er sie:

„Hast du schon eine Idee, was wir machen wollen? Wir dürfen den ganzen Abend nicht zu Hause sein.“

Shizuka überlegt kurz: „Ich würde sagen, wir gehen in die Stadt, shoppen ein bisschen, oder ins Einkaufszentrum. Was sagst du dazu?“

Von der Idee hält er nichts, denn mit Shizuka shoppen zu gehen wäre wohl für jeden Jungen eine Höllenqual. Sie lässt nie ein Geschäft aus, und auch wenn sie schon vorher weiß, dass sie nichts kaufen wird, geht sie trotzdem rein und schaut sich alles stundenlang an.

Darauf kann Keisuke wirklich verzichten.

„Worüber redet ihr?“, mischt sich Yuri in das Gespräch ein.

Das rotäugige Fuchsmädchen sitzt auch neben Keisuke.

Dieser antwortet: „Meine Schwester hat ein Date, deswegen dürfen wir heute von acht bis zehn nicht zu Hause sein und müssen uns eine Beschäftigung solange suchen.“

Yuri lächelt: „Dann kommt doch zu mir ins Café 'Lexy'! Das hat sogar noch länger auf.“

Keisuke und Shizuka schauen sich an. Die Vorstellung, zwei Stunden lang in einem Café voller Senioren zu hocken scheint beiden nicht sehr zu gefallen.

Erstmal einigen sie sich darauf, noch weiter zu überlegen, was sie machen könnten.

Bis ihnen in der fünften Stunde die Entscheidung abgenommen wird.

Herr Oaking, der alte Geschichtslehrer, möchte, dass die Schüler sich in Gruppen zusammentun und etwas über bestimmte Personen in Erfahrung bringen.

„Ihr drei hier vorne“, sagt er, und deutet auf Shizuka, Keisuke und Yuri;

„Ihr recherchiert über Franklin Delano Roosevelt, verstanden? Ihr seid dann morgen die erste Gruppe, die vorträgt.“

Widerwillig stimmen die drei zu.

In der Pause schlägt Yuri vor: „Also gehen wir in die Bibliothek?“

Keisuke seufzt: „Wir könnten doch auch im Internet nachschauen.“

Yuri schüttelt den Kopf: „Bis morgen? Ganz bestimmt nicht! Denk daran, dass ich meinen Eltern nach der Schule noch im Café helfe. Wenn du unbedingt willst, kannst du ja heute nachmittag im Internet gucken, oder wir recherchieren heute Abend in der Bibliothek zusammen!“

Keisuke sieht das ein. Sie verabreden sich um halb acht im Café 'Lexy', um von dort aus zur Bibliothek zu gehen.
 

Jetzt ist es sieben Uhr, und Miho hat den Tisch bereits fertig gedeckt, vier Teller und eine dunkelrote, glatte Tischdecke darunter.

In der Mitte des Tisches steht eine gläserne Blumenvase, gefüllt mit roten Rosen, und drumherum vier Kerzen, ebenfalls rot.

Miho selbst hat ihre Haare obligatorisch zusammengebunden, damit sie sie nicht bei der Arbeit in der Küche stören. Weder das Essen, noch sie selbst sind fertig, und es ist nur noch eine Stunde Zeit!

„Miho, warum hetzt du so?“, fragt Keisuke, der gerade seine Schultasche gepackt hat, die er gleich mitnehmen will.

„Das letzte Dinner was ich gegeben habe war eine totale Katastrophe!“, ruft Miho gestresst;

„Luna war schon eine halbe Stunde da, bevor ich das Essen fertig hatte! Und dann ist es auch noch angebrannt!“

Keisuke unterdrückt ein Lachen.

„Was macht ihr denn gleich?“, fragt Miho beiläufig, während sie ein Soufflé in den Ofen schiebt.

„Wir gehen in die Bibliothek und machen etwas für die Schule.“

Miho dreht sich um.

„Oh“, sagt sie verwundert; „Ihr geht wohl in die Lilienfeld-Bibliothek?“

Keisuke versteht nicht, was sie damit meint, eigentlich wollten sie ja in die Stadtbücherei gehen.

„Die Lilienfeld-Bibliothek ist die einzige Bücherei in der Stadt, die so spät noch geöffnet ist. Sie schließt glaube ich erst um Mitternacht.“

Keisuke fragt Miho vorsichtshalber, wie man da hinkommt, und sie erklärt ihm den Weg.

„Achja“, sagt Miho noch; „Bitte pass auf dich auf, wenn du so spät noch draußen unterwegs bist.“

Er versichert ihr, dass er Acht geben wird, und schon ein paar Minuten später gehen er und Shizuka los. Miho sieht den beiden noch nach und arbeitet danach weiter am Dessert.

Nach gut einer halben Stunde ist sie mit der Vorspeise und dem Dessert fertig, und das Hauptgericht muss nur noch in den Backofen.

Miho nimmt das Soufflé heraus und stellt das Lamm rein.

Jetzt sollte sie sich langsam beeilen, sich für das Essen fertigzumachen, und sie läuft ins Badezimmer. Nachdem sie zehn Minuten geduscht hat, trocknet sie sich ab und föhnt und kämmt ihre Haare. Dann zieht sie das hellblaue Abendkleid an, das sie sich vorher zurecht gelegt hat.

Ein Blick in den Spiegel verrät ihr, dass sie fast fertig ist. Auf Lidschatten verzichtet sie, dafür trägt sie leichtes Make up auf, um einen helleren Teint zu bekommen.

Jetzt fehlt nur noch der richtige Lippenstift.

Welchen soll sie nehmen...? Hellrot, blassrosa oder blutrot?

Hellrot passt eigentlich immer, blassrosa wirkt nicht so aufdringlich und blutrot lässt sie erfahrener aussehen. Also, welchen soll sie nehmen, welchen?

Sie hat sich noch nicht entschieden, da klingelt es an der Tür.

Oh nein, entweder ist das Stephan oder es ist Desmond mit seiner Freundin...

Hektisch verlässt Miho das Badezimmer um die Haustür zu öffnen – ohne sich für einen Lippenstift entschieden zu haben.

Sie macht die Tür auf und vor ihr steht Desmond, in Begleitung einer Frau.

„Guten Abend“, grüßt Miho und schüttelt den Beiden die Hand.

Desmonds Freundin hat dunkelrote, fast braune Haare, braune Augen und trägt ein schwarzes, enges Kleid. Sie ist sehr schlank und hübsch, aber ihr Blick ist eher genervt als freundlich.

Desmond trägt einen simplen, dunklen Anzug über einem weißen Hemd und eine dunkelblaue Krawatte.

„Darf ich meine Freundin vorstellen?“, fragt der Herr fröhlich, aber seine Begleiterin erledigt das schon alleine: „Ich bin Shou Cassel.“

„Schön, dich kennenzulernen, Shou. Ich bin Miho.“

Sie führt die Gäste ins Haus und nimmt ihre Mäntel an sich, die sie schnell im Flur aufhängt.

„Nehmt doch schon im Wohnzimmer Platz! Der Tisch ist gedeckt!“, ruft sie, und läuft ins Badezimmer, um die schmutzige Wäsche, die immer noch dort liegt, zügig nach oben zu bringen.

Was für einen Eindruck würde das machen, wenn die beiden hier auf Toilette gehen wollen, überlegt sich Miho.

Sie geht wieder hinunter, und gerade will sie das Wohnzimmer betreten, da hält sie inne, weil sie hört, dass Shou gerade ihren Namen gesagt hat. Reden sie etwa schon über sie?

Miho entschließt, an der Tür zu lauschen.

„... Also seid ihr nur Freunde?“, hört sie Shous Stimme.

„Aber klar, mehr ist da nicht!“, antwortet Desmond erschüttert.

„Aha, und wie seid ihr Freunde geworden? Du hast vorher NIE von ihr erzählt!“

„Das ist der falsche Zeitpunkt dafür! Miho kommt bestimmt gleich zurück.“

Diese Shou denkt doch nicht wirklich, dass zwischen Miho und Desmond etwas ist?

Sie merkt, dass sie sauer wird, reißt sich aber zusammen.

„Ach...“ Shou seufzt: „Wenn sie wenigstens nicht so hübsch wäre, dann wäre es wahrscheinlich nicht so ein Problem. Ich muss mir Sorgen machen, wenn du mit so schönen Frauen befreundet bist.“

Miho läuft purpurrot an, was zum Glück niemand sieht.

Shou findet sie also hübsch? Normalerweise tut Miho nicht viel für ihr Äußeres, nur an diesem Abend hat sie sich etwas herausgeputzt.

Sie atmet einmal tief durch und geht zu den anderen ins Wohnzimmer zurück.

„Ich wollte euch nicht warten lassen“, entschuldigt sie sich.

„Macht nichts“, sagt Shou gleichgültig.

„Hast du nicht noch jemanden eingeladen? Deinen Freund?“, fragt Desmond, der sich im Gegensatz zu Shou schon an den Tisch gesetzt hat.

„Naja, er ist nicht wirklich mein Freund... Noch nicht, zumindest. Aber eigentlich müsste er jeden Moment hier sein...“

Shou hustet: „Wer weiß, ob es diesen Freund überhaupt gibt...“

„Wie bitte?!“, ruft Miho sauer.

Desmond steht blitzschnell auf, nimmt seine Freundin am Arm und lässt sie sich neben ihn setzen:

„Ähm, vergiss es einfach, Shou ist ein wenig verstimmt wegen dem Jet Lag. Sie ist müde.“

Miho fängt sich wieder, und Shou erwidert gelangweilt: „Wenn du meinst...“

Es läutet an der Tür. Das muss Stephan sein!

Miho geht in den Flur und macht mit Herzklopfen die Tür auf: „Stephan!“

Stephan steht davor und verneigt sich, dabei hält er Miho eine dunkelrote Rose hin.

Er ist so charmant!

Sie nimmt ihm die Rose ab und bittet ihn ebenfalls herein.

Er trägt einen schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte, und es steht ihm unglaublich gut.

Im Wohnzimmer stellt sich Stephan höflich vor: „Guten Abend, ich bin Stephan. Du musst Desmond sein.“

„Richtig“, sagt Desmond kurz; „Guten Abend. Das hier ist meine Freundin Shou.“

Stephan verneigt sich leicht und nimmt ihr gegenüber Platz.

„Dann ist er also doch nicht erfunden“, flüstert Shou, und Desmond wirft ihr einen ermahnenden Blick zu.

Miho geht zum Tisch und schüttet jedem etwas Rotwein ein, dann geht sie in die Küche, um die Vorspeise zu holen.

Sie ist ziemlich nervös. Jetzt sind alle da, hoffentlich läuft es gut.
 

Inzwischen sitzen Keisuke, Yuri und Shizuka in der Lilienfeld-Bücherei.

Die Bibliothek ist sehr geräumig, und hat scheinbar endlos viele Regale voller Bücher.

Die Decke ziert ein majestätischer Kronleuchter, und die antiken Möbel wirken alle recht staubig.

Aber die drei haben keine Zeit, auf die unheimliche, stille Atmosphäre zu achten, denn sie sind mit Recherchen über F. D. Roosevelt beschäftigt.

„Aaaalso!“ Yuri klappt ihr Buch zu und fasst zusammen:

„Franklin Delano Roosevelt war US-Amerikanischer Präsident von 1933 – 1945. Er ist 1882 geboren und 1945 gestorben, am 12. April. Er war als Präsident insgesamt vier Mal im Amt, obwohl es eine Beschränkung gibt, die sagt, dass man nur höchstens zwei Mal amtieren kann. Studiert hat er in der Harvard-University und wurde im Jahre 1928 Gouverneur von New York. So, was noch...“

Shizuka kichert: „Du hast vergessen, dass er die Präsidentschaftswahl 1932 gewonnen hat.“

Keisuke seufzt: „Sich diese ganzen Daten zu merken, ist schwer...“

Die beiden Mädchen nicken.

„Ihr arbeitet aber nicht sauber“, sagt eine unbekannte Stimme.

Verwirrt schauen sich alle um.

Zwischen den Regalen kommt eine Frau mit Brille hervor, vielleicht dreißig Jahre alt.

Ihre nicht sehr langen, braunen Haare hat sie zu einem kurzen Zopf zusammengebunden. Mit beiden Händen trägt sie einen Stapel Bücher.

„Diese Bücher, die ihr da habt, geben viel mehr her. Wie könnt ihr das Wissen nur ablehnen, wenn es so bereitwillig vor euch liegt?“

Shizuka und Keisuke sagen lieber nichts, da sie die Frau nicht kennen, aber Yuri nimmt kein Blatt vor den Mund: „Wir haben uns nur das Wichtigste herausgesucht! An einer Biographie haben wir kein Interesse.“

„Biographie?“ Die Frau schmunzelt. Sie legt ihre Bücher ab und stellt sich mit verschränkten Armen vor die drei verwirrten Schüler.

„Ich habe von euch noch kein Wort gehört, über die Frau von Franklin D. Roosevelt.“

„Seine Frau?“, wiederholt Shizuka.

Die Unbekannte seufzt:

„Eleanor Roosevelt. Ihre Rolle wird in der amerikanischen Geschichte immer unterschätzt.“

Alle hören ihr gespannt zu.

„Anna Eleanor Roosevelt war die Ehefrau von Franklin D. Roosevelt, eine Diplomatin, die sich für Menschenrechte einsetzte. Ehrenamtlich hat sie sich in vielen Bereichen sozial engagiert.

Damals hat sie für die Rechte der Frauen gekämpft, wenn es darum ging, sich politisch zu betätigen. Wirklich eine großartige Person. Ihr solltet auf keinen Fall vergessen, sie zu erwähnen.“

Shizuka nickt hastig und schreibt alles mit.

Überrascht darüber, was die Frau spontan weiß, fragt Keisuke: „Danke, aber wer sind Sie?“

Die Frau lächelt jetzt und hebt ihre Hand: „Ich bin Frau Lilienfeld. Mir gehört diese Bibliothek.“

„Oh!“, rufen die drei gleichzeitig, und Frau Lilienfeld nimmt ihre Bücher wieder an sich.

„Wenn etwas ist, könnt ihr mich gerne fragen. Ich weiß fast alles, was in den Büchern dieser Etage steht. Entschuldigt mich bitte...“

Und sie zieht von dannen.

„Das war eindrucksvoll!“, lacht Yuri, und Shizuka nickt.

Plötzlich fällt Yuris Blick auf eine Kerze, die auf dem Tisch steht, an dem die drei die ganze Zeit gearbeitet haben. „Von euch hat niemand Feuer dabei, oder? Wir könnten ja die Atmosphäre verschönern.“

Shizuka schüttelt den Kopf, aber Keisuke öffnet seinen Rucksack und holt eine Packung Streichhölzer heraus. Seiner Meinung nach sollte man sowas immer dabei haben.

Er gibt die Packung Yuri und diese zündet die Kerze an.

„Ist das eine Duftkerze?“, fragt Shizuka.

„Nein, bestimmt nicht“, sagt Yuri; „Oder findest du, dass der Qualm gut riecht?“

Shizuka überlegt kurz: „Nein, eigentlich nicht... Eigentlich können wir die Schulsachen ja wieder einpacken.“

Keisuke reicht ihr seine Tasche, in die sie die Notizen reintun möchte, aber sie bemerkt nicht, dass die Kerze auf den Notizen steht und sogleich umfällt.

Das Papier fängt Feuer, und aus Reflex gehen alle einen Schritt zurück.

„Oh... Oh nein!“, ruft Shizuka ängstlich: „Das war soviel Arbeit!“

Das Feuer breitet sich langsam über den gesamten Tisch aus, und der stickige Rauch steigt ihnen in die Nase, sodass sie husten müssen.

„Was... machen wir... jetzt?!“, hustet Keisuke, und Shizuka schreit: „Wir müssen jemanden holen!“

„Dafür ist keine Zeit!“, ruft Yuri panisch, schnappt sich Shizukas Jacke und erstickt damit das Feuer.

Der Rauch verzieht sich, und beruhigt setzen sich die drei wieder hin.

„Warum hast du ausgerechnet meine Jacke genommen?!“, schimpft Shizuka.

Yuri erwidert: „Ich und Keisuke haben keine dabei! Außerdem war deine gerade zur Hand. Sei doch froh, dass ich das Feuer gelöscht habe.“

Shizuka untersucht traurig ihre Jacke, die durch das Feuer ganz schönen Schaden genommen hat.

Die Oberfläche des Tisches sieht aber auch nicht besser aus. Sie ist beinahe ganz schwarz gebrannt und viel Asche liegt darauf.

„Hm, wir müssen Bescheid sagen, dass wir hier so einen Schaden angerichtet haben“, stellt Yuri fest; „Wer von euch beiden geht?“

Keisuke und Shizuka rufen fast gleichzeitig: „Ich nicht!“

„Also einer muss schon gehen!“, faucht Yuri; „Keisuke, gehst du, wenn ich mitkomme?“

„Ähm, okay“, sagt Keisuke immer noch ein bisschen ängstlich.

Shizuka steht auf: „Dann möchte ich auch mitkommen“

„Nein, DU bleibst hier!!“, ruft Yuri sauer; „Einer muss ja auch erklären, was passiert ist, falls hier jetzt zufällig jemand vorbeikommt. Ich und Keisuke suchen die Frau von eben.“
 

Miho entspannt sich mit einem Schluck Rotwein.

Das Hauptgericht ist gerade im Gange, und das Lamm scheint allen zu schmecken.

Es hat sich auch noch niemand richtig gestritten oder ähnliches.

Also bisher keinerlei Probleme... Ach, wenn es doch bitte so bleiben würde, denkt sie.

„Also Miho, das Essen schmeckt echt großartig. Woher nimmst du die Rezepte?“, fragt Shou.

„Ähm, aus einem Kochbuch“, antwortet Miho und lächelt.

„Wie lange bleibst du hier in Logaly, Shou?“, fragt Stephan interessiert.

Shou seufzt: „Wohl nicht länger als eine Woche. Ich kann mein Studium in Kanada nicht sehr viel länger warten lassen.“

Stephan schaut sie beeindruckt an: „Ich habe es immer bereut, nicht studiert zu haben, aber meine Noten waren damals zu schlecht. Was studierst du denn?“

Shou trinkt einen Schluck: „Geschichte und allgemeine Mythologie.“

„Mythologie?“, fragt Miho überrascht.

„Hört sich ja interessant an!“, ruft Stephan.

Desmond beteiligt sich nicht am Gespräch sondern isst gemütlich.

„Interessant ist es wirklich“, erzählt Shou; „Da gibt es soviel zu entdecken. Und man wird nie alles darüber wissen können, denn im Laufe der Jahrhunderte hatten die Menschen so viel Fantasie, dass man sie nicht in einem Leben zusammentragen kann.“

Stephan nickt.

„Aber von all den Mythen und Legenden der alten Zeit hat es mir eine besonders angetan. Die des Vampirs!“

Als sie das letzte Wort gesprochen hat, verschluckt sich Desmond an seinem Essen und Miho erschrickt und hält sich die Hand vor dem Mund.

Stephan scheint zwar ein bisschen verwundert zu sein, lässt sich aber nicht ablenken:

„Warum gerade dieser Mythos?“

Shou lächelt: „Er wurde so oft abgewandelt, es ist spannend. Untote, die ewig leben, und deren Biss andere Menschen in ihresgleichen verwandelt. Sie fürchten sich vor Knoblauch, Kruzifix und Sonnenlicht. Dargestellt werden sie entweder als blutsaugende Monster, oder als schöne Kreaturen der Nacht.“

„Aber, aber Shou...“, fängt Miho an; „Du glaubst doch nicht, das sie wirklich existieren, oder?“

Shou lacht laut: „Hahaha, natürlich nicht. Diese Legende hat sich abhängig von Zeit und Gebiet so verändert, dass niemand mehr sagen kann, was daran nun stimmt und was nicht.“

Miho atmet erleichtert aus.

Jeder, der von der Existenz der Vampire weiß, ist in Gefahr.

Es war gut von Desmond, seiner Freundin nichts von ihnen zu erzählen.

Dabei fällt Miho auf, dass Keisuke Shizuka ja auch nicht sagen will, dass es Vampire gibt, beziehungsweise, dass er selbst einer ist. Vielleicht tut er das, um sie zu schützen?

Shou bedient sich am Rotwein, während Desmond nach dem Nachtisch verlangt.

Miho steht auf und geht in die Küche.

Beim Bananensoufflé hat sie sich die meiste Mühe gegeben, also trägt sie das Dessert ins Wohnzimmer. Es wird ihnen schon schmecken.
 

Keisuke und Yuri durchsuchen derweil die gesamte Bibliothek nach Frau Lilienfeld, aber ohne Erfolg. Es sind so gut wie gar keine Menschen im Haus.

Schließlich finden sie eine Tür im Erdgeschoss, auf der 'Privat' steht.

„Wenn sie nicht nach Hause gefahren ist, muss sie da drin sein!“, ruft Yuri und klopft.

Aber niemand öffnet die Tür.

„Lass uns lieber wieder gehen, wir können da ja nicht einfach reingehen.“

Yuri öffnet die Tür und man sieht, dass eine Treppe nach unten führt.

„Eigentlich hast du recht, aber was sollen wir sonst machen! Wir haben den Tisch ja auch beschädigt. Du hast mir die Streichhölzer gegeben, ich habe die Kerze angemacht und Shizuka hat sie umgeworfen. Ich glaube, das wir Bescheid sagen ist wichtiger, als dass auf der Tür 'Privat' steht.“

Keisuke gibt ihr im Stillen recht, antwortet aber nicht.

Die beiden gehen die knarrende Treppe langsam hinunter, Yuri dicht hinter Keisuke.

Der Gang wird durch Lampen an den Wänden schwach beleuchtet.

Nach fast einer Minute kommen sie unten an, und stehen in einem schmalen Gang, der sehr alt und unheimlich wirkt. Mutig gehen die beiden weiter, bis nach einer Zeit plötzlich Stimmen zu hören sind.

„Ich habe alle Bücher über Vampire durchforstet, ohne etwas zu finden.“

Eine andere Stimme sagt: „Alle? Bist du da sicher, Alexa?“

„Ja, natürlich. Aber ich verstehe sowieso nicht, warum du noch danach suchst, Raito! Ich dachte das Mädchen ist tot. Auch wenn es ihr größter Wunsch war, wieder zum Menschen zu werden, tot bringt ihr das ja nicht viel.“

Keisuke stockt der Atem.

Wenn er sich nicht irrt, sprechen da Raito und Frau Lilienfeld. Sie reden über Verena, und die beiden kommen direkt auf sie zu.

„Wer ist da?“, ruft Alexa Lilienfeld schrill.

„Ähm, es sind nur wir!“, antwortet Keisuke.

Raito geht ein paar Schritte vor und ist sichtlich erstaunt: „Keisuke! Was machst du hier?“

„Ihr kennt euch?“, fragt Frau Lilienfeld.

„Ja“, sagt Raito.

„Ähm, wir wollten sagen, dass uns...“, fängt Keisuke an, aber Frau Lilienfeld unterbricht ihn:

„Dass ihr einen Tisch beschädigt habt? Oder dass ihr fast die Bibliothek abgebrannt habt?“

„Woher wissen Sie das?“, fragt Yuri, und Frau Lilienfeld lacht auf:

„Ich weiß alles, was in dieser Bücherei vorgeht! Ich habe stets alles im Blick!“

Sie putzt ihre Brille und strahlt eine unheimliche, mysteriöse Aura aus.

„Den Schaden werdet ihr mir natürlich bezahlen“, sagt sie kurz.

Jetzt mischt Raito sich wieder ein: „Schüler sollten ihren Geldbeutel mit sowas nicht belasten müssen, ich bezahle das schon.“

Frau Lilienfeld zuckt mit den Schultern, und Keisuke und Yuri schauen ihn dankbar an.

„Machen wir das aber oben. Ich mag die feuchte Luft hier unten nicht.“

Sie gehen zurück ins Erdgeschoss, und während Raito Frau Lilienfeld das Geld gibt,

fragt Yuri Keisuke: „Woher kennst du den Mann? Er ist ein Vampir, oder?“

Keisuke nickt: „Er hat mich in einen Vampir verwandelt... Es ist wirklich ein Zufall, dass ich ihn hier treffe.“

„Ähm, Shizuka wartet glaube ich immer noch irgendwo dahinten...“

„Es ist wichtig, dass sie Raito nicht sieht!“, sagt Keisuke, und Yuri kichert:

„Um dein Geheimnis zu hüten, stimmt's? Ich werde sie ein wenig ablenken.“

Sie rennt zu Shizuka und verschwindet zwischen den Regalen.

Raito wendet sich jetzt Keisuke zu, der am Eingang wartet.

„Bei der Beerdigung bist du so schnell verschwunden“, sagt Keisuke traurig.

„Ich muss eine Menge vorbereiten. Die Cursers werden bald wieder angreifen. Und ohne Verena sind wir extrem geschwächt worden.“

Keisuke sagt nichts.

Frau Lilienfeld sortiert gerade einige Unterlagen an der Rezeption, und Keisuke fragt Raito, was es mit ihr überhaupt auf sich habe.

„Ich kenne sie schon eine Weile. Sie ist eine Verbündete gegen die Cursers. Diese Bibliothek ist schon seit Generationen im Besitz ihrer Familie.“

„Aber sie ist doch ein Mensch, oder?“

„Ja“, erwidert Raito; „Sie sagte mir, dass sie sich noch überlegen muss, ob sie Vampir sein will oder nicht. Es ist ja wahr, dass es sowohl Vor- als auch Nachteile bringt.“
 

Es ist kurz vor zehn, Miho geleitet Desmond und Shou zur Haustür.

„Es war ein schöner Abend, das können wir gerne mal wiederholen“, verabschiedet sich Shou.

Sie wünscht den beiden noch eine gute Nacht, ehe sie gehen. Stephan geht auch zur Tür.

„Das hast du wirklich alles gut hinbekommen“, sagt er, nimmt sie in den Arm und gibt ihr einen kurzen Kuss auf den Mund. „Oh mein Gott“, denkt Miho; „Dieser Abend ist einfach perfekt!“

Wohnzimmergespräche

Wohnzimmergespräche
 

Keisuke und Yuri sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer. Die Schule ist schon seit zwei Stunden vorbei, und die drei Freunde haben für ihr Referat über Roosevelt immerhin eine 2+ bekommen.

Gerade telefoniert Keisuke mit Raito, der ihm am gestrigen Abend noch versprochen hat, ihn anzurufen und ihn über das Gespräch mit Alexa Lilienfeld aufzuklären.

Miho hat Shizuka kurz vorher einkaufen geschickt, damit sie nichts mitbekommt, und Yuri verfolgt das Gespräch durch den Lautsprecher des Telefons.

„Warum willst du mir deine Nummer nicht geben?“, fragt Keisuke Raito ein bisschen beleidigt.

„Wer meine neue Telefonnummer weiß, weiß automatisch auch meinen Aufenthaltsort. Das ist der Nachteil meines neuen Verstecks“, kommt als Antwort;

„Ein Handy könnte man auch aufspüren, das kann meine Aura nicht verdecken. Deswegen besitze ich keines.“

Keisuke und Yuri sehen sich an.

Das bedeutet ja, dass Raito die Freunde zwar erreichen kann, wann er will, aber sie mit ihm keinen Kontakt aufnehmen können.

„Ähm, ich wollte dich wegen gestern Abend noch fragen...“, fängt Keisuke an.

„Nochmal danke übrigens, dass du für uns den Schaden bezahlt hast!“, ruft Yuri in den Hörer, worauf Keisuke leise anfängt zu lachen.

Schnell beruhigt er sich wieder: „Also, ja... Wir glauben, du möchtest Verena zum Menschen machen, auch wenn sie schon tot ist, damit ich sie wiedererwecken kann, richtig?“

„Und wenn er das bei ihr kann, kann er es auch bei Vigor...“, flüstert Yuri kaum hörbar.

Raito seufzt: „Wenn sie aufwacht, soll sie mit den Augen eines Menschen sehen, nicht mit denen, eines Untoten.“

Keisuke nickt, was Raito natürlich nicht sehen kann.

Er weiß, dass Raito sie nicht wegen ihrer Fähigkeit zurück haben will.

Sonst wäre es ein Fehler, sie menschlich werden zu lassen. Er will sie nur glücklich machen.

„Wir Vampire sind schon grausam“, sagt Raito tonlos; „Wir setzen uns einfach über Leben und Tod hinweg. Ich habe mich lange gefragt, ob das richtig ist... Aber es ist nicht so, als hätten wir die Wahl.“

Das Telefonat wird durch die besorgte Miho unterbrochen, die plötzlich das Wohnzimmer betritt:

„Ich will ja nicht stören, aber habt ihr heute schon Shya gesehen? Ich finde sie nicht...“

Yuri schaut sie fragend an: „Wer ist Shya?“

„Unsere Katze“, antwortet Keisuke und wendet sich an Miho: „Nein, noch nicht. Ich glaube, Shizuka hat sie auch gestern schon gesucht.“

„Nicht dass sie weggelaufen ist!“, keucht Miho und schlägt sich die Hand vor den Mund.

Sie stürmt aus irgendeinem Grund in die Küche.

„Bist du noch dran?“, fragt Keisuke, und Raito bejaht.

„Als ob er auflegt hätte“, kommentiert Yuri seine Frage.

Keisuke ignoriert das: „Du hast also noch keine Möglichkeit gefunden, sie zum Menschen zu machen?“

„Nein“, sagt er kurz angebunden; „Ihr toter Körper ist der eines Vampirs. Einen lebenden Vampir zurück in einen Menschen zu verwandeln ist wohl schon schwer genug, aber bei einer Leiche bin ich mir nicht einmal mehr sicher, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt.“

Keisuke schweigt.

„Sowieso müssen wir erst Emily beseitigen. Ohne deine Fähigkeit sind diese Überlegungen auch nichts wert“, erklärt Raito; „Oh, ich bekomme einen Anruf, das muss Samuel sein. Ich rufe dich demnächst nochmal an.“

„Ähm, ja...“, antwortet Keisuke ein bisschen enttäuscht.

„Keisuke, pass bitte auf dich auf. Und auch auf Yuri“, sagt Raito noch, ehe er endgültig auflegt.

Die beiden sitzen noch eine Weile auf dem Sofa und überlegen, was sie noch tun können, außer zu warten. Aber schon nach ein paar Minuten klingelt es und Miho öffnet Shizuka die Tür, die mit einer Einkaufstüte bewaffnet ins Wohnzimmer kommt:

„Hi, bin wieder da. Hilft mir jemand, das auszuräumen?“, fragt sie und deutet auf die Tüte.

„Ich weiß nicht, wo die Sachen hinkommen. Ich bin doch zum ersten Mal bei euch“, entschuldigt sich Yuri, und Keisuke sagt einfach gar nichts.

„Ich mach das schon“, sagt Miho etwas atemlos und trägt die Tüte in die Küche.

Shizuka gesellt sich zu den beiden auf das Sofa, nachdem sie ihre Jacke ausgezogen hat:

„Was wollen wir jetzt machen?“, fragt sie lächelnd.

„Wir überlegen noch...“, antwortet Yuri.

Keisuke steht auf: „Ich gehe schnell etwas trinken.“

Kurz vor der Küche ruft Yuri ihm noch zu: „Bring mir auch was mit!“

Miho steht währenddessen vor dem Kühlschrank und räumt die Lebensmittel ein.

„Kann ich mal kurz daran?“, fragt er und holt sich aus dem Gefrierfach eine Blutkonserve, die er auf die warme Herdplatte legt.

„Du hast ja fast nichts mehr!“, ruft Miho erschrocken, als sie einen Blick in das Gefrierfach wirft.

Keisuke nickt traurig und holt ein Glas für Yuri aus einem Schrank, um es danach mit Cola zu füllen.

„Wie hast du vor, an neues zu kommen?“, fragt Miho besorgt.

Keisuke zuckt mit den Schultern: „Ich habe keine Ahnung. Ich will nicht wieder in die Klinik einbrechen müssen. Mit ein bisschen Glück kann Raito mich mit Blut versorgen, aber darauf kann ich mich eigentlich nicht verlassen.“

Er lässt seine Schwester in der Küche stehen und geht zurück zu seinen Freunden.

Das Glas Cola stellt er auf den Tisch und setzt sich wieder hin.

„Warum gehen wir nicht an Keisukes Computer?“, fragt Yuri, aber Shizuka weigert sich:

„Computer spielen ist langweilig. Lass uns lieber shoppen gehen!“

Man hört, wie die Haustür aufgeschlossen wird, und alle sehen auf.

„Das kann eigentlich nur Sakito sein...“, murmelt Keisuke, irrt sich aber.

Ein zierliches Fräulein mit roten Haaren kommt herein.

„Luna?“, wundern sich Keisuke und Shizuka, während Yuri sie verwirrt ansieht.

Luna hält den Schlüssel hoch: „Den hat mir Miho geschenkt. Hallo!“

„Wer ist das?“, fragt Yuri Shizuka, und diese sagt leise:

„Eine Freundin von Miho. Sie arbeitet mit ihr zusammen.“

„Warum hast du jetzt einen Schlüssel?“, will Keisuke wissen.

„Bei mir zu Hause ist es langweilig. Ich bin gerade durch die Stadt geritten und zufällig vorbeigekommen. Bei euch ist immer soviel los.“

Keisuke starrt sie an um ihr deutlich zu machen, dass sie seine Frage nicht beantwortet hat.

„Warum soll sie keinen haben?“, fragt Miho, die gerade dazugekommen ist.

„Weil Shizuka auch keinen hat“, antwortet Keisuke.

Er mag Luna sehr, aber er findet es Shizuka gegenüber unfair, immerhin wohnt sie hier.

„Sie bekommt ja noch einen“, beschwichtigt Miho ihn.

„Möchtest du etwas trinken?“, fragt sie Luna höflich, aber diese winkt ab.

„So lange will ich eigentlich gar nicht bleiben. Ich habe eine Lebensversicherung bei den Provitas abgeschlossen. Ihr wisst ja, wie ungeschickt ich manchmal bin.“

Miho und Shizuka hören ihr gespannt zu, aber Keisuke und Yuri erschrecken: „Provitas?!“

Alle sehen die beiden an.

„Ja“, sagt Miho; „Das ist eine Versicherungsgesellschaft. Was ist denn?“

Das wissen sie natürlich nicht.

Die Vampirjäger nennen sich auch Provitas, das hat Yuri ihm einmal erzählt.

Ob es mit dieser Versicherungsgesellschaft etwas zu tun hat, ist unklar, aber solange Shizuka dabei ist, wird Keisuke das nicht offen ansprechen können.

Er und Yuri schauen sich an. Diesen Gedanken verschieben sie auf später.

„Oh, wer besucht uns denn da?“, fragt der breit grinsende Sakito, der sich ins Wohnzimmer geschlichen hat: „Wenn das nicht die hübsche Ärztin ist!“

Alle schauen ihn an.

„Ich bin noch keine...“, Luna seufzt; „... Ärztin.“

Sakito geht ungehemmt auf sie zu, aber ehe er imstande ist, irgendetwas zu tun, stellt Miho sich vor Luna und bringt ihren Bruder auf andere Gedanken:

„Shya ist verschwunden. Hast du sie gesehen?“

Er schüttelt den Kopf: „Nein... Hast du schon überall nachgesehen? Du weißt doch, wie gerne sie sich im Haus versteckt.“

Miho wirkt äußerst besorgt: „Ich habe das meiste abgesucht, aber es ist, als wäre sie verschwunden. Sie ist seit Tagen nicht mehr aufgetaucht.“

Sakito überlegt kurz, dann kommt er zu dem Schluss:

„Viel mehr machen als darauf zu warten dass sie wieder kommt, können wir nicht tun. Oder?“

Luna wirft einen Blick aus dem Fenster: „Habt ihr Fotos von ihr? Ihr könntet auch Steckbriefe aushängen.“

Keisuke bezweifelt, dass das hilft.

Sakito seufzt: „Ihr übertreibt mit eurer Sorge ein bisschen. Katzen sind manchmal für mehr als einen Tag weg, das muss ja nichts heißen. Wahrscheinlich ist sie nur wieder irgendeinen Hund hinterher gejagt...“

„Bitte was?!“, rufen Yuri und Luna gleichzeitig, und alle anderen fangen an zu lachen.

Sie reden noch eine Menge über Shya, aber Keisuke hört nicht mehr richtig zu.

Er fühlt sich ein bisschen beengt, wenn soviele Personen um ihn herum sind, und überlegt, ob er auf sein Zimmer gehen soll, aber es kommt ihm eine bessere Idee.

Der Bach im Wald, den er früher so häufig besucht hat.

Dort hat Raito ihn vor vielen Wochen in einen Vampir verwandelt, und seitdem war Keisuke nicht mehr dort. Dabei mag er diesen Platz doch so.

Keisuke sucht eine Ausrede, um aufstehen zu können, und findet sie recht schnell:

Yuri hat ihr Glas mittlerweile leergetrunken. Er nimmt es, steht auf und sagt freundlich:

„Ich schütte dir neue Cola ein.“

Aber ehe er in die Küche gehen kann, schnappt Miho ihm das Glas aus der Hand und ruft vergüngt: „Das mache ich schon!“

Keisuke, der sich jetzt schnell etwas neues einfallen lassen muss, geht langsam zur Tür und in den Flur: „Ähm... Ich gehe mal auf Toilette...“

Das ist jetzt zwar nicht gerade unverdächtig, aber er kann ihnen nicht sagen, dass er in den Wald geht, Miho würde es wahrscheinlich verbieten, nachdem sie weiß, in wie viele gefährliche Situationen er in letzter Zeit gekommen ist.

Er geht ins Badezimmer, aber nicht, um die Toilette zu benutzen, sondern um sein Gesicht zu waschen und die silbernen Haare zu kämmen.

Eine Minute später geht die Tür auf und Yuri kommt rein.

Keisuke erschrickt: „Hallo?! Was kommst du einfach so rein, was, wenn ich auf dem Klo gesessen hätte?!“

Yuri kichert nur: „Dann hättest du doch die Tür abgeschlossen! Wohin gehst du?“

Keisuke fühlt sich ertappt, es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig, als sie aufzuklären:

„Ich, ähm, wollte in den Wald gehen...“

„Warum das denn?“ Yuri schaut ihn ungläubig an.

„Naja, es gibt da einen sehr schönen Ort, da kann man richtig ausspannen. Ich war schon so lange nicht mehr da, also will ich einfach nochmal hingehen...“

„Bleib lieber hier!“, rät Yuri; „Im Wald ist es gefährlich.“

Keisuke wird etwas sauer: „Ich kenne mich da aus! Ich will nicht hierbleiben. Erzähl es bitte nicht Miho.“ Yuri seufzt und überlegt einen Moment: „Fein, ich werde mitkommen.“

„Das... habe ich gar nicht gefragt!“, sagt der Vampir verdutzt.

„Doch, ich komme mit, alleine ist mir das zu gefährlich für dich. Entweder das, oder ich erzähle es deiner Schwester, du hast die Wahl.“ Keisuke gibt sich schließlich geschlagen.

Wald der Vergangenheit

Wald der Vergangenheit
 

Yuri und Keisuke gehen gemütlich durch Logaly, da es eine Weile dauert, bis man vom Haus der Valleys den Eingang zum Wald erreicht.

Yuri wollte nicht einfach verschwinden ohne etwas zu sagen, daher erzählte sie allen, dass sie noch ein paar Schulsachen kaufen wollte und dass Keisuke ihr beim Tragen helfe.

„Das war besser als einfach zu verschwinden, glaub mir“, muntert Yuri Keisuke auf.

„Ähm, kann sein“, antwortet er halbherzig; „Aber normalerweise lüge ich Miho nicht an...“

Das Fuchsmädchen sieht ihn durchdringend an:

„Bei Shizuka scheinst du dieses Problem ja nicht zu haben.“

„Was soll ich denn machen...?“, fragt Keisuke sie bedrückt.

„Na ihr die Wahrheit über alles sagen!“, ruft Yuri und tut dabei, als es sei es das einfachste der Welt; „Je länger du es ihr verschweigst, desto schwieriger wird es, diese Lüge aufrechtzuerhalten! Also sag es ihr besser früher als später.“

Keisuke weiß, dass sie eigentlich recht hat, aber trotzdem ist es nicht so leicht, wie sie es sagt.

Er gibt nicht weiter Antwort und schon nach ein paar Minuten haben sie den Eingang zum Wald erreicht.

Auf dem Wanderpfad trifft man hier und da immer wieder Spaziergänger, Leute die ihre Hunde ausführen oder Jogger, aber die meisten Menschen wollen nur die schöne Landschaft und angenehme Waldluft genießen, die ihnen in der Großstadt Logaly verwehrt bleibt.

Yuri folgt Keisuke, da dieser sich hier auskennt, einige Minuten über den Pfad.

Nach einer Weile fragt er: „Warst du schon mal hier?“

„Ja, aber nur mit der Schule. Und noch nie richtig tief drin“, antwortet sie;

„Angeblich gibt es hier Wölfe und Bären. Stimmt das?“

Keisuke zuckt mit den Schultern. Er hält das zwar für ziemlich unglaubwürdig und ist auch nie einem Wolf oder einem Bär dort begegnet, aber weil er es nicht ganz sicher weiß, sagt er nichts.

Nach einiger Zeit verlässt Keisuke plötzlich den Wanderpfad nach rechts, Yuri läuft etwas verwirrt hinterher: „Da hin?“

Sie kann nicht sehen, dass Keisuke lächelt.

Er war schon so lange nicht mehr da, und schon bald ist er am Zielort.

Sie gehen über das Laub und müssen sich ab und zu durch Gebüsche kämpfen, aber es dauert nicht lange, da erreichen sie eine kleine Lichtung.

Der Ort ist überwältigend. Eine Wildblumenwiese mitten im Wald, das Gras ist saftig grün.

Ein dünner Bach fließt an der Seite entlang, und am Rand der Wiese steht eine Holzhütte.

„Hier ist es ja total schön! Ich kann verstehen, dass du damals oft hier warst!“, ruft Yuri und läuft zum Bach, in dem sie ihr Spiegelbild betrachtet.

Keisuke geht hinter ihr her und setzt sich ans Wasser.

„Warum warst du schon so lange nicht mehr hier?“, fragt Yuri, und schaut Keisukes Spiegelbild an.

„Ich weiß nicht...“, sagt Keisuke unsicher; „Es ist nicht so, dass ich keine Lust dazu gehabt hätte oder so, ich bin einfach nicht mehr dazu gekommen... Das ist wohl eins von vielen Dingen, die sich mit meiner Verwandlung zum Vampir geändert haben.“

„Bist du gerne ein Vampir?“, fragt sie, und Keisuke weiß, dass sie an Verena denkt.

Auch wenn sie sie selbst nie kennengelernt hat, hat Keisuke ihr einiges über sie erzählt.

„Hm, ja, bin ich. Meine Krankheit ist dadurch ja geheilt.“

Yuri gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden.

„Und ohne die Krankheit? Wenn du wieder ein gesunder Mensch werden könntest?“

„Dann auch. Dass ich nicht älter werde, ist nämlich auch super“, sagt er fröhlich.

Yuri kniet sich hin.

„Ist das wirklich so toll? Du wirst ja schon älter, nur dein Körper nicht. Es muss doch blöd sein, wenn in zwanzig Jahren all deine Freunde erwachsen sind und du noch als Jugendlicher rumläufst.“

„Ähm... Das kann sein... Aber das ist wohl das Schicksal von Vampiren...“, sagt Keisuke leicht überfordert.

„Außerdem musst du dauernd Blut trinken, um überleben zu können. Das ist doch nervig, oder?“

Da hat sie nicht Unrecht, an Blut zu kommen, hat ihn schon immer einige Probleme bereitet.

Yuri fährt fort: „Vampire haben zwar besondere Kräfte, aber du hast deine verloren. Gibt es wirklich noch was, was dir daran gefällt?“

Keisuke schaut sie empört an: „Natürlich. Ich glaube, du stellst das schlimmer dar, als es ist. Wie ist das: Seitdem ich Vampir bin, habe ich keine Pickel mehr!“

Yuri fängt an zu lachen, und steckt ihn damit an.

„Und außerdem...“, sagt Keisuke, als er sich wieder eingekriegt hat; „Es gibt nicht viele Vampire auf der Welt, und so bleibe ich immer etwas besonderes.“

Yuri nickt: „Geht mit genauso! Oder wie viele andere, waschechte Fuchsmädchen hast du schon gesehen?“ Wieder lachen sie.

Dann zieht Yuri sich plötzlich die Schuhe und weißen Socken aus, legt sie ins Gras und lässt ihre Beine bis zu den Knien ins Wasser hängen. Keisuke schaut sie erst nur erstaunt an, dann fragt er lächelnd: „Kalt?“

„Kühl“, gibt sie kurz zurück.

Er grinst, und nach kurzem Zögern zieht er auch seine Turnschuhe und Socken aus, krempelt die Jeanshose hoch und setzt sich ans Ufer, die Beine ins fließende Flusswasser.

„Ich war schon so oft hier, aber das habe ich noch nie gemacht“, sagt Keisuke etwas beschämt.

Yuri rückt etwas näher an ihn heran: „Ich finde es schön. Gibt’s hier auch Fische?“

Er wirft einen Blick ins Wasser und antwortet: „Vielleicht... Ich habe noch keine gesehen...“

Plötzlich fühlt Keisuke die Hand des Fuchsmädchens auf seiner.

Er erschreckt sich ein bisschen und fragt sich, was das wohl zu bedeuten hat. Er sieht sie an, aber sie schaut unentwegt ins Wasser.

Keisuke weiß auf einmal nicht mehr was er sagen soll, und für einen Moment herrscht seltsame Stille. Mit einem Mal zieht sie die Hand wieder weg.

Etwas verwirrt und vielleicht sogar ein bisschen enttäuscht schaut er sie an und fragt sich, was eigentlich los ist, aber Yuri blickt immer noch ins Wasser, anscheinend in Gedanken versunken.

Keisuke versucht, die Ruhe des Waldes und die schöne Umgebung zu genießen, und legt sich auf den Rücken, lässt die Beine aber im Wasser.

So könnte er Stunden liegen bleiben...

Plötzlich steht Yuri auf und geht barfuß auf die Wiese zurück.

Daraufhin richtet Keisuke, der doch so gemütlich am Ufer gelegen hat, sich wieder auf und folgt ihr zaghaft.

Yuri geht zu der kleinen Holzhütte und untersucht sie.

Sie versucht, die Tür zu öffnen, muss aber feststellen, dass sie abgeschlossen ist: „Schade...“

„Geh mal kurz da weg“, sagt Keisuke, woraufhin sie einen Schritt zur Seite geht.

Er bückt sich, hebt die verdreckte Fußmatte vor der Tür hoch und hält einen alten Schlüssel hoch.

„Was, woher wusstest du das?“, fragt Yuri erstaunt.

„Das ist meine Hütte“, sagt Keisuke stolz und schließt die Tür auf.

„Deine Hütte? Hast du sie gebaut?“, fragt sie, aber er verneint:

„Nein, das nicht... Sie stand schon vorher hier, aber nachdem ich vor einem Jahr drinnen den Schlüssel gefunden habe, habe ich sie zu meinem Versteck erklärt.“

Er fängt an zu lachen, aber Yuri lacht nicht.

Die beiden betreten die Hütte, deren Inneres durch die sehr hoch angebrachten Fenster erhellt wird.

Besonders eingerichtet ist sie nicht, es gibt lediglich einen alten, gammligen, weißen Holzschrank und einen Stuhl, auf dem ein Sitzkissen liegt. Überall ist es sehr dreckig und Spinnennetze sind auch keine Seltenheit.

„Oh, ich habe es mir schöner vorgestellt“, sagt Yuri verwundert.

Keisuke setzt sich auf den Stuhl: „Früher habe ich hier ab und zu saubergemacht, aber das hat nie wirklich etwas gebracht.“

„Also es wäre noch Platz für ein bisschen Einrichtung“, stellt Yuri fest;

„Theoretisch... Im Keller unseres Cafés stehen noch ein paar alte Möbel...“

Keisuke erinnert sich. In diesem Keller hatte er eine nicht ganz so erfreuliche Begegnung mit dem Vampirjäger Epheral Locover, aber er hat auch Yuri dort zum ersten Mal getroffen.

Dass er ihr sein Leben verdankt, hat er nicht vergessen.

„Aber wie sollen wir die herbringen, wir können sie ja nicht quer durch den Wald tragen“, überlegt Keisuke laut und Yuri seufzt: „Tja, das wäre halt das Problem an der Sache.“

Sie wirft einen Blick auf den Schrank und fragt: „Hast du irgendwas zu essen hier?“

Keisuke schüttelt den Kopf: „Das nicht. Aber hinter der Hütte sind Brombeersträucher, wenn du Glück hast, kannst du da welche pflücken.“

„Später vielleicht“, antwortet sie kurz und geht wieder raus:

„Komm wieder nach draußen, Keisuke, hier ist es viel schöner!“

In Gedanken stimmt er ihr zu, also verlässt er auch die Hütte und schließt die Tür ab.

Den Schlüssel legt er wieder unter die schmutzige Fußmatte.

Yuri ist inzwischen wieder am Ufer des kleinen Baches, und Keisuke setzt sich zu ihr.

Als sie ihn bemerkt, fragt sie: „Sag mal, warst du auch schon mal mit Shizuka hier?“

Keisuke muss für die Antwort nicht lange überlegen: „Nein, war ich nicht. Ich habe ihr zwar schon oft von diesem Ort erzählt, und davon, wie toll es hier ist, aber sie traut sich einfach nicht, in den Wald mitzukommen.“

„Ist das schlimm?“, fragt Yuri interessiert.

„Naja, ich finde es schon ziemlich blöd“, antwortet Keisuke; „Früher hatte ich zuerst auch Angst, alleine in den Wald zu gehen, aber das war mir damals schon egal. Ich finde, man sollte sich von seiner Furcht nicht abhalten lassen, hinzugehen, wo immer man hin will.“

„Aha!“, kichert Yuri; „Dann bist du ja vielleicht gar nicht so ein Feigling...“

„Wie?“, fragt Keisuke sauer; „Warum bin ich ein Feigling?“

Yuri fängt an, sehr laut zu lachen, und hört fast gar nicht mehr auf.

„Ich ärgere dich doch nur ein bisschen!“, ruft sie gut gelaunt.

Doch dann rückt sie plötzlich wieder etwas näher an ihn heran, und Keisuke merkt, dass er errötet.

Er erwartet schon, dass sie ihre Hand wieder auf seine legen würde, scheint sich aber zu irren.

„Warst du denn schon überhaupt einmal mit jemand anderem hier außer mir?“, fragt sie leise.

„Ähm, naja... Ich bin Raito hier zum ersten Mal begegnet...“, sagt er zögerlich.

„Das hast du mir schon mal erzählt“, lächelt Yuri; „Hier hat er dich zum Vampir gemacht, stimmt's?“

Keisuke legt sich wieder auf den Rücken und verschränkt die Arme hinter dem Kopf:

„Ja... Richtig. Ich kann mich an diesen Abend nicht mehr sehr gut erinnern. Es war am Anfang der Sommerferien. Bei einer ärztlichen Untersuchung hat man bei mir den Genesis-Tumor festgestellt.“

Yuri schreckt hoch: „Was?! Du meinst, du hattest Krebs?“

„Naja, wenn man es so nennen kann“, sagt Keisuke unberührt; „Es ist ein Tumor, der nach ein paar Tagen den ganzen Körper befällt. Meine Mutter ist daran gestorben...“

Yuri hört ihm schweigend zu.

„Damals war ich total verzweifelt! Ich bin nach hier gekommen, weil ich das schon immer so gemacht habe, wenn etwas nicht stimmt.“

Es fällt ihm schwer, darüber zu reden, also bleibt er jetzt auch ruhig und schließt die Augen.

Nun möchte er versuchen, an etwas anderes zu denken, an etwas schönes.
 

„Ähm, Keisuke!“, hört er Yuris Stimme weit entfernt.

„Keisuke!“ Sie scheint lauter zu werden.

„Keisuke, wach mal auf!“ Er öffnet die Augen.

Er ist tatsächlich eingeschlafen. Mittlerweile dämmert es schon, folglich wird es bald dunkel.

Yuri hockt neben ihm und schaut ihn an: „Wir sollten langsam zurück“, sagt sie.

Gähnend richtet er sich auf: „Wie lange habe ich geschlafen?“

Sie hilft ihm hoch, und er bemerkt, dass sie mittlerweile schon wieder Schuhe und Strümpfe trägt.

„Ich habe keine Uhr dabei, aber ich würde schätzen, zwei Stunden oder so“, kichert sie.

„Oh!“, ruft Keisuke erstaunt; „Das hätte ich nicht gedacht... Hast du auch geschlafen?“

Sie schüttelt den Kopf: „Ich wollte dich nicht wecken, also habe ich es versucht, aber es hat irgendwie nicht geklappt.“

„Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“, fragt er, während er seine Socken und Schuhe anzieht.

„Dir beim Schlafen zugeguckt“ sagt sie grinsend, aber als Keisuke sie anschaut, fängt sie sofort an zu lachen: „War doch nur Spaß, du brauchst nicht so komisch zu gucken.“

Keisuke gähnt nochmal, und die beiden machen sich auf den Weg zurück.

„Kommen wir ab jetzt öfter her?“, fragt Yuri.

Er überlegt kurz, während er einen im Weg hängenden Ast umknickt, und antwortet:

„Wenn wir Zeit haben, gerne... War echt schön heute.“

Die beiden wandern noch eine Weile durch die Wildnis, und bald haben sie den Pfad erreicht, aber vorher passiert etwas unvorhergesehenes: Ein Schuss.

Die beiden erschrecken sich. Gewehrschüsse von den Jägern im Wald zu hören ist zwar nicht so ungewöhnlich, aber dieser war so laut und klar vernehmbar, dass er einfach ganz in der Nähe gefallen sein muss.

Sie sehen sich schnell um, dann ruft Yuri: „Da vorne!“

Keisuke dreht sich um und kann eine Person in der Ferne erkennen.

Die beiden rennen hin, um zu sehen, was passiert ist.

Ein breit grinsender Mann, der eine Feldjacke trägt, steht bewaffnet mit einem Jagdgewehr vor einem rotbraunen Fuchs, der auf dem Boden liegt.

Das Tier lebt noch, aber da es angeschossen wurde liegt es hilflos und blutend am Boden.

Der Jäger richtet sein Gewehr auf den Fuchs, aber im selben Moment macht Yuri einen riesigen Satz nach vorne und stellt sich schützend vor ihn, und mit ausgestreckten Armen ruft sie wütend und empört: „NEIN!!!“

Sowohl der Fremde als auch Keisuke sind für einen Moment erstarrt, aber der Mann lässt seine Waffe nicht sinken: „Geh aus dem Weg, Kleine!“, knurrt er.

„Das werde ich nicht tun...“, flüstert sie kaum hörbar.

Keisuke weiß, dass er einschreiten muss:

„Füchse stehen hier unter Naturschutz, die dürfen Sie gar nicht erschießen!“

Der Mann zuckt mit den Schultern: „Was kümmern mich diese banalen Regeln, ich will nur das Fell und die Rute für einen schönen Preis verkaufen. Und jetzt macht euch vom Acker, das ist kein Spielplatz!“

Ganz kurz schaut Yuri zu Keisuke, bewegt sich aber nicht vom Fleck.

Keisuke zögert kurz, geht dann aber auf Yuri zu und kniet sich über den Fuchs.

„Was wird das!?“, ruft der Mann mit dem Gewehr empört; „Wenn ihr jetzt nicht verschwindet, schieße ich dem Mädchen ins Bein.“

Daraufhin lässt Yuri die Arme sinken, und Keisuke sagt mit einem süffisanten Lächeln:

„Versuchen Sie es, wenn sie schnell genug sind.“

„Was?“, ruft der Kerl, aber bevor er den nächsten Schritt tun kann, ist Yuri schon vor ihn gesprungen und hält das Gewehr nach unten.

Überrascht löst der Mann einen Schuss aus, der aber nur den Boden trifft, und er lässt das Gewehr fallen. Keisuke rennt sofort hinüber und nimmt das schwere Ding an sich.

Verstört rennt der Mann weg, wobei er irgendetwas von „Verrückten im Wald“ faselt, aber nach einigen Sekunden ist er schon nicht mehr zu sehen.

Yuri und Keisuke beugen sich derweil über den verletzten Fuchs.

Die Wunde blutet noch, und Yuri fragt Keisuke: „Was sollen wir machen, er ist schwer verletzt!“

Keisuke weiß es selbst nicht, aber dann fällt ihm ein, wer ihnen vielleicht helfen könnte:

„Wir sollten ihn zu Luna bringen!“

„Wer ist das?“, fragt Yuri.

„Ähm, du hast sie heute schon mal gesehen. Die rothaarige Frau, die uns besucht hat.“

„Okay!“, sagt Yuri, doch dann fällt ihr Blick auf das Gewehr in Keisukes Hand.

„Und was machen wir damit?“, fragt sie.

„Ich bringe es schnell in die Hütte, wir können es weder hier lassen noch mitnehmen“, beschließt Keisuke und rennt los, ohne noch länger nachzudenken.

„Beeil' dich!“, ruft Yuri ihm verzweifelt hinterher; „Wir müssen den Fuchs schnell hier wegschaffen!“

Schimmer des Undenkbaren

Schimmer des Undenkbaren
 

Miho kommt ins Wohnzimmer, wo sie Shizuka sieht, die gerade vor dem Fernseher auf dem Sofa sitzt. Lächelnd setzt sie sich neben sie: „Was guckst du da?“

„Eine Quiz-Show“, antwortet Shizuka heiter; „Ich möchte mein Allgemeinwissen auffrischen!“

„Kann ja nicht schaden“, seufzt Miho; „Ich mache gleich das Abendessen, hilfst du mir?“

Shizuka nickt, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.

Während Miho noch überlegt, ob sie Pfannkuchen oder lieber Hamburger zubereiten soll, fragt Shizuka völlig unerwartet: „Wo bleibt Keisuke eigentlich? Es ist schon Stunden her, dass er und Yuri losgegangen sind. Die brauchen doch nicht echt so lange, nur um ein paar Teile einzukaufen?“

Miho ist sprachlos und zuckt nur mit den Schultern.

Sie ist auch besorgt, weiß aber, dass sie nichts tun kann, außer darauf zu warten, dass sie nach Hause kommen.

„Miho?“, fragt Shizuka leise und stellt die Lautstärke des Fernsehers runter.

„Ja?“

„Ich habe... schon länger das Gefühl, dass Keisuke und Yuri mir etwas verschweigen. Ich weiß zwar nicht genau was, aber es ist kein schönes Gefühl, dass die beiden Geheimnisse vor mir haben. Ich bin doch ihre Freundin!“

Sie sieht sehr traurig aus. Miho ist gerührt, aber sie hat ihren Bruder versprochen, nichts zu sagen.

„Aber du bist nicht so, oder Miho? Du würdest bei sowas nicht mitmachen. Du würdest ganz sicher die Wahrheit sagen, wenn es etwas gibt, was ich wissen sollte, oder?“

Shizuka schaut sie durchdringend an, und Miho kann ihr nicht direkt in die Augen sehen.

Warum muss er Shizuka das auch verschweigen?

Sie würde ihn sicher nicht verurteilen, für das, was er ist.

Miho merkt, wie sie es nicht mehr aushält.

Zitternd legt sie ihre Hände auf Shizukas Schultern und blickt sie ernst an.

„Ich sage dir die Wahrheit“, flüstert sie nervös.

Shizukas Augen werden groß.

„Keisuke ist kein Mensch mehr. In den Sommerferien wurde er in einen Vampir verwandelt. Yuri, Desmond, Luna, Sakito und ich wissen davon, sonst niemand. Es tut mir leid, dass wir es dir verheimlicht haben, aber das war nicht meine Idee!“

Miho versucht sich zu beruhigen und nimmt ihre Hände wieder von Shizukas Schultern runter.

Deren Mund steht weit offen, und sie bringt keinen Ton heraus.

Etwas beschämt sieht Miho zu Boden.

Plötzlich fängt Shizuka an, zu lachen: „Miho! Du solltest Schauspielerin werden! Ich hätte es dir gerade fast abgekauft! Sowas absurdes!“

Miho ist geschockt. Das kann doch nicht wahr sein. Da sagt sie ihr die Wahrheit, und sie glaubt es einfach nicht.

„Aber... Die Haare, die Zähne...“, fängt sie an, aber Shizuka unterbricht sie einfach:

„Ich finde es nicht nett, dass du sowas sagst. Du wolltest mir doch die Wahrheit sagen?“

„Aber das ist die W....!“, ruft Miho, aber Shizuka hört nicht hin:

„Wahrscheinlich weißt du es selbst nicht. Ihr haltet mich also wirklich für so dumm, so einen Unsinn zu glauben... Vampire gibt es nicht! Ebenso wenig wie Hexen und Drachen!“

„Du... Du glaubst also nicht an übernatürliche Dinge?“, fragt Miho kleinlaut.

„Nein“, sagt Shizuka kurz; „Naja, vielleicht an Engel!“

„Engel?“

Shizuka sieht plötzlich verträumt aus: „Ich glaube an Engel, heilige Wesen mit breiten, leuchtenden Flügeln, die über uns fliegen und uns beschützen. Ich... wäre gerne ein Engel.“

Miho lächelt sie an: „Du kannst es mit Sicherheit schaffen, einer zu werden, wenn du immer versuchst, deinen Freunden zu helfen.“

„Aber sie machen es mir so schwer!“, sagt Shizuka verbittert;

„Yuri und Keisuke tuscheln oft über irgendetwas, was ich nicht erfahren darf, oder sie schicken mich weg und haben Geheimnisse vor mir. Ich würde sie so gerne unterstützen, aber wie soll ich das machen, wenn sie mir nicht vertrauen?“

Miho streichelt ihr sanft den Kopf:

„Hab ein bisschen Geduld. Vielleicht fällt es dir schwer, das zu verstehen, aber es ist oft viel zu schwer, gerade den besten Freunden etwas Wichtiges anzuvertrauen. Man hat Angst vor ihren Reaktionen, oder fürchtet sich vor Veränderungen.“

„Ich verstehe sehr wohl, wie das ist!“, ruft Shizuka überraschend laut.

„Wenn das so ist“, fängt Miho an, doch plötzlich fällt ihr auf, dass in Shizukas grünen Augen Tränen glitzern.

Oh nein, hat sie etwa etwas gesagt, was sie nicht hätte sagen sollen?

Sofort steht Miho auf und holt eine Packung Taschentücher für Shizuka, die sie ihr schnell hinreicht, aber diese legt sie einfach auf den Tisch ohne sie zu benutzen.

„Shizuka...“, flüstert Miho; „Gibt es da was, über das du mit mir reden möchtest?“

Sie antwortet nicht, sondern schüttelt nur heftig mit dem Kopf.

Verunsichert beugt Miho sich zu ihr hinunter: „Du bist ganz sicher? Du kannst mit mir über alles sprechen, das weißt du...?“

„ICH WILL NICHT DARÜBER REDEN!!!“, schreit Shizuka plötzlich und Miho weicht fast ängstlich zurück. Mit dieser überraschend aggressiven Reaktion hat sie nicht gerechnet.

„Okay“, sagt sie resignierend und eilt in die Küche.

Nicht einmal Keisuke oder Sakito haben sie je so angeschrien, überlegt Miho gestresst, während sie ein Glas mit Cola füllt für Shizuka. Sie tut noch ein paar Eiswürfel hinein und bringt es ihr ins Wohnzimmer.

Sie stellt es auf den Tisch und sagt leise: „Trink das.“

Doch dann bemerkt sie, dass das Mädchen sein Gesicht in den Händen vergraben hat und wahrscheinlich weint.

Was habe ich nur angerichtet, denkt Miho panisch und setzt sich neben Shizuka, doch diese ignoriert Mihos sanften Berührungen und aufmunternden Worte scheinbar völlig.

Diese Situation ist vollkommen neu für sie, sie musste noch nie ein jüngeres Mädchen trösten.

Sie hatte immer nur ihre Brüder, und die haben nun wirklich selten mal geweint, und wenn, konnte sie sie schnell wieder aufbauen. Warum gelingt es ihr bei Shizuka nicht? Was hat sie nur?

„Wenn ich irgendwas für dich tun kann...“, sagt sie schließlich bedrückt, aber noch bevor sie weiter sprechen kann, fällt Shizuka ihr in die Arme, um schließlich weiter zu weinen.

Etwas verdutzt bleibt Miho regungslos sitzen, doch dann drückt sie sie fest an sich.

Sie versucht, Shizuka zu beruhigen: „Alles ist gut... Ich bin da...“

„I-Ich...“, stottert Shizuka weinerlich; „Ich will mit jemandem darüber sprechen, aber es ist so... so schwer...“

„Nimm dir Zeit“, sagt Miho gelassen und drückt sie noch fester an sich.

Sie beschließt, jetzt für Shizuka da zu sein, so wie sie für ihre Brüder da wäre.
 

„Bitte mach schneller, irgendwie hört es nicht auf zu bluten!“, hetzt Yuri Keisuke, der einen verletzen Rotfuchs in den Armen trägt. Die beiden laufen gerade durch die Straßen von Logaly auf den schnellsten Weg nach Hause. Inzwischen ist es dunkel geworden, woran Keisuke sich allerdings nicht stört.

„Tut mir ja leid“, entschuldigt sich Keisuke außer Atem; „Aber das Tier ist nicht gerade leicht!“

„Wenn wir ihn zusammen tragen, sind wir auch nicht schneller! Und ich habe ihn schon aus dem Wald getragen, also schaffst du das Stück auch noch!“

„Dass ich das nicht schaffe, habe ich nie gesagt“, grinst er, aber Yuri ruft:

„Mach schneller!“

Hastig laufen sie durch die Wohnviertel, und hin und wieder nehmen sie dunkle, unheimliche Gassen als Abkürzung.

Es sind fast keine Menschen mehr draußen unterwegs, aber jene die es doch sind, schauen entweder empört, verwirrt oder erschrocken auf die beiden Jugendlichen, welche sich darüber aber nicht aufregen, denn das Wohl des Tiers ist ihnen jetzt wichtiger.

Ob sie es noch rechtzeitig schaffen? Der Fuchs hat sich schon seit einer Weile nicht mehr bewegt.

Er wird doch wohl nicht schon tot sein?

Keisuke wirft einen Blick auf das Tier in seinen Armen. Seine Augen sind geöffnet, aber weder gibt es Klagelaute von sich, noch macht es Anstalten, wegzulaufen.

Und seine Wunde im Bauchbereich blutet immer weiter.

Dieser Geruch... Er kann diesen verführerischen Geruch von Blut nicht viel länger ertragen...

Aber er muss sich zusammenreißen, das weiß er. Nur dieser Durst, dieser unsagbare Durst...

„Wir haben es gleich geschafft“, stöhnt er, und nach ein paar Minuten erreichen sie das Haus der Valleys. Kein Pferd im Vorgarten, und auch kein fremdes Auto in Sicht. Luna ist also nicht mehr da.

War ja abzusehen, überlegt Keisuke, und Yuri rennt direkt auf die Haustür zu und klingelt mehrmals.

„Eigentlich habe ich einen Schlüssel...“, sagt Keisuke, sieht aber selbst ein, dass er ihn mit dem Fuchs auf den Armen nur sehr schwierig aus seiner Hosentasche fummeln könnte.

Nicht lange und Miho öffnet mit ernstem Blick die Tür.

Kaum sieht sie den verletzten Fuchs, den ihr Bruder trägt, erschrickt sie und ruft:

„Was?! Hast du einen Fuchs auf dem Arm?“

Genervt drängelt sich Keisuke an Yuri und Miho vorbei ins Haus:

„Er ist verletzt! Miho, du arbeitest beim Tierarzt, du MUSST ihm helfen, bitte!“

„Ja, als Assistentin!“, erwidert sie verzweifelt; „Leg ihn erst einmal aufs Sofa!“

Im Wohnzimmer legt Keisuke das Tier ab und Miho greift zum Telefon.

„Was machst du?“, fragt er sie.

„Die Praxis hat um diese Uhrzeit schon geschlossen, also rufe ich Luna an und bitte sie, herzukommen!“, erklärt Miho schnell.

„Wird sie ihm helfen können?“, will Yuri besorgt wissen.

„Ich hoffe es“, stöhnt Miho und wählt eine Nummer; „Sie hat von der Anatomie solcher Tiere mehr Ahnung als ich, aber auch ein Laie sieht, dass dem Fuchs nicht mehr viel Zeit bleibt, wenn wir nichts tun. Yuri, könntest du oben Shizuka suchen und sie aufwecken? Wir wollen den Fuchs in mein Zimmer bringen.“

Yuri nickt und rennt unbeirrt aus dem Wohnzimmer, die Treppe hoch.

„Luna, hör zu, wir haben hier einen Notfall!“, ruft Miho hektisch in den Hörer.

Keisuke geht in den Flur und schaut sich seine Hände an, die voller Fuchsblut sind.

Ohne darüber nachzudenken, was er da tut, leckt er sich genüsslich die linke Hand ab.

Es schmeckt so gut, es ist wie als würde er warme Schokoladensoße von seiner Hand ablecken, nur schmeckt es anders als Schokolade, viel, viel besser.

Und vor allen Dingen macht es gierig nach mehr!

Doch Mihos unerwartetes Rufen unterbricht ihn: „Keisuke? Wo bist du?“

Erschrocken hört er auf, an seinen Fingern zu lutschen und sieht auf.

Was hat er gerade getan? Er hat sich doch nicht wirklich das Fuchsblut von seinen Fingern geleckt?

Wie makaber ist das denn?

Etwas durch den Wind antwortet er: „Nur kurz im Badezimmer!“, wohin er danach wirklich verschwindet, um sich das Blut so schnell es nur geht abzuwaschen.

Nachdem seine Hände sauber sind, riecht er nochmals an ihnen.

Na also, die Erdbeerseife duftet auch wunderbar, aber sie bringt ihn nicht dazu, solche komischen, verrückten Dinge zu tun. Er trocknet sie ab und geht in den Flur zurück, wo Yuri steht.

„Hast du dir die Hände gewaschen?“, fragt sie ihn und er nickt.

„Das sollte ich auch machen“, lächelt sie und läuft an ihm vorbei ins Badezimmer.

Doch schon nachdem er ein paar Schritte gemacht hat, bemerkt er, dass er immer noch nach Blut riecht. Wie kann das sein? Er hat sich doch gewaschen?

Er schaut an sich herunter und sieht, dass sein Hemd ebenfalls blutbefleckt ist.

Sofort will er sich umziehen, dieser grauenvolle, anziehende Geruch macht ihn noch wahnsinnig!

Schleunigst eilt er die Treppe hoch und stürzt in sein Zimmer.

Überrascht stellt er fest, dass Shizuka auf seinem Bett liegt. Er geht ein paar Schritte auf sie zu.

Als sie ihn bemerkt, richtet sie sich auf: „Tut mir leid“, sagt sie und reibt sich die Augen;

„Aber Yuri hat gesagt, dass ich in ein anderes Zimmer gehen soll, weil ihr einen schwer verletzten Fuchs dabei habt...“

Keisuke schaut sie etwas missbilligend an. Normalerweise mag er es überhaupt nicht, wenn jemand ohne zu fragen in sein Zimmer geht. In diesem Fall sieht er es Shizuka aber nicht nach.

Trotzdem fragt er: „Du magst süße Tiere wie Füchse doch, oder nicht? Warum gehst du nicht mal nach unten?“

„Ich kann kein Blut sehen...“, sagt Shizuka leise.

Seit wann das? Früher hat sie doch sogar ab und zu Horrorfilme zusammen mit ihm angeschaut.

Wahrscheinlich hat sie ein Trauma von ihren toten Eltern, die in ihrem Zimmer in einer Blutlache lagen. Allein der Gedanke an diese Blutlache bring Keisukes Körper zum Beben.

Er hat solchen Hunger nach Blut! Aber warum? Er hat doch erst kurz vor dem Trip in den Wald eine Konserve getrunken? Doch dann trifft es ihn wie ein Blitz: Hat er nicht.

Er hat sie auf die Herdplatte gelegt, um sie aufzuwärmen, aber weil er Yuri ein Glas Cola gebracht hat, hat er vergessen, das Blut danach zu trinken!

„Übrigens...“, sagt Shizuka, steht auf und streicht höflich die Bettdecke glatt:

„Dein Hemd ist voller Blut... Das ist aber vom Fuchs, oder?“

Besorgt geht sie auf ihn zu, um es sich näher anzuschauen.

Zitternd sieht Keisuke nochmals an sich herunter.

Das ganze Blut springt ihm förmlich ins Gesicht, am liebsten hätte er, es würde ihn in seinen Mund fließen. Er spürt, wie sein Körper anfängt stärker zu beben, wie seine Reißzähne nach Blut verlangen.

Und bevor er weiß, was er tut, hat er die verwirrte Shizuka schon zu Boden geworfen, er hält ihre Hände brutal fest und beugt sich langsam über ihren Hals.

„Was machst du da?!“, ruft sie ängstlich und versucht voller Panik sich loszureißen, scheitert aber.

Er hat keinerlei Kontrolle mehr über seinen Körper, diesem scheinbar unbezwingbarem, starkem Drang hat er einfach nichts entgegen zusetzen.

Gierig nach Menschenblut versucht er, Shizuka in den Hals zu beißen, aber im letzten Moment reagiert sie, indem sie ihm ihren Fuß mit voller Wucht in den Bauch rammt.

Keuchend geht Keisuke zu Boden, und Shizuka steht zitternd auf und rennt schließlich voller Angst aus dem Zimmer.

Was hat er nur getan? Er hat versucht, seine beste Freundin auszusaugen.

Schwer atmend hält er seine Hand an seinen schmerzenden Bauch.

Dass sie so stark zutreten kann, hätte Keisuke nie gedacht.

Und dass er dazu imstande wäre, ihr so etwas grässliches anzutun hätte er auch nie gedacht.

Lass es doch bitte ein Traum gewesen sein, hofft er, aber der Schmerz sagt ihm ziemlich deutlich, dass es keiner war.

Langsam richtet er sich auf und legt sich auf das Bett. Er ist so fertig...

Er bemerkt nicht, dass Yuri das Zimmer betreten hat: „Keisuke?“

Keisuke antwortet nicht.

Yuri... Das Mädchen, das einzige Mädchen, was er je ausgesaugt hat.

Er hätte ihr Blut nie trinken dürfen. Wäre er nie auf den Geschmack von Menschenblut gekommen, wäre ihm die Szene vor einer Minute wahrscheinlich erspart geblieben.

„Ist alles okay? Shizuka ist gerade weinend aus dem Haus gelaufen.“

Geschockt ruft er: „Was?!“

Yuri schaut ihn prüfend an: „Sag mir, was passiert ist!“

Keisuke nickt verstört:

„Könntest du mir bitte vorher eine Blutkonserve aus der Küche holen? Wenn du nicht weißt, wo sie sind, kannst du Miho fragen...“ Auf Yuris fragenden Blick keucht er nur ein verzweifeltes:

„Bitte!!“

Wahrheit

Wahrheit
 

„Das sieht nicht gut aus“, sagt Luna besorgt, als sie sich die Wunde vom Fuchs ansieht.

Sie ist so schnell gekommen, wie sie konnte.

Miho, Keisuke und Yuri stehen mit ihr gemeinsam um das arme Tier herum.

„Ich habe vorgeschlagen, ihn in mein Zimmer zu bringen...“, fängt Miho an, aber Luna sagt sofort: „Nein. In dem Zustand können wir ihn nicht bewegen. Er hat zu viel Blut verloren.“

Beim Hören des Wortes „Blut“ verkrampft sich Keisukes Hand zu einer Faust.

„Aber ihr könnt ihm doch helfen?“, will Yuri wissen.

„Wir tun unser bestes“, versichert Miho ihr; „Aber es ist schon spät. Ruf bitte zu Hause an, damit deine Eltern dich abholen kommen.“

„Nein!“, ruft Yuri sauer; „Ich habe mit Keisuke zusammen diesen Fuchs von einem Wilderer gerettet, ich will jetzt bei ihm bleiben, bis er wieder gesund ist!“

„Das könnte noch was dauern“, sagt Luna, während sie die Wunde desinfiziert.

„Wo ist Shizuka eigentlich hingelaufen?“, fragt Miho Keisuke.

Er hat ihnen bis jetzt verschwiegen, was genau oben passiert ist.

„Ich weiß es nicht...“, flüstert er traurig.

„Was hast du gemacht?“, fragt Miho ernst; „Du hast doch nichts zu ihr gesagt, dass sie verletzt haben könnte?“

Wenn es doch nur sowas wäre, denkt Keisuke.

„Schlimmer“, flüstert er.

„Wie bitte?“, fragt Miho verwirrt.

„Er hat gesagt 'schlimmer'!“, wiederholt Yuri.

Miho sieht ihn fassungslos an:

„Was soll das heißen, Keisuke?“

Eine Weile sagt er gar nichts, und alle starren ihn an, außer Luna, die sich um den Fuchs kümmert.

„Es tut mir leid“, sagt Keisuke und weicht einen Schritt zurück; „Ich habe die Beherrschung verloren und irgendwie versucht... Ihr Blut zu trinken...“

„WAS?!“, ruft Miho empört. Yuri schaut ihn erschrocken an: „Gegen ihren Willen?!“

„Seid mal etwas leiser“, beschwert sich Luna, und alle nehmen Rücksicht auf das Tier.

„Warum hast du das gemacht?“, flüstert Miho kopfschüttelnd; „Ausgerechnet sie!“

„Es tut mir leid, ich wollte das gar nicht! Ich habe die Kontrolle verloren!“, entschuldigt sich Keisuke, aber Mihos Entsetzen steht ihr immer noch ins Gesicht geschrieben.

Schlimm genug, dass er sich wie ein Monster fühlt, jetzt schaut ihn seine eigene Schwester auch noch so an, als wäre er wirklich eines.

So hat sie ihn noch nie angesehen, mit dieser Mischung aus Verachtung, Angst und Enttäuschung.

Yuri schaut nur etwas deprimiert an ihnen allen vorbei, und Luna scheint sich gar nicht um diese ganzen Sachen zu kümmern sondern hat nur Augen für den verletzten Fuchs auf dem Sofa.

„Was soll ich machen? Es tut mir so leid...“

Er sieht seine Schwester hilfesuchend an.

Diese zögert eine Sekunde, doch dann seufzt sie nur und sagt:

„Geh sie suchen. Wenn es dir wirklich leid tut, geh sie suchen und entschuldige dich.“

Keisuke nickt. Yuri steht auf und ruft: „Ich komme mit!“

Aber Miho sagt sofort: „Nein, das kann ich nicht erlauben. So spät solltest du nicht mehr nach draußen gehen, und wolltest du nicht bei unserem Patienten bleiben?“

Yuri schaut traurig zu Keisuke, der zu lächeln versucht: „Schon okay, ich gehe alleine. Aber habt ihr vielleicht einen Anhaltspunkt, wo sie sein könnte?“

„Vielleicht in ihrem alten Haus?“, schlägt Luna vor; „Das steht doch seit damals leer?“

„Sie hätte auf jeden Fall einen Schlüssel dafür!“, ergänzt Miho, und dann fällt ihr ein:

„Keisuke, du hast doch auch einen, oder? Nimm ihn mit. Es könnte gut sein, dass sie dort ist.“

Er nickt und rennt so schnell es geht in sein Zimmer, um den Zweitschlüssel für Shizukas Haus aus einer Schublade zu holen.

Sie hat mit Sicherheit jetzt große Angst vor ihm, aber er muss versuchen, es ihr zu erklären.

Unten verabschiedet er sich hastig: „Ich bin weg! Dauert hoffentlich nicht lange...“

Und schon verschwindet er aus dem Haus.

Über die kühlen Straßen geht er schnellen Schrittes zum Haus von Shizukas toten Eltern.

Zum Glück ist es nicht weit, überlegt er.

Als er das große, imposante Haus vor sich erblickt, beeilt er sich, hineinzugehen und Shizuka dort zu suchen. Allerdings kann er sie nirgendwo finden, weder in ihrem Zimmer, noch in der Küche, im Salon oder sonstwo.

Enttäuscht verlässt er das menschenleere Haus wieder.

Er weiß wirklich nicht, wo sie denn noch sein könnte?

In der Schule? Mit Sicherheit nicht. Lilienfeld-Bibliothek? Auch unwahrscheinlich, sie hat nicht viel übrig für Bücher.

Ist es überhaupt klug, sie zu suchen? Vielleicht will sie ja alleine sein.

Auf jeden Fall wird sie Keisuke nicht sehen wollen.

Aber trotzdem, er muss sich einfach bei ihr entschuldigen!

Er geht eine Weile ziellos durch die Nachbarschaft und hält nach ihr Ausschau, aber ohne Erfolg.

Ein paar Minuten später kommt ihm eine alte Frau entgegen.

Keisuke beschließt, sie zu fragen:

„Entschuldigung! Haben Sie ein Mädchen mit schwarzen Haaren und einem weißen Kaputzenpulli hier irgendwo gesehen? Ich suche sie.“

Ratlos schüttelt die Fremde den Kopf und geht einfach weiter.

Um diese Uhrzeit scheinen die Leute auf den Straßen misstrauischer zu werden.

Keisuke geht noch ein Stück weiter und setzt sich schließlich auf eine Holzbank.

Was, wenn sie in der Zwischenzeit schon wieder nach Hause gekommen ist?

Sollte er mal nachschauen?

Aber falls nicht, wäre es blöd, ohne Shizuka zurückzukehren.

Ein bisschen möchte er sie noch suchen.

Er geht die Straße weiter hinunter, an einer Bushaltestelle und einem Kiosk vorbei, bis er sich auf einen kleinen, verlassenen Spielplatz wiederfindet. Naja, nicht ganz verlassen.

Shizuka sitzt nachdenklich mit gesenktem Blick auf der Schaukel.

Endlich hat er sie gefunden.

Hoffentlich läuft sie nicht vor Angst weg, wenn er sich ihr nähert.

Langsam geht er auf sie zu, und ein paar Meter vor ihr sieht sie plötzlich auf und erschreckt sich leicht. Doch scheinbar fängt sie sich schnell wieder, sie begrüßt Keisuke mit einem monotonen:

„Was machst du denn hier?“

Da sie offensichtlich keine Angst mehr hat, setzt er sich auf die Schaukel neben der ihren und antwortet: „Ich habe dich überall gesucht.“

Sie schweigt.

„Ich wollte mich bei dir entschuldigen, für das, was ich in meinem Zimmer gemacht habe...“, sagt er traurig, und hofft, dass sie ihm verzeiht.

„Ich habe mich furchtbar erschreckt...“, flüstert Shizuka; „Ich meine es ernst, ich hatte richtig Angst!“

An diesem Abend ist Keisuke wirklich zum Monster geworden. Am liebsten würde er Shizuka aufmuntern, aber da gerade er selbst es war, der sie so verängstigt hat, hält er dies für keine sonderlich gute Idee.

„Sag mir warum, sag mir, warum du das getan hast!“, ruft sie plötzlich und sieht ihn fast zornig an.

„Ich, also, äh...“, fängt er an, aber es dämmert ihn, dass er spätestens jetzt mit der Wahrheit herausrücken sollte:

„Es gibt einen Grund. Du glaubst es mir vielleicht nicht, aber ich bin... ein Vampir.“

Shizuka schaut ihn gekränkt, an, allerdings sieht sie nicht wirklich überrascht aus:

„Das habe ich, wenn ich ehrlich bin, schon die ganze Zeit vermutet. Aber dieser Gedanke war so absurd, so lächerlich! Ich dachte, wenn ich dich darauf anspreche, und ich liege falsch, blamiere ich mich fürchterlich. Ihr haltet mich doch alle für dumm und unterbelichtet!“

Keisuke sagt nichts. Er hätte schon viel früher mit ihr darüber reden sollen.

„Selbst nachdem Miho es mir heute erzählt hat...“

An dieser Stelle unterbricht er sie: „Was?! Miho hat es dir ERZÄHLT?!“

Doch sie ignoriert seinen Einwurf einfach und spricht weiter:

„Auch da dachte ich, dass sie nur einen Witz mit mir treibt. Und wenn ich darauf reinfalle, beweise ich wieder allen, wie blöd ich bin. Deshalb habe ich es nicht geglaubt!“

Wieder weiß er nicht, was er sagen soll. Er weiß, dass es sein Fehler gewesen ist.

„Warum hast du es mir nicht anvertraut?! Was habe ich denn gemacht, dass ich es verdiene, von dir permanent angelogen zu werden?!“ Sie wird immer wütender.

Keisuke flüstert: „Nichts, aber...“

„Kein aber! Richtige Freunde erzählen sich sowas!“, ruft sie und springt auf.

„Warte bitte!“, keucht Keisuke; „Du musst wissen, seitdem ich ein Vampir bin, gerate ich dauernd in gefährliche Situationen! Ich wäre mehrere Male schon fast ums Leben gekommen! Ich wollte dich nicht dadurch in Gefahr bringen, dass du über meine wahre Natur Bescheid weißt!“

„Aber Yuri und Luna sagst du es! Sogar Desmond weiß davon!“, erwidert sie.

„Die... Die haben es aber alle irgendwie zufällig herausgefunden! Das war nicht meine Absicht!“

Sie starrt ihn sehr böse an, diesen Blick hat er von ihr noch nie zu spüren bekommen.

„Bitte verzeih mir“, fleht er; „Ich mache alles! Ich weiß, dass es falsch war...“

Shizuka seufzt: „Dass du mich zu Hause angefallen hast, kann ich dir verzeihen.“

„Ich litt unter Blutmangel und konnte mich nicht mehr kontrollieren“, entschuldigt er sich.

Shizuka nickt: „Wenn du das nicht nochmal machst... Dann ist es okay. Aber dass du mir die ganze Zeit über verschwiegen hast, was du bist, und mir etwas vorgespielt hast, das....“

Keisuke unterbricht sie: „Es hat aber noch einen anderen Grund.“

Sie wird hellhörig. Er fürchtet sich ein bisschen, sie darauf anzusprechen, aber früher oder später wird er es ihr ohnehin sagen müssen:

„Deine Eltern... Sie wurden von einem Vampir umgebracht.“

„Was?!“, ruft Shizuka und hält sich die Hände vor den Mund.

„Ich hatte Angst, du hasst mich vielleicht, wenn ich von der selben Sorte bin wie der.“

„Aber Keisuke...“ In ihren Augen glitzern nun Tränen;

„Du hast doch noch niemanden getötet, auch wenn du ein Vampir bist...“

Verwirrt antwortet er: „Stimmt. Aber woher weißt du das?“

„Weil ich dich kenne. Du bist einfach nicht so eine Person. Dazu wärst du gar nicht imstande. Normalerweise bist du immer sanft und freundlich. Außer heute Abend...“

„Shizuka, ich bin froh, dass du jetzt alles weißt“, sagt Keisuke glücklich.

„Noch nicht alles. Wovon ernährst du dich eigentlich?“

„Blutkonserven“, antwortet er beschämt, aber sie fängt fast an zu lachen, obwohl die Tränen immer noch in ihren Augen stehen.

„Das hätte ich mir ja denken können... Ähm, erzähl mir bitte alles, was du über den bösen Vampir, der Mama und Papa getötet hat, weißt...“

Keisuke seufzt, er hat die ganze Zeit gehofft, darauf würde sie ihn nicht ansprechen:

„Er heißt Samuel und ziemlich arrogant. Ähm, er ist aber keiner der Cursers...“

„Und was sind Cursers?“, fragt Shizuka.

Ach richtig, das weiß sie ja auch nicht. Keisuke nimmt sich kurz Zeit, um Shizuka von den Cursers und ihren Zielen zu erzählen. Er erzählt ihr auch alles über Emily, die Königin, über die besonderen Kräfte der Vampire und dass sie ihm seine genommen hat.

„Also das klingt schon extrem verrückt!“, staunt Shizuka; „Ich hätte nicht gedacht, dass hinter meinem Rücken sowas abläuft.“

Keisuke entschuldigt sich nochmals bei ihr, aber sie winkt ab: „Schon gut. Aber daran liegt es auch, dass du so anders aussiehst als früher, oder?“

„Stimmt“, sagt er; „Meine braunen Haare sind silbern geworden, meine Augen rot, und meine Haut noch blasser, als sie sowieso schon war...“

Sie klopft ihm lächelnd auf die Schulter:

„Aber ich finde, dass du besser aussiehst, als vorher.“

Er merkt, wie nett Shizuka eigentlich ist. Eben hat sie ihm noch Vorwürfe gemacht, und jetzt ist sie schon wieder ganz die Alte. Erleichtert atmet Keisuke aus.

„Wollen wir nach Hause gehen?“, fragt er.

Sie stimmt zu, denn es ist spät und morgen werden sie schon wieder zur Schule gehen müssen.

Unterwegs sagt er noch einmal: „Ich bin echt froh, dass du es jetzt weißt.“

Sie nickt, aber ihr Lächeln erstirbt.

„Keisuke... Ich... Ich habe auch etwas, was ich dir erzählen möchte, wirklich gerne...“

Er blickt sie fragend an, aber sie schaut auf den Boden vor sich:

„Ja, was denn?“

„Ähm... Das ist nicht sehr einfach... Um genau zu sein ist es total schwierig.“

Keisuke seufzt. Er kann gut nachvollziehen, wie sie sich fühlt.

Darum rät er: „Dann sprich es nur aus, wenn du wirklich willst, dass ich es weiß. Und wenn du denkst, dass dies der richtige Zeitpunkt ist.“

„Ich...“ Shizuka stottert: „Ich kann es nicht sagen... Aber ich muss... Wenn ich es nicht tue, bin ich doch keine gute Freundin...“

Keisuke schüttelt den Kopf: „Es gibt einen Unterschied zwischen Dingen, die du deinen Freunden erzählen musst, und Dingen, die du ihnen nicht erzählen musst. Das ich ein Vampir bin, hättest du sofort erfahren müssen, aber wenn du Probleme hast, über etwas zu sprechen, dann lass es ruhig oder mach es später.“

„Danke“, lächelt Shizuka; „Dass du sowas sagen kannst, nachdem, wie ich dich angefahren habe...“

Er sagt nichts weiter darauf. Gewiss ist er interessiert darin, was sie ihm denn wichtiges zu sagen hat, aber er möchte sie keineswegs belasten.

Zuhause angekommen, werden sie erst einmal von der besorgten Miho im Wohnzimmer begrüßt:

„Shizuka, Keisuke! Da seid ihr ja. Wir haben schon Mitternacht vorbei, ich bin froh, dass ihr wieder da seid...“

Keisuke schaut sich überrascht um: „Wo ist Yuri? Und Luna? Und der Fuchs?“

Miho seufzt: „Der Fuchs ist erstmal außer Lebensgefahr. Luna hat ihn mit zu sich nach Hause genommen, damit sie ihn die nächsten Tage pflegen kann. Und Yuri wurde von ihrer Mutter abgeholt.“

Miho geht auf Shizuka zu: „Geht es dir gut?“

Sie nickt, sagt dann aber ziemlich schnell: „Ich bin müde, wir sehen uns morgen, ja?“

Und sie spurtet die Treppe hoch, um offenbar schlafen zu gehen.

„Hat sie dir verziehen?“, fragt Miho Keisuke ernst.

„Ja, ich glaube schon. Sie weiß jetzt, dass ich ein Vampir bin. Keine Geheimniskrämerei mehr.“

Seine große Schwester lächelt erleichtert: „Gut, das freut mich.“

Er möchte ihr jetzt keinen Vorwurf dafür machen, dass sie Shizuka schon ohne seine Zustimmung von seiner wahren Natur erzählt hat, aber für die Zukunft wird er sich merken, dass Miho keine gute Lügnerin ist. Das ist wahrscheinlich auch besser so.

„Lügen bringen nichts als Ärger...“, murmelt er, und Miho fragt:

„Was? Naja egal, ich werde mich morgen auch bei ihr entschuldigen, immerhin habe ich bei diesem ganzen Spektakel mitgespielt, obwohl ich wusste, dass es falsch ist.“

Keisuke stimmt ihr zu und geht ins Badezimmer, um sich noch schnell die Zähne zu putzen, ehe er auch schlafen geht.

Nachdem er sich in sein Bett eingekuschelt hat, schläft er recht schnell ein.

Aber er wacht auch recht schnell wieder auf: Shizuka ist reingekommen und hat das Licht angemacht.

„Hey!“, ruft Keisuke vorwurfsvoll.

Es kann doch nicht schon morgen sein? Er fühlt sich, als hätte er sich gerade erst hingelegt.

„Wie spät ist es...?“, nuschelt er.

„Viertel nach zwei, nachts“, antwortet Shizuka munter und setzt sich zu ihm aufs Bett, was Keisuke leicht unangenehm ist, weil er nur Unterwäsche trägt.

Er hält die Decke so vor sich, dass man nur seinen Kopf und einen Teil seines Halses sehen kann.

„Ich habe über das nachgedacht, was du mir heute gesagt hast. Und ich will nicht länger warten. Ich muss dir unbedingt etwas sagen.“

Keisuke reibt sich die Augen: „Moment, lass mich erstmal richtig wach werden...“

„Als mein bester Freund sollst du es erfahren. Erinnerst du dich noch an die Sommerferien letztes Jahr? Meine Eltern sind mit mir in einen gigantischen Vergnügungspark gefahren.“

Er erinnert sich dunkel daran:

„War das nicht da, wo ich auch mitkommen wollte, aber das ging nicht weil ich eine Sommergrippe hatte?“

„Genau“, sagt sie; „An diesem Tag bin ich fast auf jeder Attraktion mit meinen Eltern gewesen. Auf Achterbahnen, dem Riesenrad und so weiter! Nur da war eine Attraktion...“ Sie hält plötzlich inne.

Keisuke schaut sie fragend an: „Ja?“

Shizuka seufzt: „Kennst du diese Liebestunnel, durch die man mit einem Schwanenboot durchfährt? Eigentlich sind die für junge Pärchen gemacht, aber meine Eltern wollten unbedingt da rein, und weil es nur zwei Sitzplätze gab, habe ich draußen gewartet und Zuckerwatte gegessen.“

„Shizuka, ich verstehe nicht ganz, worauf du hinaus willst?“, fragt Keisuke verwirrt.

„Warte...“ Ihr Atem wird plötzlich schwerer:

„Als ich da saß kam ein Typ vorbei, der als rosa Hase verkleidet war. Als ich ihm zugewunken habe, ist er vor mir weggelaufen...“

Keisuke ist unbeeindruckt: „Na und?“

„Ich... Ich weiß nicht... Ich fand das damals halt irgendwie... irgendwie mega-niedlich, also bin ich aufgestanden und ihn hinterhergelaufen. Ich habe versucht, ihn zu fangen. Aber dann...“

Sie atmet tief aus: „Ich bin ihn bis hinter die größte Achterbahn gefolgt. Das war ein Platz an der Seite, wo ganz viel Müll lag und keine Menschenseele war. Der Mann hat das Hasenkostüm ausgezogen und mich gefragt, ob ich es haben will. Und weil ich es so süß fand habe ich 'ja' gesagt, da ist er auf mich zugekommen und ich dachte, er würde es mir geben, aber stattdessen... Er hat mich gepackt, auf den Boden geworfen und über mich geklettert!“

Keisuke bekommt fast einen Schock, diese Situation kommt ihn bekannt vor:

„Sag bloß, es war ein Vampir, der dich ausgesaugt hat?!“

„Schlimmer“, jammert sie; „Viel schlimmer... Es war kein Vampir, aber er hat mich... einfach...“

Langsam fällt der Groschen bei Keisuke, und keine Sekunde zu früh, denn Shizuka ist schon wieder am Weinen. Er rutscht ein bisschen nach vorne und streichelt ihr den Kopf, aber sie reagiert nicht.

„Ich habe es... bis heute keinem erzählt! Nicht mal meinen Eltern! Nur Miho...“

„Miho wusste davon?“, fragt Keisuke erstaunt.

Shizuka nickt: „Sie hat mich weinen sehen, und ich musste es einfach jemandem sagen. Sie hat versprochen, es für sich zu behalten. Aber ich wollte auch, dass du es weißt.“

Er merkt, wie wütend er wird, dass jemand es gewagt hat, Shizuka so etwas anzutun!

Und dieser jemand wurde nicht einmal dafür belangt, er läuft wahrscheinlich immer noch frei draußen rum und fällt über wehrlose Mädchen her!

„Du musst zur Polizei gehen!“, ruft Keisuke.

„Ich kann nicht... Ich glaube nicht, dass ich nochmal darüber reden kann...“

Er versteht das, ist aber dennoch der Meinung, dass man so etwas der Polizei nicht vorenthalten dürfe.

„Weißt du Keisuke, als du mich heute... eigentlich gestern... zu Boden geworfen hast, da hat es mich an dieses Ereignis vor einem Jahr erinnert... Auch noch gerade, nachdem ich es Miho erzählt habe.“

Keisuke hat jetzt auch Tränen in den Augen stehen, denn jetzt wird ihm das Ausmaß seines Fehlers erst richtig bewusst.

Er zögert kurz, umarmt Shizuka dann aber doch leicht.

Auch wenn es ihr nicht hilft, es ist schmerzhaft für ihn, sie so oft weinen zu sehen.

Aber er ist ihr dankbar dafür, dass sie es geschafft hat, ihm so etwas Schreckliches anzuvertrauen.

Geburtstag

Geburtstag
 

Es ist Freitag nachmittag, und Keisuke sieht sich vor einer großen Katastrophe.

Der Eisschrank, dessen Fach einst mit viel halbwegs leckerem Blut gefüllt war, ist jetzt leer.

Keine Blutkonserven mehr da. Die letzte hat er vor der Schule getrunken.

Hilflos setzt er sich an den Tisch im Wohnzimmer und überlegt verzweifelt, was er jetzt machen soll. Heute würde er mit Sicherheit keins mehr brauchen, aber morgen und die Tage darauf ohne Blut auszukommen wird schwer. Hätte er doch nur Raitos Nummer!

Er würde jetzt nicht zögern, ihn nach Nachschub zu fragen.

Wenn er Verena versorgen konnte, dann Keisuke bestimmt auch.

In Gedanken versunken bemerkt er seine Schwester gar nicht, die in Eile das Wohnzimmer betritt:

„Keisuke!“ Er sieht auf.

Sie trägt ihre graue Jacke und ihre Handtasche hängt ihr über die linke Schulter. In den Händen hält sie ein paar Werbeprospekte, aber es ist auch ein Briefumschlag darunter.

Miho gibt ihm den Brief, worauf der junge Vampir verwirrt fragt: „Was ist das?“

Seine Schwester seufzt: „Dir ist schon klar, dass ich keinen Röntgen-Blick habe? Es steht dein Name drauf. Ich bin dann weg, ich muss arbeiten.“

Keisuke nickt.

„Du weißt, falls Shya wieder auftaucht, will ich das sofort erfahren. Zögere also nicht, mich in der Praxis anzurufen, ja?“

Ihr Bruder ist einverstanden, doch er geht nicht davon aus, dass die Katze ausgerechnet in den Stunden wieder zurückkommt, in denen Miho nicht zu Hause ist.

Sie verabschiedet sich und eilt aus dem Haus.

Keisuke betrachtet den Brief genauer. Der Umschlag ist cremefarben, und mit den Worten „Für Keisuke“ in schwarz beschriftet.

Interessiert reißt er den Umschlag auf, um sich den Inhalt anzusehen.

Zuerst vermutet er, dass es sich um einen Brief seiner Großeltern handelt, denn alle paar Monate schenken sie ihm und seinen Geschwistern etwas Geld, Gutscheine und so weiter.

Doch das stellt sich als Irrtum heraus:

Im Briefumschlag befindet sich eine weiße Einladungskarte!

Überrascht liest Keisuke sie durch:

„Herr Valley, Sie haben die unglaubliche Ehre, zu meinem Geburtstag eingeladen zu sein. Die Feier findet heute Abend um 19:30 Uhr an. Die Adresse lautet: „Bernsteinstraße 49.“

Anwesenheit ist erwünscht!

PS: Zieh dir was ordentliches an, und wehe du kommst zu spät!“

Was ist das denn bitte für eine Einladung?

Die klingt wirklich seltsam, womöglich ist es wieder eine Falle der Cursers?

Und es ist kein Absender darauf zu sehen, also um wessen Geburtstag handelt es sich überhaupt?

Keisuke entscheidet, den Brief erstmal beiseite zu legen, er hat andere Probleme als irgendwelche Geburtstagsfeiern von Leuten, die nicht mal intelligent genug sind ihren Namen dazuzuschreiben.

Er läuft hoch, um die Einladung in sein Zimmer zu werfen, aber noch ehe er dort ist, kommt Shizuka ihm auf der Treppe entgegen.

„Ist Miho schon gegangen?“, fragt sie ihn, und er nickt.

„Schade, ich wollte sie noch fragen, ob sie mir meine weiße Jeans bügelt... Was hast du da?“

Ihr Blick fällt auf das Papier in seiner Hand, und er überreicht es ihr wortlos.

Nachdem sie es gelesen hat, sieht sie ihn fragend an: „Von wem kommt das?“

„Keine Ahnung, er oder sie hat auf die Namensangabe verzichtet“, sagt Keisuke zähneknirschend.

Shizuka nimmt die mysteriöse Einladung mit nach unten:

„Sicher, dass es nicht für Sakito ist? Es steht „Herr Valley“ darin...“

„Nein, auf dem Umschlag steht mein Name. Da war aber auch kein Absender drauf.“

Shizuka seufzt. Sie geht entspannt zum Telefon und wählt eine Nummer.

„Ich frage einfach die Auskunft. Wir haben ja die Adresse.“

„Gute Idee!“, lobt Keisuke sie und setzt sich auf das Sofa.

Auf seine Bitte hin schaltet sie den Lautsprecher ein, sodass er mithören kann:

„Guten Tag, hier ist die örtliche Auskunftszentrale. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Shizuka liest die Adresse vor: „Bernsteinstraße 49, Logaly. Ich möchte wissen, wer da wohnt.“

„Gedulden Sie sich bitte einen Moment...“, sagt die Frauenstimme.

Ungefähr eine halbe Minute warten sie, und Keisuke platzt fast vor Aufregung.

Die Stimme meldet sich wieder: „In der Bernsteinstraße 49 wohnen Abram und Mary Spider. Sonst noch etwas?“

„Nein danke“, sagt Shizuka und legt zufrieden auf. Sie wendet sich an Keisuke: „Und?“

„Also... Die beiden Personen kenne ich gar nicht... Aber wenn sie Spider mit Nachnamen heißen...“

Er schluckt. Es kann nicht wirklich wahr sein.

„Was ist?“, fragt sie ihn irritiert.

„Ich gehe mal davon aus, dass diese Einladung... von Samuel stammt.“

Shizukas Augen weiten sich, dann packt sie das Papier und liest es sich ein weiteres Mal durch:

„Samuel? Der Typ, der... Dieser Mann? Wie kommt er dazu, dich zu seinem Geburtstag einzuladen? Seid ihr etwa Freunde?!“ Sie ist am Rande der Hysterie.

Keisuke schüttelt heftig den Kopf: „Nein, nein, ganz und gar nicht! Ich hasse ihn, für das, was er gemacht hat! Er ist ein Verbündeter gegen die Cursers, aber ich bin ganz sicher NICHT mit ihm befreundet!“

„Aber warum schickt er dir dann eine Einladung?“, fragt sie deprimiert.

„Ich weiß es nicht“, gibt Keisuke zu; „Aber ist schon gut, ich gehe einfach nicht hin.“

„Doch, du wirst hingehen!“, ruft Shizuka laut; „Und ich werde mitkommen!“

Keisuke schaut sie entsetzt an: „Bist du... Bist du sicher, dass du... dass du das willst? Er hat immerhin...“

„Ich weiß, was er getan hat!“, antwortet sie mit entschlossenem Blick;

„Und ich werde ihn dafür zur Rede stellen!“

Keisuke seufzt. Na das kann ja heiter werden. Eine Party mit Samuel stellt er sich so schon äußerst unangenehm vor, wenn auch noch eine hasserfüllte Shizuka dabei ist, ist der Ärger vorprogrammiert.

„Hast du eigentlich eine Ahnung, wo die Bernsteinstraße ist?“, fragt Keisuke, und Shizuka zuckt mit den Schultern; „Ich schaue mir gleich mal den Stadtplan an, während du im Badezimmer bist. Du lässt dir dafür, wenn ich mich danach im Badezimmer fertigmache, ein Geschenk für ihn einfallen.“

„Was?!“, ruft Keisuke bestürzt; „Du willst dem Mörder echt was schenken?“

Shizuka schüttelt den Kopf: „Nein, aber es ist blöd, ohne Geschenk bei einer Geburtstagsparty aufzutauchen.“

„Ähm, okay...“, sagt er zögerlich und wirft einen Blick auf die Uhr: „Wir haben halb fünf... Ich gehe mich schon mal duschen und so...“

„Okay! Und ich suche in der Zeit den Stadtplan. Hier im Wohnzimmer müsste er doch irgendwo in einer Schublade von einem Schrank sein, oder?“

Keisuke zuckt nur lächelnd mit den Schultern und verlässt den Raum.

Fast eine Stunde später steht er vor dem Spiegel im Badezimmer und mustert sich.

Frisch geduscht und fertig angezogen sieht er eigentlich ganz gut aus, findet er.

Er hatte sich für ein schwarzes Hemd, eine schwarze, enge Hose und einen ebenfalls schwarzen Gürtel entschieden. Um die Bartstoppeln hat er sich mit einem Rasierer gekümmert, nur mit seinen Haaren weiß er nicht wirklich etwas anzufangen, also beschließt er, sie einfach normal zu lassen, ein bisschen verstrubbelt, aber nicht zu viel.

Schließlich verlässt er den Raum und schmeißt seine schmutzigen Klamotten in einen Wäschekorb neben der Badezimmertür.

Im Wohnzimmer geht er auf Shizuka zu, die voller Konzentration den Stadtplan studiert.

„Bin fertig“, meldet Keisuke, und das Mädchen reagiert mit einem stummen Nicken.

Er setzt sich auf den Stuhl gegenüber und fragt: „Hast du die Straße gefunden?“

„Die Straße habe ich schon lange, aber egal, wie man es auch dreht und wendet, sie ist zu weit von unserem Haus entfernt, als dass wir zu Fuß dahin gehen könnten...“

„Dann fahren wir eben mit dem Bus“, erwidert Keisuke gelassen, aber Shizuka winkt ab:

„Es sind hier keine Haltestellen vermerkt, die Idee ist also auch nicht das Wahre. Ich bestelle uns ein Taxi.“

„Und wer bezahlt das?“, fragt Keisuke deprimiert. Er hat fast gar kein Geld mehr in der Tasche.

Shizuka scheint ihm das anzusehen, denn sie antwortet: „Ich mach das schon.“

Dankbar lächelt er sie an. Sie hat aber auch wirklich Geld wie Heu.

„Ich will dann auch mal ins Badezimmer gehen“, sagt sie und steht auf:

„Du siehst übrigens gut aus, aber ist das nicht ein bisschen zu legere?“

„Warum?“ Keisuke sieht sie voller Unverständnis an. Er findet sich sehr schick.

„Moment, ich weiß, was dazu passen würde“, lächelt sie und rennt schnell aus dem Wohnzimmer. Verwirrt wartet er eine Minute auf sie, und als sie zurückkommt, hält sie eine rote Krawatte in der Hand.

„Woher hast du die?“, fragt Keisuke erstaunt.

Shizuka fängt an zu lachen: „Aus Sakitos Kleiderschrank. Wir geben sie ihm später zurück, aber ich finde, dass sie unglaublich gut zu dir passt.“

„Ähm, danke“, sagt Keisuke, und Shizuka legt sie auf den Tisch: „Da ist noch etwas.“

Fragend schaut er sie an. Sie geht zum Holzschrank und nimmt eine Flasche Rotwein heraus.

„Die habe ich zufällig gefunden, als ich nach dem Stadtplan gesucht habe. Ein perfektes Geschenk, findest du nicht?“

Keisuke mustert die Flasche interessiert. Sie ist noch verschlossen, und er fragt sich, seit wann sie da im Schrank steht. Ihm ist bisher noch kein französischer Rotwein dort aufgefallen, aber vielleicht hat Miho sie vor ein paar Tagen für ihr Dinner gekauft und ihn dann im Schrank vergessen.

In dem Fall kann man die Flasche ruhig verschenken.

Shizuka verschwindet im Badezimmer und Keisuke setzt sich mit der Flasche aufs Sofa.

Irgendwie wirkt sie noch etwas kahl, deswegen eilt er hoch in sein Zimmer und holt eine dunkelrote Schleife aus einer Schachtel im Schrank, die er vorsichtig am Flaschenhals befestigt.

Dann geht er wieder nach unten und stellt sie auf den Tisch im Wohnzimmer.

Jetzt sollte ich mich um die Krawatte kümmern, denkt er, und bindet sie sich vor dem Spiegel im Flur um den Hals.

Weil es schon mehrere Jahre her ist, dass er das letzte Mal eine Krawatte binden musste, dauert es fast eine halbe Stunde, bis er es geschafft hat.

Erleichtert atmet er auf und schaut auf die Uhr. Er hat noch mehr als eine Stunde Zeit, bevor sie das Taxi rufen sollten, deswegen setzt er sich auf das Sofa und schmeißt den Fernseher an.

Er schaltet eine Weile wahllos um, bis er auf einen der öffentlichen Kanäle über etwas interessantes berichtet wird. Der Beitrag des Nachrichtensprechers lautet:

„In den letzten Monaten verschwinden immer wieder Menschen in Logaly. Inzwischen gehen jeden Tag mehrere Vermisstenanzeigen bei der Polizei ein. Diese ist ratlos. Man vermutet, dass hinter den zahlreichen Fällen eine geheime Verbrecherorganisation steckt, die im Untergrund agiert. Falls es irgendwelche Informationen über diese Organisation gibt, zögern Sie, liebe Zuschauer, bitte nicht, sie der Polizei mitzuteilen. Und damit kommen wir zum Wetter.“

Das Wetter ist Keisuke egal, also schaltet er den Fernseher aus.

Er ist sich ziemlich sicher, dass er weiß, warum so viele Menschen verschwinden.

Das sind die Cursers, die nach und nach die gesamte Menschheit ausrotten wollen. Natürlich lassen sie die Leichen ihrer Opfer nicht einfach auf der Straße rumliegen, sondern sie verstecken sie irgendwo, oder sie vernichten sie.

Keisuke seufzt. Die Polizei kann die Curser-Gesellschaft nicht aufhalten. Würde er zur Polizei gehen und alles sagen, was er weiß, würde die Existenz der Vampire vor den Menschen kein Geheimnis mehr sein, und wer weiß, was dann passiert.

Womöglich gibt es dann wirklich so einen Krieg zwischen den Menschen und den Vampiren, wie in einem Spielfilm, den er vor ein paar Jahren mal gesehen hat.

Allein bei der Vorstellung läuft es Keisuke kalt den Rücken runter.

Er schaltet den Fernseher wieder ein und entscheidet, lieber eine Komödie anzuschauen um auf andere Gedanken zu kommen.

Nach ungefähr einer Stunde kommt Shizuka aus dem Badezimmer und stellt sich vor Keisuke:

„Wie sehe ich aus?“

Sie ist echt schön, fällt Keisuke auf.

Zu einem blauen, ärmellosen Kleid hat trägt sie einen etwas dunkleren Schal als auch blaue Schuhe mit Absätzen. Ihre Haare hat sie hinten hochgesteckt und mit einem saphirbesetzten Haarschmuck versehen. Sie ist geschminkt, wenn auch nur leicht.

„Toll!“, ruft Keisuke begeistert.

Egal welche Probleme auf sie zukommen, zumindest würden sie sehr gut aussehen, wenn sie sie meistern oder an ihnen zugrunde gehen.

„Ich rufe dann mal das Taxi“, lächelt Shizuka, nachdem sie die Nummer des Unternehmens aus dem Telefonbuch gefischt hat.

Zehn Minuten später ist das Taxi da und fährt die beiden zum Zielort.

Keisuke ist sehr aufgeregt, aber er kann Shizuka das selbe ansehen. Sie hat sich aber auch wirklich schick gemacht, für den Mörder ihrer Eltern. Er muss schmunzeln.

Nach einer ungewöhnlich langen Taxifahrt steigen sie aus. Shizuka hinterlässt dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld, bevor sie gemeinsam mit Keisuke zum Haus geht.

Das Haus der Spiders ist kein Haus, sondern eine Villa.

Alleine der Vorgarten ist extrem groß, mit einem Springbrunnen, zwei Engelsstatuen und einen vielfältigen Blumenbeet. Die Hecke ist ordentlich gepflegt und Keisuke muss erst durch einen hölzernen Torbogen schreiten, ehe er über den Marmorboden zur Haustür gelangt.

Shizuka folgt ihm und kontrolliert ihr Aussehen in der Fensterscheibe.

Von außen könnte man schätzen, dass das Haus mehr als zwanzig Zimmer hat.

Nervös stehen die beiden vor der weißen Haustür.

„Soll ich klingeln?“, fragt der Vampir mit Herzklopfen.

Shizuka nickt, und eine Sekunde später läutet Keisuke die Klingel.

Schon ein paar Momente später wird die Tür geöffnet, und sie werden von einem Dienstmädchen begrüßt: „Guten Tag. Treten Sie bitte ein.“

Die beiden folgen ihr ohne etwas zu sagen.

Sie befinden sich in einer großen Halle, mit schwarzen und weißen Fliesen, einer Menge Steinsäulen und allerlei sonstigem Schnickschnack.

Keisuke kommt gar nicht dazu, sich umzusehen, denn das Dienstmädchen führt sie weiter durch einen Gang, an denen viele Bilder mit goldenem Rahmen an den Wänden hängen.

Vor einer weißen Ebenholztür bleibt sie schließlich stehen und erklärt den beiden:

„Warten Sie bitte in diesem Saal, bis das Dinner angerichtet ist.“

Dann steuert sie in die entgegengesetzte Richtung, und Keisuke geht etwas schüchtern durch die Tür, mit Shizuka im Schlepptau.

Der Saal ist sehr geräumig, verfügt nicht nur über einen blutroten Teppich, sondern auch über ein kleines, dunkelrotes Sofa an einem Glastisch vor einem Kamin.

Auf diesem Sofa sitzt niemand anderes als Samuel Spider, der sofort aufsteht, als er seine Gäste erblickt.

„Sie!!!“, schreit Shizuka plötzlich; „Sie haben meine Eltern umgebracht!“

Mit zornig funkelnden Augen geht sie auf Samuel zu, und Keisuke macht keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Aber noch bevor sie ihn erreicht, hebt Samuel die Hand und Shizuka bleibt plötzlich stehen.

Genervt führt er seine Hand zum Sofa, und wie eine willenlose Marionette folgt die bis eben noch sehr wütende Shizuka und setzt sich wortlos hin.

Samuel seufzt, ehe er sich Keisuke zuwendet:

„Was fällt dir ein, die da mitzubringen? Hast du noch alle Tassen im Schrank?“

„Du hast nirgendwo erwähnt, ob ich keine Begleitung dabei haben darf!“, entgegnet Keisuke sauer; „Und überhaupt, was fällt DIR ein, deine Kraft bei ihr anzuwenden? Lass sie sofort frei!“

Samuel schnaubt: „Du hast mir hier nichts zu sagen.“

Aber es ist Keisuke egal, dass er sich ihm gegenüber respektlos benimmt.

Was er getan hat, ist viel schlimmer, und das wird er ihm nicht so leicht verzeihen.

„Ich hätte dich nicht einladen sollen“, knurrt der blonde Vampir;

„Es war ja klar, dass das nur Ärger gibt.“

„Und warum hast du es dann gemacht?“, faucht Keisuke.

„Weil ich es so wollte“, antwortet plötzlich eine andere Stimme.

Keisuke und Samuel drehen sich zur Tür und sehen, dass Raito wohl schon seit einiger Zeit dort steht, aber niemand ihn bemerkt hat.

„Ihr solltet einmal die Gelegenheit bekommen, euch auszusprechen“, sagt er ruhig;

„Ich finde es nicht gut, wenn es diese Art von Konflikten zwischen meinen Leuten gibt.“

Keisuke schweigt. Er kann seinen Standpunkt zwar verstehen, aber er wird Samuels Vergehen trotzdem nicht so einfach hinnehmen.

„Hast du dein Geschenk schon überreicht?“, fragt Raito.

Er trägt einen schwarzen Anzug, ebenso wie Samuel.

„Erst wenn Shizuka wieder frei ist“, sagt Keisuke mit einem Blick auf das stumme Mädchen, das immer noch mit leeren Augen auf dem Sofa sitzt.

„Wenn du sie dazu kriegst, sich zu beruhigen“, nörgelt Samuel und wartet, bis Keisuke bei ihr ist, ehe er die Kontrolle löst.

Shizuka nickt kurz ein, aber einen Moment später wacht sie mit einem Schreck auf:

„Was... Was war los?“

„Ganz ruhig...“, lächelt Keisuke. Shizuka packt sich an den Kopf: „Mir ist schwindelig...“

Er klopft ihr beruhigend auf die Schulter und steht auf, um Samuel den Wein zu überreichen.

Samuel nimmt ihn an, und nickt nur, anstatt sich zu bedanken.

Das findet Keisuke zwar überhaupt nicht nett, aber er hat absolut keine Lust, sich darüber nun aufzuregen.

Die Tür geht auf und das Dienstmädchen kommt hinein:

„Ein weiterer Gast ist eingetroffen.“

Alle schauen gespannt zur Tür, und es tritt eine junge Frau ein, die ein schwarz-weißes Kleid trägt und deren braune Haare zu einem kurzen Zopf zusammengebunden sind.

Lächelnd rückt sie ihre Brille zurecht: „Guten Abend.“

„Guten Abend, Alexa“, grüßt Raito und verneigt sich leicht.

Samuel nickt ihr nur zu.

Keisuke hat Alexa vor kurzem schon einmal getroffen, denn ihr gehört die Lilienfeld-Bibliothek.

Als sie die beiden Jugendlichen sieht, erinnert sie sich sofort:

„Euch kenne ich doch auch. Wie nett, euch wiederzutreffen.“

„Gleichfalls“, sagt Keisuke und Shizuka murmelt irgendetwas vor sich hin.

Währenddessen gibt Samuel dem Dienstmädchen die Rotweinflasche, damit Alexa ihr Geschenk überreichen kann: Herrenparfüm.

Samuel grinst: „Was willst du mir damit sagen?“

„Dass du stinkst“, flüstern Keisuke und Shizuka gleichzeitig, werden aber gekonnt überhört.

„Ich habe diese Duftnote ausgewählt, weil sie zu deinem seriösen Auftreten passt“, erklärt Frau Lilienfeld; „Es ist sehr wertvoll, französische Nonnen haben 50 Jahre gebraucht, um dieses Fläschchen herzustellen.“

Samuel übergibt das Parfüm auch an das Dienstmädchen, welche sich dann verneigt und den Saal verlässt.

„Hast du sonst noch irgendwelche Gäste eingeladen?“, fragt Samuel Raito genervt.

Das löst Verwirrung in Keisuke aus.

„Hast du nicht die Einladungen verschickt?“, will er von Samuel wissen, aber dieser schnaubt nur.

Raito übernimmt das Antworten für ihn: „Nein, ich war das. Er wollte zuerst gar nicht feiern, aber ich habe ihn überredet, den Tag nicht verstreichen zu lassen. Und nein, es kommt niemand mehr.“

Plötzlich öffnet sich ein weiteres Mal die Ebenholztür, und es kommt eine ziemlich hässliche Frau Mitte 40 ins Zimmer. Sie hat kurze, blonde Haare und trägt eine braune Baskenmütze.

„Was willst du, Ruth?“, fährt Samuel sie an, aber sie antwortet nur:

„Ich wohne auch hier, Bruderherz. Und ich kann hingehen, wo ich will.“

Alle Gäste schauen die neu hinzugekommene an.

Samuel seufzt: „Das ist meine kleine Schwester Ruth. Beachtet sie gar nicht, sie wird gehen, wenn sie merkt, dass niemand sich für sie interessiert.“

Ruth schnaubt nur, so wie es ihr Bruder auch gerne tut.

Sie ist also seine kleine Schwester? Sie sieht zwanzig Jahre älter aus als er.

Keisuke fragt sich, wie alt Samuel wirklich ist.

„Ich wollte mir ja nur mal deine Gäste ansehen. Wenn das alle sind, bist du ja nicht besonders beliebt. Aber das ist nichts neues, das warst du noch nie“, lacht sie,

woraufhin Samuel die Blumenvase, die neben ihm auf einem Holztisch steht, wütend nach seiner Schwester wirft, die gerade noch rechtzeitig einen Schritt zur Seite geht.

Die Vase zersplittert an der Wand hinter ihr, und Ruth grinst ihn höhnisch an.

Langsam versteht Keisuke, warum Raito nicht viel von Samuels Familie hält.

In so einem Haushalt zu leben, muss ja die Hölle sein.

Das Dienstmädchen taucht plötzlich im Türrahmen auf:

„Verzeiht, die Herrschaften, aber das Dinner ist angerichtet.“

Sie geht wieder, und alle folgen ihr aus dem Salon.

Sie führt die Gäste in einen Speisesaal, der von einem Kronleuchter geziert wird.

Am langen Esstisch stehen sieben Stühle, wovon einer schon besetzt ist.

Ein alter Mann mit grauem Haar und einem Monokel sitzt am hinteren Ende und begrüßt die Gäste mit einem einfachen: „Guten Abend.“

Dieser Mann muss Samuels Vater sein.

Das Dienstmädchen verschwindet in der Küche, als eine alte Frau mit blonden Haaren das Zimmer betritt und sich verneigt: „Guten Abend. Mein Name ist Mary, bitte setzen Sie sich alle, das Essen wird gleich serviert.“

„Spiel dich nicht so auf, Mutter“, gähnt Samuel und setzt sich an das andere, freie Ende des Tisches, während Alexa, Ruth und Raito in einer Reihe Platz nehmen.

„Oh mein Gott!“, schreit Mary; „Wir haben einen Stuhl zu wenig! Keine Aufregung, ich werde sofort Denise veranlassen, einen herzuholen.“

Und sie eilt aus dem Speisesaal.

„Mutter, die einzige die sich aufregt, bist du“, murmelt Ruth kaum hörbar.

„Ihr könnt euch schon mal hinsetzen“, nickt Samuel Keisuke und Shizuka zu;

„Mutter setzt sich dann selbst auf den Stuhl, den das Dienstmädchen besorgt.“

Schulterzuckend setzen die beiden sich hin, und schon ein bisschen später erscheint Denise, das Dienstmädchen mit einem Stuhl, auf dem Mary Spider Platz nimmt.

„Nun gut, fangen wir mit einem Toast an“, sagt sie, und weißt das Dienstmädchen unauffällig an,

Getränke einzuschütten.

„Möchte jemand Wein?“, fragt sie.

„Ja, ich bitte“, sagt Mary, und ihre Tochter Ruth möchte auch welchen haben.

Das Dienstmädchen schüttet ihnen den Wein ein, den Keisuke und Shizuka heute als Geschenk überreicht haben.

„Ich auch!“, ruft Samuels Vater, aber Mary sagt sofort:

„Auf keinen Fall, du hast ein schwaches Herz.“

„Tu ihm doch den Gefallen“, grinst Ruth heimtückisch, aber Mary verneint.

„Wie sieht es mit Ihnen aus, Alexa? Rotwein?“

Sie schüttelt den Kopf: „Ich muss gleich noch fahren.“

Den Vampiren wird Blut ausgeschenkt, was Keisuke ein bisschen seltsam findet, aber er ist zufrieden damit. Shizuka und Samuels Vater bekommen dagegen Orangensaft.

„Lasst uns anstoßen!“, sagt Mary fröhlich;

„Auf meinen Sohn Samuel, der heute Geburtstag hat. Wie alt er genau wird, darauf wollen wir nicht näher eingehen, aber wir freuen uns, ein weiteres Jahr mit ihm gemeinsam erleben zu können.“

„Möge es das letzte sein“, flüstert Ruth und alle sehen sie an.

„Was denn, versteht ihr keinen Spaß?“, blafft sie in die Runde.

Nachdem alle miteinander angestoßen haben trinkt Keisuke einen Schluck und merkt, wie gut es ihm tut.

Scheinbar ist es jetzt Zeit für Smalltalk, denn Mary fragt Alexa danach, wie es in ihrer Bibliothek so läuft. Sie antwortet:

„Ganz gut. Ich würde das Haus gerne um ein weiteres Stockwerk erweitern, aber dann besteht die Gefahr, dass es einstürzt. Es ist eben schon ein sehr altes Gebäude.“

Keisuke würde sich auch gerne unterhalten, hat aber keine Ahnung, was er sagen soll.

Alle sind hier so vornehm und elegant, und achten auf die Einhaltung der Benimmregeln und diese ganzen Sachen.

Er entscheidet sich, einfach mit Raito zu reden:

„Ähm, Raito, ich wollte dich etwas fragen.“

Die beiden Vampire schauen sich an: „Ja?“

„Ähm, ich habe keine Blutkonserven mehr. Kannst du mir vielleicht welche geben...?“

Er hofft inständig, dass Raito nicht nein sagt.

Aber noch bevor Raito zum Antworten kommt, schnaubt Samuel:

„Du ernährst dich echt von Konserven? Wie jämmerlich.“

Keisuke sieht ihn sauer an, mit ihm hat er nämlich nicht geredet.

„Das ist gar nicht jämmerlich, du Blödmann!“, fährt Shizuka ihn an;

„Es ist besser, als rumzulaufen und Menschen auszusaugen!“

Samuel lacht: „Was verstehst du schon davon? Es liegt in der Natur der Vampire, anderen Wesen das Blut zu entziehen. Wenn wir das nicht machen, können wir nicht überleben. Frag doch Raito.“

Nach dieser Bemerkung schauen alle zu Raito, der sich kurz räuspert und sagt:

„Jeder sollte selbst entscheiden, wie er sich ernähren will. Es gibt viele Vampire, die versuchen, den Menschen nicht zu schaden, aber lasst euch auch gesagt sein, dass man Menschen nicht umbringen muss, um etwas von ihren Blut zu bekommen.“

„Das ist schon klar“, sagt Samuel, aber Shizuka wirft ein:

„Das ist DIR überhaupt nicht klar, du Mörder!!!“

Plötzlich ist alles still.

„Du hast meine Eltern getötet, obwohl sie dir gar nichts getan haben! Du bist so ein Monster, ich hasse dich!!!“, schreit sie und steht auf.

Mary sagt schneidend: „Samuel, ich sagte dir schon so oft, dass du niemanden töten sollst. Das wirft ein schlechtes Licht auf die Familie und das Unternehmen deines Vaters.“

„Wen interessiert denn das?!“, schreien Shizuka und Samuel gleichzeitig.

„Bitte etwas leiser“, stöhnt Samuels Vater, aber Ruth ruft dazwischen: „Sei ruhig, Papa, jetzt wird es doch erst spannend!“

„Findest du das allen ernstes lustig?!“, fragt Keisuke sie entsetzt.

Auf ihr höhnisches Lachen antwortet er nur: „Giftspritze!“

Shizuka schreit währenddessen Samuel weiter an:

„Du hast es nicht mal für nötig befunden, dich zu entschuldigen! Du bereust es kein Stück! Ich wünschte, du würdest auch sterben!“

Samuel lacht nur: „So schnell sterbe ich nicht!“

Nun mischt sich Ruth wieder ein:

„Tja, darüber könnte man streiten, aber es ist ja wohl offensichtlich, wer Vaters Unternehmen weiterführen wird. Der Mörder ganz sicher nicht!“

Sie lacht und Samuel schaut sie böse an.

„Ruth, das Thema wollten wir heute nicht anschneiden!“, ermahnt ihre Mutter sie, aber Shizuka brüllt: „ES GEHT HIER UM DEN TOD MEINER ELTERN!!!“

Ruth lacht nur: „Nein, du blödes Gör, es geht um Geld, wie bei allem anderen in Leben auch!“

Samuel blafft sie an: „Nicht jeder ist so eine geldgierige Ziege wie du!“

Daraufhin wirft Ruth ihr Weinglas, aus dem sie noch keinen Schluck getrunken hat, Samuel entgegen, aber dieser duckt sich noch rechtzeitig, und das Glas verwandelt sich in ein Häufchen Scherben auf dem Boden.

„Was machst du da?!“, schreit Mary entsetzt; „Diese Gläser sind über 100 Jahre alt!“

„Du hast auch nichts besseres zu tun, als Vaters gesamtes Vermögen für so einen Müll rauszuschmeißen, oder?“, faucht Ruth.

Die Tür geht auf und das Dienstmädchen Denise kommt herein:

„Wollen Sie, dass ich die Vorspeise serviere?“, fragt sie höflich, aber Samuel, Mary, Shizuka und Ruth rufen gleichzeitig: „Verschwinde!!!“, woraufhin sie ängstlich von dannen zieht.

„Wofür ich unser Geld ausgebe, geht dich nichts an, du kleines Miststück!“, brüllt Mary ihre Tochter Ruth an, aber diese schnaubt: „Wir wissen doch sowieso alle, dass du Vater nur wegen seines Einkommens geheiratet hast!“

„Aber nein, sie liebt mich!“, ruft ihr Vater kleinlaut, aber Mary gibt wutentbrannt zurück:

„Was soll man an diesem Spießer denn sonst auch mögen?! Seine Warzen vielleicht?!“

Alexa steht auf: „Ich werde mal auf die Toilette gehen.“

Schleunigst bewegt sie sich aus dem Saal, denn auch ihr wirft jemand ein Weinglas hinterher.

„Verstehst du jetzt, warum ich meine Geburtstage nie feiere?!“, schreit Samuel Raito an:

„Weil sie jedes mal so laufen! Aber du wolltest ja nicht hören!“

„Hey, lass Raito in Ruhe, er wollte dir nur etwas Gutes tun!“, verteidigt Keisuke ihn.

„Misch du dich nicht ein, du Nervensäge!“, entgegnet Samuel sauer, woraufhin Shizuka ruft:

„Wie hast du Keisuke genannt?“

Raito seufzt, und eine Sekunde später folgt ein Schrei.

Alle drehen sich zu Ruth, die am Boden hockt und über ihre Mutter gebeugt ist, die sich schwer atmend an den Hals fasst.

„Schnell!!!“, schreit Ruth; „Ihr müsst einen Krankenwagen rufen!!!“

Samuel steht auf und rennt zu ihr, während Raito den Raum schnell verlässt und zum Telefon läuft.

„Was ist passiert?“, fragt Shizuka ängstlich.

„Sie bekommt keine Luft!“, ruft Samuel verzweifelt, Mary läuft langsam blau an.

Verdammt, nie ist Luna da, wenn man sie braucht, denkt Keisuke.
 

Eine Stunde später sitzen Keisuke, Raito, Ruth, Samuels Vater Abram, Shizuka und Alexa um das Bett, in dem Mary bewusstlos liegt, herum.

Sie befinden sich im Krankenhaus.

„Zum Glück hat sie überlebt...“, seufzt Raito, und alle nicken.

Die Tür geht auf und Samuel kommt mit wütender Mine herein.

Er hat gerade mit den Ärzten gesprochen.

„Was ist passiert?“, fragt Raito sofort.

Samuel knurrt: „Ihre Lungen wurden durch Gift gelähmt. Der Wein war vergiftet. Irgendwer hat versucht, sie zu töten!“

Detektivin Alexa

Detektivin Alexa
 

„Niemand verlässt den Raum!“, ruft Samuel;

„Ich bin mir sicher, dass der Täter einer von euch ist.“

Ruth fängt an zu lachen: „Wer weiß, vielleicht sagst du das ja auch nur, um von dir selbst abzulenken!“

„Sollten wir nicht die Polizei einschalten?“, fragt Keisuke vorsichtig.

Immerhin ist ein Verbrechen passiert, und da es nichts mit Vampirismus und Ähnlichem zu tun hat, findet er, dass man ruhig die Polizei um Hilfe ersuchen könnte.

„Auf keinen Fall“, sagt Samuel entschlossen; „Ich werde den Täter selbst zur Strecke bringen, da ist die Polizei nur im Weg!“

„Wird die nicht automatisch von den Ärzten eingeschaltet, wenn es sich offensichtlich um einen Mordversuch handelt?“, fragt Shizuka, und Samuel grinst:

„Die Ärzte hier tun nur das, was ich will.“

Alexa räuspert sich: „In dem Fall werden wir den Fall ohne Polizei lösen.“

Ruth zieht eine Augenbraue hoch: „Und wie stellen Sie sich das vor?“

„Erstmal gehen wir jeden durch, der ein Motiv hat“, schlägt Raito vor.

„Na wer das größte Motiv hat ist eigentlich klar!“, sagt Samuel sauer und zeigt auf Shizuka:

„Die Tusse da hasst mich, weil ich ihre Eltern auf den Gewissen habe. Das ist das Motiv. Sie und Keisuke haben mir ja auch den vergifteten Wein geschenkt!“

Alexa schüttelt den Kopf: „Es gibt keinen Beweis, dass er zu dem Zeitpunkt schon vergiftet war.“

„Trotzdem ist sie die Hauptverdächtige!“, ruft Samuel; „Vielleicht steckt sie mit Keisuke unter einer Decke, der kann mich ja auch nicht leiden.“

Was, dieser Kerl verdächtigt Keisuke, einen Mord geplant zu haben? Wie kann er nur!

„Keisuke und ich können es gar nicht gewesen sein“, lächelt Shizuka sanft;

„Als wir Samuel den Wein überreicht haben, war die Flasche noch zu.“

„Das stimmt!“, ruft Keisuke glücklich.

Alexa putzt sich ihre Brille und sagt:

„Mit anderen Worten heißt das Folgendes: Kurz vor meiner Ankunft bekam Samuel den Wein von Keisuke, da war er noch zu. Das Dienstmädchen bringt ihn in die Küche und stellt ihn vorerst dort ab. Im Salon waren zu der Zeit Keisuke, Shizuka, Raito, Samuel und ich, und da keiner von uns den Salon verlassen hat, bevor wir in den Speisesaal gingen, können wir es nicht gewesen sein, es sei denn, der Wein war wirklich schon vorher vergiftet, aber das ist wie gesagt unwahrscheinlich.“

„Und ich?“, faucht Ruth; „Ich kann es dann auch nicht gewesen sein, ich hätte nicht genug Zeit dafür gehabt, den Wein in der Küche zu vergiften.“

„Das stimmt“, wirft Keisuke ein; „Sie kam höchstens nach einer Minute in den Salon, nachdem das Dienstmädchen den Raum verlassen hat. Wir müssen ja auch davon ausgehen, dass es seine Zeit braucht, bis sie die Flasche in die Küche gebracht hat. Ruth hatte wirklich nicht genug Zeit.“

Alexa ergreift wieder das Wort:

„So gesehen gibt es eigentlich nur zwei Verdächtige, zwei Personen, die es getan haben könnten. Und das sind ihr Mann Abram und das Dienstmädchen Denise selbst.“

„Was?“, ruft Abram erschrocken; „Ich soll versucht haben, meine Frau umzubringen? Ich habe doch gar kein Motiv!“

Daraufhin fängt Ruth lautstark an zu lachen: „Du?! Du willst kein Motiv für den Mord haben? Schwachsinn! Gib es zu, Vater, es ist dir gegen den Strich gegangen, dass Mutter all dein schwer erarbeitetes Geld aus dem Fenster hinauswirft!“

„Das ist kein Grund, jemanden zu töten!“, entgegnet Abram, und Alexa hebt die Hand, um Ruhe zu gebieten: „Nun, haben Sie denn ein Alibi, Abram? Was haben Sie gemacht, als wir anderen im Salon waren?“

Abram wird langsam sauer: „Was soll ich gemacht haben! Ich saß am Esstisch und habe Zeitung gelesen!“

„Wer liest denn abends noch Zeitung?“, will Keisuke wissen; „Ich meine, die meisten Menschen lesen sie morgens, oder?“

Samuel schüttelt den Kopf: „Vater nicht. Er sagt, dass seine Augen abends besser funktionieren als am frühen Morgen. Er macht das immer so.“

„Ähm, da ist noch eine andere Sache“, bemerkt Shizuka;

„Als wir in den Speisesaal gekommen sind, hatten Sie keine Zeitung.“

Für einen Moment herrscht Stille, dann ruft Abram:

„Weil meine Frau sie kurz vorher mitgenommen hat! Das kann sie auch gerne bestätigen, wenn sie aufwacht!“

„Also das bringt nichts“, seufzt Alexa; „Machen wir mit Denise weiter. Wo ist sie eigentlich?“

„Sie ist eben nach Hause gefahren, um für Mutter frische Kleidung zu holen“, erklärt Ruth.

„Oh nein!“, ruft Samuel und springt auf; „Wenn sie die Täterin ist, vernichtet sie gerade vermutlich Beweise!“

„Ganz ruhig“, beschwichtigt Alexa ihn; „Hatte sie überhaupt ein Motiv, Mary zu töten?“

„Und wie“, lacht Ruth; „Sie wurde ja wie Dreck von meiner Mutter behandelt.“

Abram nickt: „Meine Frau ist stets unzufrieden mit dem Personal.“

Da fällt Keisuke etwas ein: „Stimmt! Was ist mit dem Personal? Ihr habt doch bestimmt mehr als nur das eine Dienstmädchen, oder? Die könnten als Täter auch in Frage kommen!“

Shizuka lacht: „Frei nach dem Motto: 'Der Mörder ist immer der Gärtner', oder wie?“

Aber Samuel schüttelt seufzend den Kopf:

„Wir haben den gesamten Personal heute frei gegeben, wegen meinem Geburtstag. Denise ist die einzige, die geblieben ist. Sie wurde ja gebraucht, um das Essen zuzubereiten.“

„Es muss einfach Denise gewesen sein!“, ruft Abram.

„Ganz genau, nun ist sie die Hauptverdächtige!“, lacht Ruth.

Raito lächelt: „Du denkst wirklich, dass du aus dem Schneider bist?“

„Was?!“, krächzt Ruth und schaut ihn fassungslos an.

Alexa richtet ihre Brille und erklärt:

„Was Raito damit meint, ist folgendes: Wir haben Ruth als Täterin ausgeschlossen, weil sie nicht genug Zeit gehabt hat, in die Küche zu gehen, den Wein zu vergiften, und zu ins in den Salon zu stoßen. Aber eine Tatsache haben wir dabei außer Acht gelassen: Niemand von uns weiß sicher, ob das Dienstmädchen den Wein wirklich in die Küche gebracht hat.“

Ruth schaut sie wütend an: „Wie kommst du darauf, dass es nicht so wahr?“

„Ganz einfach!“, ruft Alexa;

„Denise hatte nicht nur den Wein in der Hand, den sie wegbringen musste, sie hatte auch mein Geschenk an Samuel, nämlich das Parfüm! Und das würde sie entweder ins Badezimmer oder in das Gemach von Samuel bringen, nicht in die Küche! Was also, wenn Denise die Weinflasche auf dem Holztisch im Gang abgestellt hat, damit sie erst das Parfüm wegbringen kann? In der Zeit, in der sie oben ist, konntest du problemlos den Wein vergiften und direkt zu uns kommen, in den Salon, um dir ein Alibi zu verschaffen. Das Dienstmädchen hat dann, während du bei uns warst, den Wein in die Küche gebracht, und das Schicksal nahm seinen Lauf.“

„Aber... Ich hatte keinen Grund, Mutter zu vergiften!“

Samuel starrt sie sauer an: „Aber mich! Dir war doch klar, dass es ein Geburtstagsgeschenk für mich ist! Du konntest aber nicht wissen, dass Mutter ausgerechnet diesen Wein heute ausschenken wird!“

Er schaut sie überlegen an, aber dann ergreift Raito das Wort:

„Du liegst falsch, Samuel. Als du eben reingekommen bist, hast du gesagt, dass die Flasche mit Aconitin vergiftet war, aber diese Art von Gift ist ungefährlich für Vampire.“

Das überzeugt Samuel nicht: „Na und?! Wer sagt, dass Ruth das weiß?“

Keisuke fügt hinzu: „Sie hat wirklich ein Motiv, Raito, wir haben doch alle gehört, dass sie mit ihrem Bruder um die Übernahme der Firma von Abram kämpft. Sie wollte ihn aus dem Weg räumen, aber es hat aus Versehen ihre Mutter erwischt. Das wollte sie nicht, und deswegen war sie auch so hysterisch als Mary plötzlich am Boden lag.“

Shizuka nickt: „Ja, und außerdem könnt ihr euch noch daran erinnern, dass Ruth die einzige war, die nichts getrunken hat? In ihrem Glas war auch der vergiftete Wein, aber sie hat es lieber Samuel an die Rübe geworfen anstatt daraus zu trinken.“

„Moment mal!“, ruft Alexa plötzlich;

„Das ist der springende Punkt! Wenn Ruth wirklich gewusst hätte, was im Wein enthalten ist, dann hätte sie doch gar nicht so einfach zugelassen, dass ihre Mutter ihn trinkt!

Mir ist etwas eingefallen, ich weiß jetzt wer es war.“

Alle schauen sie an.

Alexa steht auf und holt tief Luft:

„Wie ihr wisst, waren Shizuka, Raito, Samuel, Keisuke und ich gemeinsam im Salon, ehe das Dienstmädchen Denise den Wein weg brachte. Meine Vermutung von eben stellt sich als Irrtum heraus, Denise hat nicht den Wein auf dem Holztisch abgestellt, sondern das Parfüm! Wenn man ein bisschen überlegt, merkt man, dass die Küche viel näher an dem Gang liegt als entweder Samuels Zimmer oder das Badezimmer, denn die sind im oberen Stockwerk. Ruth ging einfach am Parfüm vorbei und kam in den Salon. Sie hätte gar nicht wissen können, ob da eine Flasche steht, die sie vergiften könnte, habt ihr daran mal gedacht? Das Alibi hätte sie also rein zufällig bekommen.

Im Salon haben wir noch kurz geredet, und nachdem Denise das Parfüm ebenfalls weggebracht hat, kam sie, um uns in den Speisesaal zu rufen. Als wir dort ankamen, war Abram schon da und Mary kam gerade rein. Sie kam aus der Küche, also hätte sie es gemerkt, wenn Abram aufgestanden wäre und den Wein in der Küche vergiftet hätte.“

„Da seht ihr es!“, ruft Abram zufrieden.

„Fein“, sagt Ruth; „Dann wissen wir, wer es getan hat. Denise, das Dienstmädchen!“

Alexa schüttelt breit grinsend den Kopf:

„Irrtum. Als die Getränke serviert wurden hat Denise alle gefragt, ob sie Wein wollen. Die Vampire nehmen wir mal raus, bei denen stand schon vorher fest, dass sie Blut trinken würden. Denise hätte aber nicht wissen können, wie es mit uns Menschen aussieht. Sie hätte nicht wissen können, wen sie tötet, und wen nicht.“

„Aber wer war es denn dann?“, fragt Shizuka ziemlich verwirrt.

Alexa seufzt: „Die Person, die den Wein vergiftet hat, war niemand anderes als Mary Spider höchstpersönlich.“

„Was?!“, rufen alle geschockt.

„Sie hat versucht, sich umzubringen?“, fragt Samuel mit zweifelndem Blick.

„Nein, nicht direkt“, erklärt Alexa gelassen; „Wie ihr wisst, sind die einzigen Personen, die Wein bekommen haben, Mary selbst und ihre Tochter Ruth. Als Abram nach Wein gefragt hat, hat Mary sofort gesagt, dass er keinen haben dürfe. Das Dienstmädchen hat mir auch Wein angeboten, aber weil ich noch fahren muss, habe ich abgelehnt. Wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte Mary sich etwas für mich einfallen lassen müssen, denn mich wollte sie ja nicht umbringen.“

„Aber mich!!!“, schreit Ruth entsetzt.

Alexa nickt: „Sie hat den Wein zu sich genommen, bevor du dein Glas Samuel entgegen geschleudert hast. Also war es zu spät, es noch rückgängig zu machen. Sie hatte ursprünglich geplant, Ruth zu töten und sich selbst als Tatverdächtige auszuschließen.“

„Aber dabei hätte sie doch selbst sterben können!“, entgegnet Shizuka ungläubig;

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dieses Risiko eingegangen wäre.“

„Wäre sie auch nicht“, lächelt Alexa; „Und das ist gleichzeitig der Beweis, der meine Theorie untermauert.“ Sie zieht sich plötzlich eine Packung Tabletten aus der Tasche:

„Das sind Tabletten gegen das Alkaloid Aconitin. Ihr erinnert euch bestimmt noch daran, dass ich während dem Essen zur Toilette gegangen bin. Dort habe ich sie gefunden. Ich bin mir sicher, wenn wir sie untersuchen lassen, werden wir Marys Fingerabdrücke darauf finden.“

„Das ist nicht notwendig“, sagt Mary und richtet sich auf.

„Du bist wach?!“, ruft Samuel erstaunt.

„Ich habe euch schon eine ganze Weile zugehört...“, lächelt sie müde.

„Mutter!!!“, schreit Ruth und umarmt sie.

„Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist! Warum machst du so dumme Sachen?!“

Ruth hat Tränen in den Augen.

Keisuke versteht jetzt gar nichts mehr. Hat Mary nicht versucht, ihre eigene Tochter Ruth hinterhältig zu töten?

Samuel wird laut: „Vergiss nicht, dass sie dich umbringen wollte! Hätte sie die Tabletten nicht im Badezimmer vergessen, wäre sie überhaupt nicht in Lebensgefahr!“

Alexa lächelt: „Ich habe vergessen, eines zu erwähnen.“

Alle schauen sie gespannt an.

„Die Tabletten habe ich nicht irgendwo im Badezimmer herumliegen sehen, ich habe sie im Mülleimer gefunden, nachdem ich mir die Hände gewaschen habe. Mary hat sich also kurz vor dem Essen entschieden, sie nicht zu verwenden.“

„Das kann doch nicht sein!“, ruft Samuel und schaut zu seiner Mutter:

„Dann wolltest du dich also wirklich umbringen?“

In Marys Augen glitzern Tränen:

„Ruth hat uns die Feier ziemlich verdorben. Und das ist nicht das erste Mal. Ich würde sogar sagen, Samuel hatte noch nie einen schönen Geburtstag wegen ihr.

Andersherum ist es genauso. Ich hab das nicht mehr ausgehalten...

Ich hatte überhaupt nicht vor, dich zu töten, Ruth, ich wollte nur, dass du ins Krankenhaus eingeliefert wirst, damit ihr merkt, wie wichtig es ist, dass die Familie zusammenhält.

Ich dachte, wenn wir einmal schwere Zeiten gemeinsam durchmachen, wird es vielleicht besser... Aber ich habe schnell eingesehen, dass mein Gedankengang in die falsche Richtung führt. Ich habe selbst vom vergifteten Wein getrunken, weil ich es bereut habe, meiner eigenen Tochter so etwas anzutun.“

„Warum haben Sie denn nicht einfach vorher gesagt, dass der Wein vergiftet ist?“, fragt Keisuke; „Dann hätten sowohl Sie als auch Ruth die Finger vom Wein gelassen, und das alles wäre uns erspart geblieben.“

„Tja, ich weiß es klingt dumm, aber wenn ich das getan hätte, wäre der ganze Abend direkt am Anfang gescheitert. Und das war ja gerade das, was ich nicht wollte.“

„Wann haben Sie den Wein eigentlich vergiftet?“, hakt Alexa nach.

„Während Denise den Stuhl geholt hat. Ich war in der Küche, und da stand er.“

Ruth sieht ihre Mutter voller Mitleid an:

„Ach Mama... Du bist so dumm...“

Alle schweigen.

Ruth dreht sich zu den anderen:

„Ich möchte euch alle um etwas bitten. Können wir weitermachen, als wären all diese schrecklichen Ereignisse heute Abend nie vorgefallen? Keine Polizei, keine Bestrafung.“

„Das ist wahrscheinlich das beste“, stimmt Abram zu und steht auf:

„Was hattest du da eben eigentlich zu meinen Warzen gesagt?“

„Ähm, Schatz, du weißt, wenn ich in Rage bin, sage ich Dinge, die ich gar nicht so meine“, entschuldigt sich Mary bei ihm, und alle fangen an zu lachen.
 

„Ich schlage vor, jeder, der nicht zur Familie gehört, wartet draußen auf dem Flur“, sagt Raito; „Dann haben die vier ein bisschen Zeit für sich.“

Auf dem Krankenhauskorridor lobt Raito Alexa dafür, wie sie den Fall gelöst hat.

Sie wird leicht rot und antwortet: „Wenn man so viele Krimis liest wie ich, ist es ganz einfach.“

Derweil ist Keisuke um Shizuka besorgt. Sie sagt ihm traurig:

„Ehrlich gesagt, als du im Badezimmer warst, und ich den Wein als Geschenk ausgesucht habe, habe ich schon darüber nachgedacht, Gift reinzumischen.“ Keisuke sieht sie erschrocken an.

Dass Shizuka zu sowas imstande wäre, könnte er sich niemals vorstellen.

„Aber ich bin froh, dass ich den Gedanken verworfen habe. Dieser Mann hat meine Familie zerstört, und jetzt wo ich seine kennengelernt habe, würde ich mich selbst dafür hassen, zwei Eltern ihren Sohn und einer kleinen Schwester ihren Bruder weggenommen zu haben.“

Kampf und Beratung

Kampf und Beratung
 

Mittlerweile ist es schon nach 23:00 Uhr. Raito hat Keisuke angeboten, ihn und Shizuka nach Hause zu fahren, und diese haben das Angebot ohne zu Zögern angenommen.

Die Fensterscheiben des schwarzen Wagens sind verdunkelt, sodass man von außen nicht hineinsehen kann.

Keisuke und Shizuka wurden von Raito gebeten, hinten Platz zu nehmen, und unterhalten sich gerade über den aufregenden Abend. Shizuka sagt ehrfürchtig:

„Unglaublich, wie Frau Lilienfeld alles aufgeklärt hat, oder? Das war wie in einem Krimi! Ich hätte auch nie gedacht, dass uns mal sowas aufregendes passiert!“

„Also, mir passieren öfter aufregende Dinge“, lacht Keisuke; „Aber das heute war auch für mich neu.“

Raito biegt ab und schaltet das Radio ein, das über einen Stau auf einer der Autobahnen, die aus Logaly hinaus führen, aufklärt.

„Ich hoffe nur, Mary wird wieder ganz gesund“, sagt Shizuka leicht bedrückt.

Keisuke nickt: „Sie darf in ein paar Tagen schon wieder aus dem Krankenhaus, da musst du dir keine Sorgen machen. Ich frage mich eher, wie...“

Er wird plötzlich von Raito unterbrochen: „Mein Navigationsgerät zeigt mir eine Landstraße an, die wir als Abkürzung nehmen können. Okay?“

Etwas verwirrt sieht Keisuke zuerst zu Shizuka, die nur mit den Schultern zuckt, und stimmt dann zu. Ihm fällt ein, dass er ihn noch etwas fragen wollte:

„Ähm, Raito, du weißt doch, mein Blut ist mir ausgegangen. Kannst du...?“

„Kein Thema“, lächelt Raito gelassen; „Ich schicke dir morgen einen Karton voller Blut.“

Erleichtert atmet Keisuke aus: „Danke.“

Er hatte wirklich befürchtet, dass Raito ihm den Gefallen nicht tun würde, und dann stünde er ganz schön dumm da.

Die Fahrt geht noch ein paar Minuten unbekümmert weiter, doch plötzlich passiert etwas unvorhergesehenes: Quietschend legt das Auto eine Vollbremsung hin, sodass Shizuka und Keisuke leicht nach vorne gedrückt werden. Zum Glück sind sie angeschnallt.

„Was, was ist los?“, ruft Shizuka ängstlich.

Raito schnallt sich ab: „Dort vorne liegt jemand auf der Straße.“

„Was sagst du?“, fragt sie verwirrt und versucht, etwas zu sehen. Doch die Scheinwerfer des Autos reichen nicht weit genug, als dass sie etwas erkennen könnte.

Keisuke wirft auch einen Blick nach vorne, und er kann in der Tat eine Person einige Meter vor dem Wagen erkennen. Ihm ist unmöglich zu sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist, aber auf jeden Fall liegt diese Person regungslos mitten auf der Landstraße.

Er schnallt sich auch ab, aber Raito sagt sofort: „Ihr wartet hier.“

Resignierend bleibt Keisuke sitzen während der ältere Vampir aus dem Auto steigt, die Tür zumacht, vorsichtig zu der Person geht und sich zu Boden hockt.

Dann scheint er etwas zu sagen, aber weder Keisuke noch seine Begleiterin können es verstehen.

Nervös blickt Shizuka ihn an, und Keisuke weiß, dass sie sich fragt, was passiert sein könnte, ihm geht es nicht anders.

Plötzlich ist ein extrem lautes Krachen wie bei einer Explosion zu hören, ein gleißendes Licht und vor ihnen fliegt Raito ein paar Meter von der Straße weg.

„Oh mein Gott!“, ruft Shizuka und bleibt wie erstarrt sitzen, aber Keisuke steigt sofort aus und läuft zu ihm.

Schwer atmend richtet sich Raito auf, ohne Notiz von Keisuke zu nehmen.

„Ich habe es vermutet...“, knurrt er und schaut die fremde Person, die mittlerweile aufgestanden ist, verächtlich an.

Die Person, die Keisuke als kahlköpfigen Mann identifiziert, ist ihm zwar völlig unbekannt, aber er ahnt schon, dass es sich um einen Vampir handelt.

„Ein Curser!“, ruft er.

Der Mann kommt lachend auf sie zu, und seine Augen leuchten rot:

„Ich habe dich Raito, du bist in meine Falle getappt. Die Königin wird sehr erfreut sein, wenn ich dich ausgeliefert habe!“

Jetzt richtet er seine Hand auf die Beiden, und Raito schubst Keisuke zur Seite, bevor er sich selbst duckt, um einer strahlenden Explosion auszuweichen.

Der Typ macht aus seiner Fähigkeit ja kein Geheimnis, denkt Keisuke und wirft einen Blick auf das Auto. Shizuka ist inzwischen ausgestiegen und steht nun völlig verdattert daneben.

Raito faltet seine Hände schnell zusammen und beschwört einen schattenartigen Vogel herauf, der sich auf den Curser stürzt.

„Bring dich in Sicherheit!“, ruft Raito Keisuke zu, und obwohl dieser lieber helfen möchte, nickt er stumm und läuft zu Shizuka.

Der Schattenvogel macht dem Curser eine ganze Weile zu schaffen, doch der Vampir löst sein Problem schließlich auch mit einer Explosion.

Der tapfere Vogel zerspringt in tausend Stücke und löst sich auf.

„Verdammt!“, stöhnt Raito.

Lachend kommt der Curser näher.

Shizuka hat sich auf Keisukes Bitte hin wieder in das Auto gesetzt, und hilft ihm gerade dabei, nach einer Waffe oder ähnlichem zu suchen, irgendetwas, das Raito helfen kann.

In einer Tasche auf dem Beifahrersitz findet sie ein silbernes, langes Messer und gibt es Keisuke.

Er erkennt die Waffe wieder, denn erst vor kurzem hat er sie von Raito geschenkt bekommen, sie dann aber bei ihm zu Hause liegen lassen.

Eilig springt er aus dem Fahrzeug und wirft Raito das Messer vor die Füße.

Raito hebt es auf, doch bevor er es verwenden kann, trifft ihn eine weitere, gleißende Explosion.

Keisuke hält sich die Ohren zu, und Raito fällt wieder ein paar Meter zurück.

Er ist sichtlich mitgenommen. Sein schicker Anzug hat sich in ein paar verkohlte Stofffetzen aufgelöst, die nun vereinzelt auf dem Boden liegen. Sein muskulöser Oberkörper liegt vollkommen frei und weist auch schon einige Verletzungen und Brandwunden auf.

Ohne zu wissen warum rennt Keisuke wieder auf Raito zu, doch ehe er ihn erreicht, schickt der Curser eine Explosion, die Keisuke zu Boden wirft.

Zum Glück war sie nicht besonders stark, aber Keisuke kann nicht schnell aufstehen.

Wenn der Feind ihn nun angreift, war es das.

Plötzlich ist von Shizuka eine Art Kampfschrei zu hören, und Keisuke sieht auf.

Sie hat sich ans Lenkrad des Autos gesetzt und braust nun mit voller Geschwindigkeit auf den überraschten Curser zu, der bei dem Versuch, auszuweichen hinfällt.

Raito nutzt die günstige Gelegenheit und springt auf ihn drauf, rammt ihm das Messer in den Bauch, sodass ihm etwas Blut ins Gesicht spritzt.

Der Curser flüstert etwas, dass Keisuke nicht verstehen kann, weil er zu weit weg ist, bevor er das Bewusstsein verliert und stirbt.

Raito steht auf und wischt sich das Blut aus dem Gesicht.

Auch Keisuke schafft es nach einigen Versuchen, sich zu erheben und zu ihm zu laufen:

„Ist alles okay?“, fragt er besorgt.

„Das sollte ich eher dich fragen“, sagt Raito ruhig und lächelt; „Du wurdest getroffen.“

Keisuke sieht an sich herunter. Sein Hemd und die Krawatte sind dreckig und an manchen Stellen verbrannt, und er spürt, dass er eine Schramme am rechten Ellenbogen hat.

Raito berührt kurz Keisukes Wange und streicht ihm etwas Blut aus dem Gesicht.

Keisuke erschrickt, aber Raito sagt nur ganz ruhig: „Keine Angst, du hast nur ein paar blutige Kratzer. Ich bin froh, dass du nicht schlimmer verletzt wurdest.“

Erstaunt schaut er Raito an. Er ist doch viel schlimmer in Mitleidenschaft gezogen worden als Keisuke, und trotzdem macht er sich Sorgen über ihn? Er muss lächeln.

„Euch ist nichts passiert! Ich bin so glücklich!“, ruft Shizuka, die auf die beiden Vampire zugerannt kommt und zuerst Keisuke, und dann Raito umarmt.

„Danke für deinen mutigen Einsatz“, lacht Keisuke; „Ich wusste gar nicht, dass du Auto fahren kannst.“ Shizuka grinst nur, anstatt zu antworten.

Dann aber dreht sie sich zu dem am Boden liegenden Vampir: „Er... Er ist tot, oder?“

„Ja“, sagte Raito kurz.

Shizuka sieht sehr bedrückt aus.

„Ähm, aber du weißt, dass Raito keine Wahl hatte, oder?“, fragt Keisuke vorsichtig;

„Der hätte doch immer weiter seine Explosionen auf uns abgefeuert.“

Sie sieht Keisuke leicht verstört an: „Das scheint dich ja gar nicht zu treffen, dass gerade jemand gestorben ist.“

Erschrocken starrt er sie an, ohne etwas zu sagen.

Es ist nicht so, als würde es ihn vollkommen kalt lassen. Aber für ihn ist gerade eben wichtiger, dass es Raito und ihr gut geht.

Shizuka seufzt: „Auch wenn er versucht hat, uns zu töten... Ich habe ein sehr schlechtes Gewissen!“

Plötzlich steht Raito direkt vor ihr, und Shizuka sieht ihn überrascht an.

Zuerst schweigt er, doch dann legt er unerwartet seine Hand auf ihre Schulter:

„Shizuka, du hast ein schlechtes Gewissen?“ Sie nickt zögerlich.

Raito lächelt: „Ich bin stolz auf dich. Bewahre dir das auf. Du bist ein guter Mensch.“

Verwirrt schauen die beiden Jugendlichen ihn an. Warum lobt er Shizuka?

Keisuke merkt, dass er eigentlich kein schlechtes Gewissen hat, weil der feindliche Vampir gestorben ist. Er fragt sich, ob das irgendwie böse ist, denn er wird von Raito nicht gelobt.

Er entscheidet sich, nicht weiter darüber nachzudenken und das Thema zu wechseln:

„Ähm, was machen wir jetzt mit dem Körper?“

Alle schauen auf die Leiche. Raito geht hin und zieht den langen, silbernen Dolch aus seinem Baum heraus. An der Klinge klebt eine Menge dunkelrotes Blut, das langsam auf den Boden tropft.

Stumm zieht er ein weißes Tuch aus seiner Hosentasche und säubert das Messer damit, ehe er es zur Seite legt. Dann faltet er seine Hände wie bei einem Gebet zusammen, und vor ihm materialisiert sich ein schattenhaftes Wesen, dass sich nach ein paar Sekunden als Bär entpuppt.

Raito nickt dem Bär zu, und dieser nimmt die Leiche des Cursers und schleppt sie davon.

Shizuka sieht dem Tier ängstlich hinterher.

„Wo bringt er ihn hin?“, fragt Keisuke.

Raito lächelt: „Zu einem sicheren Ort, an dem er die Leiche fressen wird.“

Auf die teils verwirrten, teils entsetzten Blicke von Keisuke und Shizuka sagt Raito:

„Das ist die beste Methode, die Leiche verschwinden zu lassen. Wir sollten jetzt auch wieder gehen. Es war nur Glück, dass in den letzten Minuten kein anderes Auto diese Landstraße entlanggefahren sind.“

Keisuke nickt und die drei gehen zum Auto zurück. Shizuka steigt schon einmal ein, aber Keisuke wird noch von Raito zurückgehalten.

„Nimm das hier bitte“, lächelt er besorgt und drückt Keisuke das Messer in die Hand.

„Meinst du wirklich, dass das okay ist?“, fragt Keisuke schüchtern und Raito nickt:

„Die Klinge ist aus geweihtem Silber, damit kann man perfekt gegen Vampire kämpfen. Mein Vater hat es mir einst geschenkt, und jetzt möchte ich es dir schenken.“

Dankend nimmt der junge Vampir die wunderschön schimmernde Waffe an.

Raito ist wirklich nett, denkt Keisuke. Er wüsste nicht, was er ohne ihn täte.

Jetzt steigen sie aber endgültig ein und fahren weiter.

Nach einiger Zeit hält Raito vor dem Haus, sie sind da.

„Wartet noch kurz“, sagt er, damit Keisuke und Shizuka noch nicht aussteigen.

„Ich möchte euch darum bitten, morgen zu Hause zu bleiben. Und ladet bitte alle Menschen, die von der Existenz der Vampire wissen und sicher auf eurer Seite stehen, morgen zu euch nach Hause ein.“

„Warum?“, fragt Shizuka irritiert.

„Ich werde morgen vorbeikommen. Wir müssen über etwas wichtiges sprechen.“

„Okay!“, sagt Keisuke gut gelaunt.

Die Vorstellung, dass Raito ihn bei ihm zu Hause besuchen kommt, gefällt ihm sehr gut.

In Gedanken geht durch, wen er einladen muss: Yuri, Luna, Desmond, und seine Geschwister, aber die wohnen ja schon ohnehin bei ihm zu Hause.

Schließlich verabschieden sie sich von Raito und steigen aus.

Gerade möchte Keisuke die Haustür aufschließen, da wird sie von einer sehr wütenden Miho geöffnet: „Habt ihr einmal auf die Uhr gesehen?!“, schimpft sie sauer; „Wo habt ihr gesteckt???“
 

Am Samstagnachmittag sitzen schließlich Keisuke, Yuri, und Shizuka auf dem Sofa, Miho deckt den Tisch, an dem Luna und Desmond Platz genommen hatten.

Nachdem sie telefonisch eingeladen wurden, sind sie mehr oder weniger zügig hergekommen, doch Raito ist noch nicht da.

„Miho, wo ist eigentlich Sakito?“, fragt Keisuke nervös.

„Nicht zu Hause. Er geht auch nicht an sein Handy“, antwortet Miho.

Keisuke wird leicht sauer. Auf seinen Bruder ist auch kein Verlass! Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.

„Warum sind wir eigentlich hier?“, fragt die gelangweilte Luna. Heute ist sie mit dem Auto da und nicht mit dem Pferd.

„Ich hoffe, dass es wichtig ist!“, schnaubt Desmond; „Ihr wisst ja nicht, wie viel ich noch arbeiten muss!“

Miho ignoriert seine Beschwerde und fragt ihn unbekümmert, ob seine Freundin Shou schon nach Kanada zurückgeflogen ist.

„Nein“, lächelt der Wissenschaftler; „Sie bleibt noch eine Weile hier in Logaly, weil es ihr so gefällt und sie schon sehr lange nicht mehr hier war. Aber heute hat sie einen Friseurtermin. Das ist auch der einzige Grund, warum ich Zeit hatte, herzukommen. Eigentlich wollte ich an meinen Forschungen weiterarbeiten.“

Zufrieden putzt er sich seine Brille.

Währenddessen fragt Yuri aufgeregt: „Raito kommt also echt hierher?“

Keisuke nickt: „Er hat leider keine Uhrzeit gesagt. Ich weiß nicht, wie lange wir noch warten müssen.“

Yuri möchte etwas antworten, doch bevor sie das tun kann, klingelt es urplötzlich an der Haustür.

„Das muss er sein!“, rufen Keisuke und Shizuka gleichzeitig.

Miho eilt in den Flur, um die Tür zu öffnen, und kommt ein paar Sekunden später mit Raito im Schlepptau zurück.

„Hallo“, sagt Raito an alle. Er sieht viel fitter aus als am gestrigen Abend.

Keisuke fällt die lange Plastiktüte auf, die in der linken Hand trägt.

Miho schüttelt Raito freundlich die Hand. Sie hat schon viel von ihm gehört, hatte aber keine Gelegenheit, ihn einmal persönlich kennenzulernen.

„Hallo Raito!“, rufen Keisuke und Yuri begeistert.

Daraufhin geht Raito zu ihm und übergibt ihm die Plastiktüte.

Keisuke sieht hinein. Sie ist mit Blutkonserven gefüllt.

„Danke!“, lächelt er.

„Was ist denn jetzt?“, fragt Desmond ungeduldig.

Raito stellt sich in die Mitte des Raumes und wartet, bis alle zuhören:

„Ich möchte mich dafür entschuldigen, euch heute Unannehmlichkeiten zu bereiten. Aber es gibt ein Thema, über dass ich mit euch allen dringend sprechen muss. Samuel und Alexa können heute leider nicht hier sein, aber das spielt jetzt keine Rolle.“

„Worum geht es?“, gähnt Luna herzhaft.

„Um... Den Kampf gegen die Cursers. Wie ihr vielleicht wisst, wurden Keisuke, Shizuka und ich gestern ein weiteres Mal von einem Vampir angegriffen.“

„Was?!“, ruft Yuri erschrocken.

Im Gegensatz zu Miho, der Keisuke und Shizuka es noch in der selben Nacht erzählt haben, wusste das Fuchsmädchen gar nichts davon.

„Die Zeit drängt!“, erklärt Raito; „Ohne Verena sind wir extrem geschwächt. Ich wende mich nun an euch Menschen, mir im Kampf gegen die Cursers zu helfen.“

„Hm, das ist doch gefährlich, oder?“, fragt Luna leicht eingeschüchtert;

„Ich wurde seit dem Vorfall in Desmonds Haus noch nicht von Vampiren belästigt.“

„Dasselbe gilt auch für mich!“, fügt Desmond hinzu.

„Ähm, aber das ist bestimmt nur noch eine Frage der Zeit!“, ruft Keisuke.

Ihm ist bewusst, dass sie die Hilfe des Wissenschaftlers und der Medizinstudentin brauchen werden.

„Also ich werde helfen!“, sagt Yuri entschlossen und springt auf:

„Wenn ich Raito irgendwie helfen kann, diese Organisation in ihre Schranken zu weisen, dann mache ich das! Für Vigor!“

Angespornt von Yuris Tatendrang sagt Shizuka: „Ich auch. Ich weiß zwar nicht, ob ich nützlich sein kann, aber das meine Eltern tot sind, ist letztendlich auf diese Typen zurückzuführen. Ich helfe auch!“

„Und ich werde auch helfen!“, entgegnet Luna, die jetzt ihre Meinung geändert hat;

„Auch wenn es gefährlich ist, wenn wir alle zusammenarbeiten, wird es schon zu schaffen sein.“

„Ich könnte euch ja etwas nützliches erfinden, womit ihr sie besiegen könnt“, lächelt Desmond, und Yuri ruft lachend: „Aber bitte etwas besseres als ein mit Lampen präparierter Kimono!“

Der Wissenschaftler antwortet gereizt: „Das, meine Liebe, ist ein physikalisches Meisterwerk! Ich hätte nur an der Ausarbeitung noch feilen sollen...“

Als Yuri dann anfängt, lautstark zu lachen, sagt er:

„Außerdem hast du ihn doch gekauft! Was willst du eigentlich?“

Keisuke wendet sich an Raito: „Was hattest du eigentlich genau geplant?“

Raito antwortet zögerlich: „Einen Angriff auf ihr Hauptquartier. Ich weiß, es ist riskant.“

Alle sehen ihn an.

„Sie haben ein Hauptquartier?“, fragt Desmond, und Raito nickt.

„Aber meine Befürchtung ist, dass wir nicht genug Leute sind, um es einnehmen zu können. Die Curser-Gesellschaft ist ein Haufen mächtiger Vampire. Aber bis auf Samuel und mich seid ihr alles Menschen, wenn wir Keisuke wegen seiner fehlenden Kraft mal auslassen.“

„Wieso erschaffst du dann nicht noch ein paar Vampire?“, will Keisuke wissen;

„Ich bin mir ganz sicher, dass es viele Menschen gibt, die gerne Vampire wären und die uns auch helfen würden. Wir könnten uns ja mal im Internet umhören, oder so.“

Raito seufzt: „Keisuke, selbst wenn das nicht die Geheimhaltung unserer Existenz gefährden würde, musst du wissen, dass ich nur eine begrenzte Anzahl an Menschen zu Vampiren machen kann.“

„Wie?“, fragt Keisuke.

Das ist ihm jetzt neu.

„Auch wenn ich ewig lebe, kann ich in diesem ewigen Leben nur noch ein paar Menschen in Vampire verwandeln. Ich weiß selbst nicht genau, wie viele, aber nicht mehr als zehn. Deswegen gestatte ich nur gewissen Menschen die Verwandlung in einen Vampir.“

Keisuke erinnert sich daran, wie Raito ihm erzählt hat, dass er Alexa Lilienfeld in einen Vampir verwandeln würde, wenn sie sich dafür entscheiden würde. Scheinbar macht er nur Menschen zum Vampir, die durch ihre Fähigkeiten oder besonderen Talente nützlich für ihn sind.

Miho ergreift nach langer Zeit mal wieder das Wort:

„Naja, woher wollt ihr dann Unterstützung bekommen?“

„Die Polizei vielleicht?“, schlägt Shizuka vor; „Immerhin sind die Cursers doch eine Verbrecherorganisation...“

Raito schüttelt den Kopf: „Nein, das geht aus mehreren Gründen nicht.“

Da kommt Keisuke eine Idee: „Wie wäre es mit den Vampirjägern?“

„Die Vampirjäger unterscheiden nicht zwischen den Cursers und uns. Sie würden uns auch töten“, antwortet Raito.

„Und wenn wir sie irgendwie überzeugen könnten, uns zu helfen?“, hakt Keisuke nach.

„Wie willst du das machen?“, fragt Raito.

Keisuke überlegt kurz.

Die Vampirjäger haben schon mehr als einmal versucht, Keisuke umzubringen, und er kann sich auch an den Präsident Epheral Locover erinnern. Die Aussagen dieses Mannes lassen darauf schließen, dass alle Vampire gleich sind, seiner Meinung nach sind alle böse und gehören zur Hölle geschickt.

„Hm, im Grunde müssten wir doch nur den Präsidenten überzeugen, oder?“, fragt er nachdenklich.

„Epheral Locover, der Präsident der Provitas? Ich dachte, der sei tot“, sagt Yuri überrascht.

Plötzlich steht Luna auf: „Wie bitte? Der ist nicht tot. Ich habe erst vor ein paar Tagen noch mit ihm gesprochen!“

„Was?!“, ruft Desmond.

„Naja, ich habe dort eine Lebensversicherung abgeschlossen...“, murmelt sie;

„Aber was hat das mit den Vampirjägern zu tun?“

Raito klärt sie auf: „Die Provita-Gesellschaft ist eine Organisation, die im Auftrag der katholischen Kirche Vampire jagt. Natürlich müssen sie unsere Existenz auch geheimhalten, deswegen tarnen sie sich als Versicherungsgesellschaft.“

„Echt?“, fragt Luna geschockt; „Ich dachte, es sei ein ganz normales Bürogebäude.“

„Irrtum“, sagt Yuri kurz; „So, wie wollen wir diesen Typen denn überzeugen?“

„Lasst mich das machen“, lächelt Luna; „Ich kenne ihn. Ich werde mit ihm sprechen.“

„Aber du solltest nicht alleine gehen, das ist zu gefährlich“, wirft Miho ein.

„Dann komme ich mit“, ruft Yuri, aber Keisuke sagt:

„Auf keinen Fall, denk daran, dass du ihn im Keller von Café 'Lexy' ganz schön gedemütigt hast. Wenn jemand mitkommen sollte, dann ich.“

„Du bist ein Vampir!“, sagt Desmond skeptisch; „Glaubst du nicht, du wirst sofort kaltgemacht?“

„Wenn kein Vampir mitkommt, glauben sie Luna bestimmt nicht und schicken sie weg! Aber wenn einer dabei ist, können sie das nicht so einfach ignorieren. Raito sollten wir nicht in Gefahr bringen, aber so habe ich auch mal eine Chance, nützlich zu sein.“

„Aber... das ist mir zu gefährlich!“, rufen Miho, Yuri und Raito gleichzeitig.

Luna zuckt mit den Schultern.

„Vertraut mir doch!“, bittet Keisuke; „Ich nehme auch den Dolch von Raito mit.“

Seufzend sagt Raito: „Na gut. Ich werde dir einen meiner Vertrauten mitschicken. Dann erlaube ich dir, zu gehen.“

„Aber sollten wir nicht auch mitkommen?“, fragt Yuri, und Desmond sagt:

„Das wäre zu auffällig. Hast du ein Handy, Luna?“

Sie nickt.

„Dann rufst du am besten sofort an, wenn es einen Notfall gibt. Dann kann Raito eins seiner Viecher zur Unterstützung schicken.“

„Gute Idee“, lobt Luna ihn; „Am besten fahren wir sofort los, heute muss ich nicht in die Uni. Aber vorher fahren wir noch schnell zu mir nach Hause und holen meinen Bogen mitsamt Pfeilen ab. Man weiß ja nie.“

Keisuke nickt und zieht sich die Schuhe an.

„Möchtet ihr vorher noch etwas essen?“, fragt Miho, doch die beiden schütteln den Kopf.

Daraufhin zieht Miho Luna etwas an die Seite und flüstert ihr zu:

„Bitte Luna, versprich mir, dass du auf meinen kleinen Bruder acht gibst.“

„Mach dir nicht so viele Sorgen, Miho. Ich bin sicher, das alles gut wird“, sagt sie optimistisch.

Raito hält Keisuke eine Blutkonserve hin:

„Trink die im Auto, das wird dich stärken. Und seid nicht überrascht, wenn ihr auf dem Rücksitz von Lunas Wagen einer Katze begegnet. Sie ist einer meiner Vertrauten.“

Keisuke nimmt die Blutkonserve an und geht mit Luna gemeinsam aus dem Haus.

Im Auto setzt sich Keisuke auf den Beifahrersitz, weil wirklich eine schattenartige, mysteriöse Katze eingerollt auf den Rücksitz liegt.

Luna ist nicht überrascht: „Ach, die habe ich damals bei Desmond doch schon gesehen.“

Keisuke vergewissert sich noch ein letztes Mal, dass sein Messer an seinem Gürtel befestigt ist und dass er angeschnallt ist, ehe Luna den Motor anschaltet und losfährt. Sie weiß genau, wo es hingeht.

Über dem Fluss

Über dem Fluss
 

Luna hatte ihren langen Bogen und einen Köcher mit Pfeilen aus ihrem Haus geholt und auf den Rücksitz des Autos verfrachtet. Die schattenartige Katze störte sich nicht daran und schlief unbekümmert weiter.

Keisuke betrachtet das Tier. Es ist sehr schön, auch wenn seine Form irgendwie unwirklich erscheint. Das Schattenwesen ist, obwohl es schwarz wie die Nacht ist, leicht transparent und macht den Eindruck, als könnte man hindurch fassen.

Ob das Tier von alleine aufwacht, wenn sie da sind?

„Wie lange fahren wir noch?“, fragt Keisuke Luna. Sie sind jetzt schon mehr als 15 Minuten unterwegs.

„Das Versicherungsbüro der Provitas ist am nördlichen Ende von Logaly. Es dauert noch eine Weile. Möchtest du ein Bonbon?“

Sie öffnet das Handschuhfach und nimmt eine kleine Schachtel heraus, die sie Keisuke gibt.

Er macht sie auf und steckt sich ein klebriges, rotes Bonbon daraus in den Mund.

Luna nimmt sich selbst keins sondern legt die Schachtel zurück:

„Da vorne ist der Logaly-Viola-Fluss. Wenn wir den überquert haben, ist es nicht mehr allzu weit.“

Keisuke schaut nach vorne. Der breite Fluss zieht sich mitten durch die Landschaft, und trennt Logaly in zwei immense Stadtteile.

Die Brücke ist ziemlich groß, hat aber nur eine Spur. Wenn Autos sich dort entgegenkommen, gibt es immer Auseinandersetzungen, welcher Autofahrer rückwärts fahren soll damit der andere durch kann. Glücklicherweise sind heute keine anderen Autos unterwegs.

„Wenig Verkehr, in den letzten Wochen...“, bemerkt Luna beiläufig.

„Die Cursers töten ja auch immer mehr Menschen. In meiner Schule sind auch schon ein paar verschwunden... Ich frage mich, wie viel Bevölkerung diese Stadt eigentlich noch hat.“

Luna zieht eine Augenbraue hoch: „Nun übertreib mal nicht.“

Aber Keisuke meint es ernst. Er hat den Eindruck, dass diese gigantische Stadt immer leerer wird, es aber niemandem so recht auffällt. Wie machen die Cursers das nur?

Oder bildet er sich das einfach nur ein?

Die Brücke ist jetzt überquert, und sie fahren auf einer Landstraße weiter, bis wieder an allen Seiten Gebäude emporragen. Keisuke schaut verträumt aus dem Fenster.

Nach einiger Zeit fährt Luna auf einen großen Parkplatz und nachdem sie den Wagen abgesetzt hat, steigt sie aus: „Wir sind da!“

Keisuke steigt ebenfalls aus, und sieht nach der Katze.

Sie sitzt immer noch auf dem Rücksitz, ist aber jetzt wach und schaut sich wachsam um.

„Kommt die nicht mit?“, fragt Keisuke verwirrt, woraufhin Luna schnell mit ihrem Handy bei Keisuke zu Hause anruft und Raito fragt.

Dann legt sie wieder auf und erklärt: „Raito hat gesagt, dass er sie angewiesen hat, zu kommen, wenn wir Hilfe brauchen. Er kann sie uns nicht direkt mitschicken, weil ein Schattenwesen in der Öffentlichkeit zu auffällig wäre.“

Klingt ja ganz plausibel, trotzdem hakt Keisuke nach: „Und wie will die Katze wissen, wann wir in Gefahr sind?“

Luna lächelt: „Da müssen wir ihr und Raito schon vertrauen.“

Keisuke gibt ihr im Stillen recht, er hat keinen Grund, Raito zu misstrauen. Solange er auf seiner Seite steht, muss er vor gar nichts Angst haben.

„Oh, ich muss meinen Bogen noch mitnehmen“, fällt Luna ein und öffnet die hintere Autotür.

„Ähm, willst du das riesige Teil wirklich einfach so mit in das Gebäude tragen?“

Luna läuft knallrot an: „Ups. Daran habe ich jetzt nicht gedacht! Aber ich habe auch nichts dabei, um ihn abzudecken oder so...“

Was das angeht, fällt Keisuke auch keine Möglichkeit ein. Kleinlaut fragt er:

„Und was machen wir jetzt?“

Luna seufzt: „Ich werde ihn im Auto lassen. Ich möchte sowieso nicht davon ausgehen, ihn brauchen zu müssen. Aber sicherer würde ich mich schon damit fühlen...“

Sie macht die Tür wieder zu und führt Keisuke über den Parkplatz bis zum Versicherungsbüro.

Es ist ein großes Gebäude, bestimmt mehr als zwölf Meter hoch.

„Wow“, entfährt es dem beeindruckten Keisuke.

Sie stehen direkt vor den automatischen Glastüren, und Luna fragt ihn mit einem Seitenblick:

„Du weißt, dass du nicht mitkommen musst, oder? Du kannst gerne im Auto warten.“

„Nein, ich komme mit“, entgegnet er nervös.

Luna nickt und zögert nicht länger, in das Gebäude einzutreten.

Der Vampir geht ebenfalls durch die sich automatisch öffnenden Glastüren hinein.

Die Eingangshalle ist mit weißen Fliesen ausgelegt, die einen sehr guten Kontrast zu den modernen, schwarzen Sofas und Glastischen bieten, die an wahllosen Stellen im Raum immer gleich angeordnet sind.

Ganz vorne befindet sich ein schwarzer, tiefer Tresen, auf dem ein Computer steht.

Eine braunhaarige Frau sitzt dahinter.

Als Luna sie anspricht, sagt sie abgelenkt: „Warten Sie bitte einen Moment...“

Keisuke sieht sich währenddessen um.

Er bemerkt Überwachungskameras am Ausgang sowie am Aufzug.

Das macht ihn zwar extrem nervös, aber er versucht, sich nichts anmerken zu lassen.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt die Frau nun, nachdem sie endlich Zeit für Luna gefunden hat.

„Mein Name ist Luna Mitsuki. Ich habe hier vor kurzem eine Lebensversicherung abgeschlossen. Ich habe noch einige Fragen und würde gerne mit Herr Locover sprechen.“

„Herr Locover ist zurzeit beschäftigt“, antwortet die Frau kühl;

„Wenn Sie bezüglich ihrer Versicherung Fragen haben, kann ich ihnen ein paar äußerst kompetente Mitarbeiter zur Seite stellen, die Sie beraten.“

„Nein, ich möchte nur mit Herr Locover sprechen!“, sagt Luna sauer.

Es gefällt ihr offensichtlich nicht, dass diese Frau versucht, sie einfach mit ein paar anderen Mitarbeitern abzuspeisen.

„Wie ich sagte, er ist beschäftigt“, sagt sie ruhig, aber Luna fragt sofort:

„Und wann wird er Zeit haben? Ich nehme sofort einen Termin. Heute noch!“

Die Frau wendet ihren Blick auf den Monitor und tippt etwas ein.

Danach spricht sie wieder mit Luna:

„Er kann Sie frühestens in drei Stunden empfangen. Wenn Sie sich wirklich sicher sind, dass Sie sich nicht mit einem anderen Kollegen zufrieden geben wollen, können Sie die Zeit gerne in der Cafeteria verbringen.“ Sie deutet auf die Glastür zu ihrer Linken.

„Ich bin sicher!“, ruft Luna und geht stur in die Cafeteria, gefolgt von Keisuke.

Dort setzen sie sich an einen Tisch.

„Zwanzig nach fünf... Tja, wir haben drei Stunden Zeit, was wollen wir machen?“, fragt Luna munter. Keisuke sieht sich nervös um.

Hier kann er keine Überwachungskameras entdecken, was nicht heißt, dass keine da sind.

Er findet es merkwürdig, das bis jetzt nichts passiert ist.

„Müssen wir jetzt echt drei Stunden warten?“, jammert er.

„Damit mussten wir rechnen, oder?“, gähnt sie;

„Wenn wir einfach durch die Tür in sein Büro stürmen, verlieren wir sofort sein Vertrauen.“

„Das müssen wir erstmal bekommen!“, sagt Keisuke leicht pessimistisch.

Bei den Erfahrungen, die er mit Epheral Locover gemacht hat, zweifelt er nämlich daran.

Eine Kellnerin taucht plötzlich auf, und fragt, ob sie sich schon für etwas entschieden haben.

Luna bestellt daraufhin ein Stück Orangenkuchen und ein Glas Sojamilch, während Keisuke, der schon im Auto Blut getrunken hat, keinen großen Hunger hat und einfach aus Anstand eine Tasse Kakao bestellt.

„Muss ich den bezahlen?“, flüstert er, nachdem die Bedienung außer Hörweite ist.

„Naja, du hast ihn doch bestellt“, antwortet Luna, fängt aber auf Keisukes beleidigten Blick zu lachen an: „Ist schon gut, war doch nur Spaß!“

„Hat sich aber nicht so angehört“, murmelt er.

Eine Zeit lang sagt niemand was, dann hat Keisuke aber eine persönliche Frage:

„Ähm, Luna, bereust du es eigentlich, Miho kennengelernt zu haben?“

Sie schaut ihn verständnislos an.

„Ich meine, seitdem du das erste Mal bei uns zu Abend gegessen hast, wurdest du auch in alle möglichen gefährlichen Sachen mit hineingezogen, oder?“

Sie lächelt und sagt einfach: „Du übertreibst. So viele schlimme Dinge sind mir jetzt auch nicht passiert. Außer, dass dein großer Bruder mir immer auf den Keks geht.“

Keisuke fängt an, zu lachen.

„Und jetzt mal ehrlich, ich habe mich sowohl für die Rettung deiner Schwester vor ein paar Wochen als auch für diese Aktion hier freiwillig gemeldet. Ich bereue es kein Stück.“

Er schaut sie mit ein bisschen Bewunderung an, doch dann kommt die Kellnerin zurück und bringt den Kuchen und die Getränke.

Die beiden Kunden bedanken sich und die Frau geht wieder dahin, wo sie hergekommen ist.

Keisuke sieht sich um. Die Cafeteria ist ziemlich groß, trotzdem sind außer ihm und Luna keine anderen Gäste da. Wahrscheinlich arbeiten die ganzen anderen Leute.

Er spricht noch mit Luna über alle möglichen Themen, über seine Schulnoten, wie es bei ihr auf der Universität läuft, wie sie beim letzten Reitturnier abgeschnitten hat, eben über alle möglichen privaten Sachen. Das sie gerade in Gefahr sind und sich in nicht allzu langer Zeit in eine noch größere Gefahr begeben werden, verdrängen sie vorübergehend ganz aus ihrem Gedächtnis wie auch aus ihrem Gespräch, sondern sie reden ausgelassen weiter.

Erst als Luna ihn danach fragt, ob er sich schon für ein bestimmtes Mädchen interessiert, blockt Keisuke ab und möchte nichts mehr sagen.

Das Thema ist ihm irgendwie zu peinlich, und dass er sich noch nicht viele Gedanken darüber gemacht hat, wirkt auch nicht gerade reif.

Weil sie nun wirklich viel Zeit haben, fangen sie nach ein paar Minuten an, 'Hangman' zu spielen, und als das langweilig wird, macht Keisuke für Luna ein Kreuzworträtsel, welches sie fast vollständig lösen kann.

Die Kellnerin taucht ein weiteres mal bei ihnen auf um mitzuteilen, dass sie jetzt Schichtwechsel hat und sie deswegen doch nun bezahlen mögen. Luna übernimmt das gerne.

„Wie lange noch?“, stöhnt Keisuke und hängt mit seinen Armen über dem Tisch.

Gähnend schaut Luna auf die Uhr: „Noch mehr als dreißig Minuten... Bis jetzt haben wir die Zeit doch ganz schön totgeschlagen.“

Er bringt einen großen Seufzer hervor.

Plötzlich gehen die Glastüren auf und die Frau von der Rezeption kommt zu ihnen.

„Oh, Sie sind ja wirklich immer noch da“, sagt sie mit gespielter Überraschung.

„Wie sie sehen können...“, murmelt Keisuke.

„Ich wollte Ihnen sagen, dass der Präsident jetzt Zeit hat. Wenn Sie zu ihm hochgehen würden, die Cafeteria schließt in zehn Minuten.“

„Echt?“, ruft Keisuke und springt auf.

Auch Luna erhebt sich erleichtert: „Endlich...“

Gemeinsam mit der Dame verlassen sie die Cafeteria und gehen zum Aufzug.

„Das Büro des Präsidenten ist im siebten Stock. Gehen Sie einfach immer gerade aus“, erklärt die Frau, ehe sie sich zurück an ihren Computer setzt.

Luna und Keisuke gehen in den Aufzug und sie drückt die Sieben.

Die Türen schließen sich und der Aufzug fährt nach oben.

Keisuke ist ganz flau im Magen. Nachdem er nun solange gewartet hat, ist er noch aufgeregter als am Anfang. Er bemerkt auch, dass Lunas Bein leicht zittert. Sie ist also auch angespannt.

Ein Piepston verkündet, dass sie im siebten Stock sind, und die Türen öffnen sich.

Die beiden gehen einen Gang entlang, der links und rechts viele Räume aufweist, aber man kann in keinen hineinsehen, weil die schwarzen Türen stets verschlossen sind.

So ist es auch mit der Tür am Ende des Ganges. An der Wand daneben hängt ein Schild, auf dem „Büro des Präsidenten, Epheral Locover“ steht.

„Bereit?“, fragt Luna, und der Vampir nickt sofort, obwohl er eigentlich gar nicht bereit ist.

Zu spät, sie öffnet die Tür und sie gehen hinein.

Der Raum ist sehr groß, ein dunkelgrüner Teppich ziert den Boden, und ein riesiges Fenster mit gutem Ausblick ist direkt hinter dem Schreibtisch zu sehen.

An diesem Schreibtisch steht ein umgedrehter Bürostuhl, und Keisuke ist sich ziemlich sicher, dass er weiß, wer darauf sitzt.

Sie kommen näher, und Luna fragt vorsichtig: „Herr Locover?“

Zuerst kommt keine Antwort, doch dann geht hinter ihnen die Tür zu.

Schlagartig drehen die beiden sich um: Epheral Locover steht hinter ihnen und hält ein braunes Gewehr direkt auf Keisuke gerichtet.

Offensichtlich hat er sich hinter der Tür versteckt.

„Hallo“, grinst er; „Wie kann man nur so dumm sein, sich in die Höhle des Löwen zu wagen?“

„Aber... wer sitzt denn dann da auf dem Stuhl?“, fragt Luna verwirrt und ängstlich.

„Niemand!“, ruft Epheral und feuert einen Schuss auf den ledernen Bürostuhl ab, der sich daraufhin mehrmals dreht.

„Durch die ganzen Kameras wusste ich, dass ihr kommen würdet“, sagt er ernst;

„Ihr wart ja ziemlich hartnäckig. Ich würde schon gerne wissen, warum ihr das gemacht habt?“

„Weil wir mit dir reden wollen!“, ruft Luna mutig und stellt sich schützend vor Keisuke.

Epheral sieht sie verächtlich an: „Frau Mitsuki... Du bist doch ein Mensch! Warum tust du dich mit Vampiren zusammen?“

„Warum nicht!“, schreit sie ihn an; „Es sind Lebewesen wie du und ich! Man darf sie nicht einfach so abschlachten!“

„Sie schlachten doch auch die Menschen ab!“, ruft er zornig, und obwohl Keisuke antworten will, übernimmt Luna das: „Tun sie nicht! Es gibt Vampire, die sich ein Leben in Harmonie mit den Menschen wünschen, und das sind nicht unsere Feinde!“

Epheral betrachtet sie spöttisch: „Denkst du das allen ernstes? Vampire betrachten uns doch nur als Nahrung. Wenn wir sie nicht auslöschen, werden sie eines Tages die gesamte Menschheit vernichten!“

„Will ich nicht!“, ruft Keisuke sauer; „Meine Schwester und mein Bruder, sowie die meisten meiner Freunde, sind alles Menschen! Ich liebe sie zu sehr, als dass ich ihnen jemals etwas antun könnte!“

Er weiß, dass das was er da sagt, nicht ganz der Wahrheit entspricht. Immerhin hat er Shizuka angefallen, als er unter Blutmangel litt, aber er weiß auch, dass es ihm schrecklich leid tut.

„Liebe...“, flüstert Epheral; „Als könnten Wesen wie du sowas empfinden!“

Er feuert einen Schuss auf Keisuke ab, doch Luna zieht ihn schnell genug runter, sodass die Kugel nur den Schreibtisch trifft, aber ein großes Loch in ihm hinterlässt.

„Bitte nicht schießen!“, ruft sie; „Du unterstellst den Vampiren, dass sie gewalttätig und böse sind, dabei bist du es doch, der uns angreift!“

„Was?!“, ruft Epheral fassungslos.

„Ja!“, schreit Luna sauer mit Tränen in den Augen:

„Hat Keisuke dir jemals etwas angetan? Nein! Und trotzdem willst du ihn töten! Er ist nicht böse! Es sind nicht alle Vampire böse!“

„Was redest du da!“, faucht Epheral zornig und schießt auf Luna.

Die Kugel verfehlt sie um einen Millimeter und trifft das riesige Fenster, das Aussicht auf den Logaly-Viola-Fluss bietet, und lässt die Fensterscheibe in tausend Stücke zerbersten.

Luna steht aufrecht da, sie hat keine Anstalt gemacht, der Kugel auszuweichen, und sie sieht ihn nur durchdringend an: „Epheral, ich bitte dich. Du kannst nicht sagen, dass alle Vampire böse sind. Es gibt ja auch gute und böse Menschen. Aber du kannst gegen die bösen Vampire kämpfen, und ich möchte, dass du genau das tust.“

Er schaut sie schweigend an.

Keisuke hat sich währenddessen hinter dem Schreibtisch versteckt und guckt vorsichtig hervor, um mitzuverfolgen, was passiert.

Luna geht unerschrocken auf Epheral zu, und nimmt seine Hand:

„Bitte, ich weiß, dass es dir vielleicht schwer fällt, aber hör auf, wahllos Vampire zu jagen.“

Jetzt grinst Epheral sie an: „Dir ist schon klar, dass es das ist, wofür ich bezahlt werde, oder?“

Luna sieht sich um: „Sag mir nicht, dass du, wenn du über so ein Büro verfügst, Geldprobleme hast! Außerdem hast du doch immer noch das Versicherungsbüro.“

„Ja...“, stöhnt Epheral und lässt endlich die Waffe sinken; „Aber das ist langweilig...“

Zufrieden atmet Luna aus, und Keisuke erhebt sich vorsichtig aus seinem Versteck.

„Wenn ihr mit den Menschen in Harmonie leben wollt, gehört ihr nicht zu den Cursers, oder?“, fragt Epheral Keisuke, und dieser nickt: „Die Cursers sind unsere Feinde. Wir sind gekommen, um dich um deine Hilfe zu bitten, wenn wir gegen sie kämpfen.“

Epherals Grinsen wird größer: „Ich laufe grundsätzlich vor keinem Kampf davon, erst recht nicht, wenn er gegen Vampire geht. Sag mir, wer ist euer Anführer?“

„Ähm, Raito“, sagt Keisuke unsicher.

„Raito Umi?!“, ruft Epheral geschockt; „Der Prinz?“

„Warum Prinz?“, fragt Keisuke.

„Hat er dir das also nicht erzählt? Du musst mich zu ihm bringen. Wenn ihr wollt, dass ich euch helfe, müsst ihr mich erst zu diesem Raito bringen!“

„Ähm, ja, okay“, antwortet Luna; „Aber dieses riesige Gewehr lässt du bitte hier.“

„Nein!“, sagt er starrköpfig; „Das ist meine Lieblingswaffe. Die lasse ich doch nicht hier.“

Luna sieht fragend zu Keisuke, aber der zuckt auch nur mit den Schultern, weil er nicht weiß, was er machen soll.

„Oh, da fällt mir etwas ein!“, lächelt sie plötzlich und zieht ihr Handy aus der Hosentasche:

„Du kannst auch mit ihm telefonieren. Ich wähle eben die Nummer.“

Doch noch beim Wählen geht auf einmal das Handy aus.

„Was ist los?“, fragt Keisuke.

Luna seufzt: „Mein Akku ist leer. Ich habe vergessen, ihn aufzuladen...“

„Macht nichts“, sagt Epheral locker; „Ich will ihn eh persönlich sehen.“

Plötzlich erscheint direkt vor ihm ein weißhaariger, junger Mann, und schlägt ihm, bevor er reagieren kann, die Schusswaffe aus der Hand.

„Raid!“, ruft Keisuke ängstlich, und Luna flucht: „Oh nein, ein Curser!“

Der sehr große, muskulöse Vampir Raid sagt nichts sondern schlägt Epheral mit seiner Faust in den Magen, dieser torkelt ein paar Schritte zurück, holt aber direkt zum Gegenangriff aus, den Raid pariert.

„Lauft zum Aufzug! Verschwindet schnell!“, ruft Epheral, während er auf Raid einschlägt.

Luna nickt Keisuke zu und die beiden rennen den Gang entlang bis zum Aufzug.

Luna drückt panisch auf den Schalter, während Keisuke mit starkem Herzklopfen fragt:

„Was wollen die Cursers nur hier?“ Sie antwortet nicht und hämmert weiter auf den Knopf, bis schließlich die Aufzugtür aufgeht und die beiden sofort hineinrennen.

Doch es steht schon jemand im Aufzug, eine junge Frau im schwarzen, engen Top und Minirock.

„Na ihr Süßen?“, begrüßt sie Keisuke und Luna.

„Oh nein, Lure!“, ruft Keisuke und rennt gemeinsam mit Luna direkt aus dem Aufzug hinaus, panisch laufen sie zur Treppe, die sie dann in einem Affenzahn runter rasen.

„Was ist mit Epheral?“, fragt Luna besorgt, aber Keisuke erwidert nur:

„Der Typ kann auf sich aufpassen!“

Unten angekommen, versuchen sie aus dem Treppenhaus zu entkommen, aber die Tür ist abgeschlossen.

„Scheiße, das muss Lure gemacht haben!“, ruft Keisuke.

Nun sitzen sie in der Falle.

Doch als hätte sie auf einen stillen Hilferuf gehört, erscheint nun die schattenartige Katze vor ihnen, und springt durch die Glastür, die mit großen Krachen zersplittert.

Daraufhin verschwindet das Wesen wieder.

Ohne weiter darüber nachzudenken rennen sie in die Eingangshalle.

Die Frau, die eben noch am Tresen war, ist nun nicht mehr da, aber plötzlich geht die Aufzugtür auf und Epheral kommt heraus. Er hat hier und da Beulen, blutet aber nicht.

„Alles okay?“, fragt Luna und geht sofort zu ihm hin.

Er nickt und ruft: „Wir müssen schnell weg, ich weiß nicht, wie lang der Typ außer Gefecht ist und die andere Tussi hat die Treppe genommen.“

„Dann kommt!“, fordert Luna sie auf und zu dritt hetzen sie aus dem Bürogebäude.

So schnell sie können laufen sie zum Parkplatz, doch es stehen so viele Autos da, dass sie nicht sofort das richtige finden: „Wo haben wir geparkt?“, fragt Luna verwirrt.

„Woher soll ich das wissen?“, lautet Epherals Gegenfrage.

„Wir haben keine Zeit!“, drängt Keisuke. Sie gehen die Reihen durch, bis sie schließlich das richtige Auto finden.

„Endlich!“, ruft Luna glücklich, aber eine Stimme kommentiert es mit: „Endlich was?“

Raid steht hinter ihnen, und Keisuke kann Lure erkennen, die ein bisschen weiter weg ist und gerade auf sie zu kommt.

„Ich kümmere mich endgültig um euch!“, faucht Epheral und springt auf Raid zu.

Luna und Keisuke steigen währenddessen schon in den Wagen.

„Fahrt schnell weg!“, ruft Epheral den beiden zu, und Luna drückt aufs Gas.

„Ich werde die Verfolgung aufnehmen“, sagt Lure heiter, während,Raid gegen Epheral kämpft.

„Sollte ich das nicht lieber machen?“, keucht Raid, aber Lure winkt ab:

„Nein, den kleinen Vampir will ich für mich haben.“

Und dann rennt sie dem Auto hinterher.
 

„Oh mein Gott!“, ruft Keisuke ängstlich; „Luna, schau mal in den Rückspiegel! Lure verfolgt uns, und sie ist zu Fuß fast genauso schnell wie wir!“

Fassungslos starrt Luna in den Spiegel: „Was? Unmöglich, wie kann sie nur so schnell sein?!“

Sie versucht, noch schneller zu fahren, als momentan, aber weil sie oft abbiegen muss, ist das gar nicht so einfach.

Keisuke schaut sich um: „Es ist doch noch hell, aber warum ist keiner mehr auf den Straßen? Warum trauen sich die Cursers, uns in der Öffentlichkeit anzugreifen?!“

„Keine Ahnung!“, gibt Luna zurück;

„Aber die Zeiten, in denen sie in einem Keller verborgen einen Hinterhalt vorbereiten, sind wohl vorbei!“

Die Landschaft um sie herum wird grüner, trotzdem gibt Lure nicht nach.

„Wird die denn nie müde?!“, fragt Luna empört.

„Ich kann die Brücke sehen! Wir haben gleich den Logaly-Viola-Fluss erreicht!“, freut sich Keisuke.

Das Auto befährt die Brücke ein paar Meter, doch dann wird es plötzlich langsamer und hält schließlich an.

Entsetzt ruft Luna: „Nein!!! Nicht jetzt! Wir haben kein Benzin mehr!“
 

Währenddessen liefert Epheral sich mit Raid einen erbitterten Kampf.

Epheral hat all die Munition seines Revolvers verbraucht, weil Raid durch seine Teleportationsfähigkeit immer wieder ausweichen konnte.

Nun greift er ihn einfach mit den Fäusten an. Würde sich sein Gegner nun teleportieren, würde er auch nicht zum Angriff kommen.

„Das ist nicht sehr schmerzhaft!“, lacht Raid, und als Antwort sticht Epheral mit einem schnell gezogenen Messer zu, doch Raid hat kein Problem damit, es ihm aus der Hand zu schlagen.

„Gehen dir nicht langsam deine Waffen aus? Gewehr, Pistole, Messer... Egal, was du anbringst, mich kannst du nicht besiegen!“

Daraufhin schlägt er Epheral mit beiden Händen ins Gesicht, sodass er zu Boden fällt.

Lachend kommt Raid auf ihn zu, er hat eine Art Machete in der Hand.

„Kommen wir zum Ende“, sagt er monoton und holt aus.

In letzter Sekunde schafft es Epheral, sich zur Seite zu rollen, sodass die Machete im Boden stecken bleibt. Während Raid versucht, sie herauszuziehen, versetzt Epheral ihm einen heftigen Tritt mit einem seiner Stahlkappenstiefel.

Raid taumelt ein bisschen zurück, dann faucht er: „Ich erledige dich!“

Und noch während er sich teleportiert, zieht Epheral die Machete aus der Erde und hält sie mit der Klinge hinter sich.

Als Raid dann erscheint, hört Epheral nur noch ein schmerzhaftes Aufschreien.

Er lässt die Waffe los und dreht sich um.

Raid steht hinter ihm, und die Machete steckt ihm mitten im Brustkorb.

Blut läuft ihm aus dem Mund, und er fällt auf die Knie.

„Woher wusstest du...?“, flüstert er hustend, und Epheral sagt nur abfällig:

„Es war offensichtlich was du vorhattest. Deine tolle Fähigkeit ist dir wohl zum Verhängnis geworden!“

„Ich werde das der Königin berichten!“, hustet Raid und teleportiert sich weg.

„Verdammt!“, flucht Epheral; „Er ist mir entkommen! Hoffentlich stirbt er an seinen Verletzungen! Aber ich sollte jetzt Frau Mitsuki und den Vampir verfolgen...“

Schwer atmend läuft er zu seinem Wagen.
 

Lure kommt immer näher auf das Auto zu, panisch steigt Keisuke aus.

„Ich halte sie auf“, sagt Luna mutig; „Lauf schnell ans andere Ende der Brücke!“

„Aber Luna!“

„Keine Widerrede, Keisuke!“, herrscht sie ihn an; „Ich habe Miho versprochen, auf dich aufzupassen, und nichts auf dieser Welt wird mich davon abhalten, dieses Versprechen zu brechen! Und jetzt lauf!“

Sie steigt aus und nickt Keisuke zu. Dieser läuft atemlos über die Brücke.

Lure ist inzwischen angekommen, und fragt Luna höhnisch:

„Was wird denn das? Kleines, du denkst doch nicht, dass du mich aufhalten kannst? Das hatten wir doch schon mal.“

Luna bleibt eisern: „Hier kommst du nicht durch!“

Lure springt blitzschnell auf sie zu und drückt ihre Arme gegen die immer noch offene Autotür, dann lächelt sie entspannt: „Du weißt, was jetzt passiert. Man sieht ja gut, wie du mich aufgehalten hast.“ Luna knirscht mit den Zähnen, während Lure ihrem Gesicht immer näher kommt.

Sie sieht jetzt direkt in ihre Augen, aber Luna kommt in letzter Sekunde die rettende Idee:

Sie greift schnell mit der Hand ins Auto und reißt mit ganzer Kraft den Rückspiegel heraus, den sie Lure genau vor das Gesicht hält.

Schreiend weicht Lure zurück, sie packt sich mit den Händen an die Augen und ruft hasserfüllt:

„Aaaargh, du Miststück, du blöde Kuh, wie wagst du es, ich hätte mich beinahe selbst eingeschläfert!“

Dann nimmt sie die Hände herunter und schlägt Luna kräftig mit der flachen Hand ins Gesicht.

Sie macht das mehrmals, bis Luna schließlich zu Boden fällt.

„Geschieht dir recht!“, faucht Lure und sieht auf.

Keisuke, der in der Mitte der Brücke steht, hat das alles mit angesehen und ist nun zur Salzsäule erstarrt. Wie konnte sie Luna das nur antun? Sowas schreckliches!

Lure geht auf Keisuke zu, nicht besonders schnell, aber er flieht auch nicht.

Er bleibt einfach stehen.

Als Lure bei ihm angekommen ist, zieht er seinen Dolch und hält ihn schützend vor sich.

„Hübsches Ding“, bemerkt Lure.

„Was willst du?! Warum verfolgst du uns?!“, ruft Keisuke verzweifelt.

„Nunja“, sagt Lure und fährt sich durch das rote Haar; „Dem lieben Sense ist aufgefallen, dass der Vampir Keisuke sich im Büro der Provitas aufhält. Dem mussten wir natürlich nachgehen. Das wahrscheinlichste war zwar, dass irgendein Vampirjäger dich gefangen genommen hat, aber wir mussten uns vergewissern. Und wie wir befürchtet haben, versucht ihr, euch mit den Vampirjägern zu verbünden. Tut mir leid, aber das passt uns gar nicht.“

Sie geht noch einen Schritt auf Keisuke zu.

„Ach, mein süßer Keisuke, wärst du doch nur brav gewesen und hättest zu Hause für die Schule gelernt. Würdest du dich nicht mit Raito abgeben, würden wir gar nichts von dir wollen sondern dich in Ruhe lassen... Aber jetzt sieht die Sache natürlich anders aus.“

Er sagt nichts darauf.

Auf das Gelaber dieser Frau kann er sowieso nichts geben, aber er fragt sich ernsthaft, wie er sie besiegen soll, wenn nicht mal Luna es geschafft hat.

„Halt still, dann geht es ganz schnell“, kichert sie nun und tänzelt schnell auf Keisuke zu, der mit seinem Dolch nach ihr schlägt, aber es ist kein Problem für sie, der Attacke auszuweichen.

Er dreht sich um attackiert nochmal, um ihr keine Chance zum Angreifen zu geben.

Dieses mal erwischt er sie, zumindest zerreißt es ihr Top, das auf den Boden fällt.

Nun steht sie obenrum nur noch in Unterwäsche da, und beim Anblick ihres riesigen Busens, der sich in einen hautengen, schwarzen BH quetscht, wird er rot und dreht sich ohne nachzudenken um.

Das war ein Fehler, Lure presst ihn sofort mit ihrer ungewöhnlichen Stärke an das Geländer der Brücke und dreht ihn um, so dass er sie ansehen muss.

Das Messer lässt er vor Schreck fallen.

„Nein...“, ist alles, was Keisuke rausbringt.

„Doch mein lieber, irgendwann, ist es eben vorbei.“ Sie gibt ihm einen kurzen Kuss auf dem Mund, so wie sie es schon einige Male getan hat, und wie jedes Mal durchläuft ihm ein kalter Schauder.

„Schade, ich mochte dich“, sagt sie nun, aber bevor sie ihre Fähigkeit einsetzen kann, hören sie Lunas Stimme: „Neiiiiiin!!!“

Wie aus dem Nichts kommt ein Pfeil geschossen, der durch Lures linke Hüfte geht.

Sie verliert das Gleichgewicht und Keisuke, der vor Schreck einen Schritt zur Seite geht, macht ihr Platz, um über das Geländer zu fallen.

Nun hängt sie nur noch mit einer Hand an einem unteren Brückenpfeiler, scheinbar mit keiner Möglichkeit, sich zu helfen.

Luna steht atemlos ein paar Meter hinter Keisuke.

Dieser beugt sich über das Geländer: „Lure!“

Lure schluckt: „Damit... habe ich nicht gerechnet... Du hast wohl doch gewonnen...“

Ein Blick in die Tiefe verrät ihm, dass der Fluss sich mehr als hundert Meter unter der Brücke befinden muss. Wenn sie da hinunterfällt, würde sie das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überleben. Aber was soll er machen?

„Lure, nimm meine Hand!“, ruft er ihr zu, und streckt ihr den Arm aus.

Daraufhin bildet sich ein Lächeln in ihrem Gesicht: „Danke für das Angebot, aber es ist, wie ich vorhin sagte: Irgendwann ist es eben vorbei. Das gilt auch für mich.“

„Keisuke!“, ruft Luna besorgt und läuft zu ihm hin.

Als Lure sie sieht, haucht sie: „Du... Ich wollte dir noch sagen, dass du wirklich hübsch bist.“

Luna wird leicht rot: „Wie bitte?“

Doch Keisuke sieht, wie Lure sich langsam nicht mehr halten kann.

„Es wird Zeit. Lebewohl, süßer Keisuke!“, lächelt sie und lässt los.

Ein paar Sekunden später sieht und hört man ihren Körper im Wasser aufkommen.

Keisuke sieht erstarrt nach unten. Luna atmet schwer.

Keiner von beiden sagt etwas.

„Sie kann das nicht überlebt haben, oder?“, fragt Keisuke beinahe hoffnungsvoll.

„Nein“, sagt Luna mit heiserer Stimme; „Nicht nach der Verletzung durch meinen Pfeil.“

Er merkt, dass sich in seinem Auge eine Träne bildet, die sofort darauf die Wange runter läuft.

Aber warum? Sie ist doch eine Feindin gewesen? Warum sollte er weinen...?

Ein schwarzer Geländewagen taucht plötzlich auf, aus dem Epheral Locover aussteigt.

Dieser ist zwar verwundet, aber dennoch gelassen. Unbekümmert sagt er:

„Ah, ihr konntet euer Problem da ja offenbar schon selbst lösen. Gut gemacht.“

Raito gegen Epheral

Raito gegen Epheral
 

Von der Kälte der Nacht merkt Keisuke nicht viel, weil in Lunas Auto die Sitzheizung angeschaltet ist. Ein Seitenblick verrät ihm, dass sich die Hände der Medizinstudentin auf dem Lenkrad verkrampfen.

Sie hat es auch nicht leicht, überlegt der Vampir besorgt; immerhin trägt sie Mitschuld an Lures Tod. Auch wenn sie den Pfeil abgefeuert hat, um sein Leben zu schützen, würde Luna nicht so schnell darüber hinweg kommen, sie würde sich das vielleicht nie verzeihen können.

Mitfühlend legt er seine Hand auf ihre Schulter, woraufhin sie nur mit gespielter Verwunderung den Kopf zu ihm dreht und fragt: „Was denn?“

Keisuke sagt nichts, sondern lächelt sie nur an.

Verunsichert wendet sie sich wieder der Straße zu, und er wirft einen Blick in den Seitenspiegel.

Er kann Epherals Wagen erkennen. Sie haben, nachdem sie sich auf der Brücke wiedergetroffen hatten, vereinbart, dass er ihr zum Haus der Valleys mit seinem eigenen Auto folgt.

Mitgenommen lässt Keisuke seinen Kopf in den Sitz sacken.

Ihm geht Lure einfach nicht aus dem Kopf.

So böse war sie eigentlich nicht... Trotzdem musste sie sterben.

Laut Epheral ist Raid auch schon tot, oder zumindest sehr schwer verletzt.

Das ist ihm mehr oder weniger egal, trotzdem hofft irgendetwas in ihm, dass Lure den Sturz von der Brücke vielleicht überlebt haben könnte.

Selbst wenn es unwahrscheinlich ist, die regenerativen Fähigkeiten von Vampiren sollte man nie unterschätzen.

„Können wir das Radio anmachen?“, fragt er müde, aber Luna lehnt es ab:

„Wir sind doch gleich da.“

Sie hat recht, das Viertel, indem Keisuke, seine Geschwister und Shizuka wohnen, durchqueren sie gerade mit circa 40 km/h.

„Der Tag hat so schön angefangen...“, murmelt er traurig, und Luna, die nun normalerweise etwas aufheiterndes sagen würde, schweigt.

Sie steigen aus und warten auf Epheral, der, nachdem er einen Parkplatz gefunden hat, gelassen zu ihnen herüber schreitet und grinsend fragt, worauf sie noch warten.

Keisuke nickt.

Mit den beiden Erwachsenen im Schlepptau schließt er die Haustür auf und lässt sie eintreten.

Im Wohnzimmer sitzen seine Schwester, Raito, Yuri, Shizuka und Desmond, alle an verschiedenen Plätzen des Raumes.

Miho springt sofort auf und rennt auf Luna zu: „Du bist verletzt!“, ruft sie erschrocken, als sie die ganzen Schrammen und blauen Flecken in ihrem Gesicht bemerkt.

„Ja, kann sein“, sagt Luna und lächelt sanft; „Aber dafür geht es Keisuke gut.“

Schnell wirft Miho einen Blick auf ihren Bruder, und nachdem sie festgestellt hat, dass körperlich wirklich alles in Ordnung mit ihm ist, nimmt sie Luna in den Arm und drückt sie ganz fest an sich.

„Danke...“, flüstern beide kaum hörbar.

Keisuke hat sich inzwischen zu Yuri und Shizuka auf das Sofa gesetzt.

„Wieso wart ihr solange weg?“, fragt Shizuka, während Yuri ihn auffordert, alles zu erzählen, was passiert ist.

Währenddessen geht Epheral ein paar Schritte auf Raito zu, der sich vor den Kamin gehockt hat, um das Feuer anzufachen.

„So sieht man sich wieder...“, grinst Epheral hämisch, und Raito steht auf und wendet sich ihm zu.

Vor nicht allzu langer Zeit erst wurde der Vampirjäger bei einem Kampf gegen Raito schwer verletzt, und wäre fast zur Tode gekommen.

Keisuke spürt schon, dass es gleich Probleme geben könnte, deswegen spricht er direkt Raito an und lenkt ihn somit von Epheral ab: „Ähm, Raito, du musst wissen, Lure ist tot.“

Raito nickt nur.

Keisuke kann sich schon denken, dass er es wahrscheinlich schon wusste.

Die Schattenwesen, die Raito aus einer Parallelwelt beschwören kann, dienen ihm nicht selten auch als Informationsübermittler.

Dabei fällt dem jungen Vampir ein: „Wo ist eigentlich die Schattenkatze?“

„In ihre Welt zurückgekehrt“, erklärt Raito; „Diese Geschöpfe können sich für gewöhnlich nicht länger als ein paar Stunden ohne Unterbrechung in unserer Welt aufhalten.“

Nun mischt sich Miho ein: „Wo ist eigentlich unsere Katze? Ihr wisst schon, Shya.“

Alle sehen sie an.

„Sie ist immer noch nicht zurück gekommen?“, hakt Luna mitfühlend nach.

Miho schüttelt den Kopf und verschränkt unsicher die Arme:

„Ich fange an, mir wirklich Sorgen zu machen...“

„Die Katze wird schon wiederkommen“, antwortet Epheral plötzlich, und Miho schaut ihn schräg an: „Wer sind Sie eigentlich?“

Der schwarzhaarige Vampirjäger wird leicht sauer: „Ich bin Epheral Locover, der Präsident der Provitas! Sag bloß, du kennst mich nicht!“

„Achso, der“, seufzt Miho bloß.

Yuri und Shizuka müssen kichern, aber als Epheral ihnen ein bösen Blick zuwirft, hört zumindest Shizuka damit auf.

Plötzlich macht Epheral einen Satz nach vorne: „Du!“

Er schaut Yuri durchdringend an, deren Kichern daraufhin erstirbt.

„Du hast mich damals doch ausgetrickst, oder?! In diesem Café!“

„Das ist doch kalter Kaffee“, versucht Yuri ihn zu beruhigen, aber dann will sie plötzlich selbst etwas von ihm wissen:

„Wer ist eigentlich der alte Mann, der das Café damals geöffnet hat?! Weißt du eigentlich, dass seit diesem Tag jede Woche Kunden kommen, die denken, dass Café hätte zu Zeiten geöffnet, an denen es normalerweise geschlossen ist?“

„So viele werden es ja wohl nicht sein“, grummelt Epheral, und Keisuke antwortet:

„Der alte Kerl ist der Direktor meiner alten Schule.“

„Du meinst, Direktor Sagheim?!“, erschrickt Shizuka.

Keisuke nickt. Dieser Mann hat ihn einst gezwungen, die Logaly High zu verlassen, weil er Vampire für eine Bedrohung in der Schule hält.

Shizuka ist mitgekommen und seitdem gehen die beiden zur Sanary High.

Nun fängt Epheral an, zu lachen.

„Was hast du auf einmal?“, fragt Yuri und gibt ihm einen leichten Stoß.

„Nunja, ihr müsst wissen, Christopher Sagheim ist mein Vater.“

„Was?!“, rufen Keisuke, Shizuka und Yuri verwundert.

Er erklärt ihnen: „Früher war mein Vater der Präsident der Provitas und somit Anführer der Vampirjäger. Verstehst du nun seine Abneigung gegen euresgleichen? Ich bin vor zwei Jahren in seine Fußstapfen getreten, und er kam an eure Schule als neuer Direktor.“

Keisuke weiß nicht, was er sagen soll.

Miho lächelt: „Tja, die Welt ist klein. Möchte jemand etwas trinken?“

Desmond gähnt: „Noch einen Kaffee, bitte.“

Sie stürmt in die Küche, während Luna sich zu dem Wissenschaftler an den Tisch setzt.

„Also Epheral, hilfst du uns im Kampf gegen die Cursers?“, fragt Yuri hoffnungsvoll.

„Vielleicht“, schmunzelt er.

„Wieso nur vielleicht?“, fragt Keisuke vorsichtig. Eigentlich ist er davon ausgegangen, dass Epheral, wenn er schon mitgekommen ist, ihnen auf jeden Fall zur Seite stehen wird.

Der Vampirjäger grinst nun: „Vorher muss ich noch was klären.“

Er geht direkt auf Raito zu, und hält erst ein paar Millimeter vor ihm inne.

Dieser sagt nichts, ballt aber seine Hand zu einer Faust.

„Beim letzten Mal hast du mich besiegt“, knurrt Epheral; „Aber ich gebe zu, ich war zu unvorsichtig. Ich kenne deine Kräfte jetzt. Nochmal werde ich nicht verlieren!“

Raitos Blick verfinstert sich: „Du willst also kämpfen?“

Sein Gegenüber antwortet grinsend: „Ich will Rache!“

Keisuke fühlt sich, als würde er gleich in Ohnmacht fallen. Das darf doch nicht wahr sein!

Miho ist inzwischen wieder im Wohnzimmer, und Keisuke nimmt Shizuka und Yuri an den Händen und zieht sie zum Esstisch:

„Was ist?“, fragt Shizuka verwirrt.

Keisuke fängt sofort an, flüsternd zu erklären:

„Epheral und Raito werden sich gleich einen erbitterten Kampf liefern, wenn wir nichts unternehmen! Die beiden haben nämlich noch eine Rechnung offen!“

„Wie?“, fragt Miho verständnislos; „Jetzt? Hier?“

Keisuke nickt schnell: „Ja, und das müssen wir irgendwie verhindern! Wir sind ein Team, ich will nicht, dass sie gegeneinander kämpfen!“

„Aber wie willst du diese stolzen Männer davon abhalten, sich zu messen?“, will Yuri wissen.

Da kommt ihm eine Idee: „Hm, vielleicht...“

Wild beginnen sie zu tuscheln.

„Was macht ihr da?!“, ruft Epheral, der sich umgedreht hat.

Das Flüstern erstirbt, und alle nicken sich gegenseitig zu.

Daraufhin läuft Keisuke zu den beiden Männern und stellt sich auf das Sofa.

Er räuspert sich: „Ihr beide wollt also gegeneinander kämpfen?“

Epheral und Raito schauen ihn an, als wäre er ein Geisteskranker, aber Keisuke ist von seiner Idee so begeistert, dass er diese Blicke einfach ignoriert.

„Wenn ihr unbedingt einen Kampf ausfechten wollt, dann denkt bitte daran, dass ihr eure gesunden Körper noch benötigt!“

„Worauf soll das hier hinauslaufen?“, fragt Epheral genervt.

„Wir haben uns einen Wettbewerb ausgedacht, in dem ihr zeigen könnt, wer von euch der bessere ist!“, ruft Keisuke glücklich; „Wenn ihr da nicht mitmacht, seid ihr definitiv Feiglinge!“

„Fein, mache ich halt mit!“, schnaubt Epheral, und Raito nickt ernst.

„Das wird lustig!“, kichert Yuri.

„Den ersten Wettbewerb wird Miho vorstellen!“, kündigt Keisuke an.

Miho tritt vor: „Bitte folgt mir in die Küche!“

In der Küche verweist auf den Kühlschrank:

„Dort könnt ihr euch bedienen! Denn dieser Wettkampf ist ein Kochwettbewerb!“

Raito erschrickt plötzlich, aber Epheral sag selbstsicher: „Kochen? Nichts lieber als das!“

Miho stellt die Eieruhr auf dreißig Minuten ein: „Ihr habt eine halbe Stunde! Wessen Kochgericht Yuri besser schmeckt, gewinnt!“

Keisuke hält ein Lachen zurück. Sie haben Yuri als Bewerterin ausgewählt, weil sie schon öfter das Essen, was ihre Eltern für die Kunden von Café 'Lexy' vorbereiten, vorgekostet hat.

Sie ist wie perfekt für dieses Amt geschaffen!

Die Zeit läuft, und der Wettstreit beginnt.

Epheral reißt den Kühlschrank auf und schnappt sich eine Zutat nach der anderen, während Raito den Herd anwirft.

Der Vampirjäger holt sich Salatköpfe aus einem Eimer neben dem Kühlschrank und fängt nach dem Waschen an, sie zu schälen.

Raito steht währenddessen hilflos vor dem Kühlschrank.

„Was könnte Menschen schmecken...?“, fragt er sich beim Durchschauen der Fächer.

Schließlich nimmt er ein paar Eier und gekühltes Fleisch heraus.

Bis er es geschafft hat, die Eier in die Pfanne zu werfen, und dem Fleisch Form zu verleihen, ist Epheral schon komplett fertig mit dem Salat und stellt ihn zur Seite:

„Jetzt kommt der Lachs!“ Das ganze geht noch ein paar Minuten so weiter,

doch dann wird es Miho zu heikel, als schwarzer Rauch von Raitos Pfanne aufsteigt.

„Ähm, brechen wir hier ab!“, ruft sie, und alle helfen, das Essen auf den Tisch zu tragen.

Yuri besieht sich den Kochgerichten:

Zu ihrer Linken: Epherals Essen: Gemischter Salat, geräucherter Lachs mit Petersilie verziert, sowie einen selbstgemachten Pudding aus Weincreme und einer orientalischen Kräutersuppe.

Das Essen von Raito wirkt dagegen nicht so imposant: Verbrannter Toast mit verkohltem Rührei und irgendetwas schwarzes, unförmiges, was früher vielleicht einmal Fleisch war.

Yuri atmet tief durch, konzentriert sich, und probiert von allem etwas.

Dann steht sie auf, öffnet die Augen nach einer langen Denkpause, und verkündet schließlich:

„Der Gewinner ist... Hmm...“

„Nun sag schon!“, fordert Desmond sie auf.

„Epheral natürlich“, grinst sie nun.

„Yeah!“, freut dieser sich.

„War das nicht von Anfang an klar?“, lächelt Luna, und Raito sieht beschämt zu Boden.

„Ich weiß nicht, wie lange es her ist, dass ich das letzte Mal menschliches Essen zubereitet habe...“

Keisuke fällt auf, dass es deswegen eigentlich ein bisschen unfair war, sagt aber nichts.

„Kommen wir jetzt zu meinem Wettbewerb!“, ruft Shizuka und führt die Gruppe in den Garten hinter dem Haus der Valleys.

Dieser ist ziemlich klein, und von einer Menge Gestrüpp und wilden Pflanzen umgeben.

Schon als Keisukes Mutter noch gelebt hat, hat sich niemand um den Garten gekümmert.

Plötzlich hält Shizuka zwei kleine Hacken empor, und verkündet freudig:

„Ihr beide werdet nun das Unkraut jäten!“

Bei diesem Wettbewerb stellt Raito sich besser an als Epheral, denn er kann in der Dunkelheit das Unkraut am Boden besser erkennen und beschwört sich einen schattenartigen Hund, der ihm beim Graben hilft.

„Das ist unfair!“, knurrt Epheral und versucht verzweifelt, mitzuhalten.

Raito grinst nur. Schon nach ein paar Minuten ist das gesamte Unkraut auf seiner Seite der Fläche beseitigt, während der Vampirjäger es noch nicht einmal bis zur Hälfte geschafft hat.

„Der Gewinner dieser Runde steht fest“, lacht Shizuka und nimmt den beiden ihre Arbeitsgeräte weg: „Es ist Raito!“

„Na warte!“, sagt Epheral im bedrohlichen Tonfall.

„Wie viele von diesen Wettbewerben kommen noch?“, fragt Raito genervt.

Keisuke antwortet: „Noch einer, um den Sieger zu ermitteln. Dafür gehen wir wieder rein.“

Zurück im Wohnzimmer fordert Miho die beiden Kontrahenten auf, sich zu Desmond an den Esstisch zu setzen.

Dieser sagt entspannt: „Der letzte Wettbewerb. Ich werde ein Quiz veranstalten. Ich stelle fünf Fragen, und der Gewinner dieser Runde wird automatisch Sieger des gesamten Wettbewerbs sein!“

„Leg los!“, ruft Epheral ungeduldig.

Desmond nickt: „Also dann. Fangen wir einfach an. Welcher englische Naturforscher gilt aufgrund seiner grundlegenden Untersuchungen zur Atomtheorie als einer der Wegbereiter der Chemie?“

„John Dalton“, schießt es den beiden wie aus einem Mund.

„Richtig“, lächelt Desmond; „Ein Punkt für beide. Weiter: Welcher berühmte Wissenschaftler schrieb das Werk: „Out of my later years“?“

Epheral kommt bei dieser Frage in Bredouille, denn offensichtlich hat er es nicht so mit Büchern.

Raito hingegen äußert nach kurzem Überlegen, dass es Albert Einstein sein müsste.

„Der Punkt geht an Raito“, sagt der blonde Wissenschaftler anerkennend.

Plötzlich steht Epheral auf:

„Was soll dieser Mist hier eigentlich?! Ich bin doch nicht gekommen, um Spielchen zu spielen, sondern um mich zu rächen!“ Er funkelt Raito zornig an.

Auf einmal legt Luna ihre Hand auf Epherals Schulter:

„Bist du nicht eigentlich gekommen, um uns zu helfen? Wir wollen die bösen Vampire bekämpfen, schon vergessen?“

Heftig schüttelt Epheral den Kopf: „Es kann ja sein, dass der da“ - er deutet auf Keisuke; „... noch nie einen Menschen umgebracht hat. Bei Raito weiß ich aber, dass es anders ist. Er hat schon gemordet, er gilt ebenso als böser Vampir wie die blutrünstigen Cursers.“

Alle schauen Raito an, der die Augen schließt und langsam aufsteht:

„Ich muss es zugeben, auch wenn ich nicht stolz darauf bin. Es hat sich nicht immer verhindern lassen. Aber ich kann guten Gewissens sagen, dass es mir weder Spaß macht, Menschen zu töten, noch halte ich sie für eine abscheuliche Rasse, die es auszurotten gilt. Setz mich also nicht mit den Cursers gleich!“

Nachdem er das gesagt hat, setzt er sich wieder hin und schweigt.

„Vielleicht bist du im Moment anders als sie, aber das könnte sich auch noch ändern. Ist ja egal, aber ich kann ehrlich gesagt nicht glauben, dass du unvoreingenommen kämpfen können wirst“, kritisiert ihn Epheral.

„Warum sollte er nicht unvoreingenommen kämpfen können?“, fragt Yuri und schaut Keisuke an, der auch nur mit den Schultern zuckt.

Als niemand seine Frage beantwortet, grinst Epheral selbstsicher:

„So ist das also. Du hast ihnen nichts davon erzählt.“

Raitos Hand ballt sich zu einer Faust, doch dem Vampirjäger ist das egal:

„Wenn du mit all diesen Menschen hier gegen die Gesellschaft antreten willst, solltest du es ihnen vorher erzählen, oder nicht? Herr Prinz?“

Schon wieder dieses 'Prinz'. Keisuke fragt sich, was das eigentlich zu bedeuten hat.

Raito atmet tief ein, dann verschränkt er die Arme vor sich auf dem Esstisch:

„Ich werde es ihnen sagen. Es dreht sich um unseren Erzfeind, Emily Halo.“

„Was ist mit ihr?“, fragt Desmond.

Raito schaut starr auf seine Hände:

„Sie ist meine Mutter.“

Zuerst sagt niemand etwas.

„Was?!“, ruft Yuri entsetzt.

„Ist das ein Witz?“, fragt Shizuka verwirrt.

„Unmöglich!“, keucht Desmond, und Luna schaut den Vampir nur überrascht an.

Das kann doch gar nicht sein, überlegt Keisuke geschockt; Raito hasst doch die Cursers! Er will sie vernichten, damit ihr Plan, die Menschheit auszulöschen, scheitert.

Heißt das, Raito ist bereit, seine eigene Mutter zu töten?

Aber ist sie damals nicht gekommen, und hat versucht, Raito umzubringen, als er verletzt war?

Welche Mutter ist dazu imstande?

An seinem Blick erkennt Keisuke, dass Raito es ernst meint, er hat keinen Witz gemacht.

Ihm fällt auf, wie wenig er eigentlich über Raito und seine Familie weiß, aber er spricht ja auch nie über sich.

„Das solltest du erklären“, grinst Epheral zufrieden.

Raito seufzt: „Meine Mutter hat vor einigen Jahren angefangen, Pläne zu schmieden, um die Vampire, die sie als Krone der Schöpfung betrachtet, an die Weltherrschaft zu bringen und die Menschen zu verdrängen. Dazu wollte sie die ganze Menschheit ausrotten. Sie gründete eine Organisation von Vampiren, die sie Curser-Gesellschaft nannte. Mit den Jahren bekam sie immer mehr Mitglieder, denn Emily trommelte so viele Vampire, wie sie finden konnte, zusammen und zwang sie, beizutreten, wenn sie es nicht freiwillig taten. Wer sich ihr widersetzte, wurde einfach getötet.“

„Das ist schrecklich...“, murmelt Shizuka bedrückt.

Raito nickt kaum merklich:

„Ich fand es damals falsch, die Menschen zu töten, denn ich hatte viele Freunde unter ihnen. Meinem Vater war es egal, was meine Mutter getrieben hat, und so konnte ich ihn auch nicht um Hilfe bitten. Ich habe mit allen Mitteln versucht, Emily von ihrem Plan abzubringen, und so sagte ich ihr, dass ich ohne meine menschlichen Freunde auf keinen Fall weiterleben wollen würde. Doch sie bekam einen Wutanfall, in dem sie ihre Schergen losschickte, alle Menschen, die mir nahestanden, zu töten. Es ist ihr geglückt...“

Nun ist der Raum in Schweigen gehüllt.

Raito musste also auch eine Menge durchmachen, wahrscheinlich viel mehr als Keisuke.

Er tut ihm leid, aber weil er nicht weiß, was er sagen soll, bleibt er stumm.

„Nach dieser Aktion jedenfalls“, fängt Raito wieder an; „... habe ich beschlossen, aktiv gegen den Plan dieser Frau vorzugehen. Von diesem Tag an hörte ich auf, sie als meine Mutter zu sehen, sondern nur noch als Feindin, die es aufzuhalten gilt.“

„Aha, jetzt fängt das Bild ja langsam an, Sinn zu ergeben“, fügt Desmond bei, doch dann will er von Raito wissen: „Und warum heißt du jetzt 'Prinz'?“

Keisuke weiß, dass die Cursers Emily Halo als Königin betrachten, wenn Raito ihr Sohn ist, wäre er demzufolge Prinz. Aber das kann er sich eigentlich nicht vorstellen, denn Raito hatte mit den Cursers ja nie viel zu tun, sieht sie sogar als feindliche Organisation.

Raito versucht, zu lächeln: „Das kommt daher, dass mein Vater der wahre König der Vampire ist.“

Erstaunt schauen alle ihn an. „Dein Vater ist ein König?“, fragt Shizuka erschrocken.

„Er ist der erste Vampir, der je gelebt hat, und mittlerweile schon über tausend Jahre alt. Natürlich sieht man ihm das nicht an, aber im Laufe der Zeit ist ihm alles egal geworden. Er lebt alleine auf einem Schloss, das er nie verlässt, und weder ich noch Emily haben Kontakt zu ihm.“

„Welche Fähigkeit hat er?“, will Keisuke sofort wissen.

Raito schmunzelt: „Er hat sehr viele Eigenschaften, die ihn von anderen Vampiren unterscheiden, zum Beispiel kann er soviele Menschen wie er will zu Vampiren machen, außerdem ist er gegen die Spezialfähigkeiten anderer Vampire immun. Aber seine eigentliche Kraft ist es, Vampire zu kontrollieren. Er kann jedem seinen Willen aufzwingen, das zu machen, was er will.“

„Das... Das ist doch dasselbe wie bei Samuel!“, ruft Keisuke erschrocken.

„Nicht ganz. Samuel kann Menschen kontrollieren, und mein Vater Vampire.“

Jetzt fängt Epheral plötzlich an, zu lachen: „Der Vampirkönig Rage Halo! Früher haben die Provitas mehr nach ihm gesucht als nach irgendwem sonst! Heute interessiert sich niemand mehr für ihn. Emily Halo und Raito Umi sind unsere neuen Ziele geworden.“

„Die beiden tragen ja den selben Nachnamen“, bemerkt Miho; „Sie sind also noch verheiratet?“

Raito lächelt: „Schon seit mehr als sechshundert Jahren. Sie haben sich nie scheiden lassen.“

„Und warum trägst du dann einen anderen Nachnamen?“, hakt Miho nach.

„Ich habe meinen Familiennamen geändert, weil ich mich, nachdem meine Mutter diese fanatischen Ideen bekommen hat, von meinen Eltern distanziert habe. Mein richtiger Name ist Raito Halo.“

Es muss schwer für ihn sein, so viel von seiner Vergangenheit offenzulegen, überlegt Keisuke.

Aber dafür bewundert er Raito jetzt nur noch mehr.

„Also wir müssen gegen den König nicht kämpfen, weil er nicht auf Emilys Seite steht. Das ist gut, aber trotzdem schade, dass er uns nicht hilft“, sagt Keisuke.

„Er kann seinen Vater ja mal fragen“, schlägt Luna scherzhaft vor.

Raito schüttelt den Kopf: „Ihr wisst nicht, wie oft ich das schon versucht habe, es ist sinnlos. Jedenfalls wisst ihr jetzt bescheid.“

Mit einem Seitenblick auf Epheral fügt er hinzu: „Bist du jetzt zufrieden?“

Dieser lächelt nur und sagt schließlich: „Abgemacht, ich werde euch helfen. Leider kann ich von meinen Leuten niemanden zur Verfügung stellen, weil ich selbst nicht sicher bin, wem wir vertrauen können. Dass ich mit euch zusammenarbeite, muss vor meiner Firma geheimbleiben.“

„Das wird es“, versichert Raito ihm; „Offensichtlich wissen die Cursers aber, dass wir die Hilfe der Vampirjäger in Anspruch nehmen. Das ist problematisch, die Zeit drängt. Ich schlage vor, dass wir in genau einer Woche in ihrem Hauptquartier angreifen. Diesmal haben wir den Erstschlag.“

„Nur wir?“, fragt Keisuke ängstlich. Er geht eigentlich nicht davon aus, dass eine handvoll Menschen es mit einer mörderischen Vampirorganisation aufnehmen kann.

„Es gibt nicht mal mehr so viele Cursers“, beruhigt Raito ihn; „Höchstens zehn. Und die werden auch nicht alle im Hauptquartier sein. Seid also optimistisch, dass wir es schaffen werden.“

„Wo ist das besagte Hauptquartier eigentlich?“, lautet Desmonds berechtigte Frage.

„Alexa hat herausgefunden, dass sie sich momentan in der Villa am Riverside Hill eingenistet haben. Die wahren Hausbesitzer sind vermutlich schon von ihnen getötet worden“, erklärt Raito.

Nun steht er auf, und geht langsamen Schrittes in Richtung Flur. Alle sehen ihn an.

„In einer Woche sehen wir uns genau hier wieder. Ich erwarte, dass ihr euch alle vorbereitet!“

Erwartest du jemanden?

Erwartest du jemanden?
 

„Warum machst du die Hausaufgaben im Wohnzimmer?“, fragt Miho, die gerade mit Staubsaugen fertig geworden ist. Sie zieht ihr Haargummi aus bindet es sich geschickt um den Arm.

„Ich kann mich in meinem Zimmer irgendwie nicht konzentrieren...“, antwortet Keisuke. Man kann nicht sagen, dass es im Wohnzimmer besser klappt.

Sein Leben ist gerade so stressig, und die Schule übt auch einen ganz beträchtlichen Druck auf ihn aus. Am liebsten würde er seine Hausaufgaben einfach aus dem Fenster werfen, aber Miho besteht darauf, dass er sie ordentlich anfertigt.

Sie schmunzelt: „Ich habe grundsätzlich nichts dagegen, das weißt du. Mir ist ganz egal, wo du sie erledigst, von mir aus auch gerne im Badezimmer. Aber heute Abend kommt Stephan zum Abendessen her, und ich fände es toll, wenn dann hier nicht überall Schulsachen von dir rumliegen.“ Keisuke nickt und arbeitet weiter. Je schneller er mit dieser Zeitverschwendung fertig ist, desto besser.
 

„Das ist doch nicht dein Ernst!“, fährt Shou ihren Freund Desmond an; „Du warst gestern den ganzen Tag bei ihr!“

„Es war wichtig!“, versucht er sich zu entschuldigen, während er seine Forschungsberichte in eine Tasche einpackt. Sie schaut ihn böse an.

Natürlich ist sie sauer, nicht nur, weil er jetzt, an einem schönen Sonntagmorgen, an dem man draußen einen Spaziergang machen könnte, ins Labor fährt, sondern auch, weil er mehrere Stunden bei einer anderen Frau verbracht hat.

„Sag mir den Grund!“, fordert sie ihn auf.

„Bitte reg dich nicht so auf“, sagt Desmond ruhig; „Ich war ja nicht alleine da, sondern mit ein paar Freunden. Du kannst Miho fragen, wenn du mir nicht glaubst.“

Sauer entgegnet sie: „Heißt das etwa, ihr habt eine Party gemacht, und mich nicht mal eingeladen? Bin ich dir peinlich oder so?!“

„Nein, und es war auch keine Party“, seufzt er.

„Na schön, und warum hast du mich nicht angerufen und mir bescheid gesagt?“, fragt sie nun.

Momentan stehen sie im Flur von Desmonds Haus herum, und Desmond, der sein Arbeitsmaterial gerade noch einmal kontrolliert hat, sagt emotionslos: „Mein Fehler, daran habe ich nicht gedacht. Jetzt sei nicht sauer, so lange bist du nicht mehr hier in Logaly, und die Zeit würde ich gerne genießen.“ Er gibt ihr einen kurzen Kuss auf die Wange und geht Richtung Haustür:

„Ich muss jetzt los, heute stehen eine Menge Analysen an. Wir sehen uns heute abend.“

Mit diesen Worten verlässt er das Haus, und lässt Shou alleine im Flur stehen.

Ihr genervter Blick wandelt sich binnen weniger Sekunden in ein sanftmütiges Lächeln.

Leise sagt sie zu sich selbst: „Arbeit ist dir wohl wirklich ist das wichtigste...“

Sie findet das nicht negativ, sondern es freut sie, dass ihm das Forschen so viel Spaß macht.

Sein immenser Wissensdurst und diese bewundernswerte Ausdauer, das sind die Eigenschaften, wegen denen sie sich in Desmond verliebt hat.

Doch sie ist auch nicht anders, bei ihrem Studium über antike Geschichte und Allgemeinmythologie ist sie immer voll dabei, und darauf aus, so viel wie möglich zu lernen.

Aber es tut ihr jetzt in der Seele weh, dass ihr Freund mit seiner Leidenschaft uneingeschränkt fortfahren kann, während ihr Studium während des Aufenthalts in Logaly quasi gestoppt ist.

Shou seufzt: „Was soll's, ich will mich hier nicht langweilen. Gehe ich halt zur Maniküre.“
 

Es klingelt bei den Valleys. Keisuke ist eben mit den Hausaufgaben fertig geworden und hat seine Schultasche für morgen schon gemäß nach dem Stundenplan eingepackt.

Gerade als er vom Sofa aufstehen will, um die Haustür aufzumachen, wird sie schon von Miho geöffnet, die schon kurz darauf: „Oh mein Gott!“, ruft.

Besorgt läuft ihr kleiner Bruder in den Flur. Es wird doch jetzt kein Feind vor der Tür stehen?

Miho geht ein paar Schritte zurück und Stephan, ihr Freund, kommt herein, und als Keisuke sieht, wen er auf den Arm hat, bleibt ihm fast die Sprache weg: „Shya!“

Er übergibt das Kätzchen an Miho, die sie erleichtert mustert:

„Meine liebe Shya, endlich bist du wieder da... Wo warst du nur? Ich habe dich schon überall gesucht!“ Doch die Katze lässt nur ein miauendes Gähnen verlauten.

Sie sieht überraschend gesund aus, theoretisch müsste sie dürr sein, weil sie mehrere Tage nichts zu Essen bekommen hat, doch scheinbar konnte sie sich selbstständig Futter besorgen.

Ihr glattes, braunes Fell glänzt wie immer wunderschön und Keisuke kommt erleichtert zu dem Schluss, dass es ihr gut geht.

Nachdem Miho sie genügend gestreichelt hat, setzt sie sie ab, und geht auf Stephan zu.

Sie schließt ihn lächelnd in die Arme und sagt: „Ich bin so froh, Stephan, du hast Shya gefunden. Ich bin dir so unendlich dankbar... Du bist mein Held.“

Stephan streichelt ihr zufrieden den Rücken: „Ich habe sie zufällig ein paar Gassen weiter gefunden. Ist es wirklich eure Katze?“

„Ja“, flüstert Miho mit Tränen in den Augen; „Ja, sie ist es. Ich danke dir, Stephan, ich... ich...“

Keisuke kommt schon in Versuchung zu fragen: „[Ich] was?“

Doch dann sieht Miho ihrem Freund direkt in die Augen und sagt leise: „Ich liebe dich.“

Anstatt zu antworten, bewegt Stephan seinen Mund auf den ihren zu und sie verfallen beide in einem leidenschaftlichen Zungenkuss.

Geschockt dreht Keisuke sich weg, wie können sie sowas nur vor seinen Augen machen?

Anscheinend finden sie es gar nicht peinlich, aber für ihn wäre es seltsam, im Flur herumzustehen und seiner großen Schwester beim Knutschen zuzuschauen, also geht er schnell ins Wohnzimmer.

Doch er freut sich für Miho, denn sie hat sich immer so oft beklagt, dass sie keinen netten Freund findet, dass sie einsam ist, dass jeder Mann den sie trifft immer nur das Eine will...

Jedenfalls scheint es ihr jetzt gut zu gehen, und er ist auch sehr froh über Shyas Rückkehr.

Warum ist sie nur weggelaufen? Das passt gar nicht zu ihr.

Hoffentlich würde sie von nun an aber bleiben.

Die Tür geht auf und Miho reißt ihn aus seinen Gedanken:

„Keisuke?“ Er schaut sie fragend an und kann sich ein Grinsen gerade noch verkneifen.

„Ich, ähm, das solltest du eigentlich nicht sehen...“, stottert sie hilflos, aber er sagt einfach:

„Ist schon gut. Wo ist Stephan jetzt hin?“

Mihos Blick wird verträumt, sobald sie seinen Namen auch nur hört.

„Miho?“ Keisuke fragt sich, ob sie ihm überhaupt zugehört hat.

„Oh, entschuldigung! Ähm, er ist wieder nach Hause gefahren. Eigentlich waren wir erst für heute Abend verabredet, weißt du?“

Er nickt, um zu zeigen, dass er verstanden hat.

„Ich gehe jetzt in mein Zimmer und übe ein bisschen mit dem Dolch, den ich von Raito bekommen habe“, beschließt Keisuke, und Miho wirft ihm einen missbilligenden Blick zu:

„Unter normalen Umständen würde ich es meinem kleinen Bruder niemals erlauben, so eine gefährliche Waffe zu besitzen.“

Keisuke zuckt nur mit den Schultern. Die Umstände sind eben nicht normal und das weiß sie.

Sie seufzt resignierend: „Sei bitte vorsichtig, wenn du damit trainierst. Ich will nicht, dass du dir wehtust.“ „Ich werde vorsichtig sein!“, erwidert er gelassen.

Beim Sturm auf das Hauptquartier in fast einer Woche will er nicht schon wieder nur eine Bürde sein, sondern er will helfen können, gegen die Cursers zu kämpfen.

Mit diesen entschlossenen Gedanken macht er sich auf den Weg in sein Zimmer.
 

Desmond hat inzwischen sein Labor betreten und seine Jacke ausgezogen. Bei der Arbeit trägt er eher selten einen Kittel, sondern er bleibt zivil. Schutzhandschuhe und Schutzbrillen, das sind Sachen, auf die man nicht verzichten sollte, aber es ist sein Labor und er entscheidet ganz alleine, was er wann anlegt und was wann nicht.

Er geht durch die Tür und sieht seinen nichtsnutzigen Kollegen Michael, wie er an einem Experimentiertisch sitzt und einen Cheeseburger verdrückt.

„Michael!“, ruft Desmond sauer, als er den ganzen Müll auf dem Tisch erblickt; „Kannst du mir einmal sagen, was das soll?!“

Sein Kollege erschrickt und räumt panisch den ganzen Müll weg.

Dabei stottert er: „Oh, Herr... Herr Corin, ich wusste gar nicht, dass Sie an so einen schönen Sonntag ins Labor kommen...“

Desmond legt seine Tasche ab: „Red keinen Stuss, du weißt, ich bin fast jeden Tag hier. Auch sonntags und an Feiertagen. Und jetzt erklär mir, warum du hier am sitzt, und anstatt zu arbeiten, einen ungesunden Cheeseburger frisst! Oder mehrere“, fügt er mit einem Blick auf die ganzen leeren Verpackungen hinzu.

„Nun, also, äh..“

„Dir ist schon klar, dass dies ein Arbeitsraum ist, und man hier nicht essen darf? Bei den ganzen chemischen Reaktionen, die hier Tag für Tag ablaufen, hast du dir ganz schnell eine Lebensmittelvergiftung geholt!“, belehrt er ihn; „Wir haben auch noch einen Aufenthaltsraum, in dem sogar ein Fernseher steht. Warum zum Geier isst du nicht da?“

„Tut mir leid, Chef“, entschuldigt sich Michael, und bringt den Abfall nach draußen.

Er hat es wieder einmal geschafft, Desmond zu enttäuschen.

Dieser würde viel lieber auf eine inkompetente Person wie Michael verzichten, aber als Wissenschaftler fällt eben auch ein Haufen uninteressanter Arbeit an, die sich ebenso gut von einem Laborassistenten erledigen lassen. Außerdem würde er einen fähigeren Angestellten auch mehr Lohn zukommen lassen müssen, und das ist Geld, was Desmond noch nicht hat.

Er setzt sich auf den Stuhl, auf dem bis eben noch sein Gehilfe saß, und denkt nach.

Für den Kampf gegen die Cursers würden sie Waffen brauchen, originelle Waffen, mit denen man sie überrumpeln kann.

Epheral Locover scheint zwar über ein ganzes Waffenarsenal zu verfügen, aber man darf nicht vergessen, dass ihre Gegner Vampire sind. Desmonds kleine Handfeuerwaffe würde gegen einen starken Curser vermutlich nicht nützlich sein.

Er macht ein paar Überlegungen und notiert sie auf einen Zettel.

Ein paar Minuten später kommt Michael wieder herein und schaut Desmond über die Schulter:

„Was machst du da?“, fragt er neugierig.

Desmond nimmt sich einen neuen Zettel und kritzelt irgendetwas darauf.

Dabei sagt er grinsend: „Gut, dass du wiedergekommen bist.“

Bevor Michael fragen kann, was sein Chef meint, bekommt er den Zettel in die Hand gedrückt.

„Kauf bitte alles ein, was auf dieser Liste steht. Das Geld gebe ich dir gleich. Und wehe du vergleichst vorher nicht die Preise! Wenn du zu viel bezahlst, ziehe ich dir das vom Gehalt ab.“

Etwas überfordert blickt der Laborassistent Desmond an: „Es ist doch Sonntag!“

Doch Desmond zückt einen Geldschein aus seiner Brieftasche und ruft nur: „Dann suchst du eben einen Laden, der auch sonntags offen hat! Worauf wartest du? Jetzt!“
 

Mittlerweile ist es Abend geworden, und Shou, die alleine in Desmonds Zimmer am Fenster sitzt, sieht sich den Sonnenuntergang gelangweilt an.

Ihre Maniküre ist nun schon ein paar Stunden her, und sie hat keine Ahnung, was sie machen soll.

Am liebsten würde sie Desmond anrufen, aber nichts liegt ihr ferner, als ihn bei der Arbeit zu stören. Es nervt sie zwar, dass er wahrscheinlich schon wieder Überstunden machen wird, aber dafür liebt sie nichts mehr als sein zufriedenes Lächeln, was er immer dann trägt, wenn er eine neue Erkenntnis bei seinen Forschungen erlangt hat.

Ihm macht seine Arbeit Spaß, und ihr macht es Spaß, ihn glücklich zu sehen.

Dieser Tag war extrem öde, sagt sie sich, und es widerstrebt ihr, den restlichen Abend einfach so verstreichen zu lassen. Aber wo soll sie hingehen? Es ist immerhin Sonntag, also könnte sie nicht shoppen gehen. Sie könnte nur zur Maniküre gehen, wo sie aber schon war, zum Friseur, was sie aber nicht nötig hat, oder in die Kirche, aber sie glaubt nicht an Gott.

Wenn sie doch nur jemanden in Logaly kennen würde, mit dem sie etwas unternehmen kann!

Dann fällt ihr diese Miho Valley ein, bei der sie und Desmond mal zu Abend gegessen haben.

Das Dinner war ja ganz lustig, ruft sie sich in Erinnerung, und entschließt, einfach mal bei Miho vorbeizufahren und vorzuschlagen, in die Disko zu gehen oder so. Desmond spricht immerhin ziemlich oft von ihr, da wäre es doch eine gute Idee, sich mit ihr anzufreunden.

Shou würde dadurch vielleicht Dinge erfahren, die ihr Freund ihr verheimlicht.

Weil sie Gefallen an der Idee findet, sich mit Miho mal auszuquatschen, nimmt sie sich Desmonds Fahrrad und fährt los.
 

Früher Abend, und mal wieder klingelt es im Hause der Valleys.

Freudig springt Miho auf und rennt zur Tür: „Das muss Stephan sein!“

Als sie aber dann aufgeregt die Tür öffnet, steht nicht Stephan vor ihr, sondern Desmond.

„Oh!“, sagt Miho überrascht: „Was machst du denn hier?“

„Entschuldige bitte die Störung“, begrüßt er sie; „Kann ich eben reinkommen?“

Miho lässt ihn herein und schließt höflich die Tür.

Eigentlich passt es ihr jetzt gar nicht, Besuch zu bekommen, denn es kann nur noch ein paar Minuten dauern, bis ihr Freund hier auftaucht und mit dem wollte sie eigentlich ungestört sein.

Ihr Bruder Keisuke ist oben und übt vielleicht immer noch mit seiner neuen Waffe, Sakito ist wie immer nicht zu Hause und Shizuka übernachtet heute bei einer Freundin aus ihrer alten Schule.

Im Wohnzimmer sieht Desmond den gedeckten Esstisch und sagt:

„Miho, erwartest du jemanden? Ich werde nicht lange stören, versprochen.“

Beruhigt nickt Miho, doch das kommt ihr schon in der nächsten Sekunde äußerst unhöflich vor und sie entschuldigt sich. Dann fällt ihr Blick auf den Karton, den Desmond unter dem rechten Arm trägt. „Was ist das?“, fragt sie, und er erklärt: „Es sind Waffen gegen die Curser, die ich heute kurzfristig entwickelt habe. Ich habe sie dir gebracht, weil euer Haus eben der Ort ist, an dem wir uns vor dem Angriff versammeln. Dann sollten wir sie austeilen.“

Miho schaut ihn beunruhigt an. Der Karton enthält also Waffen? Und den will er hierlassen?

„Versteck ihn irgendwo, bis nächste Woche Samstag“, sagt Desmond, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

Miho nickt und bringt ihn weg. Als sie nach einer Minute wiederkommt, will sie wissen:

„Warum hast du das alles denn heute erledigt, du hättest doch noch bis nächste Woche Zeit?“

Desmond grinst: „Ich weiß, aber die Zeit habe ich für eine andere, weitaus interessantere Erfindung geplant.“ Auf Mihos fragenden Blick ergänzt er nur: „Darüber muss ich aber erst mit Keisuke sprechen. Ist er zuhause?“ „In seinem Zimmer“, antwortet sie; „Du warst ja schon mal da.“

„Okay, ich gehe hoch zu ihm.“

Vor Keisukes Zimmertür hält er kurz inne und klopft zweimal an, aber er wartet kein „Herein“ ab sondern platzt ohne weiter zu warten in den Raum.

Keisuke steht mitten im Zimmer und fragt: „Desmond? Hallo...“

Der Wissenschaftler grüßt ihn zurück. Der Vampir ist schweißgebadet und atmet recht schnell.

Er trägt ein kurzes T-Shirt, das vom Schweiß durchnässt ist, sowie eine kurze Sporthose.

In seiner Hand hält er einen silbernen Dolch fest umklammert.

„Was hast du denn hier gemacht?“, fragt Desmond skeptisch, woraufhin Keisuke seine Waffe beiseite legt. Erschöpft setzt er sich aufs Bett: „Ich habe... trainiert... Ich weiß, so kurzfristig bringt es nicht mehr viel, aber das ist besser, als nutzlos zu sein.“

„Stimmt“, lächelt der Wissenschaftler; „Ich habe auch schon einen Teil beigetragen. Ich wollte etwas mit dir besprechen.“

„Worum geht es?“, fragt Keisuke neugierig. Er merkt, dass sein Bedürfnis nach Blut ansteigt, vielleicht sollte er in den nächsten Stunden mal runtergehen und etwas trinken.

Aber erst will er wissen, was Desmond ihm zu sagen hat.

„Ich habe über etwas nachgedacht. Deine Schwester hat mir von diesem toten Mädchen erzählt... Wie sie noch gleich hieß, ähm... Verona, oder so...“

„Verena!“, berichtigt Keisuke ihn sauer.

„Von mir aus. Jedenfalls, sehe ich es richtig, dass du sie nach dem Tod der Königin wiederbeleben könntest, wenn sie ein Mensch wäre?“

„Ja“, gibt Keisuke zurück; „Leider... Ist sie keiner, und ich wüsste auch nicht, wie man einen Vampir zu einem Menschen macht. Raito kennt auch keine Möglichkeit, aber wenn uns nicht bald etwas einfällt, ist es zu spät, denn ihre Leiche wird bald anfangen zu verwesen...“

Traurig senkt er den Kopf. In den letzten Tagen hat er möglichst versucht, nicht an sie zu denken.

„Theoretisch könnte ich sie wieder zum Menschen machen“, pfeift Desmond, und Keisuke ruft voller Begeisterung: „Was?! Wirklich?“

Desmond nickt: „Ich habe dir doch damals angeboten, einen Wirkstoff zu entwickeln, der dich wieder zum Menschen machen könnte, weißt du nicht mehr? Du hast zwar abgelehnt, aber...“

„Aber warte mal...“, unterbricht Keisuke ihn; „Verena ist nicht mehr am Leben wie ich. Meinst du denn, dass das funktioniert?“

„Naja, das erschwert es mir natürlich, aber für die Wissenschaft ist nichts unmöglich. Natürlich kann ich dir keinen Wirkstoff herbeizaubern, ich müsste schon Tests mit einem richtigen Vampir machen. Und da dachte ich an dich.“

Da liegt der Hund also begraben, überlegt Keisuke. Es ist ihm schon komisch vorgekommen, dass Desmond auf einmal so selbstlos wirkt und ihm helfen will, Verena wiederzubeleben. Eigentlich denkt er dabei nur an sich und seine Forschungen.

„Versteh doch, Keisuke, der Vampirismus ist im Grunde eine Krankheit. Und Krankheiten, die man nicht heilen kann, sind keine Krankheiten.“

Keisuke ist geneigt zu widersprechen, lässt es aber sein. Desmond weiß schon, wovon er redet.

„Sieh es mal so, wenn wir Erfolg haben, kann deine Freundin da wieder zum Leben erwachen als Mensch, und ich bekomme meine lang ersehnten Testergebnisse. Wir haben beide was davon.“

Auch wenn sich etwas in Keisuke dagegen sträubt, stimmt er schließlich zu:

„Ist okay, ich mache es. Wenn man damit Verena vielleicht helfen kann.“

„Sehr gut“, grinst Desmond; „Das wird mit Sicherheit lustig werden!“

Er fühlt sich gerade wirklich großartig, denn er ist der erste Wissenschaftler, der die Gelegenheit bekommt, Vampire zu erforschen! Dadurch könnte er eine Menge erreichen, und er würde in allen Geschichtsbüchern stehen!

„Aber heute nicht mehr, oder?“, fragt Keisuke bedrückt, denn er ist schon so total erschöpft.

„Heute nicht mehr, aber wir sollten schon morgen anfangen, nachdem du aus der Schule gekommen bist. Wie du schon gesagt hast, die Zeit drängt uns zu schnellen Ergebnissen. Wenn wir es schaffen, sie bis Samstag menschlich zu machen, kannst du sie nach dem Sturz der Königin sofort wiederbeleben. Klingt das gut?“

Die Idee ist wirklich bemerkenswert gut, das muss Keisuke zugeben.

Trotzdem hat zweifelt er sowohl daran, dass sie ein Gegenmittel finden, als auch daran, dass sie Emily so einfach besiegen können. Doch er sagt sich selbst, dass er optimistisch bleiben sollte. Nur so können sie es schaffen.

Desmond seufzt: „Das Problem ist, ich bin nicht so auf Biologie als Naturwissenschaft fixiert, eher auf Chemie und Physik...“

„Was heißt das?“, fragt Keisuke besorgt.

„Das heißt, dass ich wahrscheinlich die Hilfe eines Arztes brauchen werde“, erklärt er.

Das gefällt dem Vampir überhaupt nicht, aber zum Glück fällt ihm etwas ein:

„Wie wäre es mit Luna? Sie weiß von der Existenz von Vampiren und würde sicher gerne helfen!“

Desmond sieht skeptisch aus: „Sie ist aber keine Ärztin, sie studiert noch...“

Keisuke schüttelt mit dem Kopf: „Das ist egal, sie ist jetzt als Studentin schon besser als so mancher Arzt. Du hättest sie erleben sollen, als sie einen schwer verletzten Fuchs verarztet hat. Er ist schon fast wieder gesund!“

„Aber... das ist Tiermedizin...“, fängt Desmond an, aber Keisuke will das nicht hören:

„Bitte frag sie doch. Ich will mich nicht noch mehr Menschen offenbaren als unbedingt nötig... Und ich bin mir total sicher, dass Luna uns helfen kann.“

Der Wissenschaftler gibt nach: „Wenn es sein muss. Ich rufe sie morgen mal an.“

Damit verlässt er den Raum: „Ich gehe wieder nach unten. Und ich sollte langsam nach Hause, meine Freundin wartet auf mich. Auf Wiedersehen!“

Mit diesen Worten lässt er Keisuke im Zimmer alleine zurück und geht die Treppe runter.

Miho sitzt ungeduldig im Wohnzimmer: „Desmond? Gehst du?“, fragt sie, als er an ihr vorbeigeht. Er hat die Haustür schon geöffnet, aber er entscheidet sich dennoch dafür, höflich zu sein und sich von Miho zu verabschieden.

Im Wohnzimmer fragt er: „Miho, hast du noch irgendwelche Fragen?“

„Ja, wo mein Freund bleibt...“, nörgelt sie, aber Desmond erwidert: „Ich meinte Fragen bezüglich der Waffen, die ich dir übergeben habe.“

„Achso. Nein, in den Karton habe ich noch nicht reingeguckt...“ Desmond seufzt.

„Miho? Entschuldige, die Tür stand offen...“, sagt eine junge Frau mit rotbraunem Haar und blauem Haarband, die gerade ins Wohnzimmer gekommen ist. Als sie Desmond sieht, schreit sie:

„Desmond! Was... Was machst du hier?!“

Erschrocken schaut er sie an: „Shou! Du hier? Was hast du denn hier zu suchen?“

Wütend geht sie auf ihn zu: „Das sollte ich eher DICH fragen!!! Ich dachte, du bist im Labor und arbeitest! Aber stattdessen bist du HIER!! HIER bei IHR!!“, ruft sie und deutet auf Miho, die nur verwirrt schweigt.

„Was redest du denn da, ich musste hier her, weil, weil...“

Verdammt, was soll er nur machen? Shou ist sehr unangenehm, wenn sie sauer ist, aber Desmond kann ihr doch jetzt nicht den wahren Grund sagen, warum er hier ist? Dann müsste er ihr von den Vampiren erzählen...

Er überlegt noch, was er am besten machen soll, da dreht Shou sich um und ruft:

„Ich warte stundenlang zu Hause auf dich und denke, du bist bei der Arbeit, aber stattdessen bist du hier bei dieser Frau! Ich weiß schon, was läuft!“

Ohne sich nochmal umzudrehen rennt sie aus dem Haus, und rempelt dabei fast Stephan an, der gerade ins Wohnzimmer kommen wollte.

Warum musste es jetzt soweit kommen?

Miho steht auf und geht zu Desmond: „Du solltest ihr hinterherlaufen und versuchen, es zu erklären. Du weißt doch, was sie jetzt denkt!“

Der Wissenschaftler nickt betrübt.

Stephan fragt, was hier überhaupt los sei, aber plötzlich sagt Miho:

„Stephan, es tut mir leid, aber ich werde mit Desmond zu seinem Haus fahren. Es gab gerade ein großes Missverständnis, und wahrscheinlich denkt seine Freundin, er hätte eine Affäre mit mir. Das... Das betrifft mich auch. Ich komme mit, Desmond.“

Er ist dankbar für Mihos Rückendeckung, aber macht sich Sorgen darüber, ob es eine gute Idee ist, sie mitzunehmen.

Stephan schaut seine Freundin enttäuscht an: „Du meinst, der Abend fällt ins Wasser? Obwohl ich dir deine Katze zurückgebracht habe?“

Miho nickt stumm. Gerade ist es ihr wichtiger, Desmonds Beziehung zu retten, als ein stumpfes Dinner mit Stephan, von dem sie noch hundert haben könnte.

Die Frage ist, ob er das genauso sieht.

Stephan schweigt eine Weile, dann antwortet er: „Einverstanden, Miho. Ich gehe wieder nach Hause, ist zwar schade, aber ich denke, da kann man nichts machen.“

„Danke für dein Verständnis“, sagt sie erleichtert.

„Sicher doch. Ruf mich morgen oder so an, wenn du Zeit hast“, entgegnet er noch und geht.

Miho widmet sich wieder Desmond: „Bist du mit dem Auto hier?“

Er nickt, und sie schlägt vor: „Dann mach doch schon mal den Motor an, ich gehe noch schnell nach oben und sage Keisuke bescheid, dass ich weg bin.“

Sie will gerade die Treppe hochgehen, da sagt Desmond noch:

„Dein Freund ist ziemlich verständnisvoll. Ich denke, das Verständnis in einer Beziehung sehr wichtig ist...“

Miho sieht ihn etwas mitleidig an, weil sie genau weiß, woran er gerade denkt.

Doch sie wird nicht zulassen, dass an ihr irgendeine Liebesbeziehung zerbricht!

Eifersucht

Eifersucht
 

Keisuke sitzt vor dem Fernseher und schaltet ein wenig quer durch die Programme.

Sonntagabend, da läuft natürlich nichts im Fernsehen, aber dafür hat er seine Hausaufgaben schon fertig und ist alleine zu Hause. Das ist doch genial!

Genüsslich trinkt er etwas Blut aus einem Glas, in das er vorher den Inhalt einer Blutkonserve reingeschüttet hat.

Er war jetzt schon länger nicht mehr alleine zu Hause, fällt ihm auf, doch das liegt wahrscheinlich daran, dass Shizuka neuerdings bei ihnen wohnt. Doch heute übernachtet sie bei einer ihrer Freundinnen aus ihrer alten Klasse, und er würde sie erst morgen in der Schule wiedersehen.

Und jemand, den er vielleicht noch bald wiedersehen wird, ist Verena.

Auch wenn Desmond normalerweise ziemlich egoistisch ist, kann Keisuke ihm nur dankbar dafür sein, dass er seine Hilfe bei dieser Sache anbietet. Er sieht ein, dass er keine andere Wahl hat, als diese Untersuchungen über sich ergehen zu lassen. Wenn es das braucht, um Verena zu retten, dann würde er den Preis bezahlen!
 

Währenddessen befinden sich Desmond und Miho auf der Fahrt zu Desmonds Haus.

Der Wissenschaftler schweigt, und hier und da gibt er mehr Gas, als er eigentlich dürfte.

Miho, die auf dem Beifahrersitz ist, kann das gut verstehen.

„Kann es eigentlich sein, dass Shou mit dem Fahrrad schneller ist als wir mit dem Auto?“, hakt Miho nach, und Desmond sagt: „Sie hatte ja einen Vorsprung, aber auch so ist sie eine sehr gute Sportlerin. Ich hoffe, dass sie wirklich bei mir zu Hause ist...“

„Wo soll sie denn sonst sein?“, lächelt Miho und versucht, ihn etwas zu beruhigen.

Sie entscheidet sich dafür, ihn etwas persönliches zu fragen:

„Desmond... Wo hast du Shou eigentlich kennengelernt? In Kanada?“

„Nein“, antwortet er; „Ich kenne sie schon ewig. Als ich noch ein Kind war, sind meine Eltern oft mit mir im Gebirge gewandert.“

„Gebirge?“, wiederholt Miho ungläubig.

„Allerdings. Die Alpen, um genau zu sein. Ich habe Shou vor vielen Jahren auf einem Berg kennengelernt.“

„Wie romantisch“, schwärmt Miho.

„Naja, nicht wirklich. Sie war damals auch mit ihren Eltern da, und hat mich direkt geärgert. Sie war echt ungezogen zu mir, um ehrlich zu sein.“

Da kommt Miho der gute alte Spruch 'Was sich liebt, das neckt sich' in den Sinn, und sie fängt beinahe an, zu kichern.

„Jedenfalls haben sich unsere Eltern schnell angefreundet, und die Freundschaft hält bis heute. So kam es, dass ich Shou auch immer mal wieder getroffen habe, und irgendwie... ist es dann entstanden“, erklärt er.

„Mehr Details, bitte!“, fordert Miho, aber Desmond verneint: „Das ist jetzt alles nicht wichtig, wir sind gleich da...“

Sie bekommt Schuldgefühle, denn sie findet die Beziehung der beiden extrem romantisch und würde auf keinen Fall wollen, dass sie die Ursache dafür ist, dass es in die Brüche geht.

Aber vielleicht macht sie sich auch nur zu viele Sorgen, und solche Wutausbrüche sind für Shou ganz gewöhnlich. Vielleicht hat sie sich ja schon wieder beruhigt, redet sie sich ein.

Weiterhin verläuft die Fahrt schweigsam, und nach ein paar Minuten parkt Desmond vor seinem Haus und die Beiden steigen aus dem Wagen.

Miho mustert interessiert den mechanischen Briefkasten und fragt sich, wozu er gut sein soll, aber der Wissenschaftler drängt sie: „Miho, auch wenn du das erste Mal hier bist, wir wollen reingehen und nach Shou suchen.“

Sie nickt und folgt Desmond bis zur Haustür, die er geschwind aufschließt.

„Das Licht ist an... Sie ist bestimmt hier“, lächelt Miho zuversichtlich, aber Desmond ist sich da nicht so sicher: „Möglicherweise hat sie auch nur vergessen, es aus zu machen, als sie das Haus verlassen hat. Sowas passiert ihr öfter mal...“

Während Desmond im Wohnzimmer nachsieht, schaut Miho sich etwas um.

Sein Haus ist eigentlich sehr schön, es ist sauber, und eigentlich hätte sie erwartet, dass überall Forschungsmappen und solche Sachen herumliegen, aber Irrtum.

Hier ist eigentlich alles ziemlich ordentlich, nur fällt ihr auch auf, dass fast alle Räume ziemlich kahl wirken. Offensichtlich hält der Wissenschaftler nicht viel von Dekoration.

„Shou?!“, ruft Desmond, bekommt aber keine Antwort.

Er weist Miho an, ihm ins obere Stockwerk zu folgen, und wenn sie dort nicht ist, ist sie wirklich nicht zu seinem Haus zurückgekehrt, es sei denn, sie hockt unten im Keller.

Sie gehen die Treppe hoch und Desmond öffnet die Tür in sein Schlafzimmer.

Shou hat sich umgezogen und packt gerade genervt ihren Koffer.

Der Wissenschaftler läuft erleichtert zu ihr hin: „Ach, da bist du.“

Sie versucht, ihn abzuwürgen und ruft: „Lass mich in Ruhe!“

„Bitte lass es mich doch erklären!“, sagt er, aber sie will nichts hören und packt stur ihren Koffer weiter.

„Was soll das eigentlich werden?“, fragt Desmond, und Shou sieht ihn giftig an:

„Na was wohl, ich fliege nach Kanada zurück!“

Das kann sie doch nicht im Ernst meinen, sie ist also wirklich genauso wütend, wie er befürchtet hat. Ursprünglich wollte sie noch ein paar Tage bleiben, aber das Missverständnis von vorhin hat sie nun ernsthaft dazu gebracht, die Koffer zu packen und verschwinden zu wollen.

Heißt das etwa, dass sie schlussmacht? Desmond traut sich nicht, zu fragen.

„Geh nicht“, bittet er sie, aber sie faucht: „Du hast mir gar nichts zu sagen!“

Langsam scheint Desmond etwas überfordert mit seiner starrköpfigen Freundin zu sein, und deshalb mischt sich Miho, die sich bisher zurückgehalten hat, jetzt ins Gespräch ein:

„Shou, wenn du jetzt gehst, ist das ein Fehler!“

„Was willst du denn hier?!“, ruft Shou wütend. Sie hat Miho wohl gerade erst bemerkt.

„Ich möchte...“, fängt sie an, wird aber unterbrochen: „Desmond, sag mir, warum du sie mitgebracht hast!!! Ich will SIE hier am allerwenigsten sehen! Diese kleine Hure!“

Entsetzt bleibt Miho der Mund offenstehen: Als 'Hure' hat sie noch nie jemand bezeichnet.

Shous Kopf raucht beinahe vor Wut und ihre roten unterlaufenen Augen verraten, dass sie bis eben noch geweint haben muss. Doch jetzt wird auch Desmond sauer:

„Beleidige Miho nicht! Sie ist nur gekommen, um zu helfen!“

„Du stehst also auf ihrer Seite?!“

„Ich will nur, dass wir ernsthaft darüber sprechen!“

Shou sieht ihren Freund sauer an, dann deutet sie auf Miho und sagt:

„Ernsthaft darüber sprechen? Okay, von mir aus! Aber vorher schickst du DIE DA nach Hause!“

Er wirft Miho einen besorgten Blick zu, woraufhin sie nur traurig lächelt, sich umdreht, und zur Tür schreitet. Noch ehe sie dort angekommen ist, flüstert Shou leise, aber deutlich verständlich:

„Oh, du... Ich habe dich durchschaut. Ich weiß, dass du ihn willst. Aber ich gebe ihn dir nicht...“

Ohne noch weiter auf das Geschwätz dieser Frau zu hören verlässt Miho deprimiert das Haus.

Nun würde sie wohl zu Fuß nach Hause gehen müssen, und nachts sind die Straßen von Logaly nicht gerade ungefährlich für eine junge Frau.

Sie hat mich wirklich 'Hure' genannt, denkt sie. Dieses Wort hallt in ihrem Kopf unzählige Male wieder, wie ein Echo. Dabei wollte Miho doch nur helfen, weil sie Desmond und auch Shou so gemocht hat. Aber nun ist sie ihr offensichtlich verhasst, dabei hat sie nicht einmal irgendetwas unrechtes getan. Das ist unfair, das ist total unfair...
 

Desmond hat es geschafft, Shou zu überreden, das Packen einzustellen und ihm zuzuhören. Gerade sitzen sie gemeinsam auf dem Bett und er hält ihre warmen Hände fest.

„Bitte verstehe doch, zwischen mir und Miho ist nichts!“

Shou schaut ihm nicht direkt in die Augen, sondern nur auf seine Hände, die die ihren festhalten.

„Aber warum bist du dann immer bei ihr? Du warst gestern da, für mehrere Stunden, du warst heute da obwohl du gesagt hast, du seist im Labor, und an dem Tag, als ich hergekommen bin, haben wir ausgerechnet bei ihr ein Dinner!“ Ihre Hand verkrampft sich.

„Und ich bin mir sicher, während ich in Kanada war, bist du sie auch ganz oft besuchen gefahren!“

„Wir sind ja auch Freunde“, erläutert Desmond; „Ich habe sie durch ihren kleinen Bruder kennengelernt.“

„Und warum erzählst du nie davon?“, will sie wissen.

Langsam kommt er in Bedrängnis, denn er hatte ja nicht vor, ihr von den Vampiren zu erzählen, da es sie in Gefahr bringen würde. Aber wenn er ihr wirklich alles wahrheitsgemäß erklären wollen würde, dann dürfte er die Existenz von Vampiren ihr gegenüber nicht verheimlichen.

„Desmond...“, sagt Shou bedrückt; „Du bist ein sehr treuer Mann, ich würde dir nie zutrauen, dass du fremdgehst... Aber diese Miho ist komisch! Wenn ich ehrlich bin, ich glaube, dass sie sich in dich verliebt hat.“

„Was?“ Desmond meint, nicht verstanden zu haben; „Wie kommst du auf sowas?“

„Naja, ich habe halt so ein Gefühl... Nicht nur, weil ihr euch so oft seht, sondern auch, weil sie ganz klar versucht, sich in unsere Beziehung einzumischen. Warum ist sie sonst wohl mitgekommen? Um zu helfen? Als ob, was hätte sie denn davon!?“

Von diesem stumpfen Gedanken sollte er sie ganz schnell wieder abbringen, also sagt er:

„Nein, Shou, Miho hat schon einen Freund, nämlich Stephan. Weißt du nicht mehr? Du hast ihn doch selbst kennengelernt, als wir zu viert miteinander gegessen haben.“

„Was weiß ich!“, faucht sie; „Ich glaube trotzdem, dass sie Interesse an dir hat! Du bist intelligent, siehst gut aus, bist sportlich, und wirst bald einen großen Erfolg landen. Da liegt es doch nahe, dass sich diese Tussi früher oder später in dich verliebt.“

Desmond seufzt. Shou redet Unsinn, aber wenn sie sich einmal auf etwas fixiert hat, ist es schwierig, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Und selbst wenn an ihren Vermutungen etwas dran ist, und Miho wirklich etwas für ihn empfindet, ändert das nichts.

Es würde weder etwas an seinen Gefühlen für Shou ändern, noch daran, dass er Miho nur als gute Freundin betrachten würde. Ganz einfach.

Er fragt sich wirklich, welchen Sinn diese ganze Aufregung haben soll.

Plötzlich schaut Shou ihm direkt in die Augen. Sie sieht sehr ernst aus.

„Du bleibst also dabei, dass du nichts für diese Frau empfindest, und auch keine Affäre mit ihr hattest oder hast?“

„Ja“, antwortet Desmond wahrheitsgemäß und hält ihrem festen Blick stand.

Ein paar Sekunden, die ihm aber viel länger vorkommen, schauen sie sich einfach nur stumm gegenseitig in die Augen, bis Shou ihre plötzlich zumacht und lächelnd aufsteht:

„Okay, ich glaube dir. Du hast es wirklich nicht nötig zu lügen.“

Erleichtert atmet er aus.

Sie sieht ihn streng an: „Sei froh, dass deine Freundin dir so viel vertraut.“

„Bin ich“, sagt Desmond grinsend und erhebt sich ebenfalls.

Sie geht zu ihrem Koffer hinüber:

„Bereitest du unten schon mal das Abendessen vor?“

Desmond stimmt zu und geht zur Tür.

Shou sagt leise: „Ich erwarte aber, dass du mir noch heute Abend erklärst, warum du bei Miho warst. Wenn du mir das gesagt hast, lasse ich die Sache ruhen. Aber nur dann.“

Jetzt würde er wohl wirklich keine andere Wahl haben, als ihr alles zu berichten.

Vielleicht ist das besser so, vor seiner Freundin sollte man keine Geheimnisse haben, aber Desmond ist trotzdem besorgt.

Ihre kurzzeitige Ernsthaftigkeit tauscht Shou direkt wieder gegen ein verstohlenes Lächeln:

„Ich räume solange den Koffer aus. Eigentlich solltest du das machen, ist ja deine Schuld, dass ich so einen Schock bekommen habe und nach Kanada zurück wollte.“

„Tja, aber ich kann nicht Kochen und gleichzeitig packen“, entgegnet er; „Du hast ihn gepackt, und du kannst ihn jetzt wieder auspacken. Ein paar Tage bleibst du nämlich noch.“

Er grinst selbstsicher, und Shou streckt ihm die Zunge raus, woraufhin Beide anfangen zu lachen.

Als er in der Küche steht, überlegt er, was er am besten kochen sollte. Was mag Shou am liebsten?

Eigentlich ist sie genauso wie er, sie isst fast alles.

Und sie achtet darauf, sich gesund zu ernähren, was er sehr gut findet. Deshalb durchsucht er den Kühlschrank nach Zutaten für einen Krautsalat, als er plötzlich ein Klopfen vernimmt.

Vor Schreck stößt er sich den Kopf am Kühlschrank, und sieht sich nun äußerst genervt um.

Die Quelle des Geräusches macht er schnell ausfindig: Miho steht draußen, und klopft an die Hintertür.

Desmond huscht zu ihr rüber und lässt sie rein: „Was ist los? Findest du nicht nach Hause?“

Miho schaut ihn bekümmert an, sagt aber nichts.

„Hör zu, du solltest besser nicht hier sein. Shou hat sich zwar beruhigt, aber dich hier sehen, das ist das letzte, was jetzt passieren sollte.“

Mit gesenktem Kopf geht sie stumm ins Wohnzimmer.

Was ist nur los? Irgendetwas muss passiert sein, dass sie sich so komisch benimmt.

„Es tut mir leid“, sagt sie leise; „Als ich auf dem Weg nach Hause war, habe ich nachgedacht... Ich habe über alles nachgedacht...“

„Kannst du mir das nicht morgen am Telefon sagen?“, drängt Desmond.

„Nein“, sagt Miho entschlossen; „Ich muss es dir persönlich sagen. Das ist nichts, worüber man am Telefon spricht. Ich...“

Desmond unterbricht sie: „Dann ein andermal, aber wenn Shou jetzt runterkommt, wird sie...“

„Ist egal“, sagt Miho lächelnd;

„Desmond, ich habe viel nachgedacht... Ich wollte deine Beziehung retten, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich die ganze Zeit schon dieses Gefühl gehabt, dass es besser wäre, wenn sie weg ist. Dieses Gefühl... Ich hatte bei dir schon immer dieses Gefühl...“

Der Wissenschaftler versteht langsam, worauf sie hinauswill, aber so recht glauben kann er es nicht: „Aber Miho, was ist denn mit Stephan?“

Ein Lächeln bildet sich auf ihrem Gesicht: „Stephan... Ich mag ihn sehr, er ist wirklich nett... Aber mehr ist da eigentlich nicht. Er ist sehr nett, aber das war es auch schon... Du bist anders...“

Entgeistert und mit offenem Mund schaut er sie an.

Dann hat Shou sich also wirklich nicht getäuscht? Miho empfindet etwas für ihn?

Desmond muss das klären, so schnell es geht.

„Miho, es tut mir leid, du weißt, dass ich...“, fängt er an, aber sie fällt ihm sowohl ins Wort als auch um den Hals: „Ich liebe dich, Desmond! Ich habe dich schon immer geliebt...“

Für ein paar Sekunden ist Desmond starr vor Schreck, dann versucht er, ihre Umarmung zu lösen, doch sie geht sogar noch einen Schritt weiter und verwickelt ihn in einen Kuss. Einen Zungenkuss, um genau zu sein. Ihre rechte Hand drückt seinen Kopf an den ihren, und obwohl er sich anstrengt, obwohl er versucht, ihrer „Attacke“ zu entgehen, schafft er es nicht.

Sie hört erst auf, als vom anderen Ende des Wohnzimmers ein schriller Aufschrei zu hören ist.

Shou steht mit weit aufgerissenen Augen da, hält ihre Hände an den Kopf.

„Desmond... Wie konntest du, ich habe dir vertraut!“

„Shou, nicht!“, ruft Desmond, und versucht, zu ihr zu gehen, doch Miho hält ihn fest.

„Er hat sich entschieden“, sagt sie ernst.

Shou verstummt für einen Augenblick, dann schaut sie Miho in die Augen und schreit:

„Nein! Neiiin, das... Das ist ein Alptraum!!! Ich will weg!“

Schnell reißt sie die Haustür auf und verschwindet in der Nacht.

„Nein!“, ruft Desmond panisch; „Shou!“

Jetzt erst lässt Miho ihn los. Sie lächelt ihn sanft an.

„Miho!!!“, schreit er sie an; „Warum hast du das gemacht?! Warum?!“

Sie setzt zum Antworten an: „Weil ich...“, doch Desmond lässt sie nicht einmal ausreden:

„Sie hatte sich schon wieder beruhigt! Noch ein paar Tage, und dir hätte sie auch verziehen! Es ist alles deine Schuld!!! Ich dachte, wir wären Freunde!“

„Wir... Wir sind doch Freunde“, stammelt Miho.

Desmond schaut sie mit einem beinahe angeekelten Blick an:

„Niemals. Die Chance ist dir entgangen. Und nun verschwinde!“

Sie schaut ihn flehend an, aber er bleibt hart:

„Hau endlich an, ich WILL DICH NIE WIEDERSEHEN!!!“

Weinend stürzt Miho aus dem Haus, und verschwindet ebenso wie Shou kurz vorher in der dunklen Nacht.

Kraftlos sackt Desmond aufs Sofa.

Warum musste das passieren? Es ist alles Mihos Schuld...

Das war es dann wohl mit seiner Beziehung. Dabei ist ihm niemand wichtiger als Shou!

Sie sind nun schon so viele Jahre zusammen.

Aber der Zwischenfall von eben hat mit Sicherheit alles zerstört.

Nie würde sie es ihm verzeihen. Aber er hat doch gar nichts falsch gemacht...

Er merkt, wie ihm übel wird, und zitternd erhebt er sich, um in der Küche ein Glas Wasser zu trinken. Er sollte jetzt einen kühlen Kopf bewahren, aber das ist im Moment so unfassbar schwer!

Etwas neben sich kehrt er ins Wohnzimmer zurück, nachdem er ausgetrunken hat, und er traut seinen Augen nicht, wer da steht.

Es ist Shou. Ihre gesamte Schminke ist verlaufen, sie zittert und sieht vollkommen fertig aus.

Desmond traut sich nicht, irgendetwas zu sagen, und als er einen Schritt auf sie zu geht, bleibt sie einfach nur stumm stehen.

Dann erblickt er die Pistole in ihrer rechten, zitternden Hand und ihm bleibt kurz der Atem weg.

Warum zum Teufel hat sie eine Pistole?! Er mustert sie genauer.

„Das... das ist doch meine...“, stottert er; „Warum hast du sie?“

Shou, die bisher nur geistesabwesend zu Boden gestarrt hat, schaut Desmond nun in seine Augen.

Dabei flüstert sie kaum hörbar: „Desmond... Ich habe Miho getötet...“

Als sie das sagt, läuft ihm ein kalter Schauder über den Rücken.

Er kann nichts darauf sagen, sondern er hofft einfach nur, dass es nicht wahr ist.

Lass es bitte eine Lüge sein, Miho hat einen Fehler gemacht, aber sie deswegen töten?

„Shou...“, murmelt Desmond; „Warum...?“

Sie sagt nichts.

Ist sie nun wirklich zur Mörderin geworden? Seine Freundin, die Frau die er liebt?

Warum? Wann hat sein Leben angefangen, so aus den Fugen zu geraten?

Wahrscheinlich an dem Abend, an dem er Keisuke zum ersten Mal getroffen hat...

Da begann das Unglück.

Desmond seufzt: „Du... Auch wenn du sie umgebracht hast, Shou, ich werde dich immer lieben. Nur dich, und niemand anderen. Jetzt gib mir bitte die Waffe.“

Er macht noch einen Schritt auf sie zu, aber plötzlich erhebt sie den rechten Arm und richtet die Pistole gegen ihn.

„Was?!“ Ihm stockt der Atem. Sie wird doch nicht?!

„Shou... Was passiert ist, ist wieder ein Missverständnis“, versucht er zu erklären; „Auch wenn du recht hattest, und Miho in mich verliebt war, ich wurde einfach nur... Ich konnte nicht...“

„Hör auf“, unterbricht sie ihn; „sinnlos zu reden. Ich habe genug...“

Nachdem sie ihren Satz vollendet hat, feuert sie einen Schuss auf ihn an, der ihn ihm Bauch trifft.

Desmond geht zu Boden. Schwer atmend hält er sich seine Hände an den höllisch schmerzenden Bauch, er hat noch nie so einen Schmerz gefühlt. Er stellt fest, dass seine Hände voller Blut sind und ihm wird schwindelig. Die Kraft zu sprechen fehlt ihm, und langsam verliert er das Bewusstsein. Er versucht, die Augen offen zu halten, aber auch so verschwimmt über ihm die Frau, die er so liebt, allmählich.

Wenigstens... wurde ich von ihr getötet, denkt er.

Sie steht direkt über ihm und sieht mit leerem Blick auf ihn herab.

Doch ihr Gesichtsausdruck verändert sich plötzlich.

Das letzte, was Desmond in seinem Leben sieht, sind die rot leuchtenden Augen seiner Freundin, sowie das hinterhältige Grinsen, dass sich auf ihrem Gesicht bildet.

Segen der Unwissenheit

Segen der Unwissenheit
 

Keisuke fragt sich, wann er wohl das nächste mal ein ruhiges Wochenende verbringen könnte. Er ist noch etwas mitgenommen von der Sache am Samstag, und in einigen Tagen würde es erst richtig los gehen.

Obgleich er sich vorgenommen hat, jeden Tag mit dem Dolch zu üben, könnte er jetzt einschlafen.

„Keisuke, est-ce que tu paies attention?“, fragt Frau Ophis streng.

„Oui...“, antwortet Keisuke verzögert.

Die Französischstunde, mit der jeder Montag eingeläutet wurde, kann man echt in die Tonne treten.

Shizuka neben ihm gähnt einmal lautstark, und dafür kassiert sie ebenfalls einen bösen Blick der Lehrerin, die versucht, die Hausaufgaben zu besprechen, wobei die Klasse sich noch im Halbschlaf befindet.

„Es fehlen heute echt viele...“, bemerkt Keisuke, und Shizuka nickt.

Von insgesamt 24 Schülern, die die Klasse hat, sind am heutigen Tage neun nicht anwesend.

Frau Ophis sagte, dass es sich lediglich um eine Grippewelle handle, und sowas würde alle paar Monate mal vorkommen und nichts zu bedeuten haben.

Keisuke zweifelt ein bisschen daran.

Während die Lehrerin sich zur Tafel dreht, nutzt Yuri die Gelegenheit und fragt ihre Freunde:

„Glaubt ihr das mit der Grippe-Epidemie?“

„Ich weiß nicht...“, entgegnet Keisuke nachdenklich.

„Meinst du, da stecken Vampire hinter?“, fragt Shizuka ängstlich nach.

Das Fuchsmädchen nickt.

„Wir müssen vorsichtig sein“, flüstert Keisuke; „Anscheinend stirbt gerade Logalys Bevölkerung aus. Hier haben sie mit ihren Plan begonnen, den sie bald auf die ganze Welt ausweiten wollen...“

„Nicht, wenn wir sie vorher aufhalten!“, wirft Yuri zuversichtlich ein, und Shizuka ergänzt:

„Außerdem kann Keisuke ja alle Menschen, die wegen den Cursers gestorben sind, wieder zum Leben erwecken, wenn er seine Kraft zurück hat, oder?“

Keisuke und Yuri schauen sich an.

Beim besten Willen kann sich keiner von den beiden vorstellen, dass es so einfach ist.

Alle Menschen wiederbeleben? Das sind doch mittlerweile bestimmt mehr als tausend...

Wie soll er das denn anstellen?

„Übrigens, Shizuka, Shya ist wieder da“, erzählt Keisuke leise um sich und seine Freunde auf andere Gedanken zu bringen.

„Zum Glück, ich hab mir solche Sorgen gemacht!“, ruft Shizuka glücklich, so laut, dass ein paar Klassenkameraden sie verwundert ansehen und Frau Ophis sich erbost räuspert.

Doch auch Yuri wirkt erleichtert.

Eigentlich kann Keisuke glücklich sein. Shya ist wieder da, Verena wird bald wieder leben, seine Schwester ist glücklich mit Stephan, er hat viele neue Freunde gefunden und bald wird auch bei ihm etwas Ruhe einkehren.
 

Früher Nachmittag; Keisuke und Shizuka kommen erschöpft nach Hause.

„Erst einmal etwas Blut trinken!“, stöhnt er, nachdem er die Haustür aufgeschlossen hat.

„Hoffentlich hat Miho was leckeres gekocht“, sagt Shizuka.

Etwas skeptisch denkt Keisuke an den gestrigen Abend. Seine Schwester ist gar nicht mehr nach Hause gekommen, zumindest nicht, ehe er im Bett war.

Was sie woll bei Desmond so lange gemacht hat? Ob sie mittlerweile zurück ist?

Sie gehen ins Wohnzimmer, und siehe da: Miho sitzt am Tisch und liest.

Als die Jugendlichen hereinkommen, sieht sie auf: „Hallo. Wie war es in der Schule?“

„Langweilig“, antworten sie wie aus einem Mund und legen ihre Taschen ab.

„Essen steht in der Küche“, sagt Miho zu Shizuka, die daraufhin hungrig in die Küche stürmt.

Keisuke kommt näher, und schaut sich das Buch seiner großen Schwester an:

„Was liest du da?“

„Shakespear“, lächelt Miho, sieht ihren Bruder aber nicht an.

„Romeo und Julia?“

„Nein, Hamlet“, erwidert sie.

Keisuke setzt sich ihr gegenüber an den Tisch und fragt:

„Ähm, Miho, hat sich Desmond heute hier gemeldet? Er möchte mich nach der Schule abholen, damit wir meinen Körper untersuchen. So findet er vielleicht einen Weg, Verena zum Menschen zu machen.“

Miho seufzt, und legt ihr Buch beiseite. Sie sieht plötzlich bedrückt aus, stellt ihr Bruder fest.

„Du warst mit Desmond verabredet? Ich glaube nicht, dass er in den nächsten Tagen zu uns nach Hause kommen wird. Gestern sind einige Dinge passiert...“

„Erzählst du es mir?“, fragt er neugierig, aber bevor sie zum Antworten kommt, betritt Shizuka mit einem gefüllten Teller in der Hand das Wohnzimmer und setzt sich zu den Geschwistern.

„Das riecht gut...“, fällt Keisuke auf.

Miho nickt: „Das ist Maccaronigratin. Möchtest du auch etwas?“

Keisuke schüttelt mit den Kopf.

Auch wenn es einen sehr leckeren Geruch hat, sollte er sich auf Blutkonserven beschränken.

Essen wie das, von dem sich Miho und Shizuka ernähren, braucht er in dem Sinne nicht.

„Also, Miho, was wolltest du sagen?“, fragt der Vampir, um zum eigentlichen Thema zurückzukommen, aber sie winkt ab.

Scheinbar möchte sie darüber nicht sprechen, wenn Shizuka dabei ist, also lässt er es erstmal ruhen und setzt sich vor dem Fernseher auf das Sofa.

Als er versucht, ihn mit der Fernbedienung einzuschalten, blitzt das Bild kurz auf, es folgen ein paar knackende Geräusche vom Gerät und direkt danach wird das Bild schwarz.

„Oh nein!“, klagt Miho und kommt sofort angerannt:

„Jetzt ist er schon wieder kaputt gegangen!“

„Warum, ich hab ihn doch nur angemacht?“, beschwert sich Keisuke über den Fernseher, den er vom jetzigen Moment an nur noch als Altschrott betrachtet.

Als was auch sonst, wenn er alle paar Tage kaputt geht.

„Wir brauchen einen neuen“, stellt Miho kopfschüttelnd fest, aber ihr Bruder sieht das nicht ein:

„Brauchen wir nicht! Das ist doch viel zu teuer, und wer von uns schaut schon fern?“

„Ich“, sagt Shizuka und errötet leicht.

Miho lehnt sich nachdenklich an das Sofa.

Dann wendet sie sich an Shizuka, die immer noch am Essen ist:

„Ist es schlimm für dich, erstmal ein paar Wochen ohne Fernseher auszukommen? Keisuke hat nicht ganz unrecht, er und ich schauen so gut wie nie fern und Sakito ist fast nie da.“

Das schwarzhaarige Mädchen sieht Miho enttäuscht an, ehe sie nickt:

„Ist schon gut, ich will ja nicht, dass ihr euch zu viele Umstände wegen mir macht.“

Wahrscheinlich findet sie es überhaupt nicht toll, dass sie jetzt lange Zeit nicht mehr fernsehen kann, wo sie es vorher doch beinahe jeden Tag getan hat.

Aber sie möchte den Valleys nicht zur Last fallen, und nur wegen ihr alleine einen neuen Fernseher zu kaufen, ist definitiv zu viel verlangt. Besonders, wenn sie bedenkt, dass die Familie nicht gerade reich ist, da Mihos Job ihnen auch fast nichts einbringt. Jedenfalls ziemlich wenig.

Miho sieht Shizuka traurig an: „Ich gehe dafür ganz oft mit dir shoppen, ja?“

Nun bildet sich wieder ein Lächeln in Shizukas Gesicht.

Die Leidenschaft, in der Innenstadt von Logaly shoppen zu gehen, haben die beiden Damen gemeinsam, das weiß Keisuke.

Der Unterschied liegt darin, dass Shizuka ihr Geld für alles mögliche unnütze Zeug verschwendet, während Miho äußerst sparsam vorgeht, sich Zeit nimmt, alle Preise in der Stadt für ein Produkt zu vergleichen und schließlich nur das Minimum zu bezahlen.

Er muss zugeben, mit dem wenigen Geld, was sie haben, kann Miho sehr gut umgehen.
 

Ein paar Stunden vergehen, Keisuke übt in seinem Zimmer wieder mit seinem Dolch.

Ihm wird eigentlich sogut wie nie langweilig, fällt ihm auf, denn wenn er wirklich nicht weiß, was er tun soll oder auf nichts Lust hat, kann er sich immer noch schlafen legen.

Es klopft an der Tür und Shizuka kommt mit ein paar Heften ins Zimmer.

Bevor Keisuke etwas sagen kann, klatscht sie sie auf sein Bett:

„Hier, die Hausaufgaben für morgen. Kannst du abschreiben.“

Erleichtert legt er die Waffe weg und setzt sich aufs Bett: „Danke.“

Weil sie in der selben Klasse sind, erledigen sie ab und zu die Hausaufgaben für den anderen und lassen einander abschreiben. Dieses Mal hat er sie allerdings nicht darum gebeten, trotzdem freut es ihn, denn auf Hausaufgaben hat er nie Lust.

Sie setzt sich auch aufs Bett und mustert Keisukes schwitzenden Körper.

„Trainierst du jetzt jeden Tag?“, will sie wissen.

„Ja“, antwortet er verlegen; „Ich will mit den anderen kämpfen, nicht nur im Weg sein. Und ich muss mich wehren können.“

„Keisuke...“ Shizuka sieht besorgt aus.

Was wohl mit ihr los ist?

„Glaubst du... Glaubst du, ich sollte auch kämpfen üben? Ich bin doch sonst total nutzlos...“

„Ähm... Also du bist nicht nutzlos...“, entgegnet er nachdenklich.

„Das ist wirklich blöd. Ich bin gar kein Vorteil für euch, und trotzdem soll ich mitkommen und mitkämpfen“, sagt sie, und Keisuke bemerkt eine Spur Angst in ihrer Stimme.

„Du musst nicht mitkämpfen!“, ruft er; „Das ist eine ganz freiwillige Sache, und niemand kann dich dazu zwingen. Ganz sicher kannst du auch hierbleiben und warten, bis wir zurück sind.“

„Ja?“ Ihre Augen werden größer: „Ist das wirklich in Ordnung?“

„Klar“, antwortet er zuversichtlich.

Ihm ist es ehrlich gesagt sogar lieber, wenn sie nicht mitkommen würde, denn das wäre definitiv zu gefährlich . Raito, Luna, Epheral und Desmond können sich alle ganz gut wehren, aber Shizuka?

Es ist absolut nicht von Nöten, dass sie da mit hineingezogen wird.

Ein weiteres Mal klopft es und Miho steckt kurz ihren Kopf in den Raum:

„Ich bin dann arbeiten, bis heute Abend“, verabschiedet sie sich und verschwindet wieder.

„Tschüss!“, rufen Keisuke und Shizuka ihr noch hinterher, können aber nicht mit Sicherheit sagen, ob sie es noch gehört hat.

„Okay“, seufzt er und nimmt sich wahllos eines der Hefte: „Erdkunde. Ich kümmere mich dann mal um die Hausaufgaben, dann kannst du deine gleich wieder einpacken.“

„Danke“, sagt Shizuka und verlässt das Zimmer. Keisuke ist leicht verwirrt.

Sie lässt ihn doch abschreiben, also sollte er sich nicht eher bei ihr bedanken?
 

Miho betritt die Tierarzt-Praxis, in der sie arbeitet, und beinahe stößt Luna mit ihr zusammen.

„Oh, hallo Luna“, begrüßt sie ihre Freundin; „Gehst du nach Hause?“

„Ich bin für heute fertig“, erklärt die kleine, rothaarige Frau; „Aber ich gehe nicht nach Hause.“

„Dann wahrscheinlich zur Universität“, vermutet Miho und legt ihre Handtasche auf dem Tresen ab. Außer den beiden Frauen ist zurzeit niemand im Wartezimmer, keine Menschen mit erkrankten Tieren oder ähnliches.

„Nein, nicht zur Uni“, antwortet Luna und streift ihre Jacke glatt; „Ich bin verabredet.“

Für eine Sekunde stockt Miho der Atem: „Mit... einem Jungen?!“

„Quatsch, mit einem Rhinozeros.“

Miho sieht sie erstaunt an.

„Das war Ironie“, sagt Luna schulterzuckend, aber Miho überhört es:

„Verzeih mir bitte meine Reaktion, nur ich hatte immer das Gefühl, dass du nicht so viel Interesse an Männern hast. Besonders, nachdem mein Bruder Sakito dich immer wieder angemacht hat.“

„Es ist doch nur freundschaftlich“, erläutert Luna und sieht auf die Uhr:

„Ich sollte langsam gehen. Miho, heute ist sehr wenig los, du könntest die Akten sortieren, aber wahrscheinlich wirst du heute nur wenig Arbeit haben.“

„Ähm, gut“, lächelt Miho und zieht sich die Jacke aus: „Ich mache mir dann erstmal einen Kaffee.“

Luna nickt und macht sich auf den Weg.

Etwas später steht sie vor Schneiders Tierhandlung und sieht sich verwirrt um.

So etwas seltsames, überlegt sie, ich sollte doch hier vor der Tierhandlung warten. Ist er vielleicht hineingegangen? Vielleicht gehe ich besser mal rein...

Bevor sie ihre Gedanken in die Tat umsetzen kann, ruft eine männliche Stimme ihren Namen: „Luna!“ Sie dreht sich um und hinter ihr steht ein gut gebauter, junger Mann mit schwarzen Haaren. Er trägt eine dunkelgrüne, dünne Jacke die farblich gut zu Lunas Camouflage-Jacke passt.

„Hallo Epheral“, sagt Luna und muss dabei ein bisschen nach oben schauen, weil Epheral wahrscheinlich mehr als zwanzig Zentimeter größer ist als sie und direkt vor ihr steht.

„Bist du auch gerade erst gekommen? Gut, dann habe ich mich ja nicht verspätet“, grinst er, und Luna erklärt ihm, dass Miho sie aufgehalten hat.

Als sie ihn fragt, warum er sich ausgerechnet vor der Tierhandlung mit ihr treffen wollte, nimmt er sie an der Hand und zieht sie ein paar Meter weiter davon weg, bis sie vor einem kleinen Café stehen.

„Café 'Lexy'?“ Luna schaut verwirrt auf das Ladenschild.

„Hier wollen wir eigentlich hin“, sagt Epheral.

Das versteht sie jetzt nicht:

„Warum hast du dann 'Schneiders Tierhandlung' gesagt anstatt 'Café Lexy'?“

„Weil dieses Café leider ziemlich unbekannt ist. Die Tierhandlung ist die bekannteste der Stadt, und ich wusste, dass eine Tierliebhaberin wie du auf jeden Fall weiß, wo sie ist.“

Die beiden gehen näher bis zur Eingangstür, und Luna fragt neugierig:

„Was ist das eigentlich für ein Café?“ Ihr fällt auf, dass er immer noch ihre Hand festhält.

„Ein nettes“, lächelt ihr Begleiter und macht die Tür auf; „Tagsüber sitzen meistens irgendwelche alten Frauen hier, die permanent über den neusten Klatsch und Tratsch labern.“

Luna sieht ihn ein bisschen verständnislos an. Was ist daran bitte nett?

Epheral fügt hinzu: „Abends ist es dafür sehr angenehm, weil weniger los ist. Gerade sind offensichtlich auch keine anderen Kunden hier.“

Sie treten ein und Luna sagt leise: „In der Praxis ist es dasselbe, es kommen viel weniger Leute vorbei als vorher. Und obwohl es noch nicht so spät ist, sind kaum Menschen auf den Straßen.“

Epheral runzelt die Stirn, dann führt er Luna zu einem Tisch in der hinteren Ecke des Raumes.

Sie nehmen nebeneinander Platz und schauen sich zusammen die Speisekarte an. Sie müssen sie sich teilen, weil auf dem Tisch nur eine liegt, doch als sie sie sich gleichzeitig durchlesen, stoßen unabsichtlich ihre Gesichter leicht aneinander.

„Ups!“, bringt Epheral hervor und fängt an, zu lachen, während Luna sich entschuldigt: „Sorry, ich bin manchmal ein bisschen tollpatschig.“

„Kein Problem“, grinst er.

„Aha, wen haben wir denn da?“, fragt Yuri, die gerade um die Ecke gebogen ist.

Sie trägt eine hellrosafarbene Schürze und hat einen Notizblock in der rechten Hand.

„Du bist doch Yuri“, ruft Luna überrascht.

Ein komischer Zufall, ihr hier zu begegnen.

„Achja, ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass ihren Eltern das Café gehört“, meint Epheral beiläufig, und Luna sagt nicht weniger beiläufig: „Achso, schon okay.“

„Sei gefälligst ein bisschen mehr erstaunt!“, verlangt das Fuchsmädchen und klatscht ihren Notizblock auf den Tisch. Dann zückt sie einen Kugelschreiber und fragt, was sie bringen kann.

Epheral bestellt einen Apfel-Pfannkuchen und eine Dose Bier, während Luna es bei einer Tasse Milchkaffee belässt.

„Hat sich Mama also doch nicht getäuscht, als sie meinte, dass da Kunden gekommen sind“, sagt Yuri zufrieden und steckt den Notizblock wieder ein: „Ihr seid heute die ersten Kunden.“

„Die ersten?“ Damit hätte Luna nicht gerechnet. Nach einem Blick auf ihre Armbanduhr sagt sie: „Wir haben schon sechs Uhr durch. Wann öffnet das Café denn?“

„Um zehn Uhr morgens“, antwortet Yuri; „Das ist wirklich unfassbar, oder?“

„Ja, irgendwie schon. Epheral hat zwar schon gesagt, dass das Café sehr unbekannt ist, aber dass ihr so wenig Kundschaft kriegt hätte ich jetzt auch nicht gedacht.“

Yuri schaut Epheral sauer an: „Unser Café ist gar nicht unbekannt! Erzähl doch nicht so einen Blödsinn!“

Er schnaubt nur: „Willst du nicht langsam mal unsere Bestellung abgeben?“

„Was denn, du willst mich loswerden?“, wirft sie ihm vor;

„Oder liegt das etwa daran, dass...“ Sie hört mitten im Satz auf.

Luna schaut sie fragend an: „Dass was?“

Abwechselnd schaut Yuri einige Male zu Epheral und zu Luna, dann kann sie sich ein Kichern nicht verkneifen.

„Was denn?“, fragt Luna nun leicht genervt.

„Ich wusste ja nicht, dass das hier ein Date ist. Ich störe mal nicht weiter.“

Epheral rollt mit den Augen, und Luna ruft ein bisschen verzweifelt: „Was?! Yuri, nein, warte, so ist das nicht, wir sind Freunde! Das ist kein Date.“

Aber Lunas Meinung ist für Yuri offensichtlich nicht weiter interessant, denn diese stolziert amüsiert davon, und als sie um die Ecke biegt, zwinkert sie den beiden mit einem Auge zu.

Luna wird leicht rot.

„Ist nicht eigentlich egal, was sie von uns denkt?“, gähnt Epheral, während er mit den Zahnstochern, die auf dem Tisch stehen, herumspielt.

„Eigentlich nicht“, gibt Luna zurück; „Wenn sie es Keisuke erzählt, kann er es Miho erzählen. Und die hat eben schon gedacht, dass ich auf ein Rendezvous gehe.“

Plötzlich sieht Epheral leicht verstimmt aus.

Ernst fragt er sie: „Ist das echt so schlimm, wenn man das denkt? Was ist denn dabei?“

„Eigentlich nichts“, sagt Luna, dann bemerkt sie, dass Epheral ihr direkt in die Augen sieht. Sie schaut ihn für eine Sekunde nur stumm an, dann antwortet sie lächelnd: „Nichts.“
 

Keisuke liegt im Wohnzimmer auf dem Sofa und faulenzt.

Es ist schon Abend, und obwohl er den ganzen Tag zu Hause verbracht hat, ist Desmond weder gekommen, um ihn abzuholen, noch hat er sich auf irgendeine andere Weise bei ihm gemeldet.

Was soll das? Hatte er nicht vor, ihn heute mit ins Labor zu nehmen?

Keisuke kann zwar absolut nicht von sich behaupten, dass er scharf darauf ist, unzählige unangenehme und eventuell auch schmerzhafte Untersuchungen über sich ergehen zu lassen, aber wie soll er sonst Verena ins Leben zurückholen?

Es ist eben seine einzige Möglichkeit.

Wenn er sich morgen wieder nicht meldet, wird er mal bei ihm zu Hause anrufen, denn selbst wenn Miho irgendwelche Probleme mit den beiden hatte, ist Keisuke ja nicht davon betroffen. Oder?

Shizuka hüpft die Treppe runter und spaziert zu ihm hin. Ihren Kopf beugt sie so über das Sofa, dass ihre schwarzen, langen Haare in Keisukes Gesicht fallen.

„Müde?“

Er richtet sich auf: „Nein, das nicht. Hab nur ein bisschen nachgedacht.“

Sie verschränkt lächelnd die Arme: „Schon wieder? Ich habe das Gefühl, dass du viel zu viel und zu oft nachdenkst. Du solltest dich mal gehen lassen.“

„Findest du?“

Ihr Ratschlag kommt ihm zwar komisch vor, ist aber durchaus gut gemeint.

Er macht sich wirklich zu viele Sorgen um die ganzen Dinge, die in seiner Umgebung passieren.

Aber vielleicht ist das ja gut so?

„Ich bestelle uns Pizza!“, schlägt sie plötzlich vor und geht zum Telefon.

„Für mich musst du keine bestellen“, sagt Keisuke; „Du weißt ja, ich brauche sowas nicht zu essen. Auch wenn ich schon total lange keine Pizza mehr hatte...“

„Ist schon okay“, antwortet sie, während sie konzentriert die Nummer vom Pizzaservice aus dem Telefonbuch sucht.

„Ich will dein Budget echt nicht belasten.“

Shizuka seufzt und sieht ihn an: „Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht soviel nachdenken sollst? Ich bestelle uns beiden Pizza und fertig. Du magst Salami am liebsten, stimmt's?“

Er nickt.

„Okay, ich nehme eine Pizza Hawaii...“
 

Schon eine halbe Stunde später sitzen die beiden auf dem Sofa und essen.

„War doch gar nicht so teuer“, stellt Shizuka fest und beißt tief in ihr Stück Pizza hinein.

Er lächelt und nimmt einen herzhaften Bissen.

Mal wieder Pizza essen, das vermisst er schon seit langem.

Endlich hat er mal wieder einen normalen Tag gehabt, so wie früher.

Da war sein Leben zwar um einiges langweiliger, aber trotzdem ist es einfach nur schön, mal wieder mit Shizuka gemeinsam auf dem Sofa zu sitzen, sich mit ungesundem Zeug vollzustopfen und über irgendetwas zu quatschen.

„Wie zum Beispiel über unsere Lehrer!“, lacht er, und Shizuka schaut ihn fragend an.

„Hasst du Frau Ophis auch so sehr wie ich?“, fragt er, und sie nickt.

Nachdem sie runtergeschluckt hat, antwortet sie: „Die Frau ist ja echt schlimm. Wie kann man nur so viele Hausaufgaben aufgeben, und dann ist sie nicht mal nett sondern total streng.“

„Genau. Und unser Mathelehrer Herr Umbala ist auch nicht das Gelbe vom Ei.“

Shizuka scheint diese Meinung nicht zu teilen: „Ach, eigentlich ist er ganz nett, aber total schusselig. Ich glaube, du magst ihn nicht, weil er Mathe unterrichtet. Und darin bist du schlecht.“

Sie fängt an zu lachen, und Keisuke bewirft sie als Strafe mit einer Salami.

„Heeeey!“, kreischt sie und wirft mit einer Ananas zurück.

Die Schlacht geht noch ein bisschen weiter, bis beide Pizzen keinen Belag mehr haben und sowohl das Sofa, als auch der Boden um das Sofa herum total versaut sind.

„Und wer macht das jetzt weg?“, fragt Shizuka besorgt.

„Wenn wir Glück haben, kommt Shya und frisst den Belag vom Boden weg“, antwortet er.

„Ähm, wann kommt Miho denn nach Hause?“

Keisuke überlegt kurz: „Ich glaube, die Praxis schließt um acht Uhr, aber ich weiß das selbst nicht so genau... Ist das nicht egal?“

„Das ist nicht egal, wir haben gleich acht. Und vielleicht kommt Sakito ja nach Hause und sieht, was wir hier angerichtet haben.“

„Das glaube ich nicht.“

Shizuka sieht ihn fragend an: „Sakito hat doch keinen Job. Wo ist er überhaupt?“

Keisuke zuckt mit den Schultern: „Keine Ahnung. Vielleicht bei einem seiner Kumpels, oder auf der Piste, vielleicht schleppt er auch irgendein Mädchen ab.“

„Warum benimmt er sich so?“, fragt Shizuka irritiert.

Er schweigt zuerst, doch dann erklärt er: „Das ist seine Art, mit dem Tod unserer Eltern fertig zu werden, er verdrängt es mit Party, Spaß, Alkohol und Frauen. Miho dagegen lenkt sich mit Arbeit ab, das merkst du ja, entweder schmeißt sie hier den Haushalt oder sie arbeitet beim Tierarzt.“

„Und du?“

„Ich... Ich habe mit den Cursers und so soviel um die Ohren, dass ich gar nicht dazu komme, mir viele Gedanken darüber zu machen.“ Sie sieht ihn ungläubig an.

Nun fragt er sie: „Was ist mit dir? Deine Eltern sind doch erst vor kurzem auch gestorben...“

Shizuka sagt nichts, und Keisuke bekommt das Gefühl, dass er das lieber nicht hätte ansprechen sollen. Auf einmal legt sie ihre Hand auf sein Knie, ihr Blick bleibt gesenkt.

„Du und Miho seid wie eine neue Familie für mich. Ich... könnte meine Eltern niemals vergessen, aber ihr tut alles, nur damit es mir gut geht. Ich liebe euch genauso, daran liegt es. Und vielleicht auch daran, dass ich hoffe, dass...“

„Was?“, fragt Keisuke neugierig.

„Ich hoffe irgendwie, dass du sie wieder zum Leben erwecken kannst, wenn der Kampf gewonnen ist.“ Auch wenn er sich nicht sicher ist, ob das klappen wird, spricht für Keisuke nichts dagegen: „Das mache ich. Ich erwecke sie alle wieder zum Leben. Versprochen."

Sinn und Sinnlichkeit

Sinn und Sinnlichkeit
 

Die staubige, alte Holzuhr an der Zimmerwand lässt unentwegt ein lautes, fast schon nerviges Ticken ertönen. Dabei ist es gar nicht so laut.

Eher die Stille, die im abgedunkelten Schlafzimmer herrscht, lässt es so wirken.

Ein Junge, nicht besonders groß, ungefähr zehn Jahre alt, liegt bauchwärts auf dem Himmelbett, das von dunkelblauen Vorhängen geziert wird.

Der Raum wäre komplett dunkel, wenn die weiße Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett nicht spärlich die Umgebung erleuchten würde.

Der Junge malt mit Buntstiften ein Bild auf ein weißes Blatt Papier.

In seiner Zeichnung hat er allerdings keine silbergrauen Haare und rote Augen, sondern er ist blond und seine freundlichen Augen sind himmelblau.

Für einen kleinen Jungen ist das Bild nicht schlecht.

Doch als er anfängt, eine Frau neben sich selbst zu malen, hält er plötzlich inne und steht auf.

Traurig geht er zum Fenster.

Er würde gerne hinaussehen, aber es ist sowohl von außen mit vielen Brettern zugenagelt worden, sodass kein einziger kleiner Sonnenstrahl eindringen kann.

Alles nur zu meinem Schutz, überlegt der Junge, und freut sich insgeheim darüber, dass seine Familie soviel Wert auf sein Wohl legt.

Ja, den Cursers ist es wirklich wichtig, Sense zu beschützen.

Er trägt ein simples weißes T-Shirt, das ihm fast zu klein ist, und blaue Shorts.

Skeptisch betrachtet er das unvollständige Bild, das immer noch auf dem Bett liegt.

So gerne würde er es fertigmalen und dann Emily zeigen.

Über ein schönes Bild würde sie sich ganz bestimmt freuen.

Er spürt, dass ihm langsam schwindlig wird, also stolpert er zur Kommode und öffnet die oberste Schublade, um ein Plastikfläschchen, gefüllt mit einer tiefroten Flüssigkeit, herauszunehmen.

Gerne trinkt er Blut nicht, aber er weiß, dass er es tun muss, um überleben zu können.

Lieber würde er von Emily gebackene Plätzchen essen, aber es ist schon einige Wochen her, dass sie das letzte Mal für ihn gebacken hat.

Von Emily wurde er schon immer gut behandelt, sie bringt ihm in Flaschen abgefülltes Blut zum Trinken, sodass er nicht raus und Menschen jagen muss, wie die anderen.

Das könnte er mit seiner geringen Körperkraft auch gar nicht.

Im Gegensatz zu den anderen Vampiren der Curser-Gesellschaft muss er auch keine Menschen töten, das würde ihm sowohl psychisch als physisch zu schwer fallen.

Die Organisation ist mehr eine Familie für ihn, in der er das Kind ist. So ist er glücklich, und Emily ist die Person, die es ermöglicht hat.

Er würde sie gerne öfter zu Gesicht bekommen, aber sie arbeitet immer so viel.

Und er will sie auf keinen Fall stören, wenn sie etwas plant.

Immerhin hat sie einen Traum, für den sie kämpft.

Sense trinkt ein bisschen von dem Blut und legt die Flasche in die Schublade zurück.

Dann geht er zur Tür und öffnet sie leise.

Der längliche Flur der Villa ist totenstill und leer.

Wo die anderen wohl sind?

Ihm ist so langweilig... Er will nicht alleine sein.

Durch den Korridor tapselnd sucht er nach Lure, denn er liebt es, mit ihr zu spielen.

Die rothaarige, schöne Frau hat sich immer Zeit für Sense genommen.

Sie haben gemeinsam Karten und Brettspiele gespielt.

Lure sagte bei fast allen, was Sense tat, wie süß er sei und knuddelte ihn ganz fest.

Dieses freundliche, warme Gefühl von Zuneigung würde er gerne wieder empfinden.

Raid, der große Vampir, ist auch total nett, er setzt Sense immer auf seine Schultern und trägt ihn durch das Haus, und ab und zu bringt er auch mal Hamburger und solche Sachen für ihn mit.

Obwohl er so stämmig gebaut ist, hat Sense keine Angst vor ihm, denn er stand dem Kleinen immer wie ein guter Freund mit Rat und besonders Tat zur Seite.

Aber in den letzten Tagen hat er die beiden gar nicht mehr gesehen.

Warum nicht?

Müssen die so viel arbeiten?

Er schleicht die Treppe hinunter und geht durch die Eingangshalle.

Auch in der Küche findet er niemanden.

Er seufzt und beschließt, es sich leichter zu machen.

Langsam schließt er die Augen, atmet tief ein und tief aus, konzentriert sich auf das Vampirblut, das in seinen Adern fließt. Mit der Zeit vernimmt er die Aura von Emily und ein paar anderen Vampiren ganz in seiner Nähe.

Lure und Raid sind leider nicht dabei.

Wie oft er es auch versucht, er schafft es nicht, die beiden zu lokalisieren.

Er öffnet die Augen wieder und geht geradeaus in Richtung Esszimmer.

Als er genau davor steht, schiebt er die Tür leicht auf und wirft einen Blick hinein.

Der große Raum wird mit zahlreichen Kerzen erhellt, die auf dem langen Esstisch aus Holz stehen.

Am Ende des Tisches sitzt eine Frau mit langen, silbernen Haaren, die ein schwarzes Abendkleid trägt und mit vielen Accessoires aus Silber geschmückt ist.

Das ist sie, Emily Halo, die Frau, die ihn einst gerettet hat.

„Wir werden erst in zwei Wochen anfangen, die Extermination der Menschheit auf Gegenden außerhalb von Logaly auszuweiten“, entscheidet Emily und die anderen Vampire am Tisch nicken zustimmend. Sie fährt fort:

„Wenn wir in dieser Großstadt gründlich arbeiten, haben wir später einen perfekten Stützpunkt, um gegen diese Krankheit anzukämpfen. Die Krankheit, die unseren Planeten schon vor langer Zeit befallen hat, die Krankheit Mensch.“

Wieder nicken einige der Vampire, während andere zu lachen oder zu kichern anfangen.

Ein großer, in schwarz gekleideter Curser mit schwarzem Hut klatscht sogar mehrfach in die Hände, dabei hat er ein gehässiges Grinsen aufgesetzt: „Das hast du wirklich schön gesagt, Emily.“

Leicht angenehm sieht sie ihn an: „Versuch mal, dir deine Kommentare zu verkneifen, Decay. Die Dinge laufen noch lange nicht so gut, wie ich sie gerne hätte. Wir haben tiefe Rückschläge erlitten. Passt beim Erfüllen eurer Missionen gefälligst darauf auf, nicht zu sterben.“

Für diese Aussage erntet Emily nur selbstsichere und ungläubige Blicke.

„Haltet euch einfach an den Plan“, weist sie die anderen mit einem tiefen Seufzer an: „Ihr kennt eure Aufgaben. Um die Manipulation der Medien kümmern sich...“

Sie wird mitten im Satz unterbrochen, denn Sense platzt herein, geht schnell auf Emily zu, und schenkt den anderen Vampiren am Tisch keine Beachtung.

Sofort steht Emily auf.

„Mama“, sagt Sense traurig und will seine Mutter umarmen, doch sie lässt es nicht zu.

„Schatz, ich habe dir doch schon so oft erklärt, dass du das nicht machen darfst“, flüstert sie ihm ins Ohr; „Sonst entziehe ich dir doch automatisch deine Fähigkeit. Und die sollst du ja behalten, denn nur wenn wir sie als Gruppe gemeinsam nutzen, sind wir ein gutes Team.“

Sie dreht ihren Kopf zu den Cursers und befiehlt: „Abtreten, wir verschieben diese Besprechung.“

Grummelnd ziehen die Vampire sich nacheinander zurück, bis Sense und Emily alleine im Esszimmer stehen.

„Aber Mama“, sagt Sense traurig; „Lure ist nicht da um mich zu umarmen. Nur du bist da.“

Emilys Miene verfinstert sich urplötzlich.

Sie nimmt einen Stuhl und weist Sense an, sich daraufzusetzen, was er erwartungsvoll tut.

„Mein lieber Sense, ich muss dir jetzt etwas sagen“, haucht Emily und streichelt ihm den Kopf.

Sein Herz schlägt schneller, irgendetwas schlechtes wird jetzt kommen, das fühlt er.

Er kennt Emily, sie ist wie seine Mutter, und wenn sie sich so verhält, dann ist etwas schlimmes passiert.

Mit der Hoffnung, sich vielleicht zu irren, schaut er ihr in die Augen.

Sie steht leicht gebeugt vor ihm, damit ihre Gesichter auf einer Höhe sind, und ihr glänzendes, silbernes Haar fällt ihr vorne über die Schultern.

Sanft nimmt sie seine Hand und hält sie fest.

Sense kann ihr Parfüm riechen, so nah steht sie bei ihm.

„Es tut mir wirklich leid“, sagt Emily leise; „Aber Lure und Raid... Sie sind beide gestorben.“

Der Junge würde am liebsten aufspringen und schreien, als er das hört, wird aber von Emily zurückgehalten.

„Nein!“, ruft er und seine roten Augen füllen sich mit Tränen.

Die Beiden waren immer wie gute Freunde, mehr noch, wie große Geschwister für ihn.

Es darf nicht sein, dass sie tot sind!

Bitterlich fängt er an zu weinen und legt sein Gesicht dabei auf Emilys Schulter.

Diese streichelt ihm sanft über den Nacken und versucht, ihn zu beruhigen.

Seine Hand lässt sie jedoch nicht los.

„Ist schon gut, ich verspreche, wir werden sie rächen.“

„JA!!!“, schreit Sense in Emilys Kleid.

„Sie wurden von bösen Menschen umgebracht“, flüstert sie; „Genau deswegen müssen wir diese widerlichen Kreaturen aufhalten. Sie zerstören alles, was wir besitzen. Sie nehmen uns... unsere Familie weg...“

Für einen kurzen Moment hält sie inne, dann drückt Sense sich etwas von ihr weg und steht auf.

Tränen laufen ihm über die Wangen, seine Beine zittern, doch sein Blick ist entschlossen:

„Ich will es selber machen, Mama, ich will selbst die Monster zur Strecke bringen, die uns unser Leben kaputtmachen!“

Seine kleine Hand ballt sich zu einer Faust.

Emily richtet sich auf und klopft ihm auf die Schulter:

„Das ist sehr mutig von dir, aber ich möchte nicht, dass du in Gefahr kommst. Menschen sind dämonisch, sie machen nicht einmal vor Kindern wie dir halt. Sie haben kein Gewissen.“

„Aber...“, schluchzt Sense.

„Wenn du sie rächen möchtest, dann hilf uns, den Aufenthaltsort der gegnerischen Vampire zu bestimmen. Dann werden wir zu ihnen gehen und Rache nehmen.“ Emily lächelt ihn an, worauf ihm ein bisschen wärmer wird.

„Okay“, sagt er und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

Er wird sie auf keinen Fall enttäuschen.

Niemand wird ihm den Schmerz, den er damals erleiden musste, als seine menschliche Familie gestorben ist, ein weiteres mal zufügen.

Sie hatten einen Autounfall, und nur Sense hat ihn überlebt.

Aber er hat eine neue Familie gefunden, und diese will er beschützen.

Seine Hand drückt die von Emily fester als zuvor, und diese gibt ihm einen leichten Kuss auf die Wange.

„Mama...“, sagt er leise; „Mama, backst du mir bitte wieder diese leckeren Kekse...?“

Er traut sich nicht, sie anzuschauen, als er danach fragt.

Ohne zu zögern antwortet Emily: „Aber mit Sicherheit, ich weiß doch, wie gerne du die isst. Ich mache dir sofort ganz viele. Mit Schokolade?“

Er möchte zu einer Antwort ansetzen, aber plötzlich vernimmt er eine störende Aura ganz in der Nähe. Sauer wendet Sense sich in Richtung Tür und ruft: „Wer ist da?!“

Emily greift plötzlich seine Schulter und sagt: „Gehe doch schon mal in die Küche, ich komme gleich nach.“ Etwas unsicher nickt Sense und verschwindet durch die andere Tür in die geräumige Küche der Villa.

Als er verschwunden ist, geht Emily zur Tür, und bei jedem ihrer Schritte ertönen Geräusche, die ihre Stöckelschuhe auf dem Boden verursachen.

Noch bevor sie dazu kommt, die Tür zu öffnen, macht die Person auf der anderen Seite sie auf.

Es ist der schwarzgekleidete Mann mit dem Hut, der kopfschüttelnd vor ihr steht.

„Decay“, stellt Emily gelangweilt fest; „Was willst du?“

Er schnaubt, doch er kommt gleich zur Sache: „Wie lange müssen wir diesen Bengel eigentlich noch mit Samthandschuhen anfassen?“

„Solange wie ich es sage!“, faucht sie ihn an, doch obwohl sie die Königin der Cursers und somit quasi seine Vorgesetzte ist, wirkt er ziemlich unbeeindruckt.

„Er ist doch nur eine Last, das musst du zugeben“, sagt er abfällig, woraufhin Emily ihn höhnisch ansieht: „Bilde dir nicht ein, das beurteilen zu können. Er erfüllt seine Aufträge weit effizienter als ihr.“

„Seine Aufträge bestehen doch nur daraus, seine Kraft einzusetzen und Vampire aufzuspüren!“, hält Decay dagegen.

Emily vergeht schnell die Lust an so einer Diskussion und sie kehrt ihm den Rücken zu.

„Wie lange willst du dieses Theater noch fortführen? Wie lange noch die besorgte Mutter spielen?“, fragt er sie mit ernster Stimme.

Eine Sekunde lang erwidert Emily überhaupt nichts, dann dreht sie sich blitzschnell um und verpasst Decay eine dermaßen starke Ohrfeige, dass er fast das Gleichgewicht verliert.

Erzürnt blickt sie ihn an: „Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst!“

Stumm schaut er an ihr vorbei.

Emily streicht ihr Kleid glatt. Dabei erklärt sie wütend:

„Jemand wie du wird nie die Liebe, die Mutter und Kind füreinander empfinden, verstehen können. Du bist doch nur eine emotionslose Tötungsmaschine, perfekt für meine Zwecke. Sense ist anders. Er hat seine Gefühle noch nicht verloren. Unsere perfekte Welt – die will ich auch für ihn. Und wehe irgendeiner von euch niederen Vampiren krümmt ihm ein Haar! Jeder, der das tut, wird von mir vernichtet, und da ist es mir egal, ob ich euch noch brauche oder nicht!“

Jetzt besieht sie sich seiner Wange, die einer deutlichen Rötung unterliegt.

Während sie das tut, entschuldigt Decay sich: „Verzeih mir bitte. Ich war wohl etwas respektlos. Ich verspreche natürlich, deine Entscheidungen nicht mehr in Frage zu stellen. Selbst dann nicht, wenn sie keinen Sinn für mich ergeben.“

„Solltest du auch nicht“, erwidert Emily flott und lässt von ihm ab:

„Wie der kleine schon sagte, wir sind eine Familie. Aber ich bin das Familienoberhaupt, und mein Wort ist Gesetz.“

Sie sieht ihn überlegen an.

„Schon gut, ich habe es verstanden“, entgegnet Decay mit einem genervten Unterton in der Stimme; „Ich werde mir jetzt ein paar Menschen zum Auslöschen suchen.“

Emily lächelt: „Das ist doch eine gute Idee. Viel besser, als mit mir Streit anzufangen.“

Schnellen Schrittes zieht er von dannen, und Emily geht nachdenklich in die Küche, wo Sense schon auf sie wartet.

„Worüber hast du mit Decay geredet?“, möchte er wissen.

Seine Fähigkeit hat ihm relativ schnell verraten, wer die Person hinter der Tür in Wirklichkeit ist. Emily zögert mit der Antwort, sie geht zum Kühlschrank und nimmt Eier, Milch, Sahne und verschiedene andere Sachen heraus.

„Es ist nicht wichtig gewesen“, sagt sie leise.

„Okay.“ Sense gibt sich damit zufrieden und schaut ihr gespannt beim Zubereiten des Teigs zu.

Stumm rührt sie darin herum, bis er dick genug ist, um ihn in die richtige Form für Plätzchen zu bringen.

Langsam wird die Stille Sense unangenehm, denn normalerweise spricht Emily sehr viel während sie etwas zu Essen zubereitet. Aber nun wirkt sie irgendwie verändert.

„Mama, es ist doch alles okay, oder?“, fragt er besorgt.

Sie geht zu ihm hin und fährt ihm durch das silberne Haar: „Aber natürlich. Mach dir doch keine Sorgen um mich. Eher sollte ich fragen, wie es dir geht. Immerhin bin ich deine Mutter.“

Freudig springt er auf und würde ihr am liebsten um den Hals fallen, doch er weiß, dass er es nicht tun darf: „Du bist immer so lieb zu mir, Mama! Danke dafür, besonders jetzt, nach dem Tod von Lure und Raid... Da... Da brauche ich das! Solange du bei mir bist, ist alles gut. Bitte versprich mir, versprich mir, dass du immer da sein wirst und nie weggehst oder ums Leben kommst!“

Das letzte Abendmahl

Das letzte Abendmahl
 

Der Tag ist gekommen.

Für Keisuke verging die Woche wie im Flug, jetzt ist Samstagnachmittag und während er auf die Ankunft der anderen wartet, sitzt er mit Shizuka auf dem Sofa und macht Hausaufgaben.

Miho trägt das von ihr gekochte Essen auf den Tisch: „Seid ihr nicht hungrig?“

Bei Keisuke kann sie sich so eine Frage eigentlich sparen, aber auch Shizuka schüttelt den Kopf. Sie scheint ziemlich nervös zu sein, und das obwohl sie beschlossen hat, nicht mit den anderen zu dieser Villa zu fahren.

Sie möchte sich nicht in so eine Gefahr bringen und als nützlich betrachtet sie sich auch nicht.

„Ich hoffe wenigstens, dass die anderen etwas essen“, sagt Miho munter und steckt sich eine kleine Spange ins Haar.

„Wann hatten die eigentlich vor, zu kommen?“, fragt Keisuke ungeduldig und sieht auf die Uhr.

Einen genaue Uhrzeit haben sie nämlich nicht ausgemacht.

Bei einer so schlechten Organisation wäre der junge Vampir überrascht, wenn alles glatt laufen würde.

„Du bist den ganzen Tag über schon so aufgeregt. Die kommen schon noch, wir haben doch erst fünf Uhr“, ermutigt seine Schwester ihn, doch er korrigiert stur: „Kurz nach fünf, meinst du.“

In dem Moment klingelt es an der Tür und Miho eilt in den Flur.

Kurz darauf kommt sie mit Yuri, dem Fuchsmädchen, im Schlepptau zurück.

„Hallo!“, begrüßt sie die beiden gut gelaunt und lässt sich neben sie aufs Sofa plumpsen:

„Ich wollte eigentlich schon früher kommen, aber meine Eltern haben mich mit Fragen gelöchert. Wenn die gewusst hätten, dass ich mit euch gehe und gegen die Cursers kämpfe, hätte ich direkt zu Hause bleiben können.“

Miho sieht sie äußerst skeptisch an, sagt aber nichts.

Natürlich kann man nicht erwarten, dass Eltern es gutheißen würden, wenn ihre Kinder losziehen und in das Hauptquartier einer Organisation von Mördern stürmen. Also war es wahrscheinlich das Beste, es ihnen nicht zu sagen.

„Ist sonst noch keiner da?“, fragt Yuri und sieht sich im Wohnzimmer um.

„Irgendwie scheinen sich alle zu verspäten“, seufzt Keisuke; „Nicht, dass sie unser Treffen vergessen haben.“

„So blöd sind die bestimmt nicht“, kichert Yuri, und Shizuka stimmt ihr zu: „Genau, die kommen schon noch. Zur Not können wir ja mal bei ihnen anrufen.“

Miho geht unerwartet zum Fenster und sieht nach draußen:

„Das wird nicht nötig sein, da fährt ein Auto vor.“

„Wer ist es?“, fragen die drei Jugendlichen fast gleichzeitig.

Miho zuckt mit den Schultern: „Ich kenne die Frau nicht. Aber sie steigt aus und kommt zu unserem Haus, oh, ich glaube sie wird gleich...“

Die Türklingel unterbricht sie mitten im Satz, und resignierend geht sie zur Haustür, um sie zu öffnen. Sie bittet die Unbekannte mit der Brille herein und bringt sie ins Wohnzimmer.

„Alexa!“, rufen Keisuke und Shizuka erstaunt, und Yuri murmelt: „Das ist doch die aus der Bibliothek...“

„Für euch immer noch 'Frau Lilienfeld'“, erwidert Alexa streng.

Ihre braunen Haare sind wie immer zu einem kurzen Zopf zusammengebunden, ihre Brille lässt sie gleich dreimal so klug aussehen, und sie trägt eine türkise, dünne Bluse kombiniert mit einer gewöhnlichen, blauen Jeans.

„Raito hat mir Ihre Adresse gegeben“, sagt sie kurz zu Miho und schaut sich um.

Kaum erblickt die die Bücher, die auf der obersten Etage eines Regals stehen, geht sie im schnellen Tempo dort hin und mustert sie interessiert.

Alle schauen sie an.

„Alexa...?“, fragt Miho vorsichtig, aber die Bibliothekarin hebt ihre Hand um Ruhe zu gebieten.

Plötzlich greift sie sich ein Buch aus dem Regal, geht zum Esstisch und setzt sich hin.

Kaum hat sie es aufgeschlagen, fängt sie an daraus zu lesen.

„Das Buch nehme ich mir mal, ja?“, sagt sie leise ohne den Blick davon abzuwenden.

Miho zuckt mit den Schultern.

„Was lesen Sie da?“, fragt Yuri neugierig, aber weil Alexa ihr nicht antwortet, übernimmt das Miho: „Das Buch heißt 'Gelähmt'. Nicht ganz so mein Geschmack...“

„Ich wollte es immer schon mal lesen...“, murmelt Alexa.

Es vergeht noch ungefähr eine Stunde, ehe es das nächste mal klingelt.

Diesmal sind es Epheral und Luna.

„Na endlich“, begrüßt Keisuke sie vorwurfsvoll, aber Yuri springt sofort auf und fragt:

„Wieso seid ihr zusammen hergekommen?“

Lunas Gesicht wird so rot wie ihr Haar, etwas betreten sieht sie zu Boden und stammelt irgendetwas, doch Epheral legt ihr die Hand auf die Schulter und sie verstummt.

„Wir sind uns zufällig begegnet und haben beschlossen, mit ihrem Auto zu fahren. Ihr wisst schon, Benzinkosten und so weiter“, grinst er.

Die Rothaarige sehnt sich offenbar nach einem Themawechsel und fragt in die Runde: „Und was macht ihr gerade so?“

„Warten“, gähnt Keisuke.

„Langweilig“, lächelt Luna und geht zum Fernseher, doch als sie versucht, ihn einzuschalten, passiert nichts.

„Das bringt nichts, der ist kaputt“, erklärt Miho ihr.

Irritiert dreht sich Luna zu ihr um: „Schon wieder? Warum fragst du gleich nicht Desmond, ob er ihn euch repariert? Der kann sowas ja. Vielleicht sogar für einen Billigtarif.“

„Wenn Desmond heute noch kommt“, schnaubt Keisuke sauer.

Luna überhört es einfach: „Habt ihr nicht ein Radio oder sowas?“

Miho überlegt kurz, dann geht sie zu einem der Schränke, kniet sich nieder und holt ein älteres elektronisches Radio heraus, staubt es schnell ab und stellt es auf den Esstisch, an dem Alexa immer noch in ihr Buch vertieft ist.

Epheral setzt sich gelangweilt neben sie und wartet, bis Miho an der Steckdose für Strom für das Radio gesorgt hat.

Dann dreht sie es auf und lässt ein paar Lieder spielen, wonach sie sich wieder vor das Fenster stellt und erwartungsvoll nach draußen sieht.

„Übrigens“ Luna wendet sich an Keisuke und Yuri; „Der Fuchs ist wieder ganz gesund. Ich konnte ihn gestern wieder in den Wald entlassen.“

„Echt?!“, ruft Yuri überglücklich, und Luna nickt grinsend.

„Was denn für ein Fuchs?“, hakt Epheral nach, aber sie winkt ab: „Nicht mehr wichtig.“

Miho dreht sich zu den anderen und sagt: „Es hat ein schwarzer Wagen vor unserer Tür gehalten.“

„Das muss Raito sein!“, ruft Keisuke glücklich und steht auf.

„Dann sind wir ja fast komplett“, lächelt Luna heiter und Shizuka nickt fleißig.

„Seid mal alle still!“, wirft Epheral plötzlich ernst ein.

Alle schauen ihn verwirrt an, mit Ausnahme von Alexa, die beim Lesen scheinbar keinerlei Reaktionen zeigt.

Er deutet auf das Radio und alle lauschen einer Nachrichtenmeldung, die in diesem Moment übertragen wird.

„Heute wurde um 12:07 Uhr wurde Desmond C., ein Wissenschaftler, tot in seinem Haus aufgefunden. Auf der Pistole, die als Tatwaffe gilt, wurden Fingerabdrücke seiner Lebensgefährtin Shou C. gefunden. Shou C., die vehement bestreitet den Mann umgebracht zu haben, wurde festgenommen und befindet sich derzeit in Untersuchungshaft. Das Tatmotiv ist vermutlich Eifersucht.“

Nach der Meldung kommt wieder Musik, es wird ein kitschiges Liebeslied gespielt.

Es klingelt ein paar Mal an der Tür, aber niemand steht auf und öffnet sie, bis Alexa sich schließlich erbarmt.

Raito und Samuel kommen ins Wohnzimmer und werden von einer Stimmung empfangen, die sich nicht beschreiben lässt.

Alle schweigen, bis Shizuka schließlich mit zitternder Stimme sagt: „Er... Er muss es nicht sein, wisst i-ihr, es gibt mehrere Leute, die D-Desmond heißen...“

Epheral schüttelt ernst den Kopf: „Und wieviele davon sind Wissenschaftler und haben einen Nachnamen, der mit 'C' anfängt? Wie viele davon sind mit einer Frau namens Shou zusammen?“

„Oh mein Gott!“, keucht Miho und fällt auf die Knie, wonach sie in lautstarkes Heulen verfällt und ihr Gesicht in den Händen vergräbt.

Luna, die ebenfalls zu Weinen anfängt, wird sehr schnell von Epheral in den Arm genommen, und schafft es, halbwegs ruhig zu bleiben.

Raito und Samuel starren immer noch verständnislos in die aufgelöste Runde, Shizuka hält ihre Hände verkrampft vor den Mund und ist käsebleich, während Yuri sich vor den erstarrten Keisuke beugt und ihn besorgt umarmt.

Nur Alexa liest unbeeindruckt von diesem Ereignis ihr Buch weiter.

Von der Umarmung spürt Keisuke leider nicht viel.

Desmond wurde getötet?

Auch wenn die beiden sich damals nicht so gut verstanden haben, immerhin hat der Wissenschaftler schon auf ihn geschossen, ihn Handschellen umgelegt und geplant, Experimente mit ihm durchzuführen, aber auch nach alldem hatten sie eine Art Freundschaft.

Und die geht so plötzlich vorbei? Beendet durch seinen Tod?

Epheral erklärt Raito und Samuel bedrückt, was passiert ist, doch sie geben sich beide nicht sonderlich berührt.

„Wollen die Cursers uns zuvorkommen?“, fragt Raito ernst und blickt Samuel an, doch er zuckt nur mit der Schulter: „Wer weiß, ob ein Vampir dafür verantwortlich ist...“

„Shou... Seine Freundin hat ihn... angeblich getötet“, sagt Miho weinend, und Keisuke löst sich aus seiner Starre:

„Raito, hast du nicht eines der Schattentiere bei ihm postiert? Du musst wissen, was dort geschehen ist!“

Er schüttelt betroffen mit dem Kopf: „Es tut mir leid, die Katze ist normalerweise für sein Haus verantwortlich, aber die habe ich dort wegbestellt um dir und Luna zu helfen, erinnerst du dich? Seitdem war das Haus ungeschützt.“

„Es ist deine Schuld!!!“, schreit Miho plötzlich und schlägt Raito gegen die Beine, doch dieser bleibt stumm und regungslos.

„Ist es nicht!“, ruft Yuri dazwischen; „Von uns ist niemand schuld, nur der Mörder ist schuld!“

Miho überhört es und hämmert weiter gegen Raitos Hose:

„Ihr habt alle keine Ahnung, wisst ihr überhaupt, was... was für ein Mensch Desmond ist?!“

Alle schauen sie stumm an.

Keisuke weiß, dass sie mit ihm befreundet war, aber dass sein Tod sie so zum Ausrasten bringt, hätte er nicht gedacht. Es tut ihm weh, seine Schwester so leiden zu sehen, aber er weiß nicht, was er sagen soll.

„Kein Mann... Jedes Mal, wenn ich mit einem Mann eine Freundschaft aufgebaut habe, ist sie zur Liebe geworden und kurz darauf zerbrochen! Kein Mann... Kein anderer Mann als Desmond hatte je eine normale, gute, freundschaftliche Beziehung zu mir!“, flüstert sie weinend und sackt zu Boden.

„Miho!“, rufen Keisuke und Luna gleichzeitig und stehen auf, doch gleichzeitig legt Alexa plötzlich ihr Buch beiseite und geht zu der am Boden liegenden hin.

Sie hilft ihr hoch und wendet sich an die anderen: „Die Gute ist nicht in der Verfassung, an einer so gefährlichen Mission teilzunehmen. Ich werde bei ihr bleiben und mich etwas um sie kümmern.“

Shizuka nickt: „Ja, ich bleibe auch hier... Ihr schafft es doch ohne uns?“

Samuel schnaubt: „Selbstverständlich schaffen wir es ohne euch, für wen haltet ihr euch schon?“

„Luna, wie geht es dir?“, fragt Epheral bekümmert, und Luna wischt sich die Tränen aus dem Gesicht: „Schon okay, ich werde mitkommen. Ich muss mitkommen.“

Epheral grinst und sieht zu Raito hinüber: „Wir sind auf jeden Fall dabei.“

Yuri ruft: „Ich auch! Nichts kann mich davon abhalten, für Vigor Rache zu nehmen. Und ich lasse Keisuke nicht alleine gehen!“

„Danke“, sagt Keisuke leise.

Wenigstens gibt sie den Mut nicht auf, denkt er.

Dann fällt ihm etwas ein: „Oh nein! Wenn Desmond nicht lebt, kann er nichts erfinden, was Verena zum Menschen machen könnte! Dann... können wir sie nicht zum Leben erwecken.“

„Dann erweckst du Desmond eben zuerst“, lächelt Shizuka, und Samuel ergänzt:

„Nur müssen wir dafür erst die Königin besiegen. Und das machen wir noch heute Abend!“

„Können wir auf dich zählen, Keisuke?“, fragt Raito und lächelt.

„J-ja“, antwortet er und fühlt sich etwas erleichtert.

„Ich würde vorschlagen, wir nehmen Raitos Auto“, wirft Samuel ein.

„Wartet...“, ertönt Mihos Stimme leise.

Sie sieht immer noch total fertig aus.

„In der Küche, im unteren Schrank neben der Spülmaschine, steht ein Karton... Da sind Waffen drin, die Desmond vor ein paar Tagen mitgebracht hat... Um gegen die Cursers zu kämpfen.“

Keisuke sieht sie fassungslos an: „Er hat uns Waffen gebracht?! Warum hast du mir das nicht vorher gesagt?“

Sie schweigt.

„Lass sie“, entgegnet Raito ernst; „Wahrscheinlich hat sie sich nur Sorgen um euch gemacht.“

Shizuka steht auf und geht in die Küche, ein paar Sekunden später kommt sie mit dem Karton zurück. Sie stellt ihn auf den Esstisch und fummelt etwas daran herum:

„Also, der ist noch zu. Hilft mir jemand, den aufzubekommen?“

Sofort hat sie Yuri neben sich stehen, die es mit ein bisschen Gewalt schafft, den Karton aufzureißen.

Keisuke kommt hinzu und sieht sich den Inhalt des Kartons an:

Zwei Sprühdosen, ein Elekroschocker sowie drei runde metallische Apparate, die er nicht einordnen kann.

„Was soll das sein?“, fragt Yuri skeptisch und hebt eine der Sprühdosen hoch; „Haarspray?“

„Oder Deo“, schlägt Keisuke schmunzelnd vor.

Samuel tritt an den Tisch heran und nimmt sich die andere Sprühdose. Er hält sie nah an sein Gesicht, riecht kurz daran und stellt sie dann hastig weg: „Nein, es ist Weihwasser. Weihwasser in Sprühdosen abgefüllt.“

„Wirklich?!“, ruft Keisuke erstaunt und geht einen Schritt zurück.

Wenn er sich an die Wunde von Raito erinnert, die durch eine mit Weihwasser versehene Silberkugel ausgelöst wurde, wird ihm klar, dass man sich als Vampir lieber davon fernhalten sollte.

Auch Verena hat ihm einst erzählt, dass es für Vampire wie Gift wirkt.

„Das ist wirklich gut“, grinst Epheral; „Wenn ihr das Weihwasser einen der Cursers direkt ins Gesicht sprüht, ist er Geschichte. Ihr könnt es aber auch auf eure Waffen anwenden, um sie effektiver zu machen.“

Raito seufzt.

Er hat ja schon Erfahrung damit gemacht.

„Für uns Vampire ist es zu gefährlich, Weihwasser mit uns herumzuschleppen. Ihr Menschen solltet es nehmen“, rät Samuel, woraufhin Yuri nickt und sich eine der Sprühdosen in die Hosentasche steckt.

„Ich brauche sowas nicht“, sagt Epheral locker und gibt seine Sprühdose an Luna, die immer noch eng neben ihm sitzt und sich lächelnd bedankt.

„Hmm, was haben wir noch...“, murmelt Samuel und besieht sich dem Elektroschocker;

„Das Ding könnte auch nützlich sein, aber man muss den Feind wohl aus nächster Nähe damit treffen...“

Yuri schnappt es ihn aus der Hand: „Ich werde es nehmen. Ich habe sonst nämlich noch keine richtige Waffe, so wie ihr.“

Samuel zuckt mit den Schultern: „Soll mir recht sein. Und dann noch diese drei Kugeln... Sind das Maschinen?“

„Ich habe so etwas noch nie gesehen“, flüstert Luna nachdenklich, und als sie Epheral fragend ansieht, schüttelt er auch nur ratlos mit dem Kopf.

Shizuka nimmt eine der metallischen Kugeln in die Hand und untersucht sie genauer:

„Hmmm, hier sind verschiedene Schalter...“

Sie spielt an dem Gerät herum bis plötzlich ein Klicken ertönt.

„Was ist das nur für ein komisches Ding?“, fragt Keisuke verständnislos.

Alexa, die sich bis jetzt um Miho gekümmert hat, meldet sich auch mal wieder zu Wort:

„Hat es ein digitales Display?“

Shizuka wirft einen Blick darauf und erwidert: „Ja, stimmt genau. Mit einer Zeitangabe, die rückwärts läuft.“

„Achso“, seufzt Alexa und winkt ab; „In dem Fall ist es eine Bombe.“

„WAS?!“, rufen Keisuke, Yuri, Shizuka, Samuel und Luna gleichzeitig.

Epheral springt hastig auf, reißt der panischen Shizuka die Bombe aus der Hand, rennt damit in die Küche und wirft sie aus dem Fenster.

Ein paar Sekunden später ertönt lautes Grollen einer starken Explosion aus dem Garten.

Unangenehmer Rauchgeruch steigt Keisuke in die Nase.

Der Vampirjäger kommt wieder ins Wohnzimmer und sagt erleichtert:

„Es ist alles heil geblieben und es brennt auch nicht oder so. Nur euer Garten ist nicht mehr vorzeigbar.“

Miho sieht aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen.

Raito lässt sich von all dem nicht beeindrucken und nimmt eine der beiden übrig geblienen Bomben in die Hand: „Zumindest wissen wir jetzt, was das ist. Nur schlecht, dass wir eine schon verschwendet haben.“

„Den Kindern sollten wir die aber nicht geben“, sagt Luna mit einem vorsichtigen Blick auf Shizuka, die immer noch bleich ist.

Epheral schüttelt den Kopf: „Ich habe selbst Granaten, sowas brauche ich nicht.“

Samuel steckt sich eine der Bomben seelenruhig in die Tasche: „Dann nehme ich eine. Raito, was ist mit dir?“

„Nein, danke“, antwortet dieser und legt die Bombe, die er noch in der Hand hält, auf den Tisch zurück; „Eine sollte hierbleiben, falls die Cursers einen Überraschungsangriff planen.“

„Na dann“, lächelt Alexa, während sie sich ihr Buch vom Esstisch holt; „Dann esst und trinkt noch etwas, dann könnt ihr losfahren. Ihr habt schon genug Zeit verloren, finde ich.“

„Essen... steht auf dem Tisch...“, sagt Miho, die immer noch bedrückt ist.

„Blut ist im Gefrierfach“, ergänzt Keisuke und holt sich sofort selbst etwas davon.

Nachdem alle genügend gespeist haben, bedankt Raito sich bei Miho für alles und schickt die fünf anderen Gefährten zu seinem Wagen.

Keisuke überprüft, ob er seinen silbernen Dolch auch nicht vergessen hat, und wird zum Abschied von Shizuka und Miho umarmt.

Aufgeregt geht er gemeinsam mit Yuri zum Wagen, der von Samuel aufgeschlossen wird, und nimmt hinten neben ihr Platz.

Relativ schnell kommen Luna und Epheral hinzu, die sich auch nebeneinander setzen.

Raito setzt sich vorne auf den Beifahrersitz.

Zum Glück ist das Auto groß genug, denkt Keisuke erleichtert und erinnert sich Lunas Mini.

Genervt wirft Samuel einen Blick auf die Uhr und stöhnt: „Bis wir da sind, wird es dunkel sein.“

„Macht doch nichts, wir haben Taschenlampen“, gähnt Epheral.

„Und wir Vampire können sowieso bei Dunkelheit sehen“, fügt Keisuke glücklich hinzu.

Yuri versetzt ihn von der Seite einen kleinen Stoß: „Versuch nicht, mich neidisch zu machen.“

Er sieht sie etwas verwirrt an: „Das wollte ich doch gar nicht. Hast du Angst oder so, wenn es dann dunkel ist?“ Leicht verstimmt sieht sie an ihm vorbei aus dem Fenster:

„Ich habe keine Angst. Naja, sagen wir, es wäre mir trotzdem lieber, wir wären bei Tag gegangen.“

Sturm auf die Villa

Sturm auf die Villa
 

Die Fahrt dauert fast zwei Stunden. Die Gruppe hat die Großstadt Logaly verlassen und fährt nun eine Landstraße empor, die einen Berg hoch führt.

Am Ende des Berges kann man vor dem Horizont der Nacht ein Gebäude entdecken, aus dessen Fenstern schwach Licht dringt.

Ungefähr 100 Meter vor diesem Haus hält Samuel an und dreht sich zu den anderen:

„Wie hättet ihr es gerne? Soll ich ihnen mit dem Auto direkt in das Haus fahren?“

„Dann machts 'bumm'!“, sagt Epheral scherzhaft, woraufhin Keisuke und Yuri zu kichern anfangen. Auch wenn er ziemlich aufgeregt ist, in der Gesellschaft von Raito, Yuri, Luna und Epheral muss er keine Angst haben, das weiß Keisuke. Er fühlt sich sicher und bereit, die Menschheit zu retten!

„Und wie kommen wir dann nach Hause?“, fragt Luna Samuel, doch Raito beschließt: „Wir fahren noch ein bisschen näher ran, dann steigen wir aus und gehen rein.“

„Aber... Doch nicht einfach so am Vordereingang?“, hakt Keisuke geschockt nach.

Raito schaut ihn mit einem beruhigenden Lächeln an: „Wir werden nicht wie Spione da rein gehen, unser Ziel ist es, alle Cursers dort zu eliminieren. Das ist nichts, was man so einfach mit einem heimlichen Besuch erledigen kann.“

„Verstehe...“, sagt Keisuke und wird nervös.

Samuel fährt weiter und parkt den Wagen zwanzig Meter vom Eingang der Villa weg hinter einem Baum.

Alle steigen aus und marschieren eng beieinander zu der Haustür, aber ehe sie sie erreichen, öffnet sie sich und zwei Personen treten heraus.

Ein dicker Mann mit kurzen, grauen Haaren, dessen rote Augen ihn ganz klar als Vampir identifizieren, sowie eine recht hübsche, blonde Frau, bei der dasselbe der Fall ist.

„Curser...“, flüstert Samuel gehässig, doch bevor er irgendetwas tun kann, hat Epheral schon sein Maschinengewehr gezückt und schießt wie verrückt auf die beiden Personen.

Der dicke Mann stellt sich vor die eher zierliche Frau und fängt alle Kugeln ab, doch sie durchdringen seinen Körper nicht, sondern prallen an ihm ab und fallen klimpernd herunter.

„Was soll das?“, knurrt Epheral und lädt nach, doch der Mann fängt an, ihn auszulachen:

„Das kannst du dir bei mir sparen!“, höhnt er mit tiefer Stimme; „Ich kann meiner Haut jeden beliebigen Härtegrad verleihen, ich bin unverwundbar! Mich dürft ihr Numb nennen!“

Die Frau, die er verdeckt, schaut hinter ihm hervor und sieht relativ gelangweilt die ungebetenen Gäste an. Über einer weißen Bluse trägt sie einen dunkelblauen Blazer mit einem modernen Rock in der gleichen Farbe: „Sowas. Was soll das denn werden? Ein Übernahmeversuch? Kindisch.“

„Wer bist du?!“, fährt Epheral sie an, doch sie erwidert nichts.

Keisuke kann sich nicht helfen, die Frau kommt ihm bekannt vor.

Er wendet sich an Raito: „Raito, ich habe diese Frau irgendwo schon mal gesehen!“

Samuel erschrickt: „Er hat recht! Ich kenne sie auch, und zwar aus dem Fernsehen. Du bist doch... Du bist Elena Height, aus dem Nachrichtenkanal!“

Nun fängt die Frau an, zu lachen.

„Die Wetterfee?“, fragt Luna verwirrt.

„Genau die bin ich“, gibt sie amüsiert zu; „Aber Elena Height nennen mich nur die Menschen. Mein Name unter den Cursers ist Misty.“

„Aha, und was kannst du tolles, Misty?“, fragt Samuel gelangweilt, während er sich seine Metallkrallen über die Hände streift.

Sie hebt die Hände und ruft: „Seht!“

Innerhalb von ein paar Sekunden fallen Regentropfen herab, die sich schnell zu einem starken Regenguss weiterentwickeln.

Keisuke wird pitschnass, aber das stört im Moment niemanden so richtig.

„Das ist alles?“, grinst Samuel; „Du kannst es regnen lassen. Sorry, meine Liebe, aber das reicht wohl nicht aus.“

Er stürzt sich mit seinen Krallen nach links und rechts ausgestreckt auf sie, der dicke Numb versucht zwar, sich vor sie zu stellen, um sie zu schützen, wird aber überraschend von einem großen, schattenartigen Stier aus der Bahn geworfen, den Raito vor ein paar Sekunden beschworen hat.

Samuels Krallen erwischen die Frau am linken Arm und reißen ihr dort die Kleidung auf, Blut tropft auf den Boden, sie weicht erschrocken zurück.

Numb erhebt sich kochend vor Wut und bekommt sofort ein paar Kugeln von Epheral zu spüren, die aber keine Wirkung bei ihm zeigen.

Luna spannt ihren Bogen und Raito macht sich schon daran, weitere Schattenwesen zu beschwören, um es mit dem scheinbar unverwundbaren Kerl aufzunehmen.

Samuel geht währenddessen wieder in Angriffsposition, Keisuke und Yuri stehen recht teilnahmslos hinter ihm, während Misty ein paar Schritte nach hinten geht um sich langsam weiter von ihm zu entfernen.

„Das kannst du vergessen!“, ruft Samuel und stürzt sich wieder auf sie, doch sie lacht nur.

Verwirrt bleibt er stehen: „Kleine, du hast keine Chance gegen mich. Warum lachst du?“

Sie sieht ihn überlegen an.

„Oh nein“, sagt Yuri plötzlich; „Er ist viel zu selbstsicher, das geht in die Hose, wenn wir nichts machen!“ Mit diesen Worten läuft sie seitlich weg und lässt Keisuke alleine einige Meter hinter Samuel stehen.

„Denkst du wirklich, ich könnte es nur regnen lassen?“, lacht sie; „Das ist ein Irrtum, ich kann das Wetter nach Belieben verändern! Und weil du ja nun klatschnass bist...“

Sie führt eine schnelle Handbewegung aus und ein gleißender Blitz, der aus dem Nichts zu kommen scheint, trifft Samuel noch ehe er irgendeine Reaktion zeigen kann.

Im wahrsten Sinne des Wortes geschockt fällt er auf den Rücken. Sein schwarzer Anzug hat zwar Feuer gefangen, doch dies wird durch den Regen schnell gelöscht und hinterlässt nicht mehr als eine Menge Rauch.

„Scheiße, Samuel!“, ruft Keisuke besorgt, denn in dem Regen kann er nicht erkennen, ob Samuel sich noch regen kann, geschweige denn, ob er diesen mörderischen Blitz überhaupt überlebt hat.

Ein Blick zu Raito, Luna und Epheral verrät ihm, dass diese immer noch mit dem Kampf gegen Numb beschäftigt sind, dem anscheinend einfach keine Attacke Schaden zufügen kann.

Misty tritt ein paar Meter näher an den am Boden liegenden Samuel und somit auch an Keisuke heran und hebt ihren Arm erneut: „Es ist kein schönes Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden, oder?“ Sie schaut Samuel höhnisch an, dann wendet sie sich an Keisuke: „Jetzt bist du dran.“

„Ganz bestimmt nicht!“, ruft Yuri, die plötzlich hinter Misty auftaucht und ihr mit ihrem Elektroschocker einen heftigen Stromschlag versetzt.

Japsend fällt Misty zu Boden, bevor sie Keisuke auch nur ein Haar krümmen konnte.

Im selben Moment hört es auf, zu regnen.

Yuri beugt sich kichernd über sie und sagt: „Kein schönes Gefühl, vom Blitz getroffen zu werden, oder?“ Ein weiteres Mal hat das Fuchsmädchen dem Vampir das Leben gerettet.

Erleichtert rennt Keisuke zu ihr hin, dann beugen sie sich über Samuel und prüfen, wie es um ihn steht.

Währenddessen zerstört Numb den von Raito beschworenen Stier. Er verschwimmt in der Luft, und Epheral, der langsam genervt ist, lädt sein Maschinengewehr erneut nach: „Leute, an dem Kerl verballere ich mir all meine Munition!“

„Was sollen wir sonst machen?“, fragt Luna verzweifelt, nachdem einer ihrer Pfeile hoffnungslos an Numbs steinharten Körper zu Bruch gegangen ist.

Da kommt ihr die rettende Idee, sie zieht ihre Ration Weihwasser aus ihrer Gürteltasche und sprüht schnell die Pfeilspitzen damit ein.

Numb wird misstrauisch und läuft auf sie zu, doch er ist zu langsam; Luna dreht sich rechtzeitig um und beschießt ihn mehrmals hintereinander mit den geweihten Pfeilen.

Wie alles andere vorher auch, prallen die Pfeile an ihm ab, nicht jedoch, ohne rote Spuren bei den Stellen zu hinterlassen, an denen sie ihn getroffen haben.

„Epheral, jetzt!“, ruft Luna, und der Vampirjäger richtet sein Gewehr auf den taumelnden Numb und schießt ihm die Kugeln exakt in die Stellen seines Körpers, die ihre Härte durch die entmachtende Kraft des Weihwassers verloren haben.

Numb spuckt Blut und geht einige Schritte rückwärts, mit letzter Kraft holt er eine metallische Bombe hervor und aktiviert sie.

„Was?! Sollte die nicht Samuel haben?!“, ruft Luna fassungslos.

Yuri und Keisuke stehen plötzlich neben ihr.

„Er muss sie Samuel vorhin weggenommen haben“, überlegt Keisuke laut.

„Wir sollten machen, das wir hier wegkommen!“, rät Yuri; „Samuel wurde schwer verletzt, wir haben ihn zum Auto zurückgeschickt!“

„Dazu haben wir keine Zeit!“, entgegnet Raito schnell und reißt Keisuke und Yuri zu Boden.

Epheral tut dasselbe mit Luna, nur um einiges vorsichtiger.

Weil Numb keine Kraft mehr dafür hatte, die Bombe nach der Aktivierung seinen Feinden entgegenzuschleudern, explodiert sie jetzt genau neben ihn mit einem ohrenbetäubenden Lärm.

Keisuke sieht eine Feuersbrunst über sich hinweg fegen und kann sich glücklich schätzen, am Boden zu liegen. Yuri hält sich zitternd die Fuchsohren zu.

Kaum hat die Detonation aufgehört, steht Raito auf zieht die beiden Jugendlichen mit nach oben.

Epheral hilft Luna hoch, und mit einer kleinen Verzögerung laufen alle fünf los in Richtung Eingang.

Der gesamte Bereich vor der Haustür ist verwüstet, fast kein Grashalm ist in einem Umkreis von zehn Metern übrig geblieben.

Auch in der vorderen Hauswand klafft ein riesiges Loch, das die Eingangshalle preisgibt.

Selbst da sind noch Zerstörungen vorzufinden.

All der Rauch, der von der Explosion verursacht wurde, erschwert nicht nur das Atmen, sondern auch die Sicht erheblich.

Man hört Schritte, offenbar handelt es sich um Verstärkung der Cursers.

„Bringt euch in Sicherheit! Die erledige ich!“, faucht Epheral und zückt sein Gewehr, bereit ins Ungewisse zu schießen, denn darauf warten, dass der Rauch sich verzieht, will er nicht.

Raito springt nach links zur Seite, während Luna und Yuri den Gang rechts entlang laufen.

Keisuke fühlt sich für einen Moment verloren, dann rennt er wahllos einfach geradeaus.

Ohne ein wirkliches Ziel läuft er weiter, bis er an eine Treppe kommt.

Weil das erste Stockwerk der Villa anscheinend nicht in Rauchwolken versunken ist, läuft er kurzerhand nach oben in den leeren Flur.

Er hockt sich hin und sieht die Treppe hinunter: So ein Mist, die anderen hat er aus den Augen verloren. Was soll er tun? Warten?

Wäre wohl das beste, denn der ganze Qualm vernebelt im Erdgeschoss immer noch die Sicht.

Es sind Schüsse zu hören, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Epherals Waffe stammen.

Darauf hoffend, dass Epheral mit den Gegnern fertig wird, lehnt Keisuke sich an die Wand im Flur und ruht sich kurz aus. Womöglich würde er gleich selbst kämpfen müssen.

Luna und Yuri laufen hustend in einen Raum, der sich als Küche herausstellt.

Die Tür knallen sie sofort hinter sich zu, doch dann bemerken sie den überraschten jungen Mann, der locker an der Spüle steht und gerade wohl das Geschirr abgewaschen hat.

„Wer bist du?“, fragt Yuri und mustert ihn.

Er ist vielleicht ein bisschen älter als sie, seine braunen Haare sind ordentlich nach hinten gekämmt und er trägt ein langes, dunkelgraues Shirt unter einer weißen Schürze.

Misstrauisch schaut er sie an, seine Augen rot wie Blut.

„Ihr seid wohl keine Gäste, oder?“, sagt er ruhig und zieht sich die Arbeitshandschuhe aus.

„Ist das ein Bediensteter?“, fragt Luna Yuri. Diese zuckt nur mit den Schultern und erwidert:

„Sieht fast so aus.“

Der junge Mann wird langsam sauer: „Was wollt ihr hier?“

Sehr stark sieht der Typ ja nicht aus, denkt Yuri.

Als die beiden nichts sagen, dreht der fremde Vampir sich blitzschnell um und holt ein Küchenmesser aus der Schublade neben der Spüle.

Noch ehe Luna einen Pfeil in den Bogen setzen kann, wirft er das Messer nach oben, doch anstatt wieder herunter zufallen, scheint es zu fliegen und auf Yuri zu zusteuern, die sich noch rechtzeitig unter den Tisch ducken kann, sodass das scharfe Messer in der Wand stecken bleibt.

„Was war das?!“, ruft Yuri erschrocken, und Luna zögert nicht länger.

Sie spannt ihren Bogen und feuert einen Pfeil auf den Curser ab.

Nur erreicht ihn dieser Pfeil nicht, obgleich sich der Vampir keinen Zentimeter bewegt, hält der Pfeil mitten in der Luft an und schwebt wie von Geisterhand geführt nach oben, wo er seinen Flug fortsetzt und um ein Haar die Lampe verfehlt.

Luna ist entsetzt: „Was ist das?! Telekinese?!“

„Er kann Dinge schweben lassen!“, erklärt Yuri, die immer noch unter dem Tisch sitzt.

„Nicht nur Dinge!“, lacht der Gegner und ein paar Sekunden später findet Luna sich an der Decke des Raumes wieder. Den Bogen hat sie zwar immer noch fest umklammert, doch ihre Pfeile fallen allesamt zu Boden und lassen die junge Frau recht hilflos zurück.

Als Yuri das sieht, springt sie von unter dem Tisch hervor und sieht besorgt nach oben:

„Luna! Komm runter, ich fange dich auf!“ Da Luna nicht viel größer als Yuri ist, zweifelt sie nicht daran, dass sie es schafft, aber Luna klagt: „Ich kann nicht runter! Irgendwie hänge ich hier oben fest!“

Der Fremde lächelt vergnügt. Obgleich er Yuri und Luna in ziemliche Schwierigkeiten gebracht hat, bewegte er sich bis jetzt fast überhaupt nicht.

„Yuri! Meine Pfeile, dort!“, ruft Luna panisch und deutet auf die Stelle des Fußbodens, an dem die Pfeile liegen. Wie von der Tarantel gestochen springt das Fuchsmädchen los.

Der Curser sagt zornig: „Denkst du, ich lasse dich sie holen?!“

Es folgt ein Stapel Teller, der Yuri zwingt sich auf den Boden zu werfen, um den lächerlichsten Tod aller Zeiten zu entgehen.

Glücklicherweise liegt sie genau neben den Pfeilen, sie streckt geschwind ihre Hand aus und wirft Luna einen zu.

Diese fängt ihn und setzt ihn in den Bogen, den sie daraufhin mit voller Kraft spannt.

Der Gegner hat seine Augen immer noch bei Yuri und bemerkt Lunas Vorhaben zu spät:

Sie schießt und erwischt ihn mittig über der Brust.

Noch ein paar Mal hustet der junge Mann, den der Pfeil tief im Körper steckt, bis in die blutende Wunde zu Boden sacken lässt.

Im selben Moment kracht auch Luna plötzlich wieder nach unten, mit einer unsanften Landung auf dem Tisch.

„Ist alles okay?!“, keucht Yuri und hilft ihr, sich aufzurichten.

Luna reibt sich den linken Oberarm: „Ich glaube, ich kriege einen blauen Fleck...“

„Wenn das alles ist“, seufzt Yuri erleichtert; „Der Typ hätte uns beinahe umgebracht.“

Aber nun ist er es, der gestorben ist.

Luna sieht ihn mitleidig an, nachdem sie wieder auf festem Boden steht.

Sie wollte ihn nicht töten, aber sie hatte doch keine Wahl.

Die beiden schauen sich in der nun ziemlich verwüsteten Küche etwas um und entdecken eine Tür, hinter der eine Wendeltreppe nach unten führt.

„Das muss der Keller der Villa sein...“, vermutet Yuri.

„Perfekt“, sagt Luna und ihr Mund bildet sich zum Lächeln: „Genau den habe ich gesucht.“
 

Die beiden Vampire, die Raito im Esszimmer bedrängten, liegen nun übereinander und werden keines Blickes mehr gewürdigt. Für die Schattenwesen sind diese Typen kein Problem gewesen. Nicht mal einen Kratzer hat Raito davongetragen.

Nun verschwendet er an dieses Pack keine Gedanken mehr, sondern geht weiter, bis er an eine Tür kommt, die in eine Art Salon führt.

Der Raum ist sehr groß, der weinrote Teppich und die Möbel aus Ebenholz lassen alles sehr edel wirken.

Auf dem magentafarbenen Sofa sitzt eine Frau mit roten Augen und langem, silberfarbenem Haar.

Ihr schwarzes Kleid ist so lang, dass man ihre Schuhe nicht sehen kann, doch Raito weiß genau, dass sie immer schwarze Stöckelschuhe trägt, die sie größer erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit ist.

„Wenn das nicht Raito ist“, lächelt Emily und erhebt sich. Ihre blutroten Augen fixieren ihn, während sie mit einer Unschuldsmiene die Arme ausbreitet:

„Was ist los? Möchtest du deine Mutter nicht umarmen?“
 

Miho hat sich in der Zwischenzeit wieder beruhigt, Alexa sitzt ruhig neben ihr auf dem Sofa und liest ein weiteres Buch aus dem Hause der Valleys, da sie „Gelähmt“ in einer unglaublich kurzen Zeitspanne ausgelesen hat.

Shizuka sitzt den beiden Frauen gegenüber; Ihre Beine hat sie so nah wie möglich an ihren Körper gezogen und macht einen sehr besorgten Eindruck.

„Können wir nichts tun, außer hier auf ihre Rückkehr zu warten...?“, flüstert sie.

Alexa sieht nicht auf, und doch erwidert sie: „Es war doch deine Entscheidung, hier zu bleiben. Wenn wir jetzt ihretwegen nervös sind, hilft ihnen das auch nicht...“

Miho stützt ihren Kopf auf ihrer rechten Hand, ihr Blick ist leer und sie macht den Eindruck, völlig in Gedanken versunken zu sein.

„Machst du dir Sorgen um Keisuke und Luna?“, fragt Shizuka, die Mihos geistesabwesende Augen nur schwierig ertragen kann; sie möchte sie aufmuntern:

„Raito und die anderen passen auf deinen Bruder auf, dem passiert nichts“, lächelt sie sie an;

„Und wenn die Königin besiegt ist, wird Keisuke sie alle wieder zum Leben erwecken. Richtig?“

Miho nickt kaum merklich.

Alexa legt seufzend ihr Buch beiseite: „Miho, würde es dir etwas ausmachen, mir etwas zu trinken zu holen?“

Stumm steht Miho auf und begibt sich in die Küche, doch kurz bevor sie sie betritt, dreht sie sich nochmal um und fragt: „Was möchtest du denn haben?“

„Ganz egal“, gibt Alexa zurück; „Was ihr eben da habt...“

Sie scheint nicht wirklich wählerisch zu sein.

In der Küche lässt Miho Wasser für einen Kaffee kochen, holt sich zwei Tassen aus dem Schrank, von denen eine für sich selbst und die andere für Frau Lilienfeld gedacht ist und stellt sie auf die Küchentheke.

Anschließend nimmt sie Zucker und Milch aus dem Kühlschrank und stellt sie daneben ab.

Wenn es Alexa egal ist, was sie trinkt, dann wird es sie auch nicht interessieren, wie Miho den Kaffee vorbereitet.

Irgendwie ist sie ihr dankbar dafür, dass sie sich damit nun ein wenig ablenken kann, denn als sie noch auf dem Sofa saß, funktionierte es nicht.

Ein Blick auf den Herd verrät Miho, dass sie ihn später abwischen sollte, und schon durchforstet sie die Küche wieder nach eventuellem Schmutz, nach Lebensmittelresten und ähnlichem.

Nachdem der Kaffee fertig ist, kehrt sie ins Wohnzimmer zurück, doch komischerweise ist Shizuka nicht mehr da und Alexa sitzt alleine lesend auf dem Sofa.

Miho stellt die Tassen auf den Tisch: „Wo ist Shizuka hin?“

Alexa sieht auf und räuspert sich: „Sie fährt zu Raito und den anderen.“

„Wie?!“, ruft Miho entsetzt; „Du meinst, zu der Villa am Riverside Hill?!“

„Ja, ich habe mit ihr gesprochen, woraufhin sie es sich in den Kopf gesetzt hat...“

„Aber wie will sie denn dahin kommen?“

Miho setzt sich wieder neben die Bibliothekarin.

„Ich habe ihr meinen Autoschlüssel gegeben... Sie meinte, sie sei schon mal gefahren.“

„Du hast was?! Weißt du, dass du dich damit strafbar machst?“

Alexa zuckt nur mit den Schultern; Ihr scheint nicht besonders viel daran zu liegen.

Leise sagt sie: „Im Moment gibt es weitaus wichtigere Dinge als das Gesetz...“

„Aber Shizuka... Wie ich sie kenne, wird sie ganz sicher einen Unfall bauen... Sie hatte doch noch nie Fahrstunden...“, jammert Miho besorgt.

Dann wird sie ernst: „Alexa, das Shizuka so plötzlich abhaut, sieht ihr nicht ähnlich. Worüber... hast du mit ihr gesprochen?“

Alexa lächelt sie an, sagt aber nichts.

Obgleich Miho sich in den Kopf setzt, sie zur Rede zu stellen, immerhin ist Shizuka wie eine kleine Schwester für sie, wird Alexa von der Türklingel gerettet.

„Shizuka?“, vermutet Miho und geht schnell zur Tür, um sie zu öffnen, aber es ist nicht Shizuka, sondern Stephan.

„Hallo“, sagt er und sie lässt ihn herein.

Das ist jetzt wirklich ein unpassender Zeitpunkt.

„Ich wollte mich entschuldigen, dafür, dass ich mich die ganze Woche nicht gemeldet habe. Ich schätze, ich war wohl doch etwas eifersüchtig auf Desmond...“

Dass Desmond tot ist, kann sie ihm jetzt nicht sagen, sie schafft es ja nicht einmal so, es auszusprechen.

Plötzlich steht Alexa im Flur und stellt sich vor: „Alexa Lilienfeld.“

Sie streckt ihm die Hand aus, und Stephan schüttelt sie bereitwillig: „Ich bin Stephan, Mihos Freund.“

Alexa wirft Miho einen Blick zu, der von ihr nicht wirklich gedeutet werden kann.

Sie entfernt sich mit den Worten: „Ich lasse euch dann mal alleine.“

„Warte, wo gehst du hin?“, fragt Miho sie.

Die Bibliothekarin seufzt: „Ich werde ein Taxi nach Hause nehmen. Das Buch leihe ich mir aus, ja?“

Auf Mihos ratloses Nicken flüstert sie: „Du hast ja jetzt Gesellschaft.“

Dann spaziert sie gemütlich auf die andere Straßenseite. Nervös schließt Miho die Tür.
 

„Was machst du da eigentlich?“, fragt Yuri Luna im Keller der Villa, nachdem sie ihr nun zehn Minuten zugesehen hat.

Luna steht direkt an den Gasleitungen, die an den Wänden des Kellers verlaufen, und befestigt irgendetwas daran: „Epheral hat mich gebeten, das zu machen...“

„Und was ist das?“ Das Fuchsmädchen ist ziemlich ungeduldig.

„Sprengstoff... Raito und Epheral wollen die Villa in die Luft jagen, wenn wir hier fertig sind“, murmelt Luna unbekümmert und bringt weitere Packungen des gefährlichen Zeugs, das Epheral ihr gegeben hat, an den Rohren an.

„Warum das?“, fragt Yuri erschrocken.

„Eigentlich um Beweise zu vernichten... Aber ich glaube, dass ist auch so eine Art Notlösung, falls wir es nicht gegen diese Emily schaffen...“

„Den Zünder hat Epheral, oder?“

Luna nickt: „Er will es selbst hochgehen lassen. Oh, ich habe eigentlich keine Ahnung davon. Wo ist nur Desmond, wenn man ihn braucht?“

Das Wort „tot“ liegt Yuri auf der Zunge, doch sie sagt nichts.

Genervt steht Luna auf: „Ich habe keine Lust mehr, so wie es jetzt ist, wird es schon richtig sein. Und wenn nicht, auch egal.“

„Dann gehen wir wieder hoch“, drängt Yuri, doch eine Stimme ertönt hinter ihnen:

„Das glaube ich nicht.“

Überrascht drehen die beiden sich um und sehen einen schwarzgekleideten Mann mit Hut.

Grinsend schlägt er die Kellertür hinter sich zu.
 

Emily gähnt herzhaft: „Ich sollte mich wohl bei dir bedanken, dass du hergekommen bist, erspart mir die Mühe, dich zu suchen. Aber wir müssen nicht kämpfen.“

Raito schweigt, er kennt seine Mutter nur zu gut.

„Wenn du jetzt kapitulierst und mir hilfst, dann verschone ich dein Leben. Das klingt doch gut, oder? Lass uns darüber reden.“

Eine Sekunde später explodiert hinter Raito mit lautem Krachen die Wand, und Epheral steigt aus der Staubwolke heraus, sein Gewehr direkt auf Emily gerichtet.

„Wir wählen den Weg ohne Worte!“, knurrt er.
 

Keisuke hat sich inzwischen in fast allen Schlafzimmern des ersten Stocks umgesehen, ohne etwas oder jemanden zu finden. Nur noch ein Raum fehlt ihm, nämlich der, ganz am Ende des Flurs.

Mit pochendem Herzen öffnet er die Holztür und tritt ein.

Diesmal ist jemand anwesend, ein kleiner Junge mit roten Augen und silbernem Haar.

Er sitzt auf dem Bett und starrt Keisuke an.

„Dich kenne ich doch...“, sagt Keisuke leise; „Du heißt Sense, oder? Damals... Du warst im Haus von Verena...“

Sense springt auf: „Du! Du bist dieser Verräter-Vampir! Wegen dir sind Lure und Raid tot!“

Zuerst versteht Keisuke nicht ganz, doch dann fangen die Augen des Kleinen an zu glühen:

„Ich werde sie rächen!“
 

„Komme ich ungelegen?“, fragt Stephan, als Miho ihn ins Wohnzimmer führt.

Er trägt einen recht dünnen grauen Stoffmantel über einem dunkelblauem Pullover.

„Nein, nein, du kommst nie ungelegen“, entgegnet sie, klingt aber selbst nicht besonders überzeugt.

„Warum bist du denn hergekommen?“, möchte sie wissen, und er kommt näher an sie heran:

„Um mich zu entschuldigen, dafür, dass ich dich habe die ganze Zeit warten lassen.“

Miho lächelt ihn an; Sie ist unglaublich froh darüber, dass er so etwas sagt.

„Naja, das hast du ja eben schon“, sagt sie zufrieden; „Gibt es noch einen Grund? Außer vielleicht, dass du... mich sehen wolltest?“

„Den gibt es“, flüstert Stephan entschlossen und nimmt Miho in den Arm:

„Damit ich das hier tun kann...“

Er drückt sie sanft an sich und fängt einen innigen, leidenschaftlichen Zungenkuss an, in dem Miho buchstäblich versinken könnte.

Verloren in all der Zärtlichkeit bemerkt sie aber nicht die gefährliche Pistole, die in Stephans hinterer Manteltasche lauert.

Vier Fronten

Vier Fronten
 

„Was ihr da macht, wird Emily gar nicht gefallen“, schmunzelt der Vampir, der Yuri und Luna einige Meter gegenüber steht. Er ist ziemlich groß, und sowohl sein Mantel, sein Hemd und seine Hose als auch sein Hut sind rabenschwarz.

Bewaffnet scheint er allerdings nicht zu sein.

„Wer ist dieser Kerl?“, murmelt Luna und sieht zu Yuri, doch diese ist beinahe erstarrt.

Mit weit aufgerissenen Augen starrt sie den Vampir an.

„Du bist doch...“, keucht sie leise, und der Mann grinst:

„Nun, meine Damen, ich denke, ihr kommt hier nicht mehr lebend heraus...“

Zornig blickt das Fuchsmädchen ihn an: „Du bist dieser Mistkerl! DU!!! DU hast meinen Freund auf dem Gewissen!“

Er lacht. Luna sieht erschrocken erst zum Vampir und dann zu Yuri: „Was? Das war er?“

„Ich erinnere mich an dich, Mädchen. Warst das nicht du damals in diesem Café? Du hast ein... recht auffälliges Merkmal, weißt du das?“ Hämisch grinst er, als er auf ihre Fuchsohren deutet.

Yuri funkelt ihn böse an.

„Ich stelle mich mal vor; Ich heiße Decay. Ich bin Emilys rechte Hand und habe hier bei den Cursers eine hohe Stellung.“

„Deine Stellung interessiert uns nicht die Bohne!“, sagt Luna sauer.

„Sollte sie aber“, erwidert er; „Es macht doch viel mehr her, von einem hochrangingen Vampir abgeschlachtet zu werden als von einem der Niederen...“

Grinsend hebt er seine Hände und betrachtet sie entzückt: „Wisst ihr, ich bin kein Fan vom schnellen Töten. Ich mag es, wenn meine Opfer vor dem Ende noch einmal richtig leiden, wenn sie fühlen, wie langsam aber sicher jede Zelle ihres Körpers abstirbt. Wenn sie qualvoll um den Tod betteln, wenn sie begreifen, dass es keine Hoffnung mehr für sie gibt...“

„Hör auf, Müll zu reden!“, faucht Yuri ihn an, und Luna fragt: „Welche Fähigkeit hast du?“

„Wieso sollte ich dir das sagen?“, schnaubt er, aber dann überlegt er es sich anders:

„Naja, es macht keinen Unterschied. Ihr sterbt, ob ihr es jetzt erfahrt oder nicht. Meine Haut erzeugt Gift, und wenn ich euch damit berühre, infiziere ich euch damit. Dann heißt es bald: 'Ciao Bella!'“

„So... hast du Vigor also getötet?“, flüstert Yuri und ihr kommen die Tränen bei den Gedanken an ihn.

„Wenn mein Gift in eine offene Wunde gelangt, ist es noch viel wirksamer!“, lacht Decay.

Luna hat genug: „Du musst uns berühren, damit du deine Kraft einsetzen kannst. In dem Fall wirst du einfach nicht an uns rankommen!“

Sie hebt ihren Bogen und setzt einen Pfeil ein, doch noch ehe sie dazu kommt, ihn zu spannen, sprintet Decay plötzlich mit nach vorne ausgestreckten Armen auf Luna zu.

Diese ist durch das Halten des Bogens nicht mehr beweglich genug, um auszuweichen, aber Yuri reagiert schnell genug und schubst sie ziemlich unsanft auf dem Boden, was jedoch zur Folge hat, dass Luna Decays Attacke entgeht, und dessen Hände gegen die Kellerwand knallen.

Genervt schüttelt er seine Hände ein paar mal und wendet sich dann Yuri zu:

„Willst du zuerst sterben?“

Das will sie definitv nicht, aber sie musste Luna retten. Decay steht direkt vor ihr.

Schnell geht sie einen Schritt zurück und greift nach der Sprühdose Weihwasser in ihrer Hosentasche. Doch noch bevor sie es gegen ihn einsetzen kann, schlägt er es ihr gekonnt aus der Hand, sodass die Dose zu Boden fällt.

Als Luna das sieht, erinnert sie sich daran, wie sie Numb besiegt haben, und zückt ihr eigenes Weihwasser, womit sie hastig die Spitzen ihrer Pfeile einsprüht.

Damit wird sie ihn sicher besiegen können.

Decays Hand nähert sich Yuris Gesicht, doch sie zückt den Elektroschocker und verpasst der Hand einen Stromschlag, der sich gewaschen hat.

Schmerzerfüllt schreit er auf und taumelt ein paar Schritte zurück, wobei ihm sein schwarzer Hut vom Kopf fällt und das dunkelgraue Haar darunter freilegt.

„Du Mistvieh!“, grunzt er, als er die Brandwunde auf seiner Hand untersucht.

Yuri findet das gar nicht nett, aber seine Unachtsamkeit kommt ihr gelegen; Sie macht einen großen Sprung auf ihn zu und versucht, ihn mit dem Elektroschocker einen Stromschlag direkt am Hals zu verpassen, der ihn endgültig außer Gefecht setzen sollte.

Aber Decays Reaktion ist trotz seiner Verletzung nicht schlecht: Mit Gewalt reißt er Yuri das Gerät aus der Hand und verpasst ihr damit einen brutalen Schlag auf den Kopf, der sie quietschend zu Boden gehen lässt, wo sie regungslos liegen bleibt.

Nun wendet er sich von ihr ab und geht auf die panische Luna zu, doch die hatte inzwischen genug Zeit, ihren Bogen perfekt auf Decay auszurichten: Sie schießt einen in Weihwasser getränkten Pfeil ab, der dem Vampir in der linken Schulter stecken bleibt.

Zuerst schreit er wie am Spieß, woraufhin Luna erleichtert den Bogen sinken lässt und zu Yuri blickt, die langsam wieder zu sich zu kommen scheint.

Decay stöhnt auf und tut dann etwas, mit dem niemand gerechnet hätte: Er packt den Pfeil, der in seinen Körper steckt, und zieht ihn mit aller Kraft heraus.

Unter Schmerzen gelingt es ihm, und eine Menge Blut läuft aus der tiefen Wunde.

Er zerbricht den Pfeil, wirft ihn weg und versucht zu lachen: „Dafür bin ich immer noch zu robust, Fräulein!“

Voller Aggressionen stürmt er auf Luna zu, die nur schockiert dasteht – bis die am Boden liegende Yuri ihr zuruft: „Luna, das Weihwasser! Sprüh es ihm ins Gesicht!“

Eilig hält sie die Sprühdose vor sich, doch zu spät.

Decay schlägt sie ihr einfach aus der Hand, und kaum liegt sie an Boden, tritt er mehrmals darauf, bis sie zerbricht und das restliche Weihwasser hinausläuft.

Er holt wieder zu einem Angriff aus, doch diesmal wirft Luna sich zu Boden und schnappt sich die andere Sprühdose, die Yuri vorhin fallen gelassen hat.

Anstatt sie selbst zu benutzen, wirft sie sie Yuri zu und springt sofort wieder auf.

„Dich kann ich auch so fertig machen!“, sagt sie selbstsicher und verpasst Decay mehrere Karateschläge, mit dessen Kraft er nicht gerechnet hat.

Ein Kinnhaken gefolgt von einem Tritt in den Bauch – Lunas Kampftechnik scheint perfekt.

Decay spuckt Blut und seine Gegnerin setzt zum finalen Angriff an, doch gerade diesen wehrt er ab, indem er sie rechtzeitig am Handgelenk festhält.

Lachend schnappt er sich auch noch ihr anderes Handgelenk und drückt sie an diesen an die Wand.

Gegen diese Stärke kann Luna nicht viel ausrichten.

Jetzt fängt er an, sie mit seinen Händen zu berühren: Zuerst an den Oberarmen, und dann am Hals. Luna schreit und versucht, ihn abzuschütteln, doch sie scheitert.

Dann spürt sie, wie die von ihm berührten Stellen anfangen zu schmerzen, und es wird von Sekunde zu Sekunde schlimmer.

Zufrieden lässt Decay sie los, woraufhin sie stumm zu Boden sackt – Das Gift zeigt Wirkung.

Lachend dreht der Vampir sich von ihr weg und geht nun auf Yuri zu, die sich in der Zwischenzeit hochgerappelt hat.

Die Sprühdose mit dem Weihwasser hält sie in der rechten Hand.

„Nimm das, du Arsch!“, ruft sie und versucht, ihm die Sprühdose an den Kopf zu schleudern, so, wie sie es damals bei Epheral getan hat.

Damals hat es funktioniert, doch Decay ist schneller und fängt die Dose geschickt ab.

Lachend donnert er sie in die nächste Ecke des Raumes.

„Wie dumm von dir“, grinst er; „Nun wird dich das gleiche Schicksal wie dein Freund ereilen...“

Yuri sieht ihn zornig an, doch sie bewegt sich nicht vom Fleck.

Sie setzt auch zu keinem Angriff an, sondern sie steht nur da und ballt ihre Hand zu einer Faust.

Scheinbar will sie es Decay einfach machen.

Mit einer schnellen Bewegung greift er nach ihrem Handgelenk, ähnlich, wie er es bei Luna getan hat, doch anders als bei ihr lässt er es eine Sekunde danach sofort wieder los.

Erschrocken blickt er auf seine schmerzende Hand: „Was... Was hat das zu bedeuten?“

Ein weiteres Mal versucht er, das Fuchsmädchen zu berühren, doch wieder zieht er seine Hand zurück und schreit auf.

„Was soll das...? Ich verstehe das nicht!“, hustet er.

Auf Yuris Gesicht bildet sich ein breites Grinsen: „Während Luna dich da vorne beschäftigt hat, habe ich meinen gesamten Körper mit dem Weihwasser eingesprüht. Was ich dir eben an den Kopf geworfen habe, war nichts mehr als eine leere Sprühdose.“

Entsetzt starrt Decay sie an.

Yuri springt ihn geschickt an und zwingt ihn in eine Umarmung.

„Ich habe mal gehört, man soll seine Feinde lieben. Und obwohl du Vigor getötet hast, hab ich dich so sehr lieb, dass ich dich direkt mal umarmen muss.“

Verzweifelt versucht Decay, sich aus der Umarmung zu befreien, doch das Weihwasser entzieht ihm die nötige Kraft dafür. Er zittert am ganzen Körper: „Mein... Mein Gift wird dich dahinraffen!“

Yuri schüttelt heftig den Kopf: „Wusstest du das nicht? Weihwasser negiert die Fähigkeiten von Vampiren. Mit anderen Worten, mein 'Gift' neutralisiert deins.“

Decays Körper erschlafft mit der Zeit, seine schmerzerfüllten Augen werden leer, und schließlich fällt er um, als Yuri ihn endlich loslässt.

„Ich glaube nicht, dass du jetzt immer noch so angetan vom langsamen Sterben bist“, sagt sie abschließend.

Dann läuft sie zu Luna, deren Augen geschlossen sind.

„Luna!“ Yuri drückt sie an sich und fühlt erleichtert, dass sie noch atmet.

„Schnell, wir müssen dich zu Raito bringen“, beschließt sie und hievt Luna unter Anstrengung auf ihren Rücken.

„Zum Glück bist du so klein, sonst könnte ich dich nicht tragen...“, seufzt Yuri.

„Wer ist hier klein...?“, murmelt Luna.
 

Miho und Stephan umarmen sich innig, doch während sie sich gegenseitig in die Augen blicken, erstirbt Stephans Lächeln recht schnell: „Hast du geweint?“

Er muss es an ihren rot unterlaufenen Augen sehen, denn Miho trägt gerade kein Make Up, das verlaufen könnte. Aber ihr Aussehen war ihr bis gerade sowieso nicht besonders wichtig.

„Ähm, ja...“, sagt sie bedrückt.

„Warum? Sag mir, was los ist.“

Nur will sie das nicht.

Erstens kann sie nicht darüber sprechen, dass ihr bester Freund ermordet wurde.

Und zweitens fürchtet sie, dass Stephan einfersüchtig werden könnte, wenn er weiß, dass sie wegen einem anderen Mann weint.

Die Sorge ihres Gegenübers jedoch zwingt sie beinahe dazu, ihm alles zu sagen.

Sie vertraut ihm doch... Sie muss Stephan vertrauen.

Und überhaupt, die Wahrheit ist doch immer der bessere Weg.

Sie drückt sich ein bisschen von ihm weg und atmet tief durch:

„Du erinnerst dich doch noch an Desmond, oder?“

„Ja, natürlich“, gibt er zurück.

„Er... Er ist gestorben...“

Besorgt will Stephan sie wieder in den Arm nehmen, doch sie winkt ab:

„Ist schon gut... Ich schaffe das schon... Aber ich hoffe, du denkst nichts falsches...“

„Was soll ich denn falsches denken?“, lächelt er sie an, was Miho ungemeine Erleichterung bringt.

Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange und flüstert: „Danke. Du bist toll.“

Dann geht sie in Richtung Flur: „Ich werde mir mal das Gesicht waschen. Setz dich doch solange. Und den Mantel kannst du auch ausziehen.“

Während Miho sich im Badezimmer das Gesicht wäscht, kann sie die Dankbarkeit ihres Herzens gegenüber Stephan regelrecht fühlen.

Wenn er nicht da wäre... Da möchte sie nicht einmal drüber nachdenken.

Sie stellt das Wasser aus und nimmt sich ein Handtuch, mit dem sie ihr Gesicht abtrocknet.

Dann merkt sie, dass im Türrahmen der von ihr offengelassenen Tür jemand steht.

Zuerst erschrocken stellt sie fest, dass es nur Stephan ist.

„Was ist los? Ich komme sofort“, sagt sie und hängt das Handtuch wieder auf.

„Sag mal Miho, du warst doch vor kurzem noch bei Desmond. Weißt du nicht, wer ihn getötet haben könnte?“

„Angeblich war es Shou, seine Freundin. Aber das glaube ich nicht, wir haben sie doch kennengelernt. Sie hat ihn auf jeden Fall geliebt, das... hat man gemerkt.“

Nervös macht sie der Gedanke, dass bald wahrscheinlich die Polizei vor ihrer Tür stehen wird und sie als Zeugin vor Gericht aussagen muss.

Wenn sie bedenkt, dass erst heute Abend die Meldung vom Mordfall im Radio kam, könnte sie schon morgen mittag von den Beamten befragt werden.

Moment mal, bei dem Gedanken an das Radio fällt Miho etwas auf:

„Stephan... Woher weißt du, dass er umgebracht wurde? Ich habe... dir doch nur gesagt, dass er gestorben ist.“

Er zieht seine Augenbrauen hoch, bleibt aber stumm.

Der Gedanke, dass etwas nicht stimmt, dass er davon gar nicht wissen kann, drängt sich ihr immer weiter auf.

„Stephan...“, flüstert sie; „Warum... hast du immer noch deinen Mantel an...?“

Plötzlich grinst er: „Du fragst, warum ich noch meinen Mantel trage? Ganz einfach – Meine Hosentaschen bieten nicht genug Platz für das hier!“

Und er zieht eine schwarze Pistole aus seiner Manteltasche und richtet sie auf Miho, die sich abrupt schreiend auf den Boden wirft.

Gerade noch rechtzeitig, denn er lässt mehrere Schüsse fallen, die jetzt aber nur den Spiegel in tausend Scherben zerspringen lassen.

Der jungen Frau bleibt der Atem weg. Das darf nicht sein...

So schnell sie kann kriecht sie unter seinen Beinen durch und rennt aus dem Badezimmer.

Wenn sie geradeaus läuft nach draußen, hat er noch genug Zeit, sie von hinten zu erschießen, also biegt sie links ab ins Wohnzimmer, wo sie die Tür zuknallt und abschließt.

Schwer atmend sackt sie neben dem Schrank zu Boden.

Was ist los mit Stephan? Er hat versucht, sie zu töten...

Nein, er versucht es sogar immer noch, er ist ganz sicher noch im Haus.

Die Angst treibt ihr Schweißperlen auf die Stirn.

Warum ausgerechnet er? Und warum ausgerechnet sie?

Warum... ausgerechnet jetzt?

„Miho... Miho, komm raus!“, hört sie Stephan rufen, auch wenn sich seine Stimme irgendwie anders anhört.

Ängstlich steht sie auf und rennt zum Telefon, doch als sie den Hörer abnimmt, bekommt sie nicht einmal ein Freizeichen: Das Telefon ist tot!

„Scheiße!“, ruft Miho und ihr kommen die Tränen; Stephan poltert mit unglaublicher Wucht mehrmals gegen die Tür.

Kurz bevor er sie aufbrechen kann, läuft sie panisch in die Küche und drückt ihren Körper dort an die Wand. Nicht ohne vorher noch die elektrische Bombe auf dem Esstisch mitzunehmen...

Mit lautem Krachen fliegt die Tür schließlich aus den Angeln und sogleich fallen ein paar Schüsse an alle möglichen Stellen des Raumes.

Mihos Herz pocht unaufhörlich, ihr ist schon schlecht davon.

„Miho, Schätzchen... Wo bist du? Komm raus, ich liebe dich doch...“, flötet der Bewaffnete höhnisch.

Sie ist kurz davor, aufzugeben, aber sie muss an ihre Brüder denken, die sie noch brauchen.

„Du liebst mich nicht! Du willst mich töten!“, ruft sie, nachdem sie all ihren Mut zusammengenommen hat.

Sofort hört sie Schritte in ihre Richtung.

Unter Todesangst rennt sie in die Ecke des Raumes, wo auch der Kühlschrank steht.

Stephan erscheint in der Küche und richtet seine Pistole wieder auf sie: „Richtig...“

„Warum?“, stöhnt sie; „Wir waren doch glücklich... So muss... es doch nicht enden...“

Grinsend starrt er sie an: „Oh, wie ich das liebe. Genau wie Desmond. Der hat auch ähnlichen Stuss gelabert, und vor allen Dingen hatte er genau den selben Blick wie du gerade.“

Desmond? Er spricht von Desmond?

„Oh mein Gott... Du hast ihn... also getötet...“

„Tja, war halt mein Auftrag“, sagt er schulterzuckend.

„Aber wie... Wegen dir wurde Shou unschuldig verhaftet... Wieso...?“

Sie versteht fast gar nichts mehr, aber klares Denken fällt ihr auch ziemlich schwer, wenn sie weiß, dass sie jeden Moment erschossen wird.

„Stephan...“

„Ich bin nicht Stephan“, lacht er.

Miho kann nicht glauben, was sie da hört, doch plötzlich beginnt sich Stephans gesamter Körper in tiefes Schwarz zu tauchen, seine Form verschwimmt und verzerrt sich, bis sie sich nach ein paar Sekunden wieder festigt und schließlich die Gestalt wieder Farben annimmt.

Vor ihr steht nicht mehr Stephan, sondern ein junger Mann mit langen, silberfarbenen Haaren und tiefroten Augen. Wegen dem makellos weißem Gesicht und den weiblichen Gesichtzügen würde Miho die Person vielleicht sogar für eine Frau halten, doch der Körperbau beweist das Gegenteil.

Er trägt jetzt auch andere Sachen, nämlich ein weißes Unterhemd und eine schwarze Shorts.

Aufgehört, sie mit der Waffe zu bedrohen, hat er trotz allem aber nicht.

Verblüfft von der Verwandlung und auch so nahe des Nervenzusammenbruchs wimmert Miho: „Wer... Wer bist du...?“

Ihr Gegenüber lacht höhnisch: „Ich heiße Cyst. Mitglied der Curser-Gesellschaft. Ich werde von der werten Königin als Spion eingesetzt. Nachdem dein Bruder ihr seine Kräfte übertragen hat, setzte sie mich darauf an, diese Familie zu beobachten.“

„Aber wieso...?“, keucht sie.

„Weil wir wussten, dass er mit Raito in Kontakt steht, den wir ja finden wollten. Und der beste Weg, mich in euren Alltag zu integrieren war es, sich als dein Liebhaber auszugeben. Mein Plan.“

„Aber was ist mit Stephan?!“

Cysts Finger kommt dem Abzug der Pistole immer näher: „Stephan gibt es gar nicht, du kleine Schlampe. Er ist nichts weiter als eine Illusion, die ich mir ausgedacht habe! Oder hast du jemals seinen Ausweis gesehen? Warst du jemals in seiner Wohnung? Jemals einen seiner Angehörigen kennengelernt? Ich hasse dumme Menschen wie dich, die einfach nie ihren Kopf anstrengen.“

Miho weiß: Jetzt oder nie.

So zügig es geht reißt sie die Tür des Kühlschranks auf, Cyst lässt ohrenbetäubende Schüsse fallen, doch die dringen nicht durch die Kühlschranktür, hinter der Miho in Deckung geht, sondern prallen aus nächster Nähe ab und fallen auf dem Boden.

Spontan greift sie in den Kühlschrank hinein, nimmt eine große Salatschüssel heraus und wirft sie über ihren „Schutzwall“.

„Au...“, hört sie eine Mädchenstimme rufen.

Verwirrt kommt sie hervor und sieht Shizuka, die auf dem Boden sitzt und sich den Kopf reibt, an dem die Schüssel sie wahrscheinlich erwischt hat.

Dessen Scherben liegen nun fast überall in der Küche verstreut.

„Shizuka!“, ruft Miho besorgt, doch die Angesprochene steht grinsend auf und offenbart ihre Pistole: „Reingefallen!“

Sie schießt, und obwohl Miho versucht, auszuweichen bekommt sie einen Streifschuss am rechten Oberarm ab.

Brennender Schmerz durchzuckt ihren Arm und sie hält die blutende Stelle verkrampft fest.

Noch ein bisschen besser gezielt und sie wäre tot gewesen, aber sie hat keine Zeit, sich darüber zu freuen, noch am Leben zu sein.

Schwer atmend läuft sie aus der Küche, durch das Wohnzimmer in den Flur.

Sie könnte jetzt die Haustür raus und fliehen, doch sie weiß, dass sie das nicht darf.

Anscheinend kann Cyst jede beliebige Gestalt annehmen.

Sie darf nicht zulassen, dass er sie auf diese Weise durcheinander bringt.

So hat er Desmond umgebracht, und so wird er noch mehr Menschen umbringen, wenn sie nichts dagegen tut.

Deswegen fummelt sie sich die elektrische Bombe aus der Hosentasche und versucht, sie einzuschalten. Doch wie funktioniert das? Shizuka hat es auch nur per Zufall geschafft, indem sie wahllos an den Schaltern herumgespielt hat.

„Bist du weggerannt?“, ruft Cyst aus dem Wohnzimmer, und Miho versucht panisch, ihn hinzuhalten, während sie das Gerät aktiviert: „Nein! Aber bitte sag mir, warum du Desmond umgebracht hast! Was hat er denn schon getan?“

„Hat mehrere Gründe. Er hat sich mit euch gegen uns Cursers verbündet, das ist Grund eins. Der zweite Grund ist, dass ich es nicht zulassen durfte, von dir versetzt zu werden. Wie soll ich euch denn ausspionieren, wenn du mir wegläufst, zu ihm?“

Miho weiß wovon er spricht, nämlich vom letzten Sonntag, an dem sie mit Desmond zu ihm nach Hause gefahren ist, um das Missverständnis aufzuklären.

„Ich bin euch an jenem Tag gefolgt“, haucht er; „Ich habe, nachdem ich dich aus dem Haus habe kommen sehen, deine Gestalt angenommen und mich an den Wissenschaftler rangemacht. Vor den Augen seiner Freundin! Das war köstlich!“

„Was?!“, schreit Miho entsetzt; „Das ist ja widerlich! Wie konntest du?!“

Dass er in ihrer Gestalt solche abstoßenden Dinge tut, würde sie am liebsten gar nicht glauben.

„Es ist spaßig“, korrigiert Cyst sie; „Sie ist dann heulend weggelaufen... Naja, ich habe mich kurz danach nochmal verwandelt und zwar in sie. Als seine Freundin habe ich ihn getötet.“

Das erklärt, warum Shous Fingerabdrücke auf der Mordwaffe waren.

Sie ist wirklich unschuldig!

„Das beste an der Sache war sein Gesichtsausdruck, als ich ihm in Shous Gestalt weißmachte, ich hätte dich ermordet. Natürlich eine glatte Lüge, aber ich wollte mich halt amüsieren. Doch nun wird es keine Lüge mehr sein...“

„Danke, dass du mich nicht dumm sterben lässt“, lächelt Miho; Sie hat es endlich geschafft, die Bombe zu aktivieren.

Sie steht schnell auf und sieht ins Wohnzimmer.

Fast schon hat sie erwartet, dass Cyst genau vor ihr steht.

Aber es ist Keisuke, ihr Bruder, der sie einen Meter vor ihr ratlos ansieht.

Miho zögert. Aber das darf sie nicht, die Zeit läuft, in ein paar Sekunden wird die Bombe hochgehen! Es ist nicht ihr Bruder, es ist dieses Ekel von Cyst...

Sie geht schnell ein paar Schritte zurück und will gerade die metallene Bombe auf ihn werfen, da sagt er: „Was machst du nur, Schwester?“

Daraufhin lässt Miho sie fallen.

Sie kann es nicht, sie kann einfach nicht.

Auch wenn sie weiß, dass es ein Mörder ist, der nur wie ihr Bruder aussieht.

Was immer sie tut, sie bringt es nicht über das Herz.

Keisuke, beziehungsweise Cyst fängt an, zu grinsen und hebt schnell seine Pistole, mit der er auf Miho schießt.

Zumindest versucht er es, aber zu ihrem Glück hat die Waffe keine Munition mehr.

Ohne zu zögern läuft Miho weiter in den Flur bis zur Treppe, und kurz danach explodiert die Bombe und reißt den ganzen Flur in Stücke.

Die Fensterscheiben zerspringen, der Holzboden fängt Feuer, die Wand zum Wohnzimmer reißt komplett ein und Cyst wird einige Meter zurückgeschleudert.

Anscheinend besaßen die Bomben alle unterschiedliche Sprengkräfte, zumindest ist die Verwüstung im Garten weitaus schlimmer ausgefallen als hier.

Der Flur und das Wohnzimmer wird in Rauch gehüllt, aus den Fenstern steigt ebenfalls Qualm auf. So würde bald die Feuerwehr kommen.

Miho rennt die Treppe hoch bis in ihr Zimmer und macht die Tür zu.

Abschließen kann sie nicht, weil sie den Schlüssel erst suchen müsste, aber sie geht schon mal hinter dem Stuhl an ihrem Nähtisch in Deckung.

Cyst ist ein Vampir, von der Druckwelle eben wird er sich schnell erholen.

Hoffentlich verschwindet er, wenn die Feuerwehr kommt...

Miho laufen Tränen über die Wangen.

Sie kann immer noch nicht fassen, was eben passiert ist.

Ein paar Minuten sitzt sie schluchzend nur da, ohne, dass etwas passiert.

Cyst ließ sich zwar nicht blicken, aber die Feuerwehr auch nicht...

Miho ist nervös, doch sie traut sich nicht aus ihrer Position heraus.

Dann hört sie plötzlich schnelle Schritte den Flur entlang.

Sie macht sich bereit, denn nach ein paar Sekunden geht die Tür auf und dieses Mal ist es Alexa, die ins Zimmer kommt.

„Miho, bist du hier?“, fragt sie und rückt ihre Brille zurecht.

Nochmal würde sie sich aber nicht von ihm täuschen lassen.

Sie springt auf, hebt mit aller Kraft den Stuhl hoch und rammt ihn gegen Alexa, die daraufhin zu Boden kracht und sich nicht mehr regt.

Schwer atmend stellt Miho den Stuhl wieder ab.

„Du blöder Mistkerl!“, schreit sie und will ihm gerade einen Tritt verpassen, doch sie hält plötzlich inne. Im Flur steht Cyst, in seiner normalen Vampirform.

Und vor ihr liegt Alexa auf den Boden.

Das heißt doch...

„Oh nein!“, kreischt Miho entgeistert und beugt sich über sie.

Glücklicherweise ist sie nicht tot, sondern nur bewusstlos.

„Sie hat ihre Handtasche hier vergessen“, grinst Cyst; „Ich habe sie als Stephan in Empfang genommen und nach oben geschickt. Es war ja so klar, was passieren würde.“

„Wie konntest du?!“

„Bedank dich lieber bei mir, dass ich unten das Feuer gelöscht habe“, blafft er sie an;

„Durch die Flammen konnte ich dir nicht so leicht folgen...“

Er kommt auf Miho zu, die reflexartig zurückweicht, immer weiter, bis sie mit dem Rücken am Fenster steht.

Cyst hebt selbstsicher seine Fäuste, da ihm für die Pistole ja die Munition ausgegangen ist, und schlägt mit aller Kraft zu.

Miho duckt sich mit den Händen über den Kopf weg, sodass seine Attacke die Fensterscheibe hinter ihr zerberstet.

Mit solcher Schlagkraft hat sie nicht gerechnet, und dass die Hand des Vampirs nun blutet ist auch nicht wirklich ein Trost.

Bevor er wieder ausholen kann, stützt Miho sich an der Fensterbank ab und springt panisch aus dem Fenster.

Obwohl sie im Blumenbeet des Vorgartens anstatt auf dem harten Pflasterstein landet, stöhnt sie vor Schmerz auf, als sie unsanft unten ankommt.

Alle ihre Glieder schmerzen, von der blutenden Wunde am rechten Oberarm ganz zu schweigen.

Cyst schaut aus dem Fenster und lacht: „Glaub nicht, dass du mir entkommst!“

Und sein Kopf verschwindet wieder von dort.

Miho weiß, dass er gerade runter kommt, also richtet sie sich so schnell sie kann auf, mit Erleichterung darüber, sich nichts gebrochen zu haben, und läuft zum Haus der Nachbarn, wo sie wie verrückt sturmklingelt.

Doch es regt sich nichts.

Cyst kommt gerade aus ihrem Haus und kann über Mihos Versuch, Hilfe zu holen, nur lachen: „Bei denen musst du es gar nicht erst probieren! Die, die da gewohnt haben, sind schon tot!“

Sie schreit auf, als sie das hört, zögert aber nicht und rennt mit Seitenstechen zum Haus daneben, wo sie wieder mehrere Male hintereinander klingelt, auf dass ihr jemand helfen möge.

Wieder nichts.

Cyst steht gelassen am Zaun und flötet: „Nee, die haben wir auch schon getötet.“

Hysterisch läuft Miho weiter; Das darf doch nicht wahr sein.

Es sind keine Fußgänger draußen unterwegs, es fahren keine Autos, die Telefonverbindung ist gekappt und die Nachbarn sind alle tot?!

Ihren nächsten erfolglosen Versuch kommentiert Cyst mit: „Kommen Sie doch bitte später wieder, wenn das Haus wieder von lebenden Menschen bewohnt wird.“

Er scheint ganz locker zu sein, obwohl sie auf offener Straße sind.

Systematisch scheinen die Cursers die Großstadt Logaly auszurotten, und zwar so gut organisiert, dass es nicht einmal auffällt.

Miho sackt vor der Haustür zusammen: Sie kann nicht mehr.

Nie in ihrem Leben musste sie soviel mitmachen.

Nie soviel leiden...

Sie hat das Gefühl, als würde alle Welt versuchen, sie wahnsinnig zu machen.

Warum nur? Was hat sie getan, um so ein Unrecht zu verdienen?

Cyst tritt mit einem arroganten Grinsen an sie heran:

„Na Kleine? Begreifst du es jetzt? Du hast keine Chance mehr. Es gibt kein Entkommen.“

Seine roten Augen leuchten durch die Dunkelheit.

„Mach dir keine Sorgen, deine Geschwister werden dir schon bald folgen...“

Ihre Geschwister? Keisuke? Sakito?

Zitternd steht Miho auf. Wenn sie jetzt aufgibt, werden die Cursers ihre Brüder töten.

Tränen laufen ihr über die Wangen: „Glaubst du, das lasse ich zu?!“

Sie verpasst Cyst eine schallende Ohrfeige, welche sein Gesicht teilweise gerötet zurücklässt.

„Auf einmal wehrst du dich?“ Er nagelt sie an die Haustür, doch sie tritt ihm gezielt in den Magen woraufhin er schmerzerfüllt aufkeucht.

„Du hast die ganze Zeit über mit meinen Gefühlen gespielt!“, schreit sie und mäht ihn nieder.

Dann springt sie auf ihn drauf: „Es gibt keinen Stephan!“

Sie schlägt ihm ins Gesicht: „Du hast Desmond getötet!!!“

Noch einmal: „Du hast Shous Leben zerstört!“

Er spuckt Blut.

Ein verheerender Tritt in die Gegend seines besten Stücks: „Du hast das Haus meiner Eltern verwüstet!“

Und ein Tritt ins Gesicht: „Du drohst damit, meine Brüder zu töten!!!“

Ob Cyst nun schon ohnmächtig ist oder nicht, interessiert sie nicht.

Sie schlägt immer weiter auf ihn ein: „Ich habe SO VIELE GRÜNDE, DICH ZU HASSEN!!!“

Er hustet und wimmert, doch sie schlägt ihm immer weiter ins Gesicht: „ICH HASSE DICH!!!“

Nie zuvor in ihrem Leben ist Miho so aus sich herausgekommen.

Sie kocht vor Wut. Dieses grausame Monster! Sie wird es aufhalten!

Diese eklige, mörderische Bestie!

Nun blutet er schon fast überall, sein Gesicht ist entstellt und er bewegt sich kein Stück mehr.

Für einen Moment ist Miho ganz starr: Sie hat ihn tatsächlich umgebracht.

Aber wie? Was hat sie denn getan?

Sie rutscht ein bisschen von Cyst weg und fasst sich an den Kopf.

Was gerade passiert ist, scheint ihr wie eine Art Traum.

War das wirklich sie? Hat sie das angerichtet? Sie kann es nicht glauben.

Ihre Erinnerung ist schwach, obgleich es vor nicht einmal einer Minute geschehen ist.

Panisch steht sie auf und rennt zu ihrem Haus zurück.

Sie knallt die beschädigte Haustür zu und rennt durch den zerstörten Flur nach oben.

Alexa ist verletzt, sie muss ihr helfen. Das ist jetzt am wichtigsten.

Und wegen Cyst... Sie wird schon wissen, was Miho machen sollte.

Sie läuft in ihr Schlafzimmer, doch Alexa liegt nicht mehr auf dem Boden: „Alexa?“

Auch im restlichen Teil des Hauses findet sie sie nicht. Ist sie nach Hause gegangen?

Geschockt findet Miho ihre Handtasche im Wohnzimmer neben dem Sofa.
 

Keisuke steht dem Kind gegenüber.

Sense, um einiges jünger als er, sieht ihn voller Zorn an. Seine Hände zittern, er hat weder eine Waffe, noch sieht er besonders gefährlich aus.

„Bist du hier, um mich auch zu töten?!“, faucht er ihn an und hebt kampfbereit seine Arme.

Keisuke richtet ihn seinen Dolch entgegen.

Um genau zu sein ist er genau dafür gekommen, sie haben gemeinsam die Villa gestürmt um die Cursers auszulöschen.

Aber Sense ist doch noch ein Kind... Nervös schaut er den Kleinen an.

Er kann doch nicht gegen ein kleines Kind kämpfen!

Doch das wird er müssen, er wird ihn töten müssen, um die Menschheit vor dem Ende zu retten.

Die Anderen kämpfen doch auch, da kann er sich doch nicht drücken?

Plötzlich hallen in seinem Kopf jene Worte wieder, die einst Verena äußerte: „Du darfst nie jemanden töten, Keisuke, ja?“

Damals hat er es ihr sozusagen versprochen, und er hat nicht vor, sie zu enttäuschen.

„Ich werde dich nicht töten...“, flüstert Keisuke; „Denn dann... Wüsste ich nicht, wie ich Verena in die Augen sehen sollte, wenn sie wieder am Leben ist...“

Seine Waffe lässt er ruhig sinken und steckt sie wieder ein.

„Aber dafür bist du doch hergekommen?“, fragt Sense mit einem aggressiven Unterton.

„Ich habe etwas sehr wichtiges vergessen, eine Abmachung, die ich mal getroffen habe...“, versucht Keisuke zu erklären, aber der Junge fällt ihm ins Wort: „Ich glaube dir nicht!“

Verwirrt schaut Keisuke ihn an.

„Ich glaube dir nicht!“, wiederholt Sense; „Du bist ein Lügner, du willst mich täuschen! In Wirklichkeit willst du mich hinters Licht führen, aber ich falle nicht auf dich herein!“

Man kann ihm die Angst zwar ansehen, doch sie hält ihn nicht davon ab, auf den erstarrten Keisuke zuzulaufen und ihn springend zu Boden zu reißen.

„W-warte!“, ruft Keisuke hektisch, und versucht, Sense sanft wegzuschieben, doch der lässt das nicht mit sich machen und drückt den Älteren an der Brust zu Boden.

Der unbequeme Fußboden presst sich an Keisukes Rücken.

Sense ist nicht besonders stark, bemerkt Keisuke; theoretisch könnte er ihn mit Gewalt von sich runterwerfen, aber wenn er das macht... Dann wird er gezwungen sein, gegen ihn zu kämpfen, denn dann wird er Sense nur bestätigen.

„Bitte hör mir zu“, sagt Keisuke. Obwohl er versucht, so ruhig wie möglich zu klingen, macht sein schneller Herzschlag ihm da einen Strich durch die Rechnung.

„Du willst meine Familie auslöschen...“, knurrt Sense zornig und legt seine Hände um Keisukes Hals.

„Warte...“, fleht Keisuke panisch, wird aber nur wieder angeschrien: „Wieso sollte ich?! Du hast Lure und Raid umgebracht!“

„Habe ich nicht“, entgegnet er und schüttelt heftig den Kopf.

„Aber deine Freunde waren es! Sie haben sie mir einfach weggenommen!“

Seine Hände liegen immernoch um Keisukes Hals, doch noch erwürgt er ihn nicht.

„Weißt du, was deine Freunde alles gemacht haben?!“, keucht Keisuke; „Sie haben versucht, mich umzubringen, sie haben Personen getötet, die mir sehr nahestanden! Die euch nicht mal etwas getan haben! Und Emily...“

Als er ihren Namen ausspricht, fängt Sense plötzlich an, mit seinen Fingern gegen Keisukes Kehle zu drücken: „Wehe du beleidigst Mama!!!“

Keisuke bekommt keine Luft mehr, er muss sich wehren, wenn er es nicht tut, wird er getötet!

Langsam drückt er mit seinen Händen Senses Finger von seinem schmerzenden Hals weg, schwer atmend schaut er ihm in die Augen: „Deine 'Mama' hat meine große Schwester entführen lassen. Die euch nie irgendetwas getan hat. Ich frage dich, Sense, wer will hier wessen Familie auslöschen?“

Mit einem Mal zieht Sense seine Hände zurück und schaut den unter ihm liegenden Keisuke erschrocken für ein paar Sekunden an.

Dann fasst er sich mit den Händen an den Kopf und ruft zitternd: „Nein! Nein, ich kann euch nicht trauen! Was habt ihr schon für mich gemacht, ich muss Emily glauben, Emily kann ich vertrauen... Sie war immer für mich da!“

Keisuke will die Gelegenheit nutzen, um sich aufzurichten, wird jedoch schneller als er erwartet hätte wieder von Sense auf den Boden gedrückt.

Ich darf mich nicht wehren..., denkt Keisuke im Stillen.

Verena...

Senses Körper bebt, er greift in Hosentasche des anderen Vampirs und zieht den silbernen Dolch heraus. Interessiert sieht er ihn sich an.

Das geht zu weit, denkt Keisuke, und als Sense mit dem Messer ausholt reagiert er schnell und hält dessen Arm mit beiden Händen fest.

Die gefährliche Waffe schwebt nicht mehr als ein paar Zentimeter über Keisukes Gesicht, doch er schafft es, seinen Arm mit aller Kraft zurückzudrücken und ihm den Dolch wieder zu entreißen.

„Der gehört mir!“, sagt Keisuke sauer.

Nun hat er sich doch gewehrt, aber was hätte er sonst tun sollen?

Sich umbringen zu lassen, das wäre auch nicht das gewesen, was Verena gewollt hätte.

Vor allem nicht mit der Waffe, die er von Raito bekommen hat.

Der Blick von Sense offenbart Verachtung und Hass, aber auch Keisuke wird immer wütender.

Am liebsten würde er diesem dummen Balg eine reinhauen, aber weiß, dass das unklug wäre.

„Können wir das Kämpfen nicht sein lassen?“, fragt er, nachdem er es halbwegs geschafft hat, sich zu beruhigen.

„Wenn du dein Messer hinlegst“, antwortet Sense zähneknirschend.

Keisuke willigt ein und legt es langsam vor sich auf den Boden.

Nicht mal eine Sekunde nachdem er wieder ganz aufrecht steht stürmt der Kleine wieder auf ihn zu und schlägt ihn mit seiner Faust ins Gesicht.

Die Wucht des Hiebes lässt Keisuke aufstöhnen, doch das reicht, er würde nun nicht länger zögern.

Geschwind duckt er sich, schnappt sich den Dolch und richtet ihn Sense entgegen:

„Ich wollte dir nichts tun, aber du lässt mir keine Wahl!“, ruft er verzweifelt und schwingt seine Waffe über Senses Oberkörper, doch scheinbar ist er nicht getroffen worden.

Trotzdem weicht er schreiend zurück.

Schwer atmend reibt Keisuke sich die schmerzende Wange.
 

Skeptisch betrachtet Emily Halo das in der Wand klaffende Loch, das Epheral gerade verursacht hat: „So wie es aussieht, müssen wir uns wieder ein neues Hauptquartier suchen... Diese Villa ist nicht mehr groß zu gebrauchen.“

Der Vampirjäger lacht: „Dazu werdet ihr nicht mehr kommen! Ich habe alle Vampire im Erdgeschoss ausgelöscht!“

Entsetzt schaut Emily ihn an: „WAS?! Du?! Als wäre ein Mensch dazu in der Lage!“

Epheral schnaubt, er würde ihr jetzt zeigen, dass er dazu in der Lage ist.

Schnell zückt er eine Handgranate und schleudert sie in den hinteren Teil des Raumes, wo sie explodiert, sodass Emily durch die Druckwelle nach vorne geschleudert wird.

Raito faltet seine Hände und schließt kurz die Augen.

Ein gewaltiger, schattenartiger Löwe erscheint hinter ihm und stürzt sich in die Rauchschwaden, die Emilys Körper verdecken.

Doch kaum hat sich der Nebel gelichtet, fliegt der Löwe brüllend an die Wand, woraufhin die ganze Erde kurz bebt und der Kronleuchter klirrend herunterfällt.

Vor ihnen steht eine sehr zornige Emily, deren Kleid schon einmal bessere Zeiten gesehen hat.

„Ihr wagt es...“

Epheral lässt sie nicht aussprechen sondern zückt gleich sein Gewehr, mit dem er auf Emily schließt, doch die Kugel prallt an ihrem Kleid ab und macht kehrt: Sie erwischt den Vampirjäger im unteren Bauchbereich.

Keuchend fällt dieser zu Boden.

„Eine meiner Lieblingsfähigkeiten“, lächelt Emily; „Ich kann alle Arten von Projektilen, Kugeln oder Pfeilen abwehren und zurücklenken. Nur bei größeren Objekten, wie einer Handgranate, funkitoniert es leider nicht.“

Raito will seine Hände zum zweiten Mal falten, doch Emily beschwört schnell dunkle Bänder, die seine Arme fesseln.

Überlegen schaut sie ihn an: „Du bist schwach geworden, Raito.“

Dann wird sie von einer großen, schwarzen Pranke zu Boden geworfen:

Sie hat den Löwen vergessen.

Weil Emilys Konzentration in dem Moment, in dem sie stürzt, nachlässt, lösen sich die Bänder um Raitos Arme und verschwinden.

Das brüllende Ungetüm wirft sich auf die Königin der Cursers und versucht, sie auseinander zu nehmen, aber sie hebt das Tier einfach hoch und schleudert es weg.

Obwohl sie aussieht wie eine zierliche Frau, hat Emily Körperkräfte wie ein Riese.

Hechelnd richtet sie sich wieder auf.

Plötzlich wird Raito zu Boden gezogen und zwei Sekunden später explodiert vor Emilys Füßen eine Handgranate, deren Detonation den gesamten Raum für einen Moment orangerot erleuchtet und die Vampirfrau meterweit zurückwirft.

Als Raito bemerkt, von wem er zurückgezogen wurde, lächelt er anerkennend: Epheral grinst ihn an und offenbart unter seiner Jacke eine kugelsichere Weste.

Er wurde also gar nicht getroffen, sondern spielte es nur vor, um der Gegnerin eine Falle stellen zu können.

Als der Rauch sich ein wenig verzieht, stehen die beiden auf und sehen, dass Emily stark blutend an der gegenüberliegenden Wand gelehnt steht und das Duo mit einem verächtlichen Blick mustert.

„Ihr kleinen Bastarde...“, krächzt sie und drückt sich von der Wand ab.

Ihr einst schönes, schwarzes Abendkleid ist nun nicht mehr als ein verkohlter Fetzen Stoff, ihre langen, silbernen Haare sind durcheinander und teilweise versengt, und wo ihre Schuhe hin sind, kann auch niemand so genau sagen.

Dazu kommt, dass sie am gesamten Körper blutende Verletzungen sowie Brandwunden aufweist.

Es scheint sogar, als würde noch leichter Rauch von ihr aufsteigen.

„Ich muss zugeben, ihr Vampire seid wirklich widerstandsfähig“, gibt Epheral zu; „Ein Mensch wäre an deiner Stelle schon dreimal tot...“

Emily gibt sofort kontra: „Weil ihr Menschen schwache Kakerlaken seid! Ihr seid abstoßend!“

„Du wirst es wohl nie einsehen...“, sagt Raito beinahe enttäuscht und tritt vor seinen Mitstreiter.

Als er seine Hände faltet und den Kopf senkt, ertönt plötzlich ein Schrei von oben, der dazu führt, dass Raito seine Beschwörung unterbricht und ebenso wie Epheral und Emily an die Zimmerdecke schaut.

Emilys Blick verändert sich von einer Sekunde auf die andere: Schaute sie eben noch verächtlich und hasserfüllt, sind ihre Augen nun erfüllt von Angst und Sorge.

„Nein, Sense!!“, ruft sie schrill und wendet ihren Feinden den Rücken zu, um durch die Tür in den Flur zu hasten und von dort aus die Treppe hoch.

Ohne zu zögern nehmen Raito und Epheral die Verfolgung auf, denn sie haben nicht vor, sie entkommen zu lassen.

Trotz ihres stark in Mitleidenschaft gezogenen Körpers ist Emily schnell genug, um vor den beiden Männern im Obergeschoss anzukommen.

Schwer atmend rennt sie geradeaus, Senses Zimmer liegt hinter der letzten Tür des Ganges.

Ihre Füße schmerzen bei jedem Schritt, doch sie hat keine Zeit, sich darum zu kümmern.

Nicht, wenn Sense in Gefahr ist.

Sie spurtet durch die offene Holztür und bekommt erstmal einen Schreck, als sie Keisuke erblickt, der vielleicht einen Meter vor Sense mit einem Dolch in der Hand steht.

„NEIN!!!“, schreit sie und hebt blitzschnell ihre Hand, ihre Augen gerichtet auf den Vampir, der gerade scheinbar versucht, ihr ihr allerletztes Familienmitglied wegzunehmen.

Ich will sie retten

Ich will sie retten
 

Keisuke wird nicht mal eine Sekunde Zeit zum reagieren gegeben. Dunkle Bänder erscheinen aus dem Nichts und wickeln sich in rasender Geschwindigkeit erst um seine Arme, was dazu führt, dass er ruckartig seinen Dolch fallen lässt, dann um seine Beine, sodass er nicht fliehen kann, und schließlich um seinen Hals und seinen Mund.

Emily läuft schnell zu Sense hinüber und stellt sich schützend vor ihn.

Als Raito und Epheral in den Raum stürmen, faucht sie: „Wenn es einer von euch wagt, meinem Sohn etwas anzutun, wird dieser Junge dort sterben!“

Sie nickt zu Keisuke herüber, der zur Stummheit gezwungen voller Verzweiflung die beiden Männer ansieht. Jeden Moment könnte sie die Bänder zuziehen, dann würde er definitiv ersticken.

„Dein Sohn?“ Raito tritt vor: „Dieser Junge ist nicht dein Sohn. Er ist nur ein weiteres Opfer deiner Manipulation.“

„Sprich nicht so mit Mama!“, ruft Sense sauer.

Keisuke macht ein paar wortlose Geräusche, um Raito darauf aufmerksam zu machen, dass Emily ihn immer noch als Geisel hält.

Obwohl die Frau von mehr oder minder stark blutenden Wunden übersät ist, setzt sie ein höhnisches Lächeln auf, denn offensichtlich sieht sie sich selbst gerade im Vorteil.

Während Raito angestrengt nachdenkt, lässt Epheral einen Seufzer hören und richtet plötzlich sein Gewehr gegen Emily, die ihn entsetzt anstarrt.

„Mir ist es doch sowas von egal, wenn ein Vampir draufgeht“, sagt er schulterzuckend.

Nein, das kann er nicht ernst meinen, denkt Keisuke.

Wenn doch, wird er nun jeden Moment von Emily...

Raito reagiert schnell und lenkt das Gewehr mit einem geschickten Tritt in eine andere Richtung, sodass die Kugel, die für Emily gedacht war, ein Loch in dem hölzernen Nachttisch neben dem Bett hinterlässt.

„Was soll das?!“, beschwert sich Epheral, und Raito funkelt ihn zornig an: „Lass das.“

Emily fängt an, zu lachen und führt Sense neben sich langsam an den Männern vorbei aus den Raum: „Bei der kleinsten Bewegung ist er tot. Also schön ruhig stehen bleiben...“

Keisuke steht nach wie vor angewurzelt da und fürchtet um sein Leben.

„Verdammt, sie soll uns nicht entkommen“, faucht Epheral.

Raito geht schnellen Schrittes auf Keisuke zu und durchtrennt die finsteren Bänder mit dem am Boden liegenden Dolch.

Kaum haben sie sich in Luft aufgelöst, fällt Keisuke keuchend nach vorne, aber glücklicherweise fängt Raito ihn rechtzeitig auf.

„Es tut mir leid...“, sagt Keisuke leise; „Wenn ich nicht gewesen wäre, hättet ihr Emily nun töten können.

Ein Lächeln bildet sich auf Raitos Gesicht ab. Er stellt den jungen Vampir aufrecht hin und drückt ihm sein silbernes Messer in die Hand: „Warte hier.“

Er winkt Epheral zu und erklärt: „Emily müsste sich gerade mit ein paar meiner Gefährten herumschlagen, wir haben also noch Zeit.“

Mit „Gefährten“ meint er wahrscheinlich die Schattentiere, überlegt Keisuke und setzt sich aufs Bett.

Epheral nickt und eilt Emily hinterher, Raito wirft Keisuke noch einen Blick zu und folgt dann ebenfalls. Sie laufen durch den Gang, die Treppe herunter, bis sie in den Ruinen der Eingangshalle, in der sich der Rauch mittlerweile verzogen hat, Emily sehen, die sich mit einigen Schattenwesen herumärgert. Der ängstlich zuschauende Sense versteckt sich hinter einer Säule.

In dem Moment, in dem Raito den ersten Schritt auf den Boden des Erdgeschosses macht, verschwinden alle schattenartigen Tiere um Emily herum und sie dreht sich zornig um:

„Ich habe langsam genug! Lass mich endlich in Ruhe!“

Raitos Blick zeigt eindeutig, dass sie diesen Gedanken getrost beiseite legen kann.

Der selben Ansicht ist Epheral, der sich über das Treppengeländer lehnt; Sie haben es nun schon geschafft, ihre Gegnerin so sehr zu schwächen, dass es nicht in Frage kommt, sie jetzt noch entkommen zu lassen.

Als er sein Gewehr wieder hebt, gebietet Raito sofort Einhalt:

„Du weißt doch, was das letzte mal passiert ist?“

Verstehend lässt der Vampirjäger es wieder sinken. Damit würde er ihr nicht schaden können.

Kaum schließt Raito konzentriert seine Augen und faltet die Hände zusammen, kehrt Emily ihnen den Rücken zu und versucht, durch das große Loch, das einst die Eingangstür war, zu fliehen, aber Epheral schwingt sich geschickt über das Geländer und läuft schnell, um ihr den Weg abzuschneiden.

Sie bringt keinen Ton raus sondern faucht ihn nur an, doch dann wendet sie ihren Blick auf Raito, der seine Beschwörung vollendet hat: Unzählige schattenartige Schmetterlinge sprießen aus seinen Händen, zielgerichtet flattern sie in Massen auf Emily zu, die sich kreischend wegzuducken versucht. Sogar Epheral geht hinter der Mauer in Deckung, denn die Schmetterlinge fliegen scharenhaft aus dem großen Loch in der Wand hinaus ins Freie.

Dieser Angriff hinterlässt zahlreiche blutige Kratzer auf Emilys ohnehin schon stark in Mitleidenschaft gezogenem Körper.

Plötzlich hört man ein Stöhnen: Yuri kommt aus einer der Türen in die Eingangshalle, mit der anscheinend schlafenden Luna auf dem Rücken.

Das Fuchsmädchen sieht verwirrt aus, als sie mitten in die Szene platzt.

Emily nutzt die Chance, in der Yuri und Luna die gesamte Aufmerksamkeit genießen, und winkt zuerst zu Epheral, dann zu Raito, was zu zwei kleineren, aber sehr lauten Explosionen führt.

Beide schaffen es rechtzeitig, auszuweichen, aber in den paar Sekunden des Schrecks ruft Emily schnell dunkle Bänder herbei, die sich um Yuris Körper schlängeln und sie fesseln.

Um alle ihre Gegner mit dieser Fähigkeit zu lähmen würde ihre verbleibende Kraft nicht mehr ausreichen, das weiß Emily, aber ihr neuer Einfall sollte es auch tun.

„Keine Bewegung!“, schreit sie aufgebracht und deutet auf ihre Geisel; „Wenn ihr euch nur einen Zentimeter bewegt, lasse ich die Bänder sich zuziehen!“

Da diese auch um den Hals des Mädchens gewunden sind, wissen alle, was das bedeuten würde.

„Hört nicht auf sie!“, ruft Yuri Raito zu: „Es ist die Chance!“

Wütend geht Emily auf sie zu und verpasst ihr eine Ohrfeige: „Halt deinen Mund!“

Man kann Yuri ansehen, dass sie die Frau liebend gerne siebenfach zurückschlagen würde, aber ihre Arme sind nach wie vor gefesselt, und mit einer lockeren Handbewegung ruft Emily noch mehr schattenartige Bänder herbei, die sich um Yuris Mund wickeln und diese so verstummen lassen.

„Wenn ihr wollt, dass ich sie leben lasse, hört ihr jetzt auf, mich zu verfolgen!“, krächzt die Vampirfrau schwer atmend.

Epheral schaut ratlos zu Raito, der aber anscheinend auch nicht weiter weiß.

Haben sie nun keine andere Möglichkeit, als sie fliehen zu lassen?

Yuri versucht panisch, sich aus ihren Fesseln zu befreien, aber erfolglos. Allerdings rutscht Luna dabei runter und fällt mit dem Rücken auf den Boden.

„Luna!“, keucht Epheral erschrocken. Er hat sie bis jetzt noch nicht gesehen.

„Wen haben wir denn da?“, lächelt Emily, als sie die junge Frau am Boden liegen sieht.

Sie geht langsam auf sie zu, doch Epheral ruft zornig: „Lass deine dreckigen Finger von ihr!“

Ohne nachzudenken stürmt er auf Emily zu und schubst sie mit einem Armhieb von der hilfosen Luna weg.

Raito sieht besorgt zu Yuri, doch diese wirkt nicht so, als würde sie schon erwürgt werden.

Als sich Emily aufrichtet, sieht sie Epheral, der sich wie ein Schutzwall vor Luna gestellt hat, voller Verachtung an: „Du scheinst sie wohl sehr zu mögen? Sterbt zusammen!“

Mit einer überraschenden Geschwindigkeit streckt sie ihm seine Hand entgegen und greift mit einer Explosion aus nächster Nähe an, die sie selbst zwingt, einige Schritte zurückzugehen.

Yuri wird von der Wucht auch umgeworfen, aber Epheral, der fast direkt vor Emily stand, bekommt beinahe die gesamte Sprengkraft ab, die ihn zu Boden schleudert, sodass er auf Luna landet, die glücklicherweise zumindest von der Explosion verschont bleibt.

Yuri stöhnt betroffen auf: Sie hat genug von alldem, aber in ihrer Situation kann sie gerade rein gar nichts tun. Nichtmal schreien. Selbst wenn Emily sie berühren würde, die Wirkung des Weihwassers hat schon vor einigen Minuten nachgelassen. Verzweifelt versucht sie, durch den Rauch etwas zu erkennen, aber es gelingt nicht.

Plötzlich geht alles unheimlich schnell:

Sie hört, wie Emily ruft: „Sense, lauf nach draußen!“, und dann spürt sie, wie sie unsanft gepackt und nach draußen geschleppt wird.

Das nächste, was sie sieht, ist eine schwarze Limousine, deren hintere Tür Emily aufreißt und sie brutal hineinwirft.

Kurz danach steigen sie selbst und Sense daneben ein.

Das wird immer verrückter, denkt das Fuchsmädchen irritiert, aber auch ängstlich.

Der Wagen fährt los, die Villa hinter sich lassend, und damit auch Raito, Keisuke und die anderen.

Was soll sie nur tun?

Emily klopft an die undurchsichtige Fensterscheibe, die hinter der gegenüberliegenden Sitzbank eingebaut ist, woraufhin sie geräuschlos hinunterfährt und den Blick auf den Fahrersitz freisetzt.

Doch zu Yuris Überraschung ist er leer.

Niemand scheint die Limousine, die scheinbar aus dem Nichts gekommen ist, zu steuern.

Aber als sie sehen kann, wie sich das Lenkrad von alleine bewegt, bekommt sie eine Gänsehaut.

Diese Nacht fühlt sich für sie an wie ein schlechter Horrorfilm.
 

Raito sieht, wie die Limousine in der Ferne verschwindet. Sie hat Yuri mitgenommen. Er faltet seine Hände, um ein Schattenwesen in Form einer Eule herbeizurufen, die er auf den Wagen ansetzt. Verfolgen würde er ihn so oder so nicht können, aber es ist definitv von Vorteil, wenn er weiß, wo sie hinfahren.

Besorgt beugt er sich über Epheral und Luna.

Beide scheinen noch zu leben, sind aber ohnmächtig.

Dazu kommt, dass Epheral schwere Wunden und Verbrennungen am ganzen Körper hat.

Nicht überraschend, wenn man bedenkt, dass er eine Explosion aus nächster Nähe abgekriegt hat. Selbst bei seiner speziellen Ausrüstung ist es ein Wunder, dass er überhaupt überlebt hat.

„Raito...?“

Keisuke steht oben, leicht über das Treppengeländer gebeugt, und schaut Raito besorgt an.

Ihm ist bewusst, dass er eigentlich im Schlafzimmer warten sollte, aber den ganzen Lärm konnte er nicht ignorieren.

Als er hinter dem Vampir Epheral und Luna am Boden liegen sieht, hastet er erschrocken die Treppe runter: „Nein! Was ist mit ihnen?!“

Unten angelangt geht Raito sofort ein paar Schritte auf ihn zu: „Sie leben noch.“

Keisuke atmet erleichtert aus: „Gut... Und wo ist Yuri?“

Suchend sieht er sich in der Halle um, kann sie jedoch nirgendwo entdecken.

Raito schweigt eine Weile. Dann legt er stumm seine Hand auf Keisukes Schulter.

In diesem Moment durchfährt ein kalter Schauder dessen Körper.

Er sieht in Raitos ernste Augen und weiß, dass irgendetwas schlimmes passiert sein muss.

„Emily hat sie mitgenommen.“ Keisuke schaut ihn entsetzt an, sagt aber nichts.

Für ein paar Sekunden ist es totenstill.

„Es tut mir leid“, sagt Raito ruhig und drückt ihn an sich; „Wir konnten es nicht verhindern.“

„Nein...“, haucht Keisuke leise.

Er wollte nicht, dass soetwas passiert.

Soll er glücklich darüber sein, dass es ihm gut geht?

Sie haben auf ganzer Linie versagt.

Samuel wurde vom Blitz getroffen, Luna und Epheral liegen bewusstlos und teilweise schwer verletzt auf dem Boden, Yuri wurde von Emily entführt und auch Raito sieht mitgenommen aus.

Nur Keisuke ist als einziger unverletzt.

„Ich will sie retten“, flüstert er.

Raito sieht ihn erstaunt an.

„Bitte...“ Seine Hände vergraben sich tief in Raitos rabenschwarzer Jacke;

„Bitte, ich will sie retten! Vor dieser Wahnsinnigen...“

Ihm schießt durch den Kopf, wie Emily Miho entführt hat, die er mit Mühe und Not gemeinsam mit Luna und Desmond retten konnte.

Er will es auch jetzt versuchen, selbst wenn Desmond und Luna ihm nicht dabei helfen können.

„Was ist mit den beiden?“, fragt Raito und deutet auf das bewusstlose Paar am Boden: „Sie müssen schnell ins Krankenhaus, wenn sie nicht sterben sollen.“

Nun befindet sich Keisuke in einer Zwickmühle: Es ist, als müsste er sich entscheiden, ob er lieber Yuri oder Epheral und Luna das Leben rettet.

Viel Zeit, darüber zu grübeln, bleibt ihm jedenfalls nicht.

Plötzlich hört man Motorgeräusche, die beiden Vampire wenden ihren Blick nach draußen, und schon nach kurzer Zeit kommt ein silbernes Auto angerast, das knapp einen Meter vor der Villa quitschend bremst und zum Stillstand kommt.

Shizuka steigt aus, rennt erleichtert auf Keisuke zu und umarmt ihn glücklich:

„Keisuke! Ich bin ja so froh, dass es dir gut geht! Und Raito.“

„Bist du.... ganz alleine hergefahren?“, fragt Keisuke mit trockenem Mund.

Er kann kaum glauben, dass Shizuka hier auftaucht.

„Ja. Ich habe auf dem Weg ein paar kleinere Unfälle gebaut, deswegen hat das Auto auch so viele Dellen. Aber eigentlich war es ganz einfach...“

Er wirft einen Blick auf das Fahrzeug, das wohl schon einmal bessere Zeiten gesehen hat.

„Wem gehört der Wagen?“, fragt er verstört.

„Ähm, er ist von Frau Lilienfeld...“, antwortet Shizuka kleinlaut.

„Das wird teuer“, schmunzelt Keisuke.

Wie er Frau Lilienfeld kennt, wird sie das Mädchen ohne Gnade jeden Schaden ersetzen lassen.

„Ich kann das mit ihr klären“, sagt Raito leicht genervt; „Shizuka, warum bist du hier?“

Ihr Blick wandert zu Boden, und sie stammelt:

„Ich... Eigentlich wollte ich... Keisuke, ich... Oh Gott, was ist denn mit denen passiert?!“

Sie schlägt ihre Hand vor dem Mund, als sie Luna und Epheral erblickt.

„Sie wurden verletzt“, erklärt Keisuke traurig; „Aber wenn wir sie ins Krankenhaus bringen, können wir Yuri nicht verfolgen. Emily hat sie entführt.“

„Was?!“ Shizukas Gesicht wird käsebleich.

Da kommt Keisuke eine Idee: „Shizuka, würdest du mich zu Yuri fahren? Ich will sie um jeden Preis retten. Währenddessen kann Raito die beiden ins Krankenhaus bringen.“

„Ich habe doch keine Ahnung, wo ich hin muss!“, erwidert sie überfordert.

„Wie hast du denn hierher gefunden?“, hakt Keisuke nach.

„Navigationsgerät? Nicht mal ich bin zu blöd diesen stumpfen Anweisungen zu folgen...“

Keisuke schaut sie lächelnd an: „Aber Shizuka, niemand hat je behauptet, dass du blöd seist.“

Sie errötet leicht, und währenddessen hievt Raito sich Luna auf eine Schulter und Epheral auf die andere. Er ist wirklich extrem stark.

Auf den fragenden Blick der Jugendlichen erklärt er: „Ich weiß wo sie ist. Ich habe eines der Schattenwesen an ihre Fersen geheftet, und mit denen stehe ich quasi permanent in Kontakt.“

„Dann fahr du lieber mit mir los, um Yuri zu retten, und Shizuka fährt ins Krankenhaus“, schlägt Keisuke vor, aber Shizuka schüttelt sofort den Kopf: „Aber Raito ist doch verletzt!“

Das sieht Keisuke ein. Auch wenn Raitos Wunden nicht halb so schlimm sind wie die von Epheral, so hat er doch genug gekämpft und sollte sich jetzt schonen.

„Das geht schon in Ordnung“, sagt Raito ruhig, aber Keisuke und Shizuka legen ihm beide jeweils einen Finger auf den Mund.

„Willst du nicht zulassen, dass wir uns auch mal um dich sorgen?“, fragt Keisuke lächelnd.

„Es wird schon klappen, vertrau uns“, sagt Shizuka selbstbewusst.

Raito seufzt einmal, dann bildet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht:

„Gut. Hast du dein Handy dabei?“

Shizuka nickt, greift schnell in ihre Tasche und hält ihm dann ihr Handy hin.

Raito fummelt etwas daran herum und gibt es ihr schließlich zurück: „Okay, wir bleiben während der Fahrt in Kontakt. Mein Wagen hat ein integriertes Mobilfunksystem.“

Sie verlassen die Villa und gehen gemeinsam zum schwarzen Wagen, den Samuel vor ein paar Stunden hinter einem Baum geparkt hat.

Raito öffnet die hintere Tür und legt Epheral und Luna vorsichtig ab.

Samuel schläft auf dem Beifahrersitz. Als Vampir regenerieren sich auch schwere Verletzungen weitaus schneller als bei Menschen, wäre er einer von diesen, hätte er womöglich den Blitz noch nicht einmal überlebt.

Bevor Raito einsteigt, schaut er die beiden Jugendlichen prüfend an: „Ihr seid wirklich sicher? Es wird gefährlich. Ich kann euch zwar telefonisch die Richtung, in die ihr fahren müsst, beschreiben, aber wenn ihr Emily gegenübersteht, seid ihr auf euch alleine gestellt. Wobei...“

Er faltet die Hände und schließt für eine Sekunde die Augen.

Sofort erscheinen zwei schattenartige Tiere neben ihm; eine Katze und ein Känguru.

Unerwartet fängt Raito an, schwer zu atmen, direkt nachdem die Wesen aufgetaucht sind.

„Ist alles okay?“, fragt Keisuke besorgt.

Er nickt: „Ich habe heute meine Kräfte etwas zu sehr in Anspruch genommen. Es geht schon.“

Shizuka und Keisuke tauschen besorgte Blicke, während Raito die Wesen zu Alexas Auto winkt, wo diese auch sofort hinlaufen, beziehungsweise hüpfen.

Raito steigt ein und macht die Autotür zu, aber dafür lässt er das Fenster herunter:

„Ich glaube nicht, dass in Logaly Hospital noch jemand ist, also fahre ich eure Freunde hier in eine naheliegende Stadt. Shizuka, fahr einfach den Berg runter bis du an eine Kreuzung kommst. Bis dahin werde ich euch schon angerufen haben und näheres erklären.“

„Danke“, sagt sie und versucht, zu lächeln, aber er schüttelt den Kopf:

„Nein, ich muss euch danken. Ihr riskiert euer Leben. Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“

Keisuke spürt, wie er deutlich nervöser wird, aber er salutiert wie ein Soldat und sagt:

„Selbstverständlich!“

Shizuka kichert, und nachdem sie sich verabschiedet haben, gehen sie und Keisuke zu Alexas Wagen, in dem die Schattentiere schon auf der Rückbank sitzen.

Die Beiden steigen ein und nehmen vorne Platz.

Weil Raito schon losgefahren ist, dreht Shizuka den Schlüssel um und gibt Gas.

„Fahr bitte vorsichtig“, sagt Keisuke ein bisschen ängstlich.

„Ich muss erstmal wieder reinkommen...“, nuschelt sie, während sie den Wagen dreht und fast problemlos von der Villa wegfährt.
 

Yuri, die immernoch gemeinsam mit Sense und Emily in einer Limousine sitzt, hat inzwischen neue Fesseln bekommen. Es war Emily zu anstrengend, die Schattenbänder dauerhaft aufrecht zu erhalten, also ließ sie sie verschwinden, knebelte sie dafür aber mit dicken Seilen.

Ihr Mund ist mit einem Klebeband versehen, also kann sie nach wie vor nicht schreien oder etwas sagen.

Sense sitzt ihr gegenüber und sieht stumm aus dem Fenster. Er macht einen traurigen Eindruck.

Emily wiederrum redet scheinbar mit jemandem durch das kleine Fenster, aber dort scheint niemand zu sitzen. Sie bemühen sich, leise zu sprechen, aber Yuri versteht dank ihrer großen Fuchsohren, die in keinster Weise vermummt sind, jedes Wort.

„Bevor wir zum Zielort fahren, müssen wir noch woanders hin“, sagt Emily.

„Wohin?“, fragt eine Männerstimme.

„Ich habe einen meiner Leute als Spion auf die Familie eines Vampirs angesetzt. Den will ich vorher abholen.“

„Soso...“, erwidert die Stimme gelangweilt.

Emily seufzt: „Vermutlich sind wir die einzigen drei, die überlebt haben. Diese verdammten Menschen!“

Sie wirft Yuri einen hasserfüllten Blick zu: „Ihr werdet noch sehen, was passiert!“
 

Während der Fahrt erzählen Keisuke und Raito Shizuka alles, was in der Villa geschehen ist. Es tut ihr zwar leid, dass es Samuel, Luna und Epheral ziemlich übel erwischt hat, trotzdem sieht sie den Angriff auf die Cursers als Erfolg an: „Wenn ich es richtig sehe, sind nur noch der kleine Junge und die Königin übrig, oder? Und Emily kann keine neuen Vampire erschaffen. Eigentlich müssten wir doch sogut wie gewonnen haben.“

Keisuke sieht nachdenklich aus dem Fenster: „Aber sie wurden doch von einer Limousine abgeholt, richtig? Dann kann es doch gut sein, dass sie noch Verbündete hat...“

Raitos Stimme am Telefon beruhigt ihn: „Sorgt euch nicht darüber, die Vampirjäger haben den verstreuten Rest der Cursers laut Epheral schon fast ganz ausgelöscht.“

„Ist Epheral aufgewacht?!“, ruft Keisuke hoffnungsvoll.

„Nein. Aber er hat es mir schon vorher erzählt...“

Keisuke seufzt, und gleichzeitig streift Shizuka mit dem Auto den Bordstein:

„Tschuldigung!“

Die Fahrt geht noch eine Weile ruhig weiter, und die paar kleineren Unfälle, die Shizuka baut, sind kaum der Rede wert, denn die Straßen werden von fast gar keinen anderen Autos befahren.

Schließlich fragt sie Raito über ihr Handy, dessen Lautsprecher eingeschaltet ist, damit auch Keisuke mithören kann: „Ich bin jetzt an der Kreuzung. Wohin muss ich jetzt?“

„Einen Moment...“, flüstert Raito und sie wartet geduldig, bis er erstaunt sagt:

„Das kann kein Zufall sein. Emily biegt gerade in eure Nachbarschaft ein.“

„Was?!“, keucht Keisuke und tauscht einen erschrockenen Blick mit Shizuka, die wieder aufs Gaspedal tritt. „Er kann es doch nicht auf Miho abgesehen haben?“, überlegt er laut, aber sie legt ihre Hand auf seine Schulter und antwortet ruhig: „Frau Lilienfeld ist doch da. Wir fahren jetzt nach Hause, einen so großen Vorsprung wird sie nicht haben, als ob wir uns um sie sorgen müssten.“

Ihr Trost wird von Keisuke nur mit einem lauten „Hände aufs Lenkrad!“ kommentiert.

Erschrocken schaut sie wieder nach vorne und bremst gerade noch rechtzeitig ab, um nicht in eine Hauswand zu krachen.

Die junge Fahrerin entschuldigt sich ein weiteres mal, ehe sie den Rückwärtsgang einlegt um abbiegen zu können und unbeirrt weiterzufahren.

„Ich verstehe nicht, was sie dort will“, sagt Keisuke kopfschüttelnd.

Er hebt das Handy von Shizuka, dass bei der Vollbremsung vorhin runtergefallen ist, wieder auf und fragt lieber nochmal nach: „Bist du ganz sicher, Raito?“

Nachdem er es bestätigt, nickt Keisuke Shizuka zu, deren Blick gleich ein ganzes Stück ernster wirkt: „Ich habe schon verstanden. Ich fahre so schnell es geht nach Hause zurück.“

Tod

Tod
 

Während Shizuka immer mal wieder auf das Navigationsgerät schaut, um auch bloß den schnellsten Weg nach Hause zu finden, versucht Keisuke neben ihr im Hause der Valleys anzurufen, jedoch erfolglos.

„So ein Mist, irgendeine blöde Tussi sagt mir ständig, die Nummer sei gerade nicht verfügbar“, schimpft er und legt gestresst auf.

Shizuka würde gerne ihre Hand auf sein Knie legen, um ihm ihren Beistand zu vermitteln, aber sie traut sich seit eben noch nicht, für mehr als eine Sekunde die Hände vom Lenkrad zu nehmen.
 

„Ja, es ist dort vorne“, dirigiert Emily den unsichtbaren Fahrer der Limousine; „Ja, das Haus, das vorne etwas moosbedeckt ist. Herrje, ich kenne keinen anständigen Vampir, der freiwillig in so einer Bruchbude lebt...“

Der Wagen hält vor dem Haus und Emily steigt ohne zu zögern aus.

„Mama, warte!“, ruft Sense plötzlich, woraufhin sie ihm einen fragenden Blick zuwirft.

„In diesem Haus... Da ist kein Vampir drin“, flüstert er schüchtern.

„Bist du sicher?“, hakt Emily überrascht nach.

Sense nickt: „Ich kann schwach vampirische Aura fühlen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass hier in der Nähe niemand von uns ist.“

Sie hält ihm ihre Hand hin, nach der er greift um auch auszusteigen.

„Wir sind sofort wieder da“, spricht Emily in den Wagen hinein und wirft die Tür zu.

Jetzt ist Yuri alleine mit jemandem, den sie nicht sehen kann.

Aber es ist jetzt nicht an der Zeit, Angst zu haben. Immerhin hat sie die gesamte Fahrt gut überstanden.

Weil sie gefesselt ist, kann sie gerade nichts anderes tun, als die Augen zu schließen und auf ihren

verbesserten Hörsinn zu vertrauen. Er würde ihr verraten, was Emily und Sense draußen tun.

„Irgendwo hier in der Nähe?“, flüstert Emily.

Vermutlich spricht sie in normaler Lautstärke, aber Yuri vernimmt die Stimme nur schwach.

„Schauen wir mal da hinten...“, antwortet Sense. Danach sind schnelle Schritte zu hören, die immer leiser werden.

Ungefähr drei Minuten hört sie nichts mehr von ihnen, wie sehr sie sich auch anstrengt.

Doch dann kommen die beiden zurück zu der Limousine und die Tür wird von Emily aufgerissen.

Sie packt Yuri bevor diese verstehen kann, was passiert, und schreit: „DU!!!“

Was will sie jetzt plötzlich von mir, denkt das Fuchsmädchen.

Emilys Gesicht ist rot vor Zorn. Sie befreit schnell Yuris Mund von dem Klebeband und herrscht sie an: „Wer von euch kleinen Maden hat Cyst auf dem Gewissen?! Wer war alles hier, zu dem Zeitpunkt, an dem ihr unser Hauptquartier angegriffen habt?!“

Cyst ist wohl einer der Curser, nimmt Yuri an. Ihr Herz schlägt schnell.

Wer hätte es mit dem Vampir aufnehmen können? Im Haus waren Miho, Frau Lilienfeld und Shizuka, da ist Yuri sicher. Aber sie würde es so schnell keinen von ihnen zutrauen, einen Curser zu erledigen. Wobei, wenn die drei zusammengearbeitet haben...

„Rede endlich!“, fordert Emily sie auf und rüttelt sie.

„Ich denke noch nach!“, faucht Yuri zurück, und fängt sich damit eine Ohrfeige ein.

„Miststück...“, flüstert das Fuchsmädchen mit Tränen in den Augen.

„Mir reichts, ich werde dich jetzt töten, du Drecksbalg!“, fährt Emily sie an, aber eine Stimme von vorne gebietet Einhalt: „Madame, der Herr wünscht nicht, dass in seinem Wagen ein Blutbad angerichtet wird. Habt dafür bitte Verständnis.“

Sie wirft Yuri einen hasserfüllten Blick zu und kassiert auch einen zurück.

Schließlich seufzt sie und sagt: „Du bist nach alldem immer noch ein Gentleman, Meadow.“

Dann packt sie Yuri am Handgelenk und zieht sie daran nach draußen.

„Ich werde sie im Haus umbringen“, beschließt Emily und zwingt Yuri durch die Haustür der Valleys, Sense folgt den beiden still.

Yuri fällt sofort der Geruch von Rauch und Asche auf, der auf einen Brand zurückschließen lässt.

„Ich werde einfach jeden töten, der hier ist!“, knurrt sie und schubst das Fuchsmädchen auf das Sofa, bevor sie anfängt sich in den teilweise zerstörten Räumen das Hauses umzusehen.

Nach ungefähr fünf Minuten kehrt sie ins Wohnzimmer zurück:

„Das darf doch nicht wahr sein! Niemand ist hier!“
 

Etwas unsicher betritt Miho die Polizeidienststelle. Überrascht stellt sie fest, dass die Tür des Haupteingangs offen ist, gerade zu so einer Uhrzeit hat sie nicht damit gerechnet. Nervös schreitet sie den leeren Gang entlang. Sie ist unsicher, ob es eine gute Idee war, herzukommen, aber nachdem sie daheim Alexa nicht mehr gefunden hat, konnte sie es nicht mehr alleine aushalten und ist sofort losgefahren, mit Sakitos altem Fahrrad.

Als sie an einer Fensterscheibe vorbeigeht, hält sie inne, um geschockt ihr Spiegelbild zu betrachten: Ihre geröteten Augen, ihre Blässe und ihr zerstrubbeltes Haar lassen sie aussehen, wie eine Drogensüchtige! Dazu kommt noch ihr verletzter Oberarm sowie diverse Blutspritzer auf ihrer Kleidung, die von Cyst stammen.

Ein paar Sekunden schaut sie sich nur an, wobei innere Verzweiflung in ihr hochsteigt.

Doch dann fasst sie sich. „Tja, Miho... Das war es wohl mit dem guten Eindruck, hm?“, sagt sie leise zu sich selbst und versucht, zu lächeln.

Daraufhin sieht sie sich weiter im Gebäude um. Es ist seltsam, das Licht ist zwar überall eingeschaltet, aber trotzdem ist kein Polizeibeamter aufzufinden.

Sicher ist Miho bewusst, dass es schon sehr spät ist, aber normalerweise sind immer zumindest eine handvoll Leute anwesend, da ist sie sich eigentlich ziemlich sicher.

Zu Hause war es ihr nicht möglich, die Polizei telefonisch zu benachrichtigen, also zögerte sie nicht länger und kam direkt her, aber auch hier findet sie in keinem der Räume einen Polizisten.

Schließlich kommt sie in ein kleines Büro mit grünem Teppich, das nicht gerade ordentlich ist.

Auf dem Schreibtisch entdeckt sie ein schwarzes, schnurloses Telefon, das sie, ohne weiter darüber nachzudenken, in die Hand nimmt und sich an das rechte Ohr hält.

Kein Freizeichen. Zitternd legt Miho das Gerät zurück an seinen Platz.

Sie weiß, es kann nur eines bedeuten: Jemand war hier und hat die Leitungen durchtrennt.

Genau wie bei ihr zu Hause, nur dass da sie ziemlich sicher ist, dass dafür Cyst verantwortlich war.

„Dann... sind die Beamten vermutlich auch alle tot...“, haucht Miho und lässt sich auf den dunklen Bürostuhl hinter dem Schreibtisch fallen, wo sie wie in Trance ein paar Minuten verweilt.

Eins ist jetzt ganz sicher. Sobald Keisuke und Sakito wieder zu Hause sind, packen sie ihre Koffer und fahren weg. Miho will nur noch raus aus Logaly, dieser kranken Großstadt, in der Vampire systematisch die Bevölkerung auslöschen.

Es ist ganz still.

Am liebsten würde sie für alle Ewigkeit auf diesem Stuhl sitzenbleiben, aber ein Notizzettel auf dem Schreibtisch weckt ihre Aufmerksamkeit: „Verhör Shou Cassel, morgen, 11:00 Uhr“

Offensichtlich ist Miho im Büro des Polizisten gelandet, der den Mordfall um Desmond Corin untersucht, jenen, der angeblich von seiner Freundin Shou verübt worden war.

Aber Miho weiß es besser! Wie von Geisterhand geführt erhebt sie sich.

Es war nicht Shou, die Desmond umgebracht hat, sondern Cyst, der ihre Gestalt angenommen hat.

Ob es hier wohl so eine Art Gebäude für die Untersuchungshaft gibt?

Selbst wenn die Beamten alle tot sind, vielleicht lebt Shou ja noch.

Miho läuft etwas planlos im Gebäude herum, bis sie einen Durchgang im Erdgeschoss entdeckt, der wohl in den Keller führt. Sie hastet die Keramikstufen der Treppe hinunter und stolpert dabei fast, bis sie unten einen simplen Gang findet, an dessen Seiten jeweils vier Türen sind.

Nervös geht sie hindurch und versucht dabei, jede Tür zu öffnen, doch sie sind ohne Ausnahme abgeschlossen. Am Ende des Ganges findet sie dafür ein paar Haken, an denen Schlüssel hängen.

Es kostet Miho gut zehn Minuten, die verschiedenen Schlüssel an den Türen auszuprobieren, und sie will schon fast aufgeben, da öffnet sich die erste Tür und gibt einen kleinen Raum frei, mit Bett und einigen anderen obligatorischen Möbeln, auch ein kleiner Raum für die Toilette und ein Waschbecken sind dabei. Alles wirkt sehr sauber, doch keine Person ist hier.

Sie sieht sich eine Weile um und macht mit dem nächsten Raum weiter, wieder Fehlanzeige.

Als sie jedoch die Tür zur dritten Zelle öffnet, blickt eine junge Frau mit dunkelrotem Haar sie mit offenem Mund an: „Miho?!“
 

„Das ist wirklich schade“, sagt Emily kopfschüttelnd; „Cyst ist tot, also war es zwecklos, herzukommen. Und dann ist nicht mal jemand zu Hause, an dem ich meinen Durst stillen könnte. Nicht ganz, zumindest“, fügt sie mit einem Blick auf die gefesselte Yuri hinzu, die auf dem Sofa sitzt und sie gehässig anstarrt: „Böse Vampire wie du bekommen mein Blut nicht!“

Emily fletscht die Zähne und geht knurrend auf Yuri zu, doch noch ehe sie sie erreicht, ruft eine Stimme aus dem Hintergrund: „Warte, Mama!“

Verwirrt dreht Emily sich um. Sense, der hinter ihr stand, geht geradeaus an Emily vorbei zu Yuri und fragt: „Warum sagst du 'böse Vampire'? Gibt es Vampire, denen du dein Blut geben würdest?“

„Wen interessiert denn das?!“, faucht Emily, aber Sense hält seinen Blick auf Yuri gerichtet.

„Ähm, ja...“, antwortet das Fuchsmädchen leicht irritiert; „Ich habe Keisuke von meinem Blut trinken lassen, und für Raito und Samuel würde ich es auch opfern... denke ich...“

„Mit anderen Worten, unseren Feinden!“, schnaubt Emily und ihre roten Augen verengen sich zu Schlitzen.

„Aber... du hast es ganz freiwillig geteilt, oder? Du wurdest nicht bedrängt oder angegriffen?“, hakt Sense weiter nach, doch da wird es Emily genug: „Sense, es reicht jetzt! Dieses Mädchen ist ein Mensch, selbst wenn sie ein paar Merkmale hat, die sie eher als Tier erscheinen lassen! Du kannst Menschen nicht trauen, sie sind böse!“

Traurig dreht der Kleine sich zu Emily: „Aber Mama...“

„Ich will nichts mehr hören! Geh bitte nach oben und warte in einem der Zimmer. Ich hole dich, wenn ich fertig bin.“

Fertig womit?

Und warum schickt sie Sense nach oben, und nicht in das Auto zurück?

Ihm liegen diese Fragen scheinbar auch auf der Zunge, zumindest öffnet er den Mund um etwas zu sagen, bringt aber keinen Ton heraus und geht deprimiert aus dem Wohnzimmer.

„Du bist wirklich manipulativ“, flüstert Yuri abschätzig, während Emily einen der Schränke öffnet und sich gelassen den Inhalt ansieht.

„Ich nehme das mal als Kompliment“, sagt sie, ohne das Mädchen anzusehen.

Im nächsten Moment fliegt eine Flasche Rotwein auf Yuri zu, und sie schafft es in letzter Sekunde, sich nach vorne zu kippen und auf dem Fußboden zu landen, sodass die Flasche mit einem lauten Klirren durch die Fensterscheibe hinter ihr fliegt.

„Du hast ja Reflexe wie ein Veteran“, lächelt Emily höhnisch und geht langsamen Schrittes auf sie zu.

„Nein, ich... habe nur eine bessere Wahrnehmung als andere Menschen...“, antwortet Yuri.

Sie hört sich selbst gar nicht richtig zu, als sie das sagt, aber gepackt von Angst würde sie alles tun, um mehr Zeit zu gewinnen.

„Mag sein... An uns Vampire kommst du trotzdem nicht heran“, lacht Emily.

Sie steht jetzt direkt vor Yuri, was dazu führt, dass diese nur Emilys freie Beine sehen kann.

Der untere Teil ihres Abendkleids scheint weggebrannt zu sein.

Doch dann sieht sie etwas unter ihren Beinen hindurch, nur ein paar Meter hinter Emily.

„Shya!“, ruft Yuri heiser.

Als Emily sich umdreht, rennt das braune Kätzchen sofort aus dem Wohnzimmer in den Flur.

„Interessant, dann hat diese Familie also ein Haustier... Mir kommt eine Idee...“

Sie wendet sich von Yuri ab und geht ebenfalls in den Flur.

„Nein! Lass Shya in Ruhe!!!“, schreit die am Boden liegende aufgebracht, findet aber kein Gehör.

Yuri verliert ein paar Tränen: Das darf doch nicht wahr sein...

Miho und Keisuke lieben diese Katze so sehr, Emily darf sie nicht einfach töten!

„Verdammt!“, flucht Yuri; „Verdammt, verdammt, verdammt! Was kann sie denn dafür?!“

Emily verfolgt die Katze die Treppe hoch.

Eigentlich hat sie nichts gegen Tiere, aber sie würde ihren Feinden jede seelische Grausamkeit zufügen, die ihr in den Sinn kommt, ehe sie sie umbringt.

Die Katze hat eben Pech.

Emily sieht, wie sie in ein Schlafzimmer läuft, und folgt ihr hinein.

Ein simples Bett, ein Computer auf einem Schreibtisch, ein Schrank...

Vermutlich ist dies Keisukes Zimmer.

„Mama... Kann ich mal mit dir reden?“, fragt Sense, der gerade hereingekommen ist.

Er hat sie wohl in Flur in den Raum gehen sehen.

„Schätzchen, es ist gerade schlecht. Wir reden später über all diese schlimmen Dinge.“

„Nein, Mama, es ist mir wichtig.“

Der Junge setzt sich auf das Bett, aber Emily bleibt im Türrahmen stehen.

„Ich bin mir nicht mehr sicher, ob wir wirklich das richtige tun...“, sagt er leise.

„Ich habe dir schon so oft gesagt: Du darfst nicht auf diese bösen Menschen hören!“, entgegnet Emily scharf. Sense sieht sie nicht an.

„Aber der Vampir in meinem Schlafzimmer... Keisuke heißt er, glaube ich...“

„Das ist ein Verräter! Er steht auf der Seite dieser dreckigen Menschen! Ich habe ihm die Chance gegeben, sich uns anzuschließen, aber er wollte ja nicht...“

Mit einem Mal hört Emily auf, zu reden; Sense sieht ihr direkt in die Augen.

„Ja, genau“, sagt er tonlos; „Er wollte sich uns nicht anschließen, weil er keine Menschen töten will. Und deswegen hat er es deiner Meinung nach verdient, zu sterben!“

Emily starrt ihn entsetzt an: „Sense...“

„Seine Familie besteht aus Menschen!“, ruft er nun sauer; „Er möchte seine Familie nicht verlieren! Warum habe ich das nicht verstehen können? Mir geht es ja genauso! Und was ist mit dir, Mama? Du willst doch auch deine Familie beschützen? Du sagtest doch, die Organisation sei wie eine Familie für dich, oder? Das hast du gesagt!“

Von Emilys liebevollen, mütterlichen Blick ist keine Spur mehr zu sehen. Sie blickt den Jungen vollkommen ohne Emotionen an.

„Ich will nicht mehr... Ich will das alles nicht mehr!!!“, schreit Sense plötzlich und springt auf:

„Immer musste ich für dich die Vampire aufspüren, die irgendwas falsch gemacht haben, damit du sie dann umbringen lässt! Oder die feindlichen Vampire, die meine Freunde töten! Lure, Raid! Ich will das nicht mehr! Denn du...“

Ihm strömen Tränen über die Wangen: „Weil du eine ganz böse Lügnerin bist!!!“

„Was?!“

„Du behauptest, alle Menschen wären schlecht, aber das stimmt nicht! Meine Eltern waren auch Menschen! Als sie noch gelebt haben, waren sie gute Menschen, das weiß ich! Und ich war auch ein Mensch! Ich habe nie was böses gemacht!“

Senses Hand ballt sich zu einer Faust: „Und wehe du sagst jetzt etwas schlechtes über meine Eltern... Mama und Papa waren die nettesten Menschen auf der ganzen Welt...“

„ICH bin deine Mama, du ungezogener Bengel!“, schimpft sie, aber Sense schüttelt sofort den Kopf: „Mit jemandem wie dir will ich gar nicht verwandt sein!“

„Sense, hör jetzt endlich auf. Wenn ich dich an Vigor erinnern darf...“

„Den ich euch ans Messer geliefert habe...“ Er schnieft; „Das tut mir so leid... Er war gar nicht böse, aber das wusste ich nicht... Warum tötest du alle, die nicht böse sind...?“

„Als hättest du dummes Kind von irgendetwas eine Ahnung!“, faucht sie so laut, dass Sense zusammenzuckt und Shya, die vorher unter dem Bett gewartet hat, schnell zum Schreibtisch läuft, um sich dahinter zu verstecken.

Emily sieht das und hebt die Hand: „Ich zeige dir jetzt, was ich mit denen mache, die es wagen, mich zu verraten. Dann wirst du deine Meinung schnell ändern, mein Kind.“

Sense, der erahnt, was sie vorhat, springt auf Emily zu und schubst sie zur Seite, sodass ihre vampirische Attacke nur Keisukes Computer zum Explodieren bringt.

Shya stürmt fauchend unter dem Schreibtisch hervor und rast aus dem Zimmer.

Emily drückt Sense wütend von sich weg: „Das war zu viel!“

Er geht ein paar Schritte zurück, denn er weiß, was ihm jetzt bevorsteht. Er schluchzt.

Wenigstens versteht er nun, dass es Emily ist, die anderen ihre Familie wegnimmt. Raito hat doch recht gehabt. Sogar gerade hätte sie nicht gezögert, ein unschuldiges Tier zu töten.

„Das ist also deine wahre Gestalt“, flüstert er unruhig, als sie mit leuchtend roten Augen auf ihn zukommt, die Fangzähne gebleckt und mit einem Blumentopf aus Ton, den Shizuka einst für Keisuke gemacht hat.

Sense schluckt. Doch dann nimmt er etwas wahr, die Aura eines Vampirs, der sich nähert.

Er sieht sich um und spürt, dass er oder sie noch sehr viele Meter entfernt sein muss.

Aber wer ist es...?

Dann ist es, als würde ihm ein Licht aufgehen:

„Keisuke...!“, keucht Sense.

Eine Sekunde später wird er von Emily mit dem Blumentopf niedergeschlagen.
 

„Ist alles okay...?“, fragt Shizuka mit einem Seitenblick auf Keisuke, dessen Kopf an die Fensterscheibe gelehnt ist. Ihr ist sein abwesender Blick aufgefallen, der es so wirken lässt, als würde er mit offenen Augen schlafen.

„Es geht so...“, sagt er und richtet seinen Kopf aufrecht; „Ich bin nur froh, wenn wir zu Hause sind... Ich habe solchen Durst...“

„Hast du nicht etwas Blut getrunken, bevor wir losgefahren sind?“

„Schon, aber ich bin nach alldem schon ziemlich erschöpft...“

Shizuka sieht ihn verständnisvoll an: „Ich auch. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mit dem Auto hier gebacken kriege...“

Er grinst.

Natürlich ist ihm klar, dass die Nacht noch nicht vorbei ist.

Emily wird ihn kaum in seine Küche gehen lassen, damit er da in Ruhe etwas trinken kann.

Was will sie überhaupt bei ihm zu Hause?

„Wir sind jetzt da“, bemerkt Shizuka und Keisuke nickt.

Sie fährt vorsichtig rechts ran an den Bordstein, zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss und seufzt: „Ich hasse Einparken...“

„Hast du doch gut gemacht“, lächelt Keisuke.

Sein Herz schlägt sehr schnell.

Dank seinen Vampiraugen kann er sein Haus einige Meter entfernt sehen, und er weiß, dass Emily dort auf ihn wartet. Ihm ist auch klar, dass Raito, der Keisuke bis jetzt noch jedes Mal gerettet hat, viel zu weit entfernt ist, um ihm jetzt zu helfen.

Auf jeden Fall ist es jetzt zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen.

Immerhin hat Emily Yuri in ihrer Gewalt und Miho ist womöglich auch in Gefahr.

Er atmet einmal tief durch und öffnet die Tür. Zögerlich steigt er aus, dann beugt er sich leicht in das Innere des Wagens und fragt: „Du möchtest hierbleiben, oder?“

Shizuka sieht ihn kurz verträumt an, ohne etwas zu sagen.

Ist sie mit ihren Gedanken woanders? Plötzlich bildet sich ein Lächeln auf ihren Lippen:

„Nein, ich komme mit.“

Dankbar lässt Keisuke sie aussteigen. Ihm ist zwar bewusst, dass Shizuka ihm im Ernstfall keine große Hilfe sein kann, dennoch tut es gut zu wissen, dass er nicht alleine gehen muss.

Die beiden gehen den Bordstein entlang bis zu dem Haus der Valleys, als plötzlich Shya ihnen entgegenkommt.

„Shya!“, ruft Shizuka erschrocken, und Keisuke bemerkt: „Die Haustür steht offen!“

Die kleine Katze verschwindet miauend in einer Seitengasse ein paar Häuser weiter.

Besorgt schauen die beiden Jugendlichen sich an: Das kann nichts Gutes bedeuten.

„Da steht eine Limousine vor eurer Haustür“, sagt Shizuka in einem komischen Tonfall und Keisuke ergänzt: „Die gehört bestimmt Emily. Sieh mal dort!“

Er zeigt mit seinem Finger auf die schattenhafte Eule, die seelenruhig über dem Wagen auf der Stelle fliegt. Shizuka scheint sie nicht erkennen zu können, aber das überrascht ihn nicht wirklich.

Immerhin ist sie ein Mensch und es ist schon dunkel.

Keisuke zückt vorsichtshalber schon mal seinen Dolch und schleicht sich zum Wagen, nur um festzustellen, dass er leer ist: „Niemand ist drin!“

Unruhig schreitet er zur Haustür, seinen Dolch in der rechten Hand.

Shizuka klammert sich ängstlich dicht hinter ihm an seiner Schulter fest.

Er fühlt sich selbst nahe einer Panikattacke, aber er weiß, dass er jetzt stark sein muss.

Zögerlich betreten sie das Haus, und zuallererst klappen ihnen die Kinnladen herunter.

„Oh Gott!“, quietscht Shizuka.

„Nein, das ist unmöglich!“, hustet Keisuke; „Was ist hier nur passiert?“

Der ganze Flur ist verwüstet, die Fensterscheiben zerstört, in den teilweise geschwärzten Wänden finden sich große Risse.

Jetzt kann man nicht mehr abstreiten, das hier etwas vorgefallen ist.

„Shi-Shizuka?! Bist du das?!“, stöhnt eine Stimme aus dem Wohnzimmer.

Sie folgen der Stimme und finden Yuri alleine auf dem Fußboden vor dem Sofa. Ihre Arme und Beine sind gefesselt, und sie schaut ihre Freunde mit einem erleichterten Blick an.

Shizuka hockt sich sofort zu ihr hin und fragt: „Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?“

„Eigentlich nicht... Aber mir tut alles weh...“, jammert sie, während Shizuka versucht, sie aus den Seilen zu befreien. Hilfesuchend wendet sie sich an Keisuke: „Ich kriege sie nicht ab!“

Er zeigt seinen Dolch und gesellt sich neben sie: „Damit sollte es gehen.“

Nach ungefähr einer Minute haben sie es geschafft, Yuri zu entfesseln.

„Endlich!“, lächelt sie und bewegt prüfend ihre Handgelenke.

Dann wird sie plötzlich bleich: „Oh, nein, Shya!“

„Was ist mit ihr?“, fragt Keisuke bestürzt.

„Emily will sie umbringen!“

„WAS?!“, rufen Shizuka und Keisuke gleichzeitig.

Plötzlich taucht hinter ihnen jemand auf und flüstert: „So so... Was macht ihr denn hier?“

Emily steht hinter ihnen und sieht die Jugendlichen selbstsicher an.

Sofort weichen alle drei ein paar Schritte zurück.

Keisuke fragt mit zitternder Stimme: „Wa-was hast du... mit Shy-Shya gemacht?“

„Wer soll das sein?“, fragt Emily glaubwürdig.

Dann fällt ihm ein, dass die Katze ihm und Shizuka erst vorhin entgegengekommen ist. Also hat sie es geschafft, Emily zu entwischen.

Das ist zwar eine Erleichterung, hilft den Dreien in dieser Situation aber trotzdem nicht.

„Bitte tu uns nichts!“, fleht Shizuka; „Lass uns einfach in Frieden! Geh bitte!“

Ihr steht die Angst ins Gesicht geschrieben.

Emily seufzt: „Ich habe es langsam satt. Ich denke, ich werde vom Töten eine Pause machen. Auf Dauer ist es doch irgendwie anstrengend. Ich muss mich ausruhen.“

Erleichtert atmen Keisuke, Shizuka und Yuri aus.

„Aber...“, fügt Emily hinzu; „davor werde ich noch euch drei umbringen...“

Sie hebt die Hand, und plötzlich fällt ein Schuss, der ihre Hand nur um einen Zentimeter verfehlt und die Wand trifft.

Erschrocken drehen sich alle Richtung Flur: Shou steht breitbeinig im zerstörten Türrahmen, mit einer Pistole, die sie in beiden Händen hält. Miho steht mit ernstem Blick hinter ihr.

„Aha“, grinst Emily; „Wer bist du denn?“

„Du Schlampe...“, flüstert Shou zornig; „Es ist wegen DIR! Wegen DIR musste Desmond sterben! Den Mann, den ich mehr als alles auf der Welt geliebt habe! Wegen DIR!!!“

Emily dreht sich nun ganz zu den beiden Frauen und setzt ein süffisantes Lächeln auf:

„Wer soll das sein, Desmond?“

„DU KENNST ALSO NICHT MAL UNSERE NAMEN!!!“, schreit Shou;

„Du kennst uns nicht, und trotzdem zerstörst du unser Leben! Ich hasse dich! Schlampe! Du bist so eine verdammte Schlampe, ICH BRINGE DICH UM!!!“

„Dann schieß doch“, kichert Emily unbeeindruckt.

„Nein, warte!“, ruft Miho plötzlich und reißt Shou zu Boden, als diese mehrmals den Abzug drückt. Die Kugeln prallen an Emily ab als hätte sie ein unsichtbares Schild um sich und werden in andere Richtungen gelenkt. Eine von ihnen verfehlt Shou haarscharf.

„Du... hast mich gerettet...“, keucht sie leise und schaut Miho an; „Woher wusstest du das?“

„Das war doch klar“, gibt Miho schnell zurück; „Wenn sie schon sagt, dass du schießen kannst.“

Keisuke ist nicht so überzeugt davon, es hätte ja auch ein Bluff sein können.

Er, Yuri und Shizuka gehen schnell hinter dem Sofa in Deckung.

„Verdammt...“, flucht Shou, als sie und Miho, die leicht überfordert „Was machen wir denn jetzt?“, fragt, wieder aufstehen.

Die Rothaarige sieht sie ernst an: „Habt ihr noch Weihwasser?“

Mit bedauernder Miene schüttelt Miho den Kopf.

„Seht es ein!“, gähnt Emily und stützt ihren Kopf selbstsicher auf ihrem Handrücken:

„Ihr seid zu fünft und ich bin alleine. Ihr könnt mich trotzdem nicht besiegen. Das zeigt doch, wie niederträchtig ihr Menschen seid!“

„Ich bin ein Vampir“, knurrt Keisuke beleidigt, aber so leise, dass sie ihn nicht hört.

Emilys Lächeln verschwindet mit einem Mal.

Mit leuchtend roten Augen schreitet sie auf die beiden Frauen im Türrahmen zu, die vor Panik schreiend zu beiden Seiten weglaufen und so Platz für einen fremden Mann hinter ihnen schaffen.

Abrupt bleibt Emily stehen und schaut ihn leicht geschockt an.

Miho und Shou wirken auch erstaunt.

Der Fremde macht einen sehr eleganten Eindruck, er trägt einen vornehmen schwarzen Anzug über einem makellosen weißen Hemd und einer dünnen, roten Fliege.

Sein dunkelbraunes Haar ist perfekt zur Seite gekämmt, ohne irgendwelche abstehende Strähnen.

Die goldene Brille und die rubinrote Brosche lassen ihn sehr reich und edel wirken.

„Oh, Meadow... Ich hätte dich fast nicht erkannt...“, sagt Emily beruhigt; „Ich muss schon sagen, du hast dich gemacht.“

„Es freut mich, dass es Euch auffällt, Madame“, antwortet Meadow und verneigt sich leicht.

„Ein Vampir!“, ruft Yuri, die hinter dem Sofa hervorlugt; „Schaut euch die roten Augen an!“

Sofort richtet Shou ihre Pistole auf den Mann, den das ziemlich kühl lässt.

„Warum hast du nicht in der Limousine gewartet? Ich bin gleich hier fertig“, schnaubt Emily.

„Nun, ich habe hier ebenfalls noch etwas zu erledigen.“

Er wirft einen Seitenblick auf Shou und winkt Emily daraufhin mit seinem Finger zu sich.

„Schieß noch nicht!“, rät Miho, die sich hinter dem Esstisch versteckt.

„Wenn wir so nah beieinander stehen, wird die Kugel zurückgeworfen, auch wenn du auf Meadow schießen solltest“, sagt Emily tonlos. In der Tat steht sie direkt vor Meadow, sie berühren sich fast.

„Madame, macht Euch darüber keine Sorgen“, ermuntert er Emily und greift in die Innentasche seines Sakkos: „Sie wird nicht schießen.“

Emily grinst: „Was hast du vor, du Schelm?“

Ihr Grinsen erlischt in der nächsten Sekunde, die von Stille erfüllt ist.

Zitternd senkt sie ihren Kopf, um unweigerlich festzustellen, dass ihr ein dünnes Skalpell im Herzen steckt.

„Sie wird nicht schießen, weil ihre Feindin vorher tot sein wird.“ Sein Blick ist kühl, seine Stimme ruhig. Emily sieht ihn entsetzt und verzweifelt an.

Ein paar Sekunden stehen sie nur da, doch schließlich rutscht Emily zu Boden.

Gleichzeitig lässt Shou ihre Pistole sinken, ihr Mund ist leicht geöffnet.

Langsam bildet sich eine Blutlache um Emily herum.

Miho kommt hinter dem Esstisch hervor, während die drei Jugendlichen hinter dem Sofa langsam aufstehen und schweigend die Leiche auf dem Boden betrachten.

„Wenn ich mich selbst vorstellen dürfte, mein Name ist George Meadow“, sagt der Mann unberührt und verneigt sich leicht.

Das Traumschloss

Das Traumschloss
 

„Ist sie... wirklich tot...?“, haucht Shizuka unsicher.

Shou macht kurzen Prozess: Sie zückt ihre Waffe ein weiteres Mal und schießt auf Emilys am Boden liegenden Körper. Die Kugel wird nicht abgelenkt sondern trifft sie am linken Oberschenkel. Allerdings spritzt kein Blut.

„Sie muss tot sein“, stellt Shou entschieden fest; „Sonst würde Blut aus der Schusswunde treten. Und selbst wenn für diese Schlampe nicht die Regeln des menschlichen Körpers gelten...“

„Dass der Schuss sie überhaupt treffen konnte, ist Beweis genug“, sagt Meadow gelangweilt.

„Warum... haben Sie uns geholfen?“, fragt Miho leicht atemlos.

Sie hat Keisuke in den Arm genommen und wendet sich nun an den fremden Herrn.

Dessen Gegenfrage lautet wie folgt: „Könnte ich es Ihnen bei einem Glas Wein erklären, Madame?“

„Ähm, sicher.“ Miho geht zu einem der Schränke und durchsucht sie.

Dabei murmelt sie etwas wie: „Seltsam... Wo ist denn all der Wein...?“

Yuri und Shizuka sitzen derweil müde auf dem Sofa und starren die Leiche an, woraufhin Keisuke aufsteht und sagt: „Ich hole schnell eine Decke von oben.“

„Ich komme mit“, fügt Yuri sofort hinzu, aber Shizuka flüstert betrübt: „Ich nicht...“

Keisuke kann ihr ansehen, dass sie das ganze Blutvergießen satt hat.

Er und Yuri schlendern die Treppe hoch bis in sein Zimmer, wo beide erstmal einen Schreck bekommen: Sense liegt regungslos in der Ecke, mit einer Platzwunde am Kopf und einem kaputten Blumentopf neben ihm.

Yuri spurtet sofort los um seinen Puls zu fühlen, während Keisuke sich langsam nähert.

„Ist er... tot?“, fragt er entsetzt.

Sie nickt traurig: „Das war bestimmt Emily. Auch wenn ich nicht weiß, warum...“

Keisuke kann es nicht verstehen, Emily schien so sehr an Sense zu hängen, wieso sollte sie ihn umgebracht haben? Aber jemand anderes kommt dafür wohl wirklich nicht in Frage.

„Wenigstens ist jetzt alles vorbei...“, seufzt er und setzt sich auf sein Bett.

Yuri gesellt sich neben ihm und legt ihre Hand auf sein Knie: „Ja...“

Müde schweigen sie eine Zeit lang.

„NEIN!“, ruft Keisuke plötzlich, Yuri zuckt zusammen: „Was ist los?“

Er deutet auf seinen Schreibtisch, wo man einst einen Computer finden konnte.

Jetzt nur noch einen Haufen Schrott.

Er ist den Tränen nahe: „Emily... hat wirklich meinen Computer zerstört... Wieso?!“

„Sie ist durch und durch grausam“, gähnt Yuri und klopft ihm auf die Schulter:

„Aber wie kommt es überhaupt, dass dich DAS jetzt interessiert? Wir haben doch echt wichtigere Dinge am Hals!“

Sie steht auf und bückt sich erneut zu Senses Leiche: „Emily ist tot, also hast du jetzt doch auch deine Fähigkeit zurück, oder?“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, gibt Keisuke zurück; „Aber ich habe ehrlich gesagt keinen Unterschied an mir festgestellt.“

Das Fuchsmädchen fasst an Senses Schultern und hievt seinen Kopf auf ihren Schoß.

„Kannst du ihn wiederbeleben?“, fragt sie hoffnungsvoll.

„Nein, er ist kein Mensch“, entgegnet er nachdenklich.

„Bisher haben dir zwar alle gesagt, dass du nur Menschen erwecken kannst, aber vielleicht klappt es ja trotzdem! Bitte, versuch es wenigstens!“

Keisuke gibt nach und hockt sich vor Yuri.

Und jetzt? Wie belebt man jemanden wieder?

Fragend schaut er das Mädchen an, die gerade ein Wunder von ihm erwartet.

Er seufzt und versucht, sich zu konzentrieren. Dann hält er seine Hände ausgestreckt über Senses Körper.

Weil nach ein paar Sekunden immer noch nichts passiert ist, berührt er Senses Kopf mit seinen Fingern, was sich ebenfalls als vergeblich herausstellt.

Resignierend steht er wieder auf: „Tut mir leid...“

Yuri seufzt enttäuscht: „Dann stimmt es wohl. Einen Versuch war es wert. Ich hätte aber echt gerne gewusst, warum Emily ihn getötet hat. Vielleicht... hat er sich auch gegen sie gestellt, so wie Vigor?“

„Da können wir nur spekulieren“, antwortet er tonlos und lässt sich mit dem Rücken auf sein Bett fallen. Eigentlich wollte er ja eine Decke für die tote Emily im Wohnzimmer holen, aber es widerstrebt ihm aus irgendeinem Grund, nach unten zurück zu gehen.

Für eine Sekunde schließt er die Augen.

Ist jetzt wirklich alles vorbei? Wird er Desmond wiedererwecken können? Und mit seiner Hilfe auch Verena? Wirklich glauben kann er das nicht.

Er öffnet die Augen wieder und sieht, dass Yuri in der Zwischenzeit aufgestanden ist und nun mit einem leeren Blick auf ihn herabsieht.

„Was ist los?“, fragt Keisuke müde.

„Ich... es schmerzt so...“, flüstert Yuri und ihre Augen füllen sich plötzlich mit Tränen.

Er richtet sich auf und schaut sie fragend an: Was hat sie auf einmal?

„Ich habe so gehofft... Ich habe daran festgehalten, dass ich endlich glücklich sein kann, wenn Vigors Mörder tot ist...“

Keisuke erinnert sich an das, was sie ihm vor einiger Zeit in der Bibliothek erzählte.

Vigor, Yuris damaliger Freund, wurde von einem Curser umgebracht, nachdem er sich dazu entschieden hat, aus der blutrünstigen Organisation auszusteigen.

„Decay, der Typ, der ihn getötet hat... Den konnte ich mit Lunas Hilfe umbringen...“, schluchzt sie und hält ihren Blick immer noch auf Keisuke gerichtet; „Emily hat der Fremde unten erledigt, und Sense ist auch tot... Alle, die an dem Mord an Vigor beteiligt waren, sind tot! Warum... geht es mir nicht besser? Warum schmerzt es immer noch so sehr?!“

Keisuke würde ihr gerne helfen, weiß aber nicht wie.

Er hätte sich wirklich für sie gewünscht, dass die vollendete Rache ihren Schmerz lindern würde, aber offensichtlich ist es nicht so.

„Yuri... Es tut mir so leid...“, sagt er hilflos.

In diesem Moment hasst er sich selbst, denn er ist nicht sehr gut darin, andere zu trösten.

Ganz im Gegensatz zu Shizuka, also steht er auf und will sie holen gehen, doch Yuri greift nach seinem Handgelenk und fleht: „Bitte... Geh jetzt nicht weg...“

Mit ihren roten Augen sieht sie ihn schmerzerfüllt an.

Diese schönen, roten Augen... Für gewöhnlich haben nur Vampire rote Augen, fällt Keisuke auf.

Yuri ist die einzige Ausnahme, die er kennt.

Er nimmt vorsichtig ihre Hand mit seinen beiden und lächelt sie an: „Ich bleibe...“

Daraufhin fällt sie ihn weinend um den Hals.

Die Umarmung ist so innig, sie sind sich so nahe, dass Keisuke ihr Leid förmlich fühlen kann und ihm selbst die Tränen kommen, doch er versucht, diese aufzuhalten.

Dabei ist es eigentlich ein so schönes Gefühl, umarmt zu werden. Wenn er ehrlich ist, es genau das, was er jetzt braucht, und dasselbe gilt wahrscheinlich für sie.

„Wolltet ihr nicht eine Decke holen?“

Überrascht lassen die beiden Jugendlichen einander los; Shizuka lehnt im Türrahmen und schaut sie recht vorwurfsvoll an.

„Ja“, sagt Keisuke leicht durcheinander und holt eine Decke aus dem unteren Fach seines Kleiderschranks. Ruhig gehen sie zu dritt wieder nach unten.

Yuri hat scheinbar in dem Moment aufgehört zu weinen, in dem sie Shizuka bemerkt hat.

Unten im Flur angekommen, treffen sie Miho und Shou vor der Haustür.

„Hallo“, begrüßt Keisuke die Rothaarige; „Ähm... Das klingt jetzt blöd, aber wer sind Sie eigentlich?“

Sie grinst, aber Miho antwortet für sie: „Das ist Desmonds Freundin Shou. Ich habe dir schon einmal von ihr erzählt. Es gab wegen der Sache mit dem Mord eine Menge Stress...“

Shou nickt: „Ich wurde verhaftet und beschuldigt, ihn getötet zu haben. Schwachsinn! Wie konnte die Polizei es nur wagen, solche Behauptungen zu machen?! Miho hat mich über alles aufgeklärt. Es war ein gestaltwandelnder Vampir, der ihn umgebracht hat. Und der hat sich auch in Mihos Gestalt an Desmond rangemacht. Was für ein mieses Schwein!“

„Ein gestaltwandelnder Vampir?“, wiederholt Keisuke.

„Stephan... Meinen Freund Stephan gab es gar nicht“, sagt Miho traurig; „Dieser ekelhafte Typ hat sich nur dafür ausgegeben, um unsere Familie besser ausspionieren zu können. Als Shya einmal weggelaufen ist und er sie uns wiedergebracht hat, ich wette darauf, dass er es war, der sie entführt hat. Nur, damit ich mich... noch mehr in ihn verliebe...“

Sie wird von allen vier Personen mitfühlend angeschaut.

„Miho, ist alles okay...? Kommst du damit zurecht?“, fragt Shizuka besorgt.

„Ja. Er war nichts weiter als eine Illusion, das ist mir nun bewusst.“

„Und was ist aus ihm geworden?“, will Keisuke wissen.

„Er...“ Mihos Atem stockt; „Er liegt tot draußen... Irgendwie habe ich... irgendwie habe ich...“

„Schon gut, Miho“, lächelt Shou und klopft ihr auf die Schulter: „Es war das richtige.“

„Dieser Typ... War sein Name zufällig 'Cyst'?“, fragt Yuri.

Miho schaut sie erstaunt an: „Ähm ja, das ist richtig. Woher weißt du das?“

„Er ist der Grund, warum Emily heute Nacht hierher gefahren ist. Sie wollte ihn abholen, nachdem wir in der Villa am Riverside Hill aufgeräumt haben“, erklärt das Fuchsmädchen.

„Ach richtig, wie ist es eigentlich gelaufen? Wo sind die anderen?“, fragt Miho.

„Luna, Epheral und Samuel sind schwer getroffen wurden. Raito fährt sie ins Krankenhaus“, antwortet Keisuke und Shizuka zückt ihr Handy: „Er müsste doch eigentlich mittlerweile angekommen sein? Ich rufe ihn mal an.“

Sie wählt die Nummer und hält sich den Hörer ans Ohr: „Es nimmt niemand ab. Also ist er nicht mehr im Auto.“

Diese Aussage verwirrt Keisuke zuerst, aber dann fällt ihm ein, dass Raitos Wagen ein integriertes Mobilfunksystem besitzt und Shizuka dieses gerade zu erreichen versucht hat.

„Jedenfalls konnten wir alle Cursers dort beseitigen“, sagt Keisuke abschließend;

„Vermutlich gibt es noch ein paar Verstreute, aber ohne einen Anführer stellen die keine ernste Gefahr mehr dar.“

Die beiden Frauen atmen erleichtert aus: „Gut.“

Shou wendet sich an Miho: „Ich werde mich jetzt auf den Weg machen. Ich will nur noch nach Hause zurück.“

„Aber was ist mit Desmond? Vielleicht können wir ihn wieder zum Leben erwecken.“

Shou lächelt: „Wenn es soweit ist, soll er mich bitte in Kanada anrufen. Ich werde darauf warten. Und Miho, hab nochmal vielen vielen Dank, für alles. Auch dafür, dass du mich aus diesem Kerker befreit hast.“

„Ich muss dir auch danken. Dafür, dass du mir geglaubt hast“, erwidert Miho, woraufhin Shou anfängt, zu lachen: „So wie du ausgesehen hast, musste ich dir einfach glauben!“

Miho wird knallrot. Einen Schönheitswettbewerb würde sie in ihrer momentanen Erscheinung wirklich nicht gewinnen.

Die beiden Frauen umarmen sich vorsichtig, dann verlässt Shou das Haus und macht sich auf den Weg. Miho schaut ihr hinterher.

„Ist es nicht gefährlich, sie alleine gehen zu lassen?“, fragt Shizuka besorgt.

„Nein“, entgegnet Miho ruhig; „Sie hat ja noch die Pistole, die wir vom Polizeirevier mitgenommen haben. Sie wird in die nächste Großstadt fahren und von dort aus ein Flugzeug Richtung Kanada nehmen. Ich hoffe, sie kommt gut an...“

Obwohl sie mit den Rücken zu Keisuke steht, weiß er, dass seine Schwester gerade lächelt.

Sie blickt noch eine Weile in die Dunkelheit, bis sie schließlich die Tür schließt.

„Gib mir die Decke“, fordert sie Keisuke auf, der ihr sie auch sofort in die Hand drückt.

Dann geht sie wortlos ins Wohnzimmer zurück.

„Miho, warte!“, ruft Keisuke. Sie dreht sich um: „Hm?`“

„Der Typ da...“ Keisuke spricht leise, um sicherzustellen, dass der Fremde im Wohnzimmer sie nicht hört; „Was hast du über ihn herausgefunden?“

Miho schaut nachdenklich nach oben.

„Hmm... Er mag Rotwein und französischen Käse...“

Yuri und Keisuke starren sie ungläubig an.

„Er hat noch nicht viel von sich erzählt“, sagt Shizuka und wirft ebenfalls einen misstrauischen Blick ins Wohnzimmer.

Miho seufzt: „Er sagt, er sei kein Curser. Er dient jemand anderem.“

„Aber wen?“, fragt Keisuke neugierig.

Dass der gut angezogene Mann nicht zu den Cursers gehört, glaubt er gerne, immerhin hat er Emily ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht.

„Rage Halo...“, antwortet Miho ihm leise.

Beim Klang des Nachnamens zuckt er fast zusammen: „Das... das ist Raitos Vater! Der König aller Vampire.“

„Also doch...“, wispert Miho.

„Angeblich ist er der erste Vampir, der je erschaffen wurde... Zumindest hat Raito das erzählt“, sagt Keisuke mehr zu sich als zu den anderen.

„Wir waren alle dabei“, entgegnet Yuri ungeduldig; „Was habt ihr noch herausgefunden?“

„Um ehrlich zu sein, wir haben uns mehr über das Essen unterhalten... Er hat sehr gute Manieren“, flüstert Miho und wird rot.

„Dann werden WIR jetzt eben mal mit ihm reden“, faucht das Fuchsmädchen und nickt zu Keisuke.

„Seid vorsichtig“, rät Shizuka leise, alle schauen sie an.

„Dieser Mann... Er hat etwas, dem ich nicht traue...“

Ihr Blick ist gesenkt, die schwarzen Haare fallen ihr seitlich über die Wangen.

„Es ist nicht sehr nett, einen Gast so lange alleine warten zu lassen.“

Meadow sitzt nicht mehr am Esstisch sondern steht genau vor ihnen.

„Kannst du... dich teleportieren?“, keucht Miho erschrocken.

Er schüttelt den Kopf: „Ich habe die Fähigkeit, mich unsichtbar zu machen, wie es mir beliebt.“

„Wenn ihr Fragen habt, könnt ihr sie ruhig stellen“, sagt er freundlich.

„Am besten drinnen“, merkt Miho an.

Im Wohnzimmer haben sich die drei Jugendlichen zusammen auf das Sofa gequetscht und Miho hat sich einen der Stühle geholt, während Meadow auf dem Sessel Platz genommen hat.

Emilys Leiche ist inzwischen unter der Decke verstaut.

„Okay, meine erste Frage!“, wirft Keisuke ein; „Warum liegt Sense oben tot in meinem Zimmer?“

„Was?! Bei dir liegt ein Toter im Zimmer?!“, entfährt es Miho, und Shizuka hält sich beide Hände vor den Mund: „Ich war eben oben, aber mir ist das gar nicht aufgefallen...“

„Ja, da wo du gestanden hast, konntest du ihn auch nicht sehen“, klärt Yuri sie auf.

Meadow richtet sich an Keisuke: „Das weiß ich auch nicht. Vor einer halben Stunde war er noch quicklebendig, und da er ein Vampir ist, nehme ich mal an, jemand hat ihn umgebracht.“

„Vermutlich Emily. Könntest du dir vorstellen, warum?“, hakt er weiter nach.

„Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Aber ich kann dir auch keine genaue Antwort darauf geben.“

Enttäuscht atmet Keisuke aus.

Shizuka meldet sich zu Wort: „Warum hast du Emily getötet?“

Ein Lächeln bildet sich auf Meadows Gesicht: „Das war der Befehl meines Herrn. So viel kann ich dazu nur sagen. Und, dass ich sowohl auf eine Leiche als auch eine Blutlache in der Limousine verzichten kann.“

„Deshalb hast du sie erst hier getötet, und nicht vorher“, schlussfolgert Keisuke, und der Mann nickt zustimmend.

„War es auch ein Teil des Befehls, sie von der Villa am Riverside Hill abzuholen?“

„So ist es. Mehr möchte ich dazu aber nicht sagen.“

„Dieser Rage muss wirklich grausam sein. Seine eigene Frau umbringen zu lassen“, murmelt Shizuka traurig.

„Raito hätte auch nicht gezögert, sie zu töten, auch wenn sie seine Mutter war“, erinnert Keisuke sie.

„Herr Meadow, würden Sie uns mehr über den Vampirkönig erzählen?“, fragt Miho freundlich, aber ihr Blick ist ernst.

„Warum fragt ihr ihn nicht selbst?“, lautet dessen Gegenfrage; „Ich habe nämlich auch den Befehl, euch vier auf sein Schloss einzuladen.“

„Uns?!“, rufen alle wie im Chor.

„Was sollen wir denn da? Was will er von uns?“, fragt Yuri skeptisch.

Meadow lächelt: „Es gibt immer noch Cursers, auch wenn es wenig sind und sie ihr Oberhaupt verloren haben. Womöglich werden sie sich an euch rächen. Bis alle von ihnen beseitigt sind, werden wir euch sicheren Unterschlupf gewähren.“

„Und das glauben wir Ihnen jetzt auch...“, sagt Keisuke ironisch.

Daraufhin deutet Meadow auf die verdeckte Leiche von Emily Halo, die auf dem Fußboden liegt: „Wenn das nicht Grund genug ist, mir zu glauben, dann weiß ich mir auch nicht mehr zu helfen.“

Nach einer kurzen Pause lächelt Miho: „Da hat er recht. Ist es ein großes Schloss? Ich wäre nicht dagegen, ganz ehrlich...“

„Miho! Es könnte eine Falle sein!“, versucht Shizuka, sie zu ermahnen, aber Miho schüttelt den Kopf: „Was sollen wir denn sonst machen? Hier bleiben? In einem zerstörten Haus, in dem ein paar Leichen herumliegen? In einer Stadt, in der rachsüchtige Vampire ihr Unwesen treiben? Wir haben doch gar keine Wahl.“

„Aber es geht nicht!“ Keisukes Stimme ist ungewöhnlich laut: „Es gibt jemanden, den ich zurück ins Leben holen muss. Bis dahin kann ich nicht mitkommen!“

Meadow blickt ihn ein paar Sekunden an. Dann steht er vorsichtig auf, geht langsam zu Keisuke herüber und neigt sich leicht nach vorne, sodass er ihm direkt in die Augen schaut.

„Du sprichst von Desmond Corin, oder...?“, sagt er ruhig.

Keisuke nickt ein bisschen ängstlich.

„Das war uns bewusst“, lacht Meadow; „Du musst wissen, seine Leiche ist auch im Schloss.“

„Was?! Warum?“, will Keisuke sofort wissen.

„Möchtest du jetzt mitkommen?“

In diesem Moment fühlt Keisuke sich wie die Figur auf einem Schachbrett.

Was hat der Vampirkönig davon, wenn er Desmond wiederbelebt?

Befindet sich dieser überhaupt dort? Was soll er tun?

Hilflos schaut er zu den anderen.

Miho schaut die beiden nachdenklich an, Shizuka hat ihren Blick abgewendet und Yuri sagt:

„Gehen wir hin. Wenn wir alle zusammen hingehen, wird bestimmt nichts passieren.“

Keisuke nickt langsam.

Wenn der Typ die Wahrheit sagt, dann hat er keine andere Wahl.

Immerhin will er doch Desmond und durch seine Hilfe dann Verena wiederbeleben.

„Okay, wir kommen mit“, seufzt Keisuke; „Auch wenn ich das Gefühl habe, dass ihr uns manipuliert.“

Meadow setzt sich wieder hin: „Natürlich tun wir das. Aber das heißt nicht, dass es nicht auch für euch das beste ist, stimmt ihr mir da nicht zu?“

„Ich gehe aber vorher noch etwas trinken“, sagt Keisuke und geht in die Küche.

Seinen Blutdurst will er nicht länger zurückhalten.

Miho wendet sich unterdessen an Yuri:

„Yuri, ist es in Ordnung, wenn du mitkommst? Wegen deinen Eltern, meine ich...“

Das Fuchsmädchen winkt ab: „Keine Sorge, ich habe sowieso Stubenarrest, wenn die nur sehen, wie dreckig ich bin...“
 

„Wie spät ist es...?“, fragt Keisuke müde.

Sie sitzen zu viert in der Limousine, zu fünft, wenn man Meadow mitrechnet, der vorne sitzt und den Wagen steuert.

„Fast vier Uhr...“, antwortet Shizuka mit einem Blick auf ihre Armbanduhr.

„Dann geht ja bald die Sonne auf“, gähnt Yuri.

Die Fahrt geht noch eine Weile sehr still weiter, denn alle sind müde und niemand hat noch viel Lust, zu reden.

Das war die längste Nacht meines Lebens, denkt Keisuke.

Schließlich hält der Wagen an.

„Wir sind da“, verkündet Meadow und öffnet die Türen.

Erschöpft steigen die vier aus und stehen nun vor einem riesigen Gebäude, viel größer als die Villa am Riverside Hill oder Samuels Zuhause.

Im weitflächigen Vorgarten, der von einem dunklen Stahlzaun umgeben ist, stehen dunkelgrüne Tannen und alte, aufwendig gearbeitete Springbrunnen, aus denen jedoch kein Wasser sprießt.

Das Schloss selbst sieht aus, als sei es schon mehrere hundert Jahre alt, man erkennt extrem viele Fenster, was auf eine unglaubliche Anzahl von Räumen schließen lässt.

Zusätzlich ragen zwei hohe Türme aus dem Gebäude, die kegelförmige Dächer aufweisen.

Vermutlich steht dieses Anwesen unter Denkmalschutz, überlegt Keisuke, während Meadow ihn und seine Begleiterinnen zum Eingang führt.

„Dieses Schloss sieht supergeil aus!“, freut Yuri sich, und Miho nickt; „Ich habe das Haus meiner Eltern immer geliebt, aber es muss bestimmt auch schön sein, in so einem Schloss zu wohnen.“

Shizuka schweigt, sie scheint sich überhaupt nicht dafür zu interessieren, oder sie ist einfach schon zu müde.

Gemeinsam betreten sie das Schloss und finden sich in einer riesigen, langen Halle wieder, Kronleuchter zieren die Decke, es stehen Engelsstatuen an den Seiten, der Marmorboden glänzt.

Von außen mag das Gebäude alt wirken, aber innen macht es den Eindruck, als würde es jeden Tag sorgfältig geputzt werden.

„Wow! Und das ist nur der Flur!“, staunt Yuri.

„Ja, wirklich schön...“, gähnt Keisuke.

Meadow dreht sich um, woraufhin alle stehen bleiben.

„Ihr scheint müde zu sein“, stellt er fest; „Es wäre besser, wenn ihr morgen mit dem Herrn sprecht. Ich führe euch in eure Zimmer.“

„Das ist eine gute Idee“, stimmt Miho mit einem Blick auf Keisuke und Shizuka zu.

Über einige Treppen, auf denen mittig ein langer, roter Teppich ausgebreitet ist, erreichen sie nach ein paar Minuten einen langen Gang.

„Das hier ist der Schlafsaalkorridor für Gäste“, erklärt Meadow.

Man hört, dass die Gewohnheit aus ihm spricht, vermutlich hat er diesen Satz schon häufiger benutzt.

„Ähm, bevor Sie uns in unsere Zimmer führen...“, fängt Miho an und erntet erwartungsvolle Blicke; „Ich möchte nicht, dass jemand von uns alleine schläft. Können wir uns auf zwei Zimmer verteilen?“

Macht sie sich also doch Sorgen?

Falls plötzlich ein Axtmörder ins Zimmer platzt?

„Natürlich“, antwortet Meadow; „Aber die Schlafzimmer verfügen jeweils über nur ein großes Bett.“

„Das ist kein Problem“, sagt Miho sofort.

Meadow nickt und weist sie an, weiter zu gehen.

Keisuke läuft etwas vor und fragt seine Schwester: „Schlafen wir in einem Zimmer?“

Daraufhin zieht Miho ihn etwas an den Rand, damit die anderen nichts hören:

„Ich mache mir ehrlich gesagt etwas Sorgen um Shizuka. Ist es okay für dich, wenn ich bei ihr in einem Zimmer schlafe? Normalerweise ist es ja sonst auch so.“

„Ähm, okay“, erwidert Keisuke leicht verwirrt.

„Du hast ja schon mal bei Yuri übernachtet, also ist das doch nichts besonderes für dich“, sagt sie gelangweilt.

So stimmt das zwar, aber da haben sie sich kein Bett geteilt. Zumindest nicht die ganze Nacht über.

„Hier hätten wir ein schönes Zimmer. Jeder Raum hat natürlich ein eigenes kleines Bad“, erzählt Meadow freundlich und öffnet eine der bleichen Holztüren, hinter der sich ein majestätischer Raum freigibt, mit einem Fernseher, einem großen Himmelbett mit weißen Vorhängen sowie einigen anderen Möbeln, die das Schlafzimmer wie das Gemach einer Prinzessin wirken lassen.

„Der Raum ist schön. Hier werden Shizuka und ich schlafen. Wenn ihr nichts dagegen habt“, lächelt Miho und schaut Yuri an, die wiederum Keisuke anschaut, der einfach nur zu Boden starrt.

„Hm, nein, ist es nicht“, grinst das Fuchsmädchen.

„Für euch, wie wäre es mit dem Zimmer direkt nebenan?“, fragt Meadow und geht zur nächsten Tür. Miho folgt ihm, aber Shizuka bleibt stehen.

Leise sagt sie: „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie müde ich bin. Ich mache mich schon mal bettfertig... Gute Nacht, Keisuke, gute Nacht, Yuri.“

„Gute Nacht“, antworten die beiden fast gleichzeitig und gehen schließlich auch zum nächsten Raum. Dieser ist fast genauso groß wie der andere, enthält ein dunkelrot überlegtes Bett und einige Schränke aus Ebenholz. Man merkt, dass man sich in einem reichen Haus aufhält.

„In den Schränken findet ihr Sachen zum Wechseln. Ihr solltet euch morgen umziehen, bevor ihr dem Vampirkönig gegenübertretet.“

Da bin ich ja mal gespannt, überlegt Keisuke skeptisch.

„Das gilt selbstverständlich auch für euch“, fügt Meadow mit einem Blick auf Miho hinzu, die verstehend nickt: „Gut, ich komme mir momentan sowieso extrem schmuddelig vor...“

„Wo sie es erwähnen...“ Meadow tritt sehr nah an sie heran und untersucht ihren Oberarm:

„Was ist mit Ihrer Wunde?“

„Schon gut, das war nur ein Streifschuss“, sagt Miho und winkt ab, als ob sie sowas gewohnt wäre.

Keisuke schaut seine Schwester bemitleidend an. Sie hat richtige Verletzungen davongetragen, obwohl sie nicht einmal mit in die Villa gekommen ist. Wenn doch nur Luna hier wäre...

„Sie sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Wunde kann sich entzünden, wenn man sie nicht behandelt. Ich werde jemanden zu euch schicken, der sich um Sie kümmert.“

„Danke“, sagt Miho und Meadow verabschiedet sich.

„Gute Nacht, ihr beiden. Treibt es nicht zu wild“, lächelt sie, woraufhin Keisuke sie fassungslos ansieht: „Miho! Wie kannst du...?“

Sie fängt an, zu lachen: „Ich mache doch nur Spaß. Warum regst dich so auf? Du wirst ja rot.“

Yuri schaut ihn mit großen Augen an und fängt dann ebenfalls an, zu lachen.

„Gute Nacht“, sagt Keisuke überfordert und geht ins Zimmer.

Er setzt sich auf einen der Stühle und zieht sich die Schuhe aus, während Yuri hereinkommt.

„Du bist doch nicht beleidigt oder so?“, hakt sie nach und wirft ihre Schuhe achtlos in eine Ecke.

„Nein“, antwortet er, nachdem er sich auch die Socken ausgezogen hat.

Er ist so müde, er will sofort schlafen gehen.

Yuri tauscht das Licht des Kronleuchters gegen das einer Nachttischlampe aus, dann bittet sie Keisuke, sich umzudrehen, sodass sie sich umziehen kann.

„Ist okay, ich ziehe mich dann direkt auch um“, erwidert er und zieht Hose und T-Shirt aus.

Dann klettert er ins Bett, in dessen andere Seite sich Yuri schon eingekuschelt hat.

„Hier ist es echt schön“, sagt das Fuchsmädchen und macht das Licht aus.

„Ja, ein richtiges Traumschloss“, gähnt Keisuke.

Die beiden liegen fast einen Meter auseinander, er am rechten Ende des Bettes, sie am linken.

Er kann sich gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte mal mit einem Mädchen im selben Bett geschlafen hat. Wahrscheinlich schon ein paar Jahre her, und dann vermutlich mit Shizuka.

„Ist dir das unangenehm?“, fragt Yuri plötzlich; „Du liegst so nah am Rand...“

„Du doch auch“, entgegnet Keisuke, sieht aber, dass sie inzwischen ziemlich in der Mitte des Bettes liegt. Sie fängt an zu kichern, hört aber relativ schnell wieder damit auf.

Schüchtern rutscht er ein paar Zentimeter weiter in die Mitte, aber dann greift Yuri nach seinem Arm und zieht ihn näher an sie heran. Mit hochrotem Kopf schaut er sie fragend an.

„Nach all den Erlebnissen heute Nacht würde ich alleine nicht gut schlafen können“, erklärt sie lächelnd; „Ist das bei dir nicht genau so?“ Zuerst zögert Keisuke, doch dann nickt er zustimmend.

Geschwister

Geschwister
 

Sanfte Sonnenstrahlen, die durch das Fensterglas hineingleiten, empfangen Keisuke am nächsten Morgen. Er gähnt herzhaft und reibt sich die Augen.

Diese Nacht ist er sehr schnell eingeschlafen, was ja bei dem anstrengenden Tag gestern kein Wunder ist. Er wirft vorsichtig einen Blick auf Yuri, die immer noch friedlich neben ihm schlummert. Eine Weile bleibt er ganz ruhig liegen und genießt das Sonnenlicht auf seiner Haut, doch nach einigen Minuten wird es ihm unangenehm.

Nach allem ist er immer noch ein Vampir, und nicht einmal eingecremt.

Zögerlich steht er auf, bedacht darauf, Yuri nicht zu wecken.

Kaum ist er aus dem Bett gestiegen, zieht er das T-Shirt und die Hose von gestern wieder an, damit sie ihn, falls sie plötzlich aufwacht, nicht in Unterwäsche dastehen sieht.

Das wäre ihm ziemlich peinlich.

Barfuß schleicht er ins Badezimmer, er würde gerne duschen.

Hat Meadow nicht auf Klamotten zum Wechseln im Schrank hingewiesen?

Keisuke geht ins Schlafzimmer zurück, aber als er den alten Holzschrank öffnet, gibt dieser ein lautes Quietschen von sich, das Yuri aufweckt.

Verschlafen dreht sie sich um und schaut ihn wortlos an.

„Guten Morgen“, begrüßt der Vampir sie leise, aber alles was er als Antwort erhält ist ein undeutliches „Nein... Noch nicht...“

Sie zieht die Bettdecke zur Hälfte über den Kopf und schläft wieder ein.

Auch bei ihr haben die Ereignisse von gestern Spuren hinterlassen.

Nun wendet Keisuke sich wieder dem Schrank zu; Es hängen verschiedene Kleidungsstücke darin, aber eins ist hässlicher als das andere.

Schließlich entscheidet er sich für ein weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose, obgleich ihm solche Klamotten nicht gefallen, denn er ist Jeans gewohnt und mag eher lockere Sachen.

Im Badezimmer zieht er sich aus und stellt sich unter die Dusche.

Wie spät es wohl ist? Bestimmt schon fast nachmittags.

Leider hängt hier nirgendwo eine Uhr.

Verdammt, wenn er doch bloß auch ein Handy hätte, so wie Shizuka.

Die Gedanken legt er erst einmal beiseite und versucht, sich beim Duschen zu entspannen.

Plötzlich klopft es an der Tür: „Keisuke? Bist du da drin?“ Yuri ist offensichtlich wach.

„Ich dusche gerade“, ruft er und wirft einen misstrauischen Blick zur Tür.

Er hat doch abgeschlossen, oder?

Wenn nicht, und Yuri kommt jetzt einfach herein, würde sie ihn nackt sehen.

Nein, er muss abgeschlossen haben, er ist sich ganz sicher.

„Mach schnell, ich muss mal“, kommt von der anderen Seite der Tür, und dann ist Stille.

Erleichtert atmet Keisuke aus.

Dann wollen wir ihr den Gefallen mal tun, denkt er, und lässt sich nicht mehr ansatzweise so viel Zeit wie vorher.

Als er fertig das Badezimmer verlässt, steht Yuri vor der Tür: „Wie siehst du denn aus?“

Der Kommentar ist wohl auf seine Kleidung bezogen.

„Ich habe im Schrank nichts besseres gefunden“, erklärt er und wird dabei rot, sie nickt verstehend: „Aha...“ Der Anflug eines Lächelns bildet sich auf ihrem Gesicht, aber Keisuke kann das nicht richtig deuten.

Weil sie nach wie vor auf Toilette muss, geht sie an ihm vorbei ins Badezimmer.

„Ich gehe mal nach Miho und Shizuka schauen“, sagt er und geht zur Tür.

„Okay. Ich komme gleich nach, aber vorher will ich mich noch bürsten und so“, sagt sie schnell und macht die Tür zu.

Er geht aus dem Zimmer und schaut sich im Korridor um.

Es gibt hier viele Türen, also viele Gästezimmer, aber im welchen sind seine Schwester und Shizuka noch gleich untergebracht?

Er folgt seiner Vermutung und nähert sich der nächsten Tür von links.

Hier müsste es sein... Wäre er gestern nur nicht so verdammt müde gewesen, dann wüsste er es wohl mit Sicherheit, aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern.

Er klopft an die Zimmertür, erhält aber keine Antwort.

Seltsam, denkt er; Von Shizuka ist er zwar gewohnt, dass sie mal länger schläft, aber Miho steht normalerweise immer als erste auf.

„Kann ich dir helfen?“, ertönt plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihm.

Er erschrickt und dreht sich um.

Vor ihm steht eine Frau, blonde Haare, ein freundliches Gesicht, die eine Art Dienstmädchen-Uniform trägt.

Sie kommt ihm bekannt vor, auch wenn er nicht sagen kann, um wen es sich handelt.

„Ähm, ja... Ich suche meine Schwester. Ich glaube, sie wohnt in diesem Zimmer.“

Die Frau mustert Keisuke von allen Seiten: „Schwester? Meinst du Miho?“

Überrascht starrt er sie an: „Sie kennen sie?“

„Ich habe noch diese Nacht ihre Schusswunde am Oberarm behandelt.“

So ist das also. Meadow sagte, jemand würde sich sofort um ihre Verletzung kümmern, und in diesem Fall war dies die junge Frau vor ihm.

„Wo ist sie jetzt?“, will Keisuke wissen.

„Wahrscheinlich frühstückt sie. Ich begleite dich nach unten, du würdest dich sonst wahrscheinlich verlaufen.“ Sie lächelt unentwegt, als sie das sagt.

Er bedankt sich bei ihr und geht neben ihr durch den langen Gang, bis sie bei einer Treppe angelangen, die sie hinuntergehen.

Um nicht die ganze Zeit zu schweigen, fragt Keisuke die Frau, die ein Mensch und kein Vampir zu sein scheint: „Wie lange sind Sie schon Ärztin?“

Daraufhin fängt sie kurz an zu lachen: „Nein, nein, ich bin keine Ärztin, sondern nur Arzthelferin. Aber Dinge wie Wunden versorgen oder Blut abnehmen bekomme auch ich hin.“

Bei dem Wort „Arzthelferin“ klingelt etwas bei Keisuke, aber es will ihm einfach nicht einfallen.

Es wundert ihn auch, dass ihm Schloss eines Vampirs Menschen angestellt sind.

Hat das einen besonderen Grund? Weiß die junge Frau überhaupt, für wen sie arbeitet?

Keisuke sieht sich nicht berechtigt, sie darüber zu informieren, falls sie es nicht wissen sollte, also schweigt er.

„So, nun da wir im Erdgeschoss sind...“, murmelt sie und zeigt ihm, dass er nur noch geradeaus gehen müsse, um zum Speisesaal der Gäste zu kommen.

Er bedankt sich und geht langsam durch den Flur, dessen eleganter, reiner Marmorboden glänzt und strahlt.

An den Wänden hängen ein paar Gemälde, die sich Keisuke interessiert anschaut.

Auf einigen kann man Personen sehen, bei denen es sich sowohl um Menschen als auch um Vampire zu handeln scheint, wenn man nach den Augenfarben geht. Andere zeigen wunderschöne Landschaften wie provinzielle Dörfer oder wuchernde Wälder.

Dann gibt es wiederum noch Bilder, auf denen er nicht wirklich etwas erkennen kann.

Scheint moderne Kunst oder sowas zu sein.

Schließlich lässt Keisuke die Gemälde an den Wänden stehen und geht zu der Tür, die angeblich in den Speisesaal führt, dorthin, wo Miho sein soll.

Bevor er sie öffnet, hält er inne: Was, wenn sich das um eine Falle handelt?

Misstrauisch schaut er sich um.

Im Moment ist er ganz alleine, und dazu noch unbewaffnet.

Wenn sich hinter den freundlichen Gastgebern nun in Wirklichkeit Feinde verstecken, die seine Wehrlosigkeit ausnutzen, dann... Naja, dann ist er geliefert.

Seufzend öffnet er die Tür.

Er möchte jetzt nicht daran glauben, schon wieder in eine Falle gelockt worden zu sein.

Hinter der Tür ist wirklich eine Art Speisesaal, ein recht langer Esstisch, an dem Shizuka sitzt.

„Guten Morgen!“, sagt sie glücklich, während sie sich ein Brötchen aufschneidet.

„Guten... Morgen...“ Er ist erleichtert; „Wo ist Miho?“

„Sie hilft den Dienern in der Küche beim Frühstück. Wie sie eben ist.“

Keisuke setzt sich ihr gegenüber. Sie trägt ihre normalen Sachen von vorher, aber sie ist vermutlich auch die Einzige, die sich in dieser Nacht nicht ziemlich schmutzig gemacht hat.

„Findest du es nicht komisch, dass es in einem Schloss von Vampiren Essen für Menschen gibt?“, fragt er sie, aber sie zuckt nur mit der Schulter: „Du hast doch auch immer normales Essen gegessen, als du mir noch verheimlicht hast, dass du ein Vampir bist. Und wenn es ihnen eben schmeckt...“

Da hat sie recht.

„Wo hast du denn Yuri gelassen?“

Keisuke rutscht das Herz in die Hose: „Ups... Die ist noch oben im Zimmer... Hoffentlich findet sie nach hier unten.“

Shizuka lacht und in diesem Moment kommt Miho aus der Küche.

Ein langer, weißer Pullover verdeckt den Verband, den sie um ihren Oberarm trägt.

„Oh, guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?“

„Wahrscheinlich schon“, antwortet er beiläufig; „Hast du neue Ohrringe?“

„Ähm... Streng genommen sind das nicht meine...“ Miho wird rot; „Aber sie lagen in einer Schublade in meinem Zimmer und deshalb habe ich sie einfach heute angezogen. Ich denke, dass das schon in Ordnung geht. Schönes Hemd hast du an. Auch wenn es nicht ganz deine Farbe ist.“

„Das ist mir auch klar“, sagt er etwas beleidigt; „Ähm... Wann werden wir endlich zu Desmonds Leiche gebracht? Sie soll ja angeblich hier sein, aber wie soll ich sie wiederbeleben, wenn uns keiner sagt, wo sie ist?“

Für eine kurze Zeit tritt Stille ein.

Dann sagt Shizuka leise: „Es ist... nicht einfach für mich, das zu sagen, aber...“

Quietschend geht die Tür auf und Yuri kommt herein: „Hier seid ihr also alle!“

Vorwurfsvoll schaut sie die drei der Reihe nach.

„Wir haben nur schon mal gefrühstückt“, besänftigt Miho sie und bietet ihr einen Platz an:

„Komm, du bist sicher hungrig.“

Das kann sie nicht verneinen, also gesellt sie sich zu ihnen, um gemeinsam zu essen.

„Unser Leben ist in letzter Zeit ja wirklich aus der Bahn geworfen“, merkt Shizuka nach einer Weile an. Yuri seufzt zustimmend, aber Miho winkt ab: „Ich finde, wir halten uns alle sehr gut, wenn man bedenkt, was wir durchmachen mussten. Aber du hast schon recht...“

„Ich will gar nicht wissen, was noch auf uns zukommt“, sagt Keisuke traurig.

Das Haus seiner Familie ist mittlerweile nur noch ein großer Trümmerhaufen, zudem weiß niemand von ihnen, was aus Raito, Samuel, Luna, Epheral und Alexa geworden ist.

„Ich weiß, was du meinst“, spricht Miho leise; „Bei uns zu Hause liegen auch noch zwei Leichen, auch wenn dieser Meadow mir versichert hat, er würde sie wegräumen lassen.“

Wie nett von ihm. Keisuke weiß einfach nicht, was er von diesem Typen halten soll.

Gute Manieren hat er zwar, aber das heißt noch lange nicht, dass er nichts Böses im Sinn hat.

Mihos Blick wird plötzlich ernst: „Ich möchte über etwas mit euch reden, Keisuke, Shizuka. Es geht darum, dass ich gerne umziehen möchte.“

„Umziehen? Wohin?!“, kommt von den beiden Angesprochenen fast gleichzeitig zurück.

„Ich bin mir noch nicht sicher, wahrscheinlich erstmal zu unseren Großeltern. Die wohnen nicht in Logaly. Es wäre wirklich besser, wenn wir aus dieser Stadt verschwinden würden.“

Auch wenn er seine Schwester verstehen kann, diese Idee gefällt Keisuke einfach nicht.

Er hat sein ganzes Leben in der Großstadt Logaly gewohnt, genau wie Miho und Sakito.

Sowohl Emily als auch die Cursers sind besiegt, also hat diese ewig lange Spur aus Blut nach so langer Zeit ein Ende gefunden.

„Würdest du uns damit nicht noch mehr Stress aufhalsen, als wir so schon haben?“, fragt er leicht deprimiert.

„Selbst wenn“, antwortet sie streng; „Unser Haus ist eine unbewohnbare Ruine. Wir können nicht dahin zurückkehren. Wir haben so schon wenig Geld, die Reparaturen und all das können wir uns nicht leisten. Wir werden Probleme mit den Versicherungen und vor allen Dingen mit der Polizei bekommen. Siehst du das nicht ein?“

„Du übertreibst! So schlimm ist es jetzt auch nicht!“, erwidert Keisuke sauer.

Shizuka und Yuri sitzen einfach nur still da, ohne etwas zu sagen.

„Doch! Du musst dich mit alldem ja nicht herumschlagen, aber kannst du dir überhaupt vorstellen, wie schwer das für mich ist? Ich bin doch schon vorher kaum mit dem ganzen Stress zurecht gekommen... Mit der ganzen Arbeit, nur um euch ein Leben zu ermöglichen, das so angenehm wie möglich ist! Ich habe mir damals geschworen, auf euch aufzupassen, und das zu tun, was das Beste für euch ist, und ich halte es für das Beste, Logaly zu verlassen.“

Warum sagt sie das? Sie hat doch immer schon Stress gehabt...

Nie hat sie sich beschwert. Und sie weiß doch, wie sehr er sich in Logaly zu Hause fühlt, wie ungern er das Haus, in dem sie einst alle zusammen mit ihren Eltern lebten, verlassen würde.

Geht es ihr nicht genauso?

„Ich kann dir ja helfen. Aber ich will auf keinen Fall weg von hier“, sagt er schließlich.

„Ich möchte nicht weiter darüber diskutieren.“

Obwohl das offensichtlich Mihos letztes Wort ist, will er noch nicht aufgeben:

„Wenn wir nicht in Logaly bleiben, werde ich auch niemanden wiederbeleben.“

Über das, was er gerade gesagt hat, hat er nicht wirklich nachgedacht.

Und schon hat er Mihos flache Hand mit einem lauten Klatschen im Gesicht; sie ist plötzlich aufgesprungen, noch bevor Keisuke irgendetwas gemerkt hat.

Die Ohrfeige hinterlässt einen schmerzenden Druck auf seiner Wange, sein Kopf ist für einen Moment wie leergefegt und er schaut seine Schwester entsetzt an.

Den Ausdruck in ihren Augen kann er nicht so recht deuten, aber sie atmet schwer und zittert leicht.

Yuris Mund steht vor Schreck weit offen; Shizuka hingegen neigt mit traurigem Blick ihren Kopf zur Seite und schaut niemanden an.

„Du wirst... jeden wiederbeleben. Hast du gehört?“ Mihos Augen füllen sich plötzlich mit Tränen; „Du wirst Desmond... Mama, Papa, Shizukas Eltern... Du wirst sie alle ohne Ausnahme wiederbeleben.“ Sie greift mit ihrer rechten Hand an ihre Brust.

„Miho, ich...“ Keisuke schluckt.

Was hat er da nur gesagt? Sie weint fast.

„Ich gehe...“, sagt er leise und läuft aus dem Speisesaal.

Niemand hält ihn auf.

Er geht schnell den leeren Gang entlang, achtet darauf, nicht zu rennen, damit er nicht unnötig Aufsehen erregt, biegt bei der ersten Gelegenheit links ab und setzt sich nach einiger Zeit vor eine Tür.

Er hat keine Ahnung, wo er hin soll, er will erstmal nur Abstand zu Miho halten.

Wie konnte er sie nur so verletzen? Kann er nicht nachdenken, bevor er etwas sagt?

Eine Entschuldigung würde sie vermutlich annehmen, aber so leicht fällt ihm auch das nicht.

Von seiner großen Schwester vor den Freunden geohrfeigt zu werden ist schon peinlich, aber er beharrt auch darauf, in Logaly zu bleiben.

Er muss hier bleiben! Hier wohnen seine Freunde, hier ist die Schule, in die er sich gerade eingelebt hat, und er kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben.

„So ein Dreck...“, flüstert er und schließt die Augen.

Natürlich wird es problematisch. Das Haus ist zu großen Teilen zerstört, und Reparaturen sind nicht billig. Die Stadt selbst dürfte nicht mehr als ein Drittel ihrer ursprünglichen Bevölkerungszahl haben, was der Curser-Gesellschaft zu verdanken ist.

Aber das sind Probleme, für die es mit Sicherheit Lösungen gibt.

Warum gibt Miho so schnell auf?

„Hier bist du...“

Keisuke schreckt hoch, nachdem er die Stimme hört.

Shizuka steht vor ihm, sie wirkt besorgt.

„Wie hast du mich gefunden?“

Sie antwortet nicht sofort.

Langsam beugt sie sich herunter und hockt sich neben ihn: „Intuition...“
 

Yuri und Miho sitzen noch immer im Speisesaal, haben jedoch mit dem Frühstück aufgehört.

Mihos Fuß zappelt unruhig unter dem Stuhl, und Yuri schaut sie prüfend an:

„Willst du nicht auch nach deinem Bruder sehen?“

Als Shizuka gesagt hat, sie würde Keisuke suchen, hatte Miho keine Einwände, weigerte sich jedoch, selbst zu ihm zu gehen.

„Ich weiß nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll... Nachdem ich sowas gemacht habe...“

Das Fuchsmädchen schaut sie gelangweilt an: „Fühlst du dich schuldig?“

Miho nickt: „In unserer Familie wenden wir keine Gewalt an, egal aus welchem Grund. Er hätte es nicht so weit treiben sollen, es ist ganz spontan passiert...“

Schuldbewusst starrt sie auf ihre Finger, während sie an ihnen herumspielt.

„War doch nur eine Ohrfeige. Er wird es dir nicht übel nehmen“, sagt Yuri zuversichtlich.

Mit einem ungläubigen Blick antwortet Miho: „Ich muss mich trotzdem bei ihm entschuldigen. Es ist nur so, dass ich... dass ich... Ich brauche eine Pause, unbedingt, ich brauche einfach eine Pause von all diesem Unheil, diesem Stress... Ich kann nicht mehr!“

Verzweiflung liegt in ihren Augen.

Yuri holt Luft, um etwas zu sagen, aber Miho ist schneller: „Für ihn ist das ganze ja vorbei, er muss sich nicht mit den Konsequenzen herumschlagen. Aber er denkt auch nicht an mich. Weil meine Eltern tot sind, muss ich mich alleine um alles kümmern, das ist schon lange so. Aber jetzt ist mein bester Freund tot, der Mann den ich liebe war nichts als eine Illusion und hat versucht mich umzubringen, aber weil ich ihn getötet habe, bin sogar ich zur Mörderin geworden! Meine beste Freundin liegt im Krankenhaus und unser Haus ist vollkommen zerstört...!“

„Miho...“ Yuris Blick ist besorgt.

„Meine kleine Hoffnung war, dass zumindest Desmond wiederbelebt werden kann, von Keisuke...“

Nun geht Yuri ein Licht auf: „Daran hast du dich also die ganze Zeit geklammert. Und als er dann die Bemerkung vorhin fallen ließ, ist es mit dir durchgegangen.“

Sie erwidert nichts darauf, aber Yuri weiß auch so, dass sie recht hat.

„Ich... ich...“, stammelt Miho, aber die Jüngere sagt entschieden: „Du frisst immer alles in dich rein! So kann das doch nicht weitergehen. Du bist auch nur ein Mensch, Miho!“

Mihos Blick, bis jetzt unsicher und von Zweifel erfüllt, wirkt plötzlich entschlossen: „Ich sollte auch zu Keisuke gehen.“

Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen, steht auf und geht zur Tür.

Yuri bleibt sitzen.

„Ich werde traurig sein...“, sagt sie leise.

Miho dreht sich zu ihr um und schaut sie fragend an.

„Wenn ihr wegzieht. Dann werde ich sehr traurig und einsam sein“, wiederholt sie verträumt.
 

„Die Ohrfeige war ein ziemlicher Schock für dich, oder?“, fragt Shizuka munter.

Keisuke sieht sie nicht an: „Ja. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass mir das passiert.“

Shizukas Interesse ist geweckt: „Wann ist es denn schon mal passiert?“

„Raito hat mir damals eine Ohrfeige gegeben, weil ich aus Wut und Trauer etwas unüberlegtes gesagt habe...“ Die Erinnerung daran schmerzt ihn jetzt noch.

Er muss wirklich ein Idiot sein, wenn ihm diese Sachen schon öfter passieren.

Sanft legt Shizuka ihren Arm um Keisukes Nacken und streichelt ihn leicht die Schulter: „Ich kann dich verstehen. Ich möchte Logaly auch nicht verlassen, aber wenn es Mihos Wunsch ist...“

Keisuke fühlt sich durch ihre warme Fürsorge schon um einiges wohler.

„Ich wusste gar nicht, dass sie soviel Stress hat... Ich habe es nie wirklich bemerkt...“

„Sie ist eure große Schwester, aber sie kümmert sich um uns, als sei sie unsere Mutter. Das ist schon nicht leicht...“, hauch Shizuka ruhig.

„Warum hat sie nie was gesagt? Sogar ich bin mit meinen Problemen zu ihr gekommen, als ich es nicht mehr aushalten konnte. Das war nach Verenas Tod...“

Betrübt legt er vorsichtig seinen Kopf auf Shizukas Schulter.

„Sie trägt die Verantwortung...“, flüstert sie; „Als große Schwester will man doch Vorbild sein, man möchte nicht, dass die kleinen Geschwister die eigene Schwäche sehen, sondern stets für sie da sein. Miho konnte einfach nicht mit uns reden.“

Überrascht schaut er sie an. Sie hat so unglaublich viel Verständnis...

„Ich wollte schon immer Geschwister haben“, lächelt sie; „Und seitdem ich bei euch wohne, ist es wirklich so, als hätte ich welche. Dafür bin ich dankbar. Deswegen kann ich auch mit euch zusammen aus Logaly ausziehen, wenn es Miho glücklich macht.“

Beeindruckt hebt er den Kopf und schaut in ihre tiefgrünen Augen, die regelrecht strahlen.

Wie kann sie nur so weise sein? Sie lächelt ihn an.

Obwohl sie so viel durchmachen musste, kann sie lächeln und sich um andere kümmern, sich um andere Gedanken machen und sich in sie hineinversetzen.

Für einen Moment, in dem er wie gebannt in ihre Augen schaut, ist alles um sie herum still.

Schließlich merkt er, wie sich auch auf seinem Mund ein Lächeln bildet.

Langsam kommt sein Gesicht ihrem näher. Oder ist sie es, die näher kommt?

Er weiß es nicht genau.

Nun sind sie nur noch einen Zentimeter voneinander entfernt...

„Kennen wir uns nicht?“

Die Stimme reißt die Beiden aus ihrer Trance; erschrocken sehen sie auf.

Vor ihnen steht eine Frau mit braunen, schulterlangen Haaren. Sie trägt eine Brille und ein Dienstmädchen-Outfit, eines von der selben Sorte wie die Arzthelferin, die Keisuke etwas zuvor getroffen hat.

„Ich weiß nicht...“, nuschelt er; Er ist noch etwas durcheinander.

Shizuka steht zitternd auf: „Oh mein Gott! Frau Lilienfeld!“

Erst jetzt erkennt Keisuke sie: Es ist die Besitzerin der Bibliothek, Alexa Lilienfeld. Laut Miho ist sie gestern urplötzlich verschwunden. Normalerweise trägt sie strenge Kleidung, hat ihre Haare zu einem kurzen Zopf zusammengebunden und läuft mit ein paar Büchern in der Hand herum, aber diese Aufmachung passt absolut nicht zu ihr. Ist sie undercover unterwegs?

Als könne sie Gedanken lesen schaut sie an sich herab und sagt: „Ja, das ist peinlich, oder? Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, hätte ich auch andere Kleidung bevorzugt.“

Keisuke versteht nicht genau, was sie damit meint, aber weil er sich blöd vorkommt, als einziger noch auf dem Boden zu sitzen, erhebt er sich auch: „Was machen Sie hier?“

„Das ist eine lange Geschichte...“, seufzt Alexa, und plötzlich biegt Miho um die Ecke, mit Yuri im Schlepptau.

„Alexa?!“, ruft Miho fassungslos, während Yuri nur ein erstauntes „Oh!“ verlauten lässt.

„Ihr seid also auch hier...“, schmunzelt Alexa; „Wurdet ihr vom König eingeladen?“

„Ähm, ja“, antwortet Miho unsicher; „Was hast du da an?!“

Frau Lilienfeld stößt ein weiteres Mal einen Seufzer aus: „Ich sehe schon, ich habe eine Menge zu erklären.“

Sie öffnet die Tür, an der Keisuke und Shizuka noch vor einer Minute saßen.

„Hier drinnen kann man sich setzen.“

Warum kennt sie sich hier so aus? Die vier folgen ihr in das Zimmer, das an allen Ecken und Kanten aufwendig dekoriert ist. So ziemlich in der Mitte des Raumes steht ein schwarzer, länglicher Tisch mit insgesamt acht Stühlen daran, jeweils drei an den Seiten und einer an jedem Ende.

„Nachdem ich gestern Abend von Miho bewusstlos geschlagen wurde...“ Sie wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und nimmt am hinteren Ende Platz.

Die anderen setzen sich ebenfalls hin.

„Tut mir wirklich leid. Ich habe dich für Cyst gehalten, der deine Gestalt angenommen hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass wirklich du es bist!“, entschuldigt Miho sich.

„Kann ja mal vorkommen“, entgegnet Alexa mit einem ironischen Unterton;

„Aufgewacht bin ich jedenfalls hier, in diesem Schloss. Mir wurde schon nach kurzer Zeit klar, wo ich mich befinde.“

„Ich habe sie hergebracht“, ertönt plötzlich eine Stimme.

Alle wenden sich überrascht zur offenstehenden Tür, durch die Meadow den Raum betritt.

„Hallo“, begrüßt Miho ihn, aber sowohl die Jugendlichen als auch Frau Lilienfeld schweigen.

Meadow, der einen sehr schicken, dunklen Anzug trägt, verneigt sich leicht und geht auf die Gäste zu.

Hoffentlich ist es erlaubt, dass wir uns hier aufhalten, denkt Keisuke.

„Alexa, der Herr möchte Sie sprechen. Bitte warten Sie im Empfangszimmer.“

Ohne etwas zu erwidern, steht sie auf.

Mit den Worten: „Wir reden später weiter“, verlässt sie das Zimmer.

Meadow geht zu ihrem Stuhl, bleibt aber dort stehen, anstatt sich hinzusetzen.

„Können Sie es uns vielleicht erklären?“, bittet Miho ihn.

Er schließt kurz die Augen und sagt: „Selbstverständlich.“

Erwartungsvoll blicken alle ihn an.

„Mein Herr ist momentan auf der Suche nach neuem Personal. Er lässt mich nach Menschen suchen, die er für sich arbeiten lassen kann. Natürlich werden sie in einem angemessenen Umfang bezahlt.“

„Warum ausgerechnet Frau Lilienfeld?“, will Keisuke wissen.

„Nun, die Menschen, die wir aussuchen, müssen zwei Bedingungen erfüllen. Erstens müssen sie in ihrem Bereich kompetent sein, und das Wissen, das Alexa trotz ihres recht jungen Alters in sich birgt, ist unermesslich. Sie weiß jetzt schon mehr als die meisten Vampire, und die sind unsterblich.“

„Was ist die zweite Bedingung?“, fragt Miho.

„Sie müssen über die Existenz von Vampiren bescheid wissen. Wir stellen niemanden ein, der nicht weiß, was wir sind. Das ist wichtig, um es als Geheimnis zu wahren“, erklärt er gelassen.

Das ergibt alles irgendwo Sinn.

„Dann wusste diese Arzthelferin also auch vorher über Vampire bescheid?“, überlegt Keisuke laut, und Meadow antwortet: „Sie hat sich damals in einer Klinik um die Blutspenden gekümmert. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis sie dahinter kommt.“

Jetzt erinnert Keisuke sich endlich.

Das war es! In der Klinik, von der er damals das Blut gestohlen hat, hat eine Arzthelferin gearbeitet, die nach ein paar Tagen vermisst gemeldet wurde! Er hat die Anzeige in der Zeitung gelesen.

Bettina Richter...

„Aber Sie sind doch noch in der selben Nacht bei der Villa am Riverside Hill aufgetaucht, um Emily und Sense abzuholen“, wirft Yuri ein.

„Das ist korrekt“, gesteht Meadow; „Ich habe sofort, nachdem ich Alexa hier abgeliefert habe, den Befehl erhalten, dort hin zu fahren und sie herzubringen. Aber über den Befehl meines Herrn möchte ich lieber nicht sprechen.“

„Sind wir in Wahrheit auch deswegen hier? Um als Arbeitskräfte eingestellt zu werden?“, fragt Miho entsetzt; „Müssen wir auch diese Dienstmädchen-Uniformen tragen?“

„Nein, nein“, beruhigt Meadow sie; „Ihr seid aus anderen Gründen hier. Und was diese Outfits angeht, mein Herr hat eine Art Fetisch dafür.“

Einen Fetisch? Ist der wahre König der Vampire in Wahrheit nur ein alter Lüstling?

Keisuke muss kichern.

„Damit sollten eure Fragen beantwortet sein...“, nickt Meadow und will gehen, aber Shizuka sagt plötzlich: „Ich habe noch eine Frage.“

Aufmerksam schaut er sie an.

„Wer ist die Frau auf dem Bild da?“

Sie deutet auf ein Porträt mit breitem, goldenen Rand an der hinteren Zimmerwand.

Abgebildet ist eine junge, wunderschöne Frau, gute Figur, ein großer Busen, blutrote Haare und mit nichts anderem bekleidet als schwarzen Leinentüchern, die so platziert sind, dass sie die intimsten Zonen verdecken.

Im Hintergrund sieht man dunkelblaue Wolken.

„Oh mein Gott!“, ruft Keisuke; „Lure!“

Er, Miho und Yuri haben das Bild bis jetzt noch gar nicht gemerkt.

Ungläubig springt Keisuke auf und geht zum Porträt, Yuri und Shizuka folgen ihm.

Miho und Meadow bleiben etwas hinter ihnen und haben genau wie sie ihre Blicke auf das Gemälde gerichtet.

„Sie ist es wirklich...“, flüstert Keisuke; „Lure...“

„Lure?!“, wiederholt Yuri; „Ist das nicht die blöde Kuh, die dich einmal fast vergewaltigt hat?! Und die dir später sogar angeboten hat, mit dir Sex zu haben?!“

Mit zornigem Blick und knirschenden Zähnen starrt sie auf das Bild.

Keisuke nickt langsam.

„Mein kleiner Bruder ist für sowas doch noch gar nicht bereit“, lächelt Miho ruhig, woraufhin sowohl Yuri als auch Shizuka Keisuke, der einen hochroten Kopf bekommt, anstarren.

Warum sagt sie jetzt auch sowas?!

Ein paar Sekunden betrachten alle das Porträt, ohne etwas zu sagen.

Lure wurde von Lunas Pfeil erwischt und ist in den Logaly-Viola-Fluss gestürzt.

Sie konnte sich zwar noch festhalten, lehnte Keisukes Angebot, ihr zu helfen, allerdings ab und akzeptierte ihr Schicksal.

„Ich verstehe nicht, warum ihr Bild hier hängt...“, murmelt er.

„Wirklich nicht?“ Meadow blickt ihn prüfend an: „Lure war die Lieblingstochter des Königs.“

„Was?!“, ruft Keisuke erschrocken und dreht sich um; „Sie war seine Tochter?!“

„Nicht seine leibliche“, erklärt Meadow; „Aber der König hat sie zu einem Vampir gemacht, ebenso wie mich. Wusstest du denn nicht, dass Vampire diejenigen, die sie zum Vampir machen, manchmal als ihr Kind bezeichnen?“

Keisuke schüttelt den Kopf. Aber er versteht, was der Mann meint. Es wäre ihm auch komisch vorgekommen, wenn Lure Raitos Schwester wäre.

„Hat Raito dich nie 'Sohn' oder so ähnlich genannt?“, fragt Meadow lächelnd.

Keisuke überlegt kurz: „Ich kann mich nicht daran erinnern...“

„Dir muss bewusst sein, dass jeder Vampir auf der Welt entweder vom König oder von seinem Sohn Raito zu dem gemacht wurde, was er nun ist. Du wurdest von Raito verwandelt. Emily, ich und Lure aber beispielsweise von seinem Vater.“

„Sie ist sehr schön“, sagt Shizuka plötzlich und betrachtet immer noch interessiert das Porträt.

„In ihrer Freizeit hat sie gemodelt“, erklärt Meadow; „Der König war außer sich vor Zorn, als er von ihrem Tod gehört hat.“

Keisuke schluckt. Luna hat wirklich Glück, dass sie nicht auch hier ist.

Wer weiß, was der Vampirkönig sonst mit ihr anstellen würde...

„Ich muss jetzt wieder los“, sagt Meadow schließlich und geht zur Tür: „Wir haben jetzt gleich zwei Uhr. Bitte kommt um fünf Uhr in das Empfangszimmer. Ihr werdet dort den König kennenlernen. Mit ihm könnt ihr über die Sache mit dem gestorbenen Wissenschaftler sprechen.“

Er greift in die Tasche seines Anzugs und zieht vier Papierblätter heraus. Je eins teilt er an Miho, Keisuke, Yuri und Shizuka aus: „Das ist ein Plan des Schlosses, damit ihr euch nicht verlauft. Bis zu der verabredeten Zeit steht es euch frei, euch hier im Schloss umzusehen.“

Miho bedankt sich für seine Hilfe und er geht.

„Wollen wir auch gehen? Wir haben einen Fernseher in unserem Zimmer“, schlägt Shizuka vor, woraufhin sie mit Yuri den Raum verlässt.

Die beiden Geschwister stehen sich nun alleine in dem schönen Raum gegenüber.

„Keisuke, ich wollte dir etwas sagen...“, fängt Miho traurig an, während er „Miho...“ flüstert.

„Es tut mir leid!“, rufen beide wie aus einen Mund und sehen sich erstaunt an.

„Ich hätte mehr Verständnis für dich haben sollen...“, gesteht sie, woraufhin er erwidert: „Und ich hätte mehr Rücksicht auf deine Situation nehmen sollen...“ Sie lächelt ihn dankbar an.

Von Erleichterung gepackt umarmen die Geschwister sich wieder.

Falscher Frieden

Falscher Frieden
 

Es ist mittlerweile halb vier. Keisuke, Yuri, Shizuka und Miho sitzen gemeinsam auf dem Bett in Mihos Raum und schauen sich eine Comedy-Sendung an.

Shizuka hat das, was passiert ist, bevor Alexa kam, nicht mehr angesprochen und deshalb tut Keisuke es auch nicht. Vielleicht hat er sich diese Atmosphäre ja auch nur eingebildet.

Er wirft ihr einen Blick zu. Sie starrt wie gebannt auf den Fernseher, und Keisuke ist schon fast ein bisschen enttäuscht.

Plötzlich klopft es an der Tür.

Miho schaut auf die alte Uhr, die an der Wand hängt, und sagt leise: „Wir haben doch erst halb vier, wer könnte das jetzt sein...?“

Sie steht auf und öffnet die Tür.

Frau Lilienfeld kommt herein.

„Hallo Alexa“, lächelt Miho freundlich und setzt sich zurück auf das Bett.

„Entschuldigt bitte die Störung“, sagt sie höflich und sucht das Zimmer kurz mit ihren Augen ab.

Anscheinend findet sie nicht, was auch immer sie suchen mag, also fragt sie Keisuke, der nicht gebannt den Fernseher anschaut: „Habt ihr vielleicht Frau Richter gesehen? Eigentlich hätte sie mich vor mehr als einer halben Stunde beim Sortieren der Dokumente ablösen sollen.“

Was für Dokumente? „Dokumente sortieren“ klingt jedenfalls wie eine extrem langweilige Aufgabe, auch wenn sie vermutlich gut bezahlt wird.

Weil niemand sie seit heute Vormittag getroffen hat, seufzt die enttäuschte Frau und will schon wieder gehen.

„Was bringt mir eine riesige Bibliothek im Erdgeschoss, wenn ich doch nicht dazu komme, dort etwas zu lesen?“, murmelt sie verärgert.

„Ah, Frau Lilienfeld“, grinst Yuri, die dank ihrer Fuchsohren jedes Wort klar und deutlich verstanden hat: „Kann es sein, dass Sie nur wegen den Büchern hier bleiben und arbeiten?“

Alexa dreht sich langsam mit ertapptem Gesichtsausdruck um.

„Nun... Hier befinden sich Bücher, die teilweise mehr als hundert Jahre alt sind. Wahre Schätze. Ebenso gibt es hier Literatur über Vampire und ähnliches. Die Bücher, die man sonst so darüber findet, enthalten meist keinen Funken Wahrheit, aber hier ist es anders. Nicht einmal in meiner eigenen Bibliothek habe ich diese Werke, und habe auch keine Möglichkeit, sie zu bestellen. Ihr versteht also...“

So wie es aussieht, wurde sie, kaum dass sie hier ist, von Meadow direkt in die private Bibliothek im Schloss gebracht, um ihr ein gutes Motiv zu geben, hierzubleiben.

Offensichtlich hat es funktioniert.

„Wenn ihr Interesse daran habt, könnt ihr euch dort ja auch mal umsehen. Ich werde jedenfalls damit anfangen, sobald ich Bettina gefunden habe.“

„Ich glaube nicht, dass wir das heute noch machen können“, antwortet Miho, ohne ihren etwas müden Blick vom Fernseher abzuwenden; „In etwas mehr als einer Stunde sollen wir beim König sein, und wir können nicht so schnell lesen wie du, Alexa.“

„High Speed!“, fügt Yuri hinzu, und Shizuka fängt an, leise zu kichern.

„Der König? Verstehe... Ich werde auch mal bei ihm vorbeischauen, wenn ich Bettina nicht finden kann. Versucht mal, in diesem gigantischen Schloss jemanden zu finden! Es ist unmöglich. Ich weiß auch nicht, ob sie gerade putzt, die Betten macht, staubwischt, aufräumt... Es sind alles ihre Aufgaben.“

„Gibt es hier denn keinen Zeitplan für das Personal?“, fragt Miho, doch sie wirkt dabei, als würde sie nur aus Höflichkeit Interesse an Alexas Problem zeigen, und in Wirklichkeit mehr dem Fernsehprogramm zugetan sein.

„Nur einen sehr undetailierten. Ich werde mit Meadow darüber sprechen, immerhin ist er für das menschliche Personal zuständig. Hier muss sich einiges verändern...“

Mit diesen Worten verlässt sie das Zimmer.

Keisuke muss schmunzeln.

Frau Lilienfeld ist kaum zwei Tage hier und plant schon große Reformen. Ob das wohl gut geht?

Aber eigentlich hat das nichts mit ihm zu tun. Er versucht, sich auf die Sendung zu konzentrieren, doch das will nicht so recht klappen. Die Sendung ist langweilig und kein bisschen komisch.

Findet er jedenfalls, den Frauen scheint sie jedoch ganz gut zu gefallen.

Eigentlich hat er im Moment auch gar keine Lust, fernzusehen, denn das hat er eigentlich auch sonst nie gemacht. Wenn er daheim nichts zu tun hatte, hat er sich vor seinen Computer gesetzt und Rollenspiele gespielt, oder gechattet.

Und was ist jetzt? Sein Computer ist hinüber, und selbst, wenn er es nicht wäre, stünde er immer noch zu Hause und somit für Keisuke unerreichbar.

Dabei hält er das Warten kaum noch aus!

Nach ein paar Minuten sagt Shizuka mit dem Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht: „Ich bin wirklich froh, dass wir hier im Schloss auch von Menschen umgeben sind, und nicht nur von Vampiren. Irgendwie fühle ich mich sicherer...“

Miho nickt, und sogar Keisuke gibt ihr recht, obwohl er selbst ein Vampir ist.

Er kann nicht leugnen, dass die meisten Untoten, denen er begegnet ist, böse Mörder waren.

Hoffentlich hat sich das durch den Fall der Curser-Gesellschaft nun geändert.

„Wollen wir vielleicht runter in die Küche gehen?“, schlägt Keisuke vor. Irgendwie steht ihm der Drang nach Blut, obwohl er erst heute früh welches getrunken hat.

Hat er zu wenig zu sich genommen?

„Ich habe keinen Hunger“, sagt Shizuka leise, aber Yuri ruft: „Ich schon!“ und springt auf.

Auch Keisuke steht auf. Es ist gut, wenn er nicht alleine gehen muss, denn auch trotz dem Plan würde er sich im Schloss vermutlich verlaufen und schlimmstenfalls sogar zu spät zu dem Termin mit dem König kommen.

„Wenn ihr geht, komme ich auch mit...“, beschließt Shizuka und zieht sich ihre Hausschuhe an.

Meadow hat für jeden von ihnen ein Paar bereitlegen lassen, doch außer ihr scheint sie keiner zu benutzen.

Es wäre einfach ein seltsames Gefühl, immerhin sind sie hier nur zu Gast, und dieses Schloss kommt ihm schon genug wie ein Hotel vor. Irgendwann ist auch mal Schluss.

„Wenn ihr alle drei geht, werde ich mich etwas hinlegen“, haucht Miho, die wirklich müde zu sein scheint.

Shizuka kramt kurz ihr Handy aus ihrer Tasche und hält es ihr hin: „Das kannst du als Wecker benutzen, damit du pünktlich aufwachst. Aber sei vorsichtig, der Akku ist fast alle.“

Miho bedankt sich und die drei Jugendlichen gehen aus dem Zimmer.

Yuri hält ihren Plan ausgebreitet vor sich und studiert ihn gründlich.

„Ich hoffe mal, es ist okay, wenn wir unten einfach so nach etwas zu essen fragen“, überlegt Keisuke laut.

„Ach was, das ist schon okay. Bisher wurden wir auch wie Götter behandelt“, erwidert Yuri konzentriert.

Damit übertreibt sie etwas, aber ganz falsch liegt sie auch nicht.

Sie sind Gäste des Hausherren und daher werden sie schon nicht direkt abgewimmelt werden.

„Da vorne biegen wir nach rechts ab“, dirigiert Yuri, aber Keisuke ist verwirrt: „Müssen wir nicht geradeaus?“

„Laut dem Plan ist da hinten noch eine Treppe, die uns schneller zu den Küchen bringt“, erklärt das Fuchsmädchen gehetzt.

Er widerspricht nicht weiter sondern schreitet stumm mit den beiden durch den Korridor.

Nach kurzer Zeit erreichen sie wirklich eine etwas kleinere Treppe, die sie hintereinander hinabsteigen. Unten angekommen erkennt Keisuke den Eingangsbereich wieder, doch er kann sich nicht daran erinnern, die Treppe gesehen zu haben, als er hier angekommen ist.

Wie müde er gewesen sein muss.

Sie halten kurz inne, damit Yuri Zeit hat, sich den Plan weiter anzusehen, doch dann hören sie plötzlich eine Stimme.

Sie gehört wahrscheinlich Meadow.

Er spricht nicht besonders laut, aber in der leeren, großen Eingangshalle erhält jedes Wort ein recht lautes Echo.

„... ist er immer noch besorgt, verstehen Sie...?“

„Ist das nicht Meadow?“, fragt Shizuka, aber Yuri hält sich den Finger vor den Mund: „Pssst!“

Sie faltet den Plan schnell zusammen und versteckt sich hinter der Wand, der an die Treppe grenzt, von der sie gekommen sind.

Instinktiv tut Keisuke das gleiche, und auch Shizuka hockt sich hinter sie.

So unauffällig wie möglich strecken sie ihren Kopf leicht heraus, um sehen zu können, mit wem Meadow spricht.

Dieser spaziert in einer vornehmen, aufrechten Haltung den Eingangsbereich entlang, und ein paar Meter hinter ihm gehen niemand anderes als Raito Halo und Samuel Spider.

„Raito...!“, entfährt es Keisuke, doch Yuri haut ihm leicht auf den Oberarm: „Psst!“

Was macht er nur hier? Es geht ihm also gut? Was ist mit Luna und Epheral?

Am liebsten würde er aufspringen und zu ihm rennen, ihn begrüßen, umarmen, und vor allen Dingen sehr viele Fragen stellen.

Doch er bemerkt seinen ernsten Gesichtsausdruck, er wirkt streng und beinahe verkrampft.

Nicht wie jemand, der sich darüber freut, sein altes Zuhause wiederzusehen.

Samuel scheint nach seinem Blick zu urteilen auch schlechte Laune zu haben. Es verwundert Keisuke ein bisschen, dass er sich so schnell von seinen Verletzungen erholt hat, immerhin wurde er vom Blitz getroffen.

Wäre er kein starker Vampir, wäre ihm das sicher nicht so leicht möglich gewesen.

„Sorgen?“ Raito sieht Meadow höchst skeptisch an, was dieser nicht bemerkt, da er vor ihm geht.

„Er hätte sich vor den ganzen Kämpfen Sorgen um mich machen können, nicht jetzt, wo alles vorbei ist. Tut mir leid, George, aber das nehme ich dir nicht ab.“

Raito nennt Meadow beim Vornamen?

Naja, wenn man länger darüber nachdenkt, müsste er ihn schon ewig kennen.

„Auch wenn ich Sie verstehe, bitte ich Sie, keinen Groll gegen ihren Vater zu hegen. Immerhin war es sein Befehl, auf den ich seine Frau beseitigte.“

„Und dafür bin ich ihm auch dankbar, trotzdem bin ich mir sicher, dass er Hintergedanken hat.“

Er muss Emily wirklich gehasst haben. Obwohl sie seine Mutter war, hat er ihr bis zum Ende den Tod gewünscht.

Raito zählte sie wohl schon lange nicht mehr zu seiner Familie, aber Keisuke ist weit davon entfernt, Mitleid mit ihr zu haben. Nach allem, was sie angerichtet hat.

„Und dennoch sind Sie heute hierher gekommen“, lächelt Meadow ruhig.

Samuel schnaubt: „Als hätte das irgendetwas damit zu tun.“

„Ihr hortet hier ein paar Leute, die wichtig für mich sind“, erklärt Raito, ohne vorwurfsvoll zu klingen; „Die werde ich einsammeln. Egal, was Vater sagt.“

Meadow schweigt, doch ein Lächeln liegt auf seinen Lippen.

Sie gehen durch eine Art Tür und sind nun nicht einmal mehr für Yuri hörbar, denn in den Räumen dahinter hallen sie Stimmen nicht mehr wieder.

Leute, die wichtig für ihn sind...? Gehört Keisuke auch dazu?

„Raito ist also hier... Und Samuel ist gesund“, fasst Yuri zusammen.

Ersteres beruhigt Keisuke irgendwie mehr als Letzteres. Wenn Raito da ist, schwindet seine Angst, egal wovor, aus irgendeinem Grund.

„Ich werde ihm folgen“, sagt er entschlossen zu den Mädchen.

„Wir kommen mit!“, sagt Yuri sofort.

„Wenn du das möchtest...“, flüstert Shizuka, aber das Fuchsmädchen haut ihr leicht auf den Kopf und wiederholt: „Wir kommen mit!“

Keisuke ist einverstanden und so laufen sie den Weg durch die Halle, der vorhin noch von Meadow, Raito und Samuel beschritten wurde.

Sie biegen hinten rechts ab und gehen ein paar Stufen hinunter. Allerdings kommen sie bei der Tür vor ihnen nicht weiter.

„Warum hat Meadow sie abgeschlossen?!“, ruft Yuri zornig.

„Vielleicht hat er uns bemerkt...?“, vermutet Shizuka.

„Oder er schließt sie immer ab“, schlägt Keisuke vor. Er hält Shizukas Theorie für unwahrscheinlich, so leise, wie sie sich verhalten haben.

„Und was machen wir jetzt?“, fragt Shizuka; „Wollen wir ins Zimmer zurückgehen?“

Yuri schüttelt den Kopf: „Hast du vergessen, dass wir uns etwas zu essen holen wollten?“

„Ja, stimmt“, kommentiert Keisuke leicht abwesend.

Nachdem er Raito gesehen hat, ist sein Interesse an einer Portion Blut stark gesunken.

Aber sie haben noch viel Zeit und wenn sie nach oben zurückgehen würden, würden sie bloß Miho stören, die in Ruhe schlafen möchte.

Das Zimmer von Keisuke und Yuri verfügt über keinen Fernseher, also würden sie sich dort auch nur langweilen.

Gefrustet machen sie sich auf die Suche nach den Küchen.

Dank Yuri und dem Plan haben sie diese auch innerhalb von fünf Minuten gefunden.

Sie klopfen ein paar mal an die Tür, doch niemand macht auf.

„Komisch. Ist denn keiner da?“, Shizuka macht die Tür langsam auf.

Die Küchen, in denen das Personal das Essen für die Gäste zubereitet, sind vollkommen menschenleer. Alles ist sauber und aufgeräumt, der weiße Fliesenboden glänzt, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass hier Essen zubereitet wird.

„Sollten die nicht schon langsam unser Abendessen kochen?“, fragt Keisuke nachdenklich, als er durch den Raum trottet.

„Ich weiß nicht. Wir hatten nicht mal Mittagessen“, merkt Yuri an.

Das ist wirklich höchst eigenartig, besonders nach dem großen Frühstück hätten alle erwartet, dass noch weiteres leckeres Essen auf sie wartet.

Shizuka wendet sich an das Fuchsmädchen: „Sind wir hier denn auch richtig?“

Diese prüft den Plan des Schlosses ein weiteres Mal: „Ich glaube ja...“

Einen Moment zögert sie, doch dann schlägt sie genervt den Plan zu: „Ist doch egal! Wir sind jetzt schon hier, also nehmen wir uns einfach was. Sie können ihre Gäste doch nicht einfach so verhungern lassen!“

Keisuke lächelt sie an: „Wer weiß, vielleicht ist Meadow ja gerade hier?“

„Der führt doch gerade Raito irgendwo hin!“, sagt Yuri, doch nach kurzem Überlegen wendet sie sich an Shizuka: „Aber mach besser die Tür zu, damit wir es merken, wenn er doch noch reinkommen sollte.“

Während Shizuka die Tür schließt, schaut Keisuke sich den Inhalt des Kühlschranks an.

Er nimmt ein kleines Fläschchen, das mit einer roten Flüssigkeit gefüllt ist heraus und riecht daran.

Es ist Blut.

„Ist da irgendwas zu Essen drin?“, fragt Yuri hungrig und der Vampir schüttelt den Kopf: „Nein, das Zeug da drin muss man alles erst kochen.“

„Da vorne ist Obst“, fällt Shizuka auf und sie deutet auf einen Korb voller Früchte.

Yuri gibt sich damit zufrieden.

Als jeglicher Hunger gesättigt und aller Durst gestillt ist, verlassen sie die Küchen, aber nicht, ohne vorher ihre Abfälle wegzuräumen.

„Ich hoffe, dafür bekommen wir keinen Ärger...“, sagt Shizuka nervös.

Keisuke zuckt mit den Schultern und Yuri ruft: „Und wenn schon!“

Sie haben jetzt wirklich wichtigeres im Kopf.

Zum Beispiel das Treffen mit dem König um fünf Uhr.

Es ist kurz vor halb fünf, als die drei Jugendlichen wieder vor Mihos Zimmertür stehen.

„Wir haben noch etwas Zeit“, stellt Shizuka fest, und nachdem sie durch den Türspalt geguckt hat: „Miho schläft auch noch.“

„Was machen wir solange?“, fragt Yuri gelangweilt.

Keisuke ist so nervös, dass er leicht mit den Füßen strampelt: „Ich kann es kaum noch abwarten. Am liebsten würde ich jetzt schon gehen...“

Yuris rote Augen blitzen auf: „Warum eigentlich nicht? Wenn wir jetzt schon hingehen, sind wir halt ein bisschen zu früh da...“

Shizuka und Keisuke tauschen unsichere Blicke.

Es ist sehr unhöflich, absichtlich zu früh zu einer Verabredung oder gar einem Termin zu erscheinen. Eine Tatsache, die Yuri offensichtlich nicht wirklich kümmert.

Aber eigentlich darf Keisuke sich dann auch nicht beschweren, also stimmt er ihr zu: „Wir können ja schon mal hingehen und da warten oder so...“

Der Sinn davon hält sich zwar in Grenzen, aber schaden würde es auch nicht.

„Ich werde noch etwas bei Miho bleiben...“, sagt Shizuka.

„Warum? Sie wird doch durch dein Handy rechtzeitig geweckt?“, hakt Keisuke nach, und als er bemerkt, dass sie seinem Blick ausweicht, fragt er besorgt: „Alles okay?“

„Du wirst Desmond wiederbeleben, oder?“, flüstert sie.

„Das habe ich vor“, antwortet er, ohne zu wissen, wie sie nun darauf gekommen ist.

Mit gesenktem Kopf öffnet sie leise die Tür in den Raum: „Mir geht es nicht so gut... Ich komme mit Miho nach...“

Und sie verschwindet im Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Was hat sie nur? Bis eben war sie doch noch ganz in Ordnung. Ein bisschen still, aber sonst...

Keisuke wirft Yuri einen fragenden Blick zu, doch sie zuckt auch nur mit der Schulter.

Wenn Shizuka sich nicht gut fühlt, wäre es falsch, sie zu bedrängen, mitzukommen, also machen die beiden sich zu zweit auf den Weg.

„Das Empfangszimmer des Königs ist das hier, oder?“ Yuri deutet auf den Plan.

Das Schloss ist ziemlich groß, und deswegen sind die einzelnen Räume auf dem Papier umso kleiner verzeichnet, sonst würden unmöglich alle Räume, Gänge und Hallen darauf passen.

„Ich denke schon“, erwidert Keisuke, ohne einen richtigen Blick darauf zu werfen.

Sie sind zwar im richtigen Stockwerk, allerdings sind sie in der falschen Hälfte des Gebäudes, also müssen sie nochmal zu den Treppen zurück und durch das Erdgeschoss.

Eigentlich sollte so ein Umweg nicht nötig sein, aber falls es einen direkten Weg zu ihrem Zielort gibt, steht er nicht auf dem Plan.

Wie auch immer, sie haben genug Zeit, als sie bei der Tür zum Empfangszimmer ankommen, sind keine zehn Minuten vergangen.

„Weißt du, was ich seltsam finde?“, fragt Yuri munter.

Keisuke würde es sicher gleich erfahren.

„Obwohl das Schloss so gigantisch ist, scheinen hier kaum Leute zu sein. Wo sind die ganzen Diener, die hier regelmäßig putzen und so weiter?“

„Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht“, murmelt er unsicher. Eigentlich hat er gehofft, sich dieses unheimliche Szenario eines menschenleeren Spukschlosses nur eingebildet zu haben, aber wenn es auch Yuri auffällt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass etwas hier nicht stimmt.

Oder? Ist vielleicht auch alles in Ordnung, und sie sind bei all den verrückten und gefährlichen Dingen, die ihnen passiert sind, bloß paranoid geworden?

Der junge Vampir atmet einmal tief durch und sagt dann: „Vielleicht kommt uns das nur so vor. Wir sollten zufrieden sein, dass wir zur Abwechslung mal Ruhe haben...“

„Aber es ist doch wirklich seltsam, oder?!“, entgegnet sie aufgebracht.

Kann sie nicht damit aufhören? Er will das jetzt wirklich nicht hören.

Er will nicht darüber nachdenken, in welcher Gefahr sie vielleicht noch stecken.

Seufzend lässt er sich an der Wand neben der Ebenholztür, die in das Empfangszimmer führt, zu Boden rutschen und bleibt dort sitzen.

Nicht weil seine Beine wehtun würden, oder so. Ihm ist einfach danach.

„Sag mal, nerv ich dich oder so?“, fragt Yuri nun wieder etwas ruhiger.

„Ist schon gut“, sagt er tonlos.

Er will ihre Gefühle nicht verletzen, aber es gibt einfach zu viele Dinge, die ihm im Kopf herumschwirren.

Zum Beispiel das Treffen mit den Vampirkönig, dass er Raito gesehen hat, Desmond, den er wiederbeleben soll, der Beinahe-Kuss mit Shizuka, und die Sache mit dem Umzug, die eigentlich auch noch nicht endgültig geklärt ist.

Dazu kommt noch der Gram über das zerstörte Haus der Valleys sowie die Sorge um Sakito und Shya, die beide nicht hier bei ihnen im Schloss sind.

Nun lässt sich kaum noch verhindern, dass er anfängt, sich den Kopf zu zerbrechen, es sei denn, jetzt passiert etwas.

Etwas träge, aber dennoch entschlossen, steht er wieder auf.

Wenn von alleine nichts passiert, wird er jetzt etwas passieren lassen: „Ich gehe da rein.“

Yuri schaut ihn überrascht an.

Damit hätte sie sicher nicht gerechnet.

„Warten wir nicht auf deine Schwester und Shizuka?“

„Ich will aber nicht noch länger warten! Es macht mich krank.“

Ihm bist bewusst, wie seltsam sich das anhört, doch er muss es einfach tun. Und außerdem ist ihm noch etwas ganz anderes bewusst:

„Ich gehe mit“, entscheidet Yuri kurzerhand. So ist sie einfach.

Keisuke ist sich nicht sicher, ob er, wenn er nicht gewusst hätte, dass sie ihn begleiten würde, trotzdem noch den Mut gehabt hätte an diese Tür zu klopfen, wie er es gerade macht.

„Hoffentlich werden wir nicht bestraft oder sowas...“, flüstert er voller Unbehagen.

Yuri klopft ihm beruhigend auf die Schulter: „Wir sind mit seinem Sohn befreundet, es wird also schon gehen...“

Ob das für den König eine Rolle spielt, wird sich noch zeigen.

Die Tür öffnet sich mit einem lauten Quietschen.

Allerdings erscheint kein männlicher Vampir hinter der Tür, sondern eine menschliche Frau.

Alexa Lilienfeld.

Prüfend sieht sie Keisuke und Yuri an.

Sie hätten nicht damit gerechnet, dass sie jetzt hier ist.

Frau Lilienfeld wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr und weist darauf hin, dass sie etwas zu früh seien.

„Sollen wir wieder gehen?“, fragt Keisuke mit Unschuldsmiene.

Sie schüttelt den Kopf: „Nein, das erscheint mir nicht sehr sinnvoll... Auf die paar Minuten kommt es nicht an, denke ich...“

Das ist nicht die Antwort, die Keisuke erwartet hat.

Normalerweise ist Frau Lilienfeld eine Person, die sehr viel Wert auf Pünktlichkeit legt, doch scheinbar nimmt sie es gerade nicht allzu genau damit.

„Bitte kommt herein“, sagt sie ernst und leitet die beiden in das imposante Zimmer.

Hier gibt es viele stilvolle Möbel und Sitzgelegenheiten, aber in der Mitte des Raumes stehen sich nur zwei längliche Sofas auf einem schwarzen Teppich gegenüber.

Auf dem kleinen Holztisch direkt daneben sind verschiedene Getränke platziert, und an den Wänden stehen Glasvitrinen, in denen ordentlich eingeräumte Weingläser stehen.

Obwohl es draußen hell ist, sind die dunklen Vorhänge zugezogen, und nur die kostbare Wandbeleuchtung sorgt begrenzt für Licht.

Der König scheint noch nicht hier zu sein.

Während Alexa die Sofas anpeilt, fragt Keisuke neugierig: „Haben Sie eigentlich mittlerweile ihre Kollegin gefunden?“

Ohne sich umzudrehen schwenkt sie ihre Hand kurz nach links und antwortet beiläufig: „Sie liegt da vorne.“

Keisuke und Yuri wissen nicht, was sie erwartet, als sie in die von Frau Lilienfeld gezeigte Richtung auf den Boden schauen.

Bettina Richter liegt regungslos neben einer Kommode.

Die riesige Pfütze Blut sowie ihre vertikal aufgeschlitzten Pulsadern lassen keinen anderen Schluss zu: Sie ist tot.

Yuri will schon zu ihr hin stürmen, aber Alexa, die sich seelenruhig auf das Sofa setzt, rät: „Du kannst es dir sparen, es ist schon zu spät.“

Keisuke steht da wie angewurzelt. Das kann doch nicht wahr sein...

Warum musste denn schon wieder jemand sterben? Was ist passiert?

Die Fragen schießen durch seinen Kopf, kommen ihm jedoch nicht über die Lippen.

Sein Herzschlag hat sich von einer Sekunde auf die andere rasant erhöht, und auch Yuri wirkt, als ob ihr schlecht wäre.

Keiner von beiden will hinsehen, doch sind sie auch nicht in der Lage, weg zu sehen.

Als Alexa sich ein Glas Rotwein einschüttet, ist das erste, was Keisuke fragt: „Ich dachte, Sie trinken nicht, Frau Lilienfeld?“

Er hätte so viel fragen können.

Beispielsweise: Warum ist Frau Richter tot? Warum tun Sie so, als sei nichts passiert? Sind wir in akuter Gefahr? Haben Sie etwas damit zu tun?

Vielleicht versucht er unterbewusst, den Fakt, dass ein paar Meter weiter eine Leiche liegt, zu ignorieren, aber ihm sollte klar sein, dass das nicht funktionieren wird.

„Kannst du es mir verübeln?“, flüstert Frau Lilienfeld, während sie sich den Inhalt ihres Glases ansieht; „Ich komme hier herein und die Person, die ich suchte, liegt tot auf dem Boden herum. Hatte ich recht mit meiner Theorie?“

Sie sieht auf, ihr Blick ist todernst.

Keisuke merkt, dass er sich geirrt hat. Sie ist kein Mensch, dem der Tod anderer egal ist. Aber sie frisst diese Dinge anscheinend eher in sich hinein, anstatt sie nach außen dringen zu lassen.

„Du hast recht, ich sollte jetzt einen klaren Kopf behalten“, sagt sie schließlich, und stellt den Wein weg, ohne etwas davon zu trinken.

„Wer war das?“, fragt Yuri geradeaus, wobei sie offenbar nicht annimmt, dass Alexa die Täterin sein könnte, wenn man bedenkt, dass sie bis eben alleine hier im Raum war.

Bevor Frau Lilienfeld darauf antworten kann, macht ein lautes Quietschen deutlich, dass jemand von außen die Tür in dieses Zimmer öffnet.

„Er kommt“, zischt sie, steht schnell auf und streicht ihre Kleidung glatt.

Mit „er“ kann nur einer gemeint sein...

Die Zeit scheint in dem Moment, in der dieser Mann das Zimmer betritt, zu gefrieren.

Lange, schwarze Haare, blutrote Augen.

Rage Halo ist eine imposante Erscheinung, nicht, weil er besonders groß oder muskulös wäre, viel mehr sind es sein strenger, eiskalter Blick und seine großen, selbstbewussten Schritte, ebenso wie die Tatsache, dass es sich um den König der Vampire handelt.

Er sieht nicht aus wie ein König, er trägt keine Krone, nur einen langen, weißen, makellosen Anzug.

Wegen den kleinen Falten in seinem Gesicht und der üppigen Gesichtsbehaarung könnte man ihn auf rund vierzig schätzen, doch in Wahrheit ist er ein viel älterer, mächtiger Vampir.

Keisuke hat ihn vorher noch nie gesehen, und doch weiß er sofort, wer vor ihm steht.

Frau Lilienfeld verbeugt sich, während Yuri Keisuke fragend ansieht.

Es vergeht fast eine Minute, bevor es der Schlossherr ist, der das Wort ergreift:

„Ihr seid also meine Gäste. Mein Name ist Rage Halo. Willkommen in meinem Schloss.“

Er hat eine tiefe, feste Stimme.

Obwohl er eigentlich, wenn man von den roten Augen absieht, nicht gefährlich wirkt, verbeugt sich Keisuke eingeschüchtert, sagt jedoch nichts.

Dieser Mann strahlt mehr Autorität aus als irgendetwas anderes, und dabei hat er gerade erst den Raum betreten! So etwas hat Keisuke noch nie erlebt. Auch Yuri wirkt unruhig, wenn auch nicht so sehr wie er.

Meadow tritt hinter dem König hervor: „Einen Moment, mein Herr, es sind noch nicht alle Gäste eingetroffen.“

„Ähm, Miho und Shizuka kommen gleich...“, mischt Keisuke sich ein und kommt sich aus irgendeinem Grund wie ein Idiot vor.

Rage geht nicht darauf ein sondern verweist auf das Sofa: „Setzt euch.“

Die beiden Jugendlichen tun, was er sagt, nur Frau Lilienfeld bleibt stehen.

Ihr Blick wird ernst und nachdenklich.

„Alexa, lass uns alleine“, befiehlt der Vampirkönig; „Und ich möchte dich gleich alleine sprechen.“

Keisuke hat kein gutes Gefühl dabei, wenn Frau Lilienfeld jetzt geht, und er bemerkt, wie sich ihre Hand zu einer Faust ballt.

Schließlich verbeugt sie sich noch einmal und murmelt ein kurzes „Jawohl...“ bevor sie das Zimmer verlässt. Der König fängt erst wieder an zu sprechen, nachdem sie die Tür von außen geschlossen hat.

„Ihr seid also Freunde von meinem Sohn Raito...“

Er setzt sich den beiden gegenüber.

„Ähm, ja“, stimmt Keisuke zu, und schon im nächsten Moment fühlt er einen plötzlichen Schmerz an seiner Stirn, als wäre er gegen etwas gestoßen.

Verwirrt bemerkt er, dass er seine Hand erhoben hält, ohne, dass er sich daran erinnern könnte, sie bewegt zu haben.

„Nein, was machst du?“, ruft Yuri erschrocken und nimmt seine Hand: „Warum schlägst du dich?“

Wie?

„Ich hab mich nicht geschlagen!“, entgegnet er konfus.

„Doch, hast du“, korrigiert Rage ihn; „Weil ich das wollte. Zu deiner Information, wenn du mir antwortest, heißt es niemals nur 'ja' sondern 'ja, Sir'.“

So ist das also. Keisuke reibt sich die Stirn, wovon sie auch nicht aufhört, weh zu tun.

Wenn der König seine Fähigkeit anwendet, mit der er Vampire kontrollieren kann, dann erinnert sich das Opfer danach nicht mehr daran. So ist es auch bei Shizuka gewesen, die von Samuel manipuliert wurde, allerdings ist sie ein Mensch.

Verdammt, denkt Keisuke, dieser Typ kann mit mir anstellen, was er will.

Mit einer Mischung aus Angst und Wut sagt er leise: „Verstanden... Sir...“

Yuri wirft ihm einen mitleidigen Blick zu. Offenbar wird sie nicht auf diese Weise gedemütigt.

„Meadow, hole doch schon mal die anderen Gäste“, weist Rage ihn an, als wäre nichts gewesen.

Wie es sich für einen Untergebenen gehört, verneigt Meadow sich und geht zügigen Schrittes raus.

Nun sind sie mit dem König alleine.

Keisuke fürchtet seine Macht, denn er kann ihn Dinge tun lassen, die er nicht will.

Als könne er Gedanken lesen, fängt sein Gegenüber an zu grinsen: „Mach nicht so ein Gesicht, Junge. Ich werde dich nicht weiter unterwerfen, wenn du das richtige Benehmen an den Tag legst. Immerhin seid ihr meine Gäste...“

Nicht sehr glaubwürdig, aber Keisuke muss es akzeptieren.

Er würde ihm gerne viele Fragen stellen, traut sich jedoch nicht so richtig.

Und weil auch Yuri ziemlich verkrampft wirkt, macht der König höchstpersönlich den Anfang: „Dein Name ist Keisuke Valley, und Miho ist deine Schwester. Doch wie heißt du? Yuri...?“

„Monou“, vollendet diese den Satz. Worauf will er hinaus? Dass sie sich nicht vorgestellt haben...?

„So ist das also...“, flüstert er und scheint dabei mehr mit sich selbst zu sprechen: „Yuri, die beiden Mädchen und Alexa sind vier... Meadow, Raito, Samuel, Keisuke und meine Wenigkeit fünf... Das ist fast zu schön um wahr zu sein...“

„Was meinen Sie, Sir?“, fragt Keisuke nervös. Sein komisches Gemurmel jagt ihm Angst ein.

„Nichts weiter“, lacht er, doch sein Lachen klingt kratzig und hinterhältig; „Ich wollte nur darauf hinaus, dass wir in diesem Schloss nur neun Leute sind.“

Neun? Was soll das heißen? Es wären dann die neun, die er gerade aufgezählt hat.

Doch beim Frühstück haben Keisuke und die Anderen doch einige Diener des Königs gesehen?

Zugegeben, in den letzten Stunden nicht mehr, aber trotzdem...

„Ich würde Sie gerne mal etwas fragen. Warum beachten Sie eigentlich nicht, dass dort vorne eine tote Frau auf dem Boden liegt? Sie müssen sie doch mittlerweile gesehen haben“, wendet Yuri ein.

„Natürlich“, entgegnet Rage in einem überlegenen Tonfall; „Ich habe sie ja umbringen lassen.“

Keisuke und Yuri gefriert das Blut in den Adern, als sie das hören.

„Sie wollte nicht kooperieren“, erklärt er; „Genau wie der Rest unseres Personals.“

Keisukes wahre Kraft

Keisukes wahre Kraft
 

Schon seit dem Moment, in dem Keisuke bewusst wurde, dass Bettina Richter tot ist, juckt es ihm in den Fingern, schon seit diesem Moment drängt sich der Wille, es zu versuchen, immer weiter auf.

Von Raito wurde ihm einst erklärt, er besäße die Fähigkeit, tote Menschen wieder zum Leben zu erwecken. Die Frau, die dort auf dem Boden liegt, ist ohne Zweifel tot.

Auch wenn er zuerst davon ausgegangen ist, seine Kraft gleich das erste Mal einsetzen zu können, wurde dieser Gedanke durch die Worte des Königs rücksichtslos verdrängt.

„Sie wollte nicht kooperieren.“

Was hat das zu bedeuten? Wobei wollte sie nicht kooperieren? Und seit wann ist es nötig, jemanden, der nicht kooperieren will, gleich umzubringen?

Keisuke weiß, dass Emily so getickt hat, aber Raitos Vater auch? Ist er etwa genau so?

„Worum geht es hier eigentlich?“, will Yuri wissen. Man kann ihrem Blick ansehen, dass sie dem Vampirkönig misstraut.

Lachend erwidert dieser: „Ich habe da gewisse Pläne. Aber warten wir damit, bis die anderen Gäste anwesend sind. Ich hasse es nämlich, mich wiederholen zu müssen.“

Entspannt nimmt er das Weinglas, das Alexa vorhin hat stehen lassen, und nippt daran.

„Wollt ihr auch etwas? Es ist zwar nur Wein und kein Blut, aber...“

Die beiden Jugendlichen schütteln den Kopf.

Selbst wenn sie nicht minderjährig wären, fehlt zum Anstoßen jeglicher Anlass.

Der König betrachtet Keisuke durch sein Weinglas:

„Deine Fähigkeit ist es also, Menschen zurück ins Leben zu holen?“

Überrascht, dass er das jetzt anspricht, sagt Keisuke betont höflich: „Ja, Sir.“

Rage fängt an, zu lachen, so stark, dass er ohne es zu merken ein wenig Wein auf das Sofa verschüttet. Sein strahlend weißer Anzug dagegen bleibt verschont.

Was ist denn jetzt so lustig?

Nachdem er sich langsam beruhigt, tränen ihm schon die Augen:

„Mein Sohn war schon immer naiv.“

Bevor Keisuke fragen kann, was er meint, wendet sich der König Yuri zu und mustert ihre Fuchsohren: „Diese Dinger... verdankst du einem Vampir. Vigor, wenn ich mich nicht irre.“

In Sekundenschnelle ist Yuri aufgestanden: „Sie kennen Vigor?!“

Und ein weiteres Mal bricht der König in Gelächter aus: „Aber sicher, Kleine! Ich habe ihn doch in einen Vampir verwandelt. Das ist schon viele Jahre her.“

„Kennen Sie vielleicht eine Möglichkeit, diese tierischen Merkmale wieder loszuwerden...? Es ist schwer, damit ein normales Leben zu führen“, sagt sie traurig; „Ich kann Vigor nicht mehr darum bitten, er ist gestorben...“

Das überrascht den König nicht. Mit stechenden Augen sieht er sie an: „Es gibt da eine Möglichkeit. Aber dazu später mehr. Ich finde es interessant... Euer Leben wurde durch die Vampire maßgeblich beeinflusst. Was ihr jetzt wärt, wärt ihr nicht, wenn es mich nicht gegeben hätte. Ich bin sozusagen euer Ursprung.“

Nun übertreibt er wirklich. Wenn er nie existiert hätte, wären Keisuke und Yuri jetzt ganz normale Menschen, das ist schon richtig. Aber das heißt nicht, dass er ihr Ursprung ist.

„Lassen wir das“, seufzt er und holt sich eine Zigarre aus der Tasche seines Jacketts, die er sich in den Mund steckt.

Yuri und Keisuke werfen sich einen vielsagenden Blick zu: Sie beide finden Zigarrenrauch ekelhaft, aber jetzt können sie nicht anders als ihn zu ertragen.

Man hört, wie die Tür geöffnet wird.

Meadow kommt herein, gefolgt von Miho und Shizuka.

„Mein Herr, hier sind die anderen Gäste, aber ich konnte Ihren Sohn und Samuel Spider nicht finden.“

„Nein?“, hakt Rage wenig interessiert nach.

Meadow verneigt sich entschuldigend: „Ich habe sie gebeten, im Hörsaal zu warten, doch als ich sie abholen wollte, waren sie nicht mehr dort.“

Der König zieht an seiner Zigarre und winkt locker ab: „Die kommen schon noch, wenn sie merken, dass es spannend wird. Ist doch immer so. Wir können schon einmal anfangen.“

Während Meadow die Tür schließt, weist Rage die Damen dazu an, sich auch auf das Sofa zu setzen. Shizuka ist wenig beeindruckt vom König der Vampire, doch Miho schüttelt ihm ehrfürchtig die Hand.

„Noch geht es hier so schön friedlich zu...“, wispert Keisuke Yuri zu, die ihn ernst ansieht.

Beide werfen einen Blick auf die Leiche, die ein paar Meter weiter am Boden liegt.

Rage scheint auch daran zu denken, denn er stellt sich so davor, dass man sie nicht sehen kann und ohne, dass er es ihm befiehlt, macht Meadow sich in einem passenden Moment unsichtbar, um der Toten unauffällig ein weißes Tischtuch überzuwerfen.

Miho setzt sich rechts neben Keisuke und flüstert: „Er ist ein sehr charmanter Mann, oder?“

Ihr kleiner Bruder sagt nichts darauf.

„Schön, dass ihr alle gekommen seid“, sagt der König mit gespielter Hochachtung, während Meadow hinter ihnen wieder erscheint: „Möchtet ihr etwas trinken?“

Alle lehnen ab, außer Miho, der er ein Glas Rotwein einschüttet.

„Ich möchte nicht gerne um den heißen Brei herum reden“, sagt der König und macht es sich, ohne in irgendeiner Weise auf Manieren zu achten, auf seinem Sofa breit.

„Ich hoffe, ihr habt euren Aufenthalt im Schloss bis jetzt genossen. Denn nun wird es etwas ernster. Wie ihr euch denken könnt, habe ich euch nicht ohne Grund hier her eingeladen.“

Er meint wohl „nicht ohne Hintergedanken“.

„Ich habe lange Zeit darüber gegrübelt, was das Beste für diese Welt ist, und habe mich dabei aus äußeren Streitigkeiten herausgehalten. Als die Fehde zwischen meiner Frau und meinem Sohn begann, blieb ich als Unbeteiligter zurück. Raito ist heute noch sauer deswegen.“

Das ist ja auch verständlich, nach allem, was Emily angerichtet hat.

„Doch irgendwann“, erzählt er weiter; „war es zu viel. Ich habe meine Frau in mein Schloss eingeladen um mit ihr zu sprechen. Doch in gerade der Nacht, für die wir uns verabredet haben, wurde die Villa am Riverside Hill, ihr Hauptquartier, überfallen.“

„Also gestern!“, ruft Yuri erstaunt.

Der König nickt: „Emily hat von Anfang an alles falsch gemacht. Ich habe ihr den Zorn auf die Menschheit viele Jahrhunderte nachgesehen, doch nun war genug. Als sie mir sagte, dass sie plant, die gesamte Menschheit auszurotten, habe ich sie zuerst nicht ernst genommen. Doch siehe da – in nur wenigen Jahren hat sie eine mächtige Organisation von Vampiren zusammengestellt: Die Curser-Gesellschaft. Als ich bemerkte, dass sie sehr wohl imstande sein würde, ihren Plan in die Tat umzusetzen, gab ich Meadow den Befehl, sie zu töten, wenn sie noch mehr Morde begehen würde. Und da sie noch in dieser Nacht beinahe wieder... ihr versteht?“

„Ich habe zuerst gezögert. Verzeiht mir“, entschuldigt Meadow sich.

Rage fängt wieder mit seinem schallenden Lachen an: „Ist ja gut, mein Freund! Du hast auch ihr viele hundert Jahre, in der ich mit ihr verheiratet war, gedient. Du hast deinen Befehl würdig ausgeführt. Mach dir keine Vorwürfe.“

Meadow bedankt sich mit relativ ausdruckslosem Gesicht.

„Jetzt wird mir einiges klar“, sagt Miho nachdenklich; „Also haben Sie Emily bei diesem Plan nicht unterstützt.“

„Richtig. Es ist ein vollkommener Schwachsinn, alle Menschen umbringen zu wollen. Erstens bräuchte man dafür eine Armee von Vampiren, und in der Curser-Gesellschaft hatte niemand die Fähigkeit, weitere Vampire zu erschaffen. Und zweitens brauchen wir die Menschen zum Überleben. Ohne Menschen gibt es nicht genug Blut, von dem sich die Vampire ernähren könnten. Emily hat zwar ein geheimes Blutlager eingerichtet, das uns bestimmt für viele Jahrhunderte mit Nahrung versorgen würde, aber Vampire leben eben nicht nur lange sondern ewig. Die meisten jedenfalls.“

Das stimmt. Vigor, Verena, Raid, Lure, Decay, Sense, Emily... Sie alle hätten ewig gelebt, wären sie nicht getötet worden.

„Was glaubt ihr, ist Vampirismus überhaupt?“, fragt der König seine Gäste.

„Naja“, antwortet Miho; „entweder eine Krankheit oder etwas übernatürliches, wie ein Fluch...“

„Krankheit kommt der Sache recht nahe. Es ist eine Mutation, die den Alterungsprozess des gesamten Körpers aufhält, individuelle Kräfte verleiht und auch sonst sehr vielseitige Auswirkungen auf die Anatomie und Genetik hat.“

„Anatomie und Genetik?“, wiederholt Yuri.

„Die Fangzähne zum Beispiel, mit denen wir die Haut unserer Opfer durchbohren, um einerseits an ihr Blut zu kommen, und andererseits unseren Erreger in sie zu injizieren. Was die Genetik angeht – vielleicht wisst ihr, das Vampire keine Kinder bekommen können. Ich weiß nicht einmal, was passieren würde, wenn man eine schwangere Frau zum Vampir macht. Wahrscheinlich würde der Embryo absterben.“

Noch ein Zug an der Zigarre, und der Herr spricht weiter: „An Vampiren ist überhaupt nichts übernatürliches. Es ist etwas medizinisches.“

„Aber Sir, wieso wirkt dann Weihwasser so gefährlich auf Vampire?“, wirft Keisuke ein.

„Ha ha ha ha, seid ihr auch darauf reingefallen? Weihwasser ist nicht wirklich schädlich für uns. Das ist bloß ein Trick der Provitas! Sie haben ihre Leute in jeder Kirche in Logaly und der Umgebung, und sie mischen dem Weihwasser chemische Elemente bei, die gefährlich für Infizierte sind.“

Achso, Vampire sind also nicht mehr als „Infizierte“.

„Wir...“ In Keisukes Augen bilden sich beinahe Tränen: „Wir sind keine mystischen Kreaturen der Nacht, oder? Wir sind nichts besonderes... Wir sind nur krank...“

Mit einem breiten Grinsen nickt der König. Miho legt ihren Arm um ihren Bruder.

In Wahrheit ist er also nur ein Mensch, der mit einer Krankheit infiziert wurde und der mutiert ist. „Vampir“ ist eine vorläufige Bezeichnung für diese Menschen.

Aber macht das wirklich einen Unterschied? Sollte es ihm etwas ausmachen?

Was ändert sich dadurch, dass er weiß, dass alles biologische Ursachen hat?

„Darüber wollte ich aber nicht mit euch sprechen“, sagt Rage streng; „Es geht immer noch um Emily. Bei ihrer fehlgeschlagenen... Nennen wir es Apokalypse, hat sie eine Menge Aufsehen erregt. Es ist fast unabwendbar, dass die Existenz der Vampire bekannt wird. Darum seid ihr hier.“

Erwartungsvoll schauen alle den Schlossherrn an, der überlegen seine Zigarre raucht.

Miho hat ihren Wein in der Zwischenzeit schon ausgetrunken und lehnt ab, als Meadow ihr noch etwas einschütten möchte.

„Ich muss verhindern, dass wir entdeckt werden. Deshalb werde ich so viele Beweise wie möglich vernichten. Meadow hat schon einige der Vampirleichen in Logaly weggeräumt, aber bezüglich der immensen Sachschäden und verschwundenen Personen sind wir machtlos. Es gibt aber noch etwas, was wir tun können, um das Geheimnis der Vampire zu wahren.“

Es trifft Keisuke wie einen Blitz. Natürlich! Wie konnte er nur so dumm sein!?

Das gesamte Personal wurde getötet, und warum? Weil sie wussten, dass in diesem Schloss Vampire leben!

„Oh nein“, keucht er; „Ihr wollt jeden umbringen, der von der Existenz der Vampire weiß...“

Yuri stößt einen erschrockenen Schrei aus, Shizuka vergräbt ihre Hände in ihrem Gesicht und Miho starrt Rage entsetzt an.

„Wenn ich das tun würde, wäre ich nicht intelligenter als Emily, oder?“, erwidert er kühl und drückt seine Zigarre im Aschenbecher aus.

Also nein? Aber was dann?

„Die Cursers haben schon halbwegs effektiv versucht, ihre Existenz zu verbergen, daher gibt es wohl momentan nicht so viele Menschen, die Bescheid wissen. Aber ja, es gibt sie.“

„Und was wollen Sie tun?“, fragt Miho. Auch sie wirkt langsam misstrauisch.

„Dieses Schloss bietet genug Platz. Ich mache euch das Angebot, dauerhaft hier zu bleiben. Hier könnt ihr ein schönes Leben in Reichtum führen und ich muss mir keine Sorgen machen, dass die Polizei oder ähnliches euch in die Finger bekommt. Ich werde alle Menschen, die von den Vampiren wissen, nach hier holen, und auch alle restlichen Vampire. In diesem Schloss können dann Menschen und Vampire gemeinsam in Frieden leben. Draußen, in der richtigen Welt, wird das niemals möglich sein.“

Eigentlich klingt das gar nicht so schlecht, denkt Keisuke nach, dann könnte er hier mit Raito und den anderen leben. Yuris Eltern, Shou, Luna, Epheral... Moment, Epheral?!

„Und die Vampirjäger?“, fragt er. Die werden ganz bestimmt nicht gemütlich mit ihren Feinden unter einem Dach leben.

„Die Provitas müssen wir noch beseitigen“, gesteht der König; „Sie versuchen zwar sowieso auch, unsere Existenz zu vertuschen, aber einen wahren Neustart können wir nicht machen, solange diese Organisation besteht.“

„Aber... ihr Präsident hat uns geholfen!“, beschwert Yuri sich.

Plötzlich zerbricht unter lautem Klirren der Holztisch, auf dem die Getränke stehen: Die Flaschen fallen herunter, zerspringen und ihr Inhalt hinterlässt Pfützen auf dem Boden.

An der Stelle, an der bis eben noch der Tisch war, steht jetzt ein gewaltiger, schattenartiger Löwe, der majestätisch brüllt und den Vampirkönig fixiert.

Miho springt schreiend auf und geht hinter dem König in Deckung. Die Anderen erschrecken sich zuerst ein bisschen, beruhigen sich aber schnell.

Auch Keisuke steht auf: „Raito!“

Die Tür geht auf und Raito kommt herein, gefolgt von Samuel. Dieser scheint mit seinem typisch genervten Gesichtsausdruck nicht besonders froh sein, seine Gefährten wiederzusehen.

Die Silhouetten des Löwen werden währenddessen immer unschärfer, bis er verschwunden ist.

„Hallo Sohn“, grüßt Rage und erhebt sich, aber Raito geht sofort einen Schritt zurück: „Tu nicht so.“ Er wendet sich an Keisuke: „Ihr dürft seinem Geschwätz nicht vertrauen. Er sagt zwar, dass er uns hier ein schönes Leben machen will, aber eigentlich will er uns nur einsperren, damit er uns unter Kontrolle hat.“

„Oh mein Gott“, schaudert Miho, und Yuri fragt skeptisch: „Ist das wahr?“

Keisuke nickt: „Stimmt, warum sollte sonst das gesamte Personal abgelehnt haben?“

„Bitte setzt euch wieder“, sagt Meadow gelassen, doch niemand hört auf ihn.

Der König seufzt: „Es ist schon richtig, wenn ihr euch entscheidet, hierzubleiben, dann dürft ihr das Schloss nie mehr verlassen. Ich habe aber nicht vor, euch in einen Kerker zu stecken. Ihr könnt hier luxuriös hausen. Ist das nichts?“

Das kann ja wohl nicht wahr sein: Der Typ spinnt wohl!

„Ich werde euren Wünschen nachkommen, insofern ihr euch hier an die Regeln haltet“, lacht er; „Meadow, bitte nimm die junge Yuri mit ins Krankenzimmer. Wir werden sie noch heute von ihrer Missbildung erlösen.“

Ihrem Blick nach zu urteilen empfindet sie ihre Fuchsohren und ihren Schweif nicht als „Missbildung“, und als Meadow sie auffordert, ihn zu begleiten, ruft sie: „Nein! Damit wollt ihr uns nur herumkriegen, damit wir hierbleiben!“

„Mädchen, ihr bleibt sowieso. Das, oder ihr sterbt. Ich rate dir wirklich, mit ihm zu gehen“, mahnt der König sie.

„Geh ruhig, Yuri“, nickt Miho ihr zu; „Lass das hier uns regeln.“

Einen kurzen Moment schweigt das Fuchsmädchen, dann lächelt sie ihre Freunde an: „Okay! Ich vertraue euch!“

Meadow geleitet sie nach draußen.

Der König blickt in fünf unwillige Gesichter. Seufzend geht er zur Tür: „Ich gebe euch bis sechs Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Jeder von euch kann für sich selbst entscheiden. Denkt daran, entweder ihr führt hier ein Leben in Luxus, oder ihr müsst sterben. Ich denke, die Wahl wird euch nicht schwer fallen.“

„Wo gehst du hin?“, knurrt Raito.

Rage grinst: „Ich habe noch etwas mit einer jungen Frau zu klären, die hoffentlich intelligenter ist als der Rest meiner Dienerschaft. Ich bin mir sicher, dass ich weiß, wo ich sie finde...“

Er muss von Alexa sprechen!

Lachend schließt der König die Tür und stolziert davon.

Da sind sie nun.

„Ich habe ihm von Anfang an nicht getraut“, sagt Keisuke leise.

Ein Leben in Gefangenschaft zu führen ist nicht wesentlich besser, als von den Cursers getötet zu werden.

Raito und Samuel setzen sich gegenüber von Keisuke und den anderen.

„Hast du denn keinen Einfluss auf deinen Vater?“, fragt Miho besorgt.

Verbittert schüttelt Raito den Kopf: „Er will mich genauso einsperren wie euch. Wahrscheinlich bildet er sich auch ein, er würde mich lieben oder so etwas. Er ist verrückt.“

„Ein Verrückter mit viel Macht“, ergänzt Samuel.

„Was ist eigentlich mit Epheral und Luna?“, will Shizuka wissen.

Das ist das erste Mal, dass sie überhaupt etwas sagt, seitdem sie hier ist.

Raito schweigt eine Weile: „Ich weiß es nicht. Sie waren noch am Leben, als ich sie im Krankenhaus abgeliefert habe, aber der Zustand von beiden war kritisch. Wir haben Samuel schnell behandeln lassen und sind dann sofort hier hergekommen.“

Shizuka und Keisuke senken den Kopf, aber Miho legt auf beide eine Hand und tröstet sie: „Es wird sicher alles gut. Im Krankenhaus wird man sich gut um sie kümmern.“

Eigentlich kann sie das gar nicht wissen, aber was bringt es, sich jetzt Sorgen zu machen?

Es wird schon stimmen...

„Wegen unserem Problem...“, sagt Keisuke leise; „Was machen wir jetzt?“

„Eins ist klar“, antwortet Raito schnell; „Wir müssen hier raus.“

Niemand von ihnen hat das Bedürfnis, auf die absurden Forderungen des Vampirkönigs einzugehen, das war von Anfang an klar, und das würde sich nicht ändern. Sie alle haben jetzt oft genug ihr Leben riskiert um zu wissen, was wichtig ist. Sie würden die Sache anders lösen.

Samuel erklärt: „Es ist sinnlos, gegen den König zu kämpfen, unsere Fähigkeiten wirken nicht gegen ihn. Nicht einmal Raitos Schattenwesen greifen ihn an, wenn er es versucht. Und er kann jedem von uns seinen Willen aufzwingen, wenn er mich kontrolliert, gilt das auch für euch Menschen.“

Stimmt. Samuel kann Menschen kontrollieren, Rage Vampire. Samuel ist ein Vampir, also kann Rage durch seine Fähigkeit ihn und durch Samuels Fähigkeit jeden Menschen kontrollieren.

„Das Problem ist, selbst wenn wir aus dem Schloss kommen, wird er uns wahrscheinlich verfolgen. Wir sollten ein Ablenkungsmanöver starten“, schlägt Raito vor, aber Miho mischt sich ein: „Moment! Erstmal müssen wir Yuri und Alexa holen. Und Desmond muss noch wiederbelebt werden!“

„Desmond?“ Raito schaut sie erst ungläubig, dann mitleidig an: „Desmond ist nicht hier.“

„Wie?!“, ruft sie entsetzt.

„Das war nur eine Falle des Königs, um euch her zu locken. Desmond wurde heute morgen bestattet.“

„Was?!“, entfährt es Keisuke; „Aber, wenn er beerdigt wurde, dann heißt das ja...“

„Keine Sorge“, lächelt Raito; „Wir können ihn da immer noch rausholen. Er und Verena sind noch nicht verloren.“

„Wo du mich gerade daran erinnerst“, sagt Keisuke und schluckt.

Langsam geht er zu der Leiche, die immer noch unentdeckt unter dem Tuch liegt.

„Was ist das?“, fragt Shizuka verwirrt.

„Dieser Geruch“, murmelt Samuel und Raito schließt die Augen. Sie wissen es bereits.

Keisuke reißt das Tischtuch weg und offenbart somit die tote Frau.

Die Vampire geben sich wenig überrascht, und auch Miho bleibt ruhig, aber Shizuka springt auf. Sie wird kreidebleich und hält sich beide Hände vor den Mund.

„Der König hat sie töten lassen, genau wie den Rest des Personals. Ich werde meine Fähigkeit jetzt einsetzen und sie wiederbeleben...“

Raito tritt vor und bückt sich zu der Leiche:

„Nur du kannst herausfinden, wie du deine Kraft einsetzt. Lass dir Zeit.“

Sie haben so oder so schon Probleme mit dem König, weil sie sein Angebot ablehnen werden. Dann können sie vorher auch noch einen unschuldigen Menschen retten.

Zögerlich bückt Keisuke sich und schaut Frau Richter eine Weile an.

Ihr Gesicht wird durch ihre Haare verdeckt.

Miho wirft Shizuka deswegen einen besorgten Blick zu: „Alles okay? Du kannst dich beruhigen, Keisuke wird diese Frau gleich wieder zum Leben erwecken.“

Heftig schüttelt das Mädchen den Kopf: „Nein... nein...!“

Ein seltsames Gefühl macht sich in Keisukes Körper breit. Es scheint ihm instinktiv zu sagen, was er zu tun hat, damit seine Kraft wirkt.

Langsam klettert er über ihren Körper bis zu ihrem Kopf und macht ihre Stirn von den Haaren frei.

Sein Herz klopft schnell. Jetzt ist es soweit, er kann es fühlen. Irgendetwas überkommt ihn.

Er senkt seinen Kopf und legt seine Stirn sanft, fast schon zärtlich, an die der Toten.

Dann spürt er, wie etwas von ihm in sie übergeht, zuerst nur ein wenig Wärme, doch dann wird es immer mehr. Er scheint eine Art Zugang erbaut zu haben.

„Keisuke, nicht!!!“, schreit Shizuka, doch es ist zu spät, er kann nicht mehr aufhören.

Ihm wird schwindlig, aber das ist okay, denn er hat es fast geschafft. Nur noch ein bisschen.

Jetzt merkt er, wie sein Atem schwerer wird, er schwitzt, als hätte er Sport getrieben.

Sie scheint keine Energie mehr aufnehmen zu können, und so fällt Keisuke erschöpft nach hinten.

Wow, das es so anstrengend sein würde, hätte er nicht gedacht.

Aus dem Augenwinkel sieht er, dass Bettina langsam aufsteht.

Er hat es wirklich geschafft!

„Keisuke, nein! Komm da weg!“, hört er Shizukas Stimme.

Mit Mühe richtet er sich auf und wundert sich darüber, dass alle Anwesenden entsetzt zu Bettina starren. Als er sich umdreht, weiß er auch sofort warum.

Bettina Richter mag dort stehen und sich bewegen, aber ist sie wirklich am Leben? Ihre Wunden sind nicht verheilt, bluten aber auch nicht mehr. Ihre Augen sind leer und von dunklen Schatten umrandet. Außerdem ist sie aschfahl und gibt würgähnliche Laute von sich.

„Frau Richter?“ Vorsichtig wagt Miho sich an sie heran; „Frau Richter, erkennen Sie mich?“

Offensichtlich ist das nicht der Fall, denn schon im nächsten Moment stürzt diese sich hungrig auf die erschrockene Miho.

In letzter Sekunde wird die Angreiferin von Raito mit einem starken Tritt an die Zimmerwand befördert.

Keisuke steht ungläubig auf: „Was soll das?“ Fragend sieht er Raito an, der selbst etwas aufgelöst wirkt, was ungewöhnlich ist, denn normalerweise ist er die Ruhe selbst.

„Ich weiß nicht...“, sagt er leise; „Du musst irgendetwas falsch gemacht haben...“

Bettina erhebt sich wieder und zeigt bedrohlich ihre Zähne.

„Sie ist wie ein wildes Tier“, stellt Miho ängstlich fest und nimmt Keisuke an der Hand, um ihn hinter Raito zu bringen.

„Sie ist ein Zombie“, sagt Shizuka leise.

Alle sehen sie an.

Ihre Augen sind weit aufgerissen, sie weint.

„Keisuke... Du kannst keine Menschen wiederbeleben. Du kannst sie höchstens... als gefühllose Zombies herumstreifen lassen...“

Wieder vergräbt sie ihr Gesicht in den Händen: „Es tut mir leid! So leid! Ich habe es die ganze Zeit über gewusst...“

„Aber das heißt doch...“, fängt Miho heiser an. Shizuka beendet den Satz schluchzend: „Das heißt, dass er niemanden retten kann. Nicht meine Eltern, nicht Desmond, und auch keinen von uns, wenn wir mal tot sind...“

Sie hat es ausgesprochen.

Miho muss sich auf das Sofa setzen, Keisuke rutscht wieder zu Boden und Raito steht wie erstarrt da.

„Weil ihr gerade einen sentimentalen Moment habt, muss ich mich wohl um unseren Gegner kümmern“, seufzt Samuel und befestigt an seinen Händen lange Klauen aus Metall.

„Wieso geht es denn nicht?“, fragt Keisuke, selbst den Tränen nah.

„Frau Lilienfeld hat es mir erklärt“, weint Shizuka; „Man kann mit nichts auf der Welt den Tod aufhalten. Wenn jemand gestorben ist, lässt er sich nicht mehr retten, das ist ein... Gesetz... Das Gesetz des Kreislaufs von Leben und Tod...“

„Deswegen bist du also so plötzlich abgehauen, an dem Abend“, sagt Miho und zieht ihre Beine an ihren Körper heran. Wenn die Getränke nicht eben zerberstet wären, würde sie sich jetzt wohl noch ein Glas Wein einschütten.

„Alexa hat es gewusst... Und auch der König... hat es gewusst“, murmelt Keisuke und erinnert sich daran, wie Rage Halo gelacht hat, als er seine Kraft erwähnte.

„Hast du es... auch gewusst?“, fragt er Raito, der wie eine Statue im Raum herumsteht.

„Wenn ich es gewusst hätte, dann... hätte ich mir keine Hoffnungen gemacht. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich dich niemals in einen Vampir verwandelt... Ich habs nicht gewusst...“

Als Miho seinen leeren Blick sieht, bietet sie ihm an, sich zu setzen, doch er bleibt stehen.

„Verena ist verloren!“, ruft Samuel ihm zu, der sich einen erbitterten Kampf mit der robusten Bettina Richter liefert, die einfach immer wieder aufsteht.

„Ich wollte doch nur... noch wenigstens einmal ihr Klavierspiel hören“, flüstert Raito und seine Hand verkrampft sich.

„Es tut mir leid!“, sagt Keisuke ehrlich und ihm laufen Tränen die Wangen herunter.

Raito schaut ihn emotionslos an. Würde er ihn jetzt nicht mehr mögen?

„Du bist wirklich nett“, sagt er schließlich und lächelt kaum merklich. Hilfsbereit streckt er Keisuke seine Hand aus: „Ich weiß doch, dass es nicht deine Schuld ist. Aber nun steh auf.“

„Danke“, sagt er glücklich und lässt sich von ihm auf die Beine helfen.

Nun stellt sich Raito direkt vor Shizuka: „Auch dir macht niemand einen Vorwurf. Du hast auch genug mitgemacht. Hör auf zu weinen.“

Mit verheultem Blick schaut sie hoch zu ihm.

„Du weinst doch gar nicht, weil deine Eltern nicht wiederbelebt werden können. Du hast ihren Tod doch schon vor langer Zeit akzeptiert. Du weinst nur, weil du denkst, alle enttäuscht zu haben, aber das stimmt nicht. Gib dir nicht die Schuld.“

Es herrscht für einen Moment Stille im Raum, doch dann fährt Shizuka Raito an: „Du Idiot!“

Was soll das? Warum spricht sie so mit ihm? Alle um sie herum sind perplex, außer Samuel, der es inzwischen geschafft hat, Bettina mit seinen Krallen an die Wand zu nageln, sodass sie festsitzt.

„Du bist so ein Idiot!“, wiederholt Shizuka und es laufen ihr Tränen über die Wangen: „Du musst jetzt nicht den starken Anführer spielen, der seine niedergeschlagenen Kameraden aufmuntert! Wir sitzen doch alle im selben Boot, wir werden alle von uns geliebten Menschen nicht zurück bekommen. Das gilt auch für dich! Dieses Mädchen... Verena... ist verloren!“

„Es reicht jetzt!“, ruft Miho wütend.

Raito vermeidet es, Shizuka anzusehen. Sie hat mit dem, was sie sagt, nicht unrecht, doch warum nimmt sie es nicht einfach hin? Er versucht doch bloß, mit allen Mitteln für seine Freunde da zu sein. Dafür bewundert Keisuke ihn. Denn er hat in dem Moment, in dem er die bittere Wahrheit erfahren hat, nur an sein eigenes Leid gedacht und nicht daran, wie es den anderen geht.

Entschlossen stellt Miho sich zwischen Raito und Shizuka:

„Wisst ihr, auch ich bin enttäuscht worden. Aber jetzt mal ehrlich: Was nehmen wir uns überhaupt heraus? Dass Menschen nicht mehr lebendig werden, wenn sie einmal gestorben sind, ist doch das natürlichste der Welt! Nur wir bestehen darauf, dass man für uns Ausnahmen macht. Es ist nicht möglich, irgendwen aus dem Jenseits zurück zu holen. Das müssen wir akzeptieren. Das gehört zum Leben.“

Es muss sie viel Kraft gekostet haben, dies auszusprechen. Sie hat so viele geliebte Menschen verloren, und wenn Keisuke sich nicht ganz irrt, hat sie bis eben noch damit gerechnet, dass sie jeden von ihnen bald wiedersehen wird.

„Raito!“ Samuel schaut ihn ernst an. Er hat mittlerweile von Bettina abgelassen, die regungslos am Boden liegt. Anscheinend wirkt Keisukes Kraft nicht länger. Kein Wunder, er hat sie eben ja auch zum allerersten Mal angewendet.

Raito nickt Samuel zu, um zu zeigen, dass er verstanden hat: „Leute, reißt euch zusammen! Zeit zum Weinen haben wir noch genug, doch zuerst müssen wir lebend aus diesem Schloss herauskommen.“

„Der Vampirkönig hat die Tür abgeschlossen“, sagt Miho gefasst. Sie hat bis gerade versucht, sie zu öffnen. „Das haben wir gleich“, entgegnet Raito ruhig und stellt sich vor die Tür. Routiniert faltet er seine Hände wie bei einem Gebet zusammen und der schattenhafte Bär erscheint zwischen ihm und der Tür. Miho bekommt schon wieder einen Schreck: „Diese Dinger gehören zu dir?!“

Keisuke nimmt sich kurz Zeit und erklärt ihr alles, was er über Raitos Fähigkeit weiß.

Gleichzeitig befiehlt dieser dem Schattenwesen, die Tür zu zerstören.
 

Alexa rollt geduldig eine Lakritzschnecke auf, die sie langsam verspeist. Sie sitzt an einem Tisch in der privaten Bibliothek des Königs. Normalerweise würde sie es niemals zulassen, dass an einem Ort wie diesen gegessen oder getrunken wird, doch ihr ist klar, dass das jetzt unwichtig ist.

Sie nimmt Schritte wahr, doch sie dreht sich nicht um, um zu sehen, wer da kommt.

„Hallo Herr Mörder...“, begrüßt sie Rage Halo selbstbewusst, doch ohne ihn anzusehen.

„Alexa, was soll diese unnötige Bemerkung?“ Er tritt näher an sie heran.

Als sie sich umdreht, fällt ihm auf, dass sie ihre Dienstmädchen-Uniform nicht mehr trägt.

„Warum hast du dich umgezogen?“, fragt er sauer; „Noch hast du nicht frei. Du bist die letzte Angestellte, die noch übrig ist, von Meadow abgesehen.“

Frau Lilienfeld steht auf und streicht ihre legere Bluse glatt: „Ich kann solche peinlichen Outfits nicht leiden.“

Die Augen von Rage verengen sich zu Schlitzen.

Ihr ist bewusst, dass sie in Gefahr ist, aber darum geht es jetzt nicht.

„Ich hatte von Anfang an die Theorie, dass Sie mit gezinkten Karten spielen, guter Herr“, grinst sie herausfordernd.

„Hör mir erst mal zu, bevor du frech wirst“, knurrt der König sauer. So spricht man nicht mit ihm.

„Schon gut, ich weiß alles. Du planst, alle Vampire und alle Menschen, die von den Vampiren wissen, hier einzusperren. Wahrscheinlich hast du den anderen erzählt, was für ein schönes Leben du ihnen hier bereiten würdest...“

Angespannt geht sie zu einem der modrigen Bücherregale und zieht ein altes, zerfleddertes Buch im grauen Einband heraus. Ohne Umsicht wirft sie es ihm vor die Füße.

„In dieser Aufzeichnung steht alles drin. Dieses Schloss...“

Mit abfälligem Blick schaut sie sich im Raum um: „... war früher ein Versuchslabor. Man hat hier medizinische Experimente durchgeführt. Blutige, grauenhafte, Versuche an lebenden Menschen! Mir ist schlecht geworden, als ich es gelesen habe!“

„Du weißt also bescheid...“, murmelt Rage Halo und sein Blick verfinstert sich.

„Es ist alles genau dokumentiert. Vor mehreren hundert Jahren fand hier das letzte Experiment statt. Ich gebe zu, dass ich die Einzelheiten nicht genau verstanden habe, doch das Versuchsobjekt warst du, richtig? Du bist nicht so alt, wie du uns glauben machen wolltest. Hier hat man dich zu dem ersten Vampir gemacht, und in einem Blutrausch hast du fast alle Menschen hier getötet. Ein paar machtest du zu Vampiren. Seitdem lebst du hier. Es ist auch ohne Zweifel, dass du dieses Gebäude zu einem Schloss hast umbauen lassen.“

„Richtig, das war ich. Ich erinnere mich noch gut daran, wie sie mich in ein Monster verwandelten. Das Sonnenlicht brannte auf meiner Haut, mein ganzer Körper schmerzte und alles in mir lüsterte nach Blut und so brachte ich einen nach dem anderen um, wie ein Wolf, der Ziegen reißt.“

„Und der Grund, warum du uns alle hier haben willst... Weil wir die perfekten Versuchskaninchen abgeben, oder? Vampire, sowie Menschen die von ihnen wissen und besser verschwinden sollten...“

Überrascht schaut Rage Alexa an: „Das steht da doch gar nicht drin.“

„Ich weiß“, lächelt sie. Nach außen hin ist sie die Ruhe selbst, denn sie weiß, dass sie ihre Angst nicht zeigen darf: „Ich habe auch das Manuskript gelesen. Du willst selbst Experimente durchführen um mehr über die Kräfte der Vampire herauszufinden. Es reicht dir nicht, unsterblich zu sein. In einer Welt, in der die Menschen herrschen, hast du mit deiner mickrigen Vampirkontroll-Gabe keine Macht. Aber du kannst auch nicht, wie Emily es versuchte, die Menschheit auslöschen, weil ihr euch dann nicht mehr ernähren könnt. Also versuchst du, noch mehr eigene Kräfte zu erhalten.“

„Du hast das Manuskript also wirklich gelesen“, flüstert er.

Man merkt deutlich, dass er seinen Zorn kaum noch zügeln kann.

„Du solltest hier nicht alles herumliegen lassen. In dem Manuskript steht, dass der Ursprung der Kräfte eines Vampirs in dessen Blut enthalten sind. Es ist aber nicht genug, einem Vampir das Blut auszusaugen. Das wäre nur unverdaulich für dich, oder? Und jetzt suchst du einen Weg, es trotzdem irgendwie zu schaffen. Du hast dir genug Vampire und Menschen, die du zu Vampiren machen kannst, angeschafft.“

„Ich bin beeindruckt, Alexa. Ich habe gehört, dass du gut bist, aber so gut...“

So wie er einen Schritt auf sie zu geht, geht sie einen zurück.

„Du liegst in allen Punkten richtig. Aber dir ist klar, dass du besser hättest den Mund halten sollen? Ich muss dich jetzt leider töten. Aber vorher habe ich noch eine Frage...“

„Ja bitte?“

„Wie kommt es, dass du zufällig die Bücher gelesen hast, die besser niemand in die Finger bekommen hätte? Hast du so ein gutes Auge für Bücher?“

„Das auch“, lächelt sie; „Aber eigentlich habe ich fast jedes Buch dieser winzigen Bibliothek schon gelesen. Die waren nur zufällig dabei.“

Eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass sie kaum zwei Tage hier ist.

Der König fängt an, schallend zu lachen: „Du bist wirklich amüsant. Mit dir hatte ich mir echt die richtige ausgesucht. Schade... dass du jetzt sterben musst.“

Alexa macht sich bereit, doch dann fragt sie sich, wie der Vampirkönig sie denn töten will?

Er scheint keine Waffe dabei zu haben. Sie könnte ihm entkommen.

Ein breites Grinsen macht sich auf seinem Gesicht breit.

Zügig nimmt er den roten Feuerlöscher für den Brandfall von der Wand und öffnet den Verschluss.

„Was schaust du so irritiert?“, fragt er spöttisch und schießt.

Entflammtes Gas setzt das Regal, hinter dem Alexa steht, in Sekundenschnelle in Brand.

Der Feuerlöscher ist in Wirklichkeit ein getarnter Flammenwerfer!
 

Zur gleichen Zeit folgt Yuri Meadow in das Krankenzimmer des Schlosses. Es hat zwar keine Fenster, dafür aber eine beachtliche Größe und wirkt wie aus einem Hospital ausgeschnitten: Die Wände, der Fliesenboden... Alles ist weiß und wirkt steril. Auf einigen Holztischen stehen Reagenzgläser, Spritzen, ein Blutdruckmessgerät und diverse andere medizinische Instrumente herum.

Die Regale an den Wänden sind mit fachlich orientierten Büchern gefüllt, und was in den Schränken ist, darüber kann Yuri nur spekulieren.

„Bitte leg dich dort hin“; Meadow deutet auf eine schwarze Liege, die seitlich im Raum steht.

Unruhig legt Yuri sich dort auf den Rücken. Sie würde ihre Fuchsohren gleich verlieren.

Meadow schließt unauffällig die Tür und geht zu dem Mädchen herüber.

Gleich ist es soweit. Die Ohren, der Schwanz. Das würde alles verschwinden. Sie würde nicht mehr gehänselt werden von Klassenkameraden, sie würde ein normales Mädchen sein.

Sie würde nicht mehr so hoch springen können, nicht mehr so schnell laufen und nicht mehr so gut hören... Sie würde nicht mehr so beweglich sein, nicht mehr so stark, nicht mehr so nützlich.

Sie würde das, was Vigor ihr vor seinem Tod geschenkt hat, wegwerfen. Sie würde das beseitigen, was sie an ihn erinnert. An ihren Geliebten. Sie würde... Verdammt, sie würde einen Fehler machen!

Bevor sie etwas sagen kann, sind ihre Handgelenke schon an die Liege gefesselt.

Die Riemen sind ihr bis jetzt noch gar nicht aufgefallen: „Was soll das?!“

Warum hat er sie gefesselt? Was hat er vor?

„Ich habe es mir anders überlegt!“, ruft sie verzweifelt; „Ich will die Ohren behalten! Es soll alles so bleiben, wie es ist.“ Meadow verzieht keine Miene:

„Junge Dame, beruhigen Sie sich bitte. Niemand hatte jemals vor, sie Ihnen zu nehmen.“

Shizuka gegen Meadow

Shizuka gegen Meadow
 

„Hat ja nicht viel gebracht, uns einzusperren“, flötet Keisuke, als er über die zerschmetterte Tür in den Korridor hinaus steigt.

„Mein Vater weiß, dass es für mich kein Problem ist, aus einem verschlossenen Zimmer raus zu kommen“, sagt Raito ernst; „Da stimmt etwas nicht...“

„Darüber machen wir uns später Gedanken“, seufzt Miho. Ihr steht ins Gesicht geschrieben, dass ihre stressfreie Zeit gerade ihr Ende gefunden hat.

„Bevor wir fliehen müssen wir Yuri und Frau Lilienfeld finden und mitnehmen“, schlägt Keisuke vor.

„Okay, aber ich möchte vorher noch ein paar Sachen aus unserem Zimmer holen“, äußert seine Schwester und will schon losgehen, da ruft Samuel ihr hinterher: „Bist du blöd oder so? Alleine ist es viel zu gefährlich!“

Sauer dreht sie sich zu ihm um: „Wenn wir jetzt alle zurück rennen, verlieren wir zu viel Zeit, Herr Neunmalklug! Es ist besser, wenn ihr euch um Alexa und Yuri kümmert, während ich das schnell erledige. Übrigens kann ich als Mensch sowieso nicht durch die Fähigkeiten des Vampirkönigs manipuliert werden, ganz im Gegensatz zu euch Männern.“

Das stimmt schon, aber... Keisuke macht sich trotzdem Sorgen. Er könnte sie nicht beschützen, selbst wenn er sie begleiten würde, also wendet er sich vertrauensvoll an Raito: „Kannst du nicht mit ihr gehen? Wir schaffen das schon zu dritt... Aber ich will nicht, dass Miho etwas passiert.“

„Das ist nicht nötig“, sagt Miho schnell, doch ihr Bruder unterbricht sie laut: „Jetzt erlaube mir doch mal, dass ich mir auch Sorgen um dich mache!“

Darauf weiß sie keine Antwort.

Raito schweigt eine Weile, dann seufzt er und sagt: „Einverstanden. Ich komme so schnell wie möglich nach.“

Keisuke bedankt sich aufrichtig. Ohne Raito fühlt er sich zwar nur noch halb so sicher, aber ihre Gruppe würde schnell wieder wachsen, wenn sie Alexa oder Yuri finden.

Bevor sich Raito mit Miho auf den Weg macht, schreitet er zu Shizuka und kramt etwas aus der Innentasche seines schwarzen Mantels.

Ihre Augen werden groß, als er ihr eine Pistole überreicht: „Du bist vorerst der einzige Mensch von euch. Wenn die anderen beiden kontrolliert werden sollten, liegt es an dir, Rage zu töten.“

Vorausgesetzt, sie wird nicht sofort danach vom kontrollierten Samuel besessen gemacht.

Sie will sie zuerst nicht annehmen, doch sie merkt, dass sie keine Wahl hat.

„Ich zeige dir gleich, wie man sie benutzt“, informiert Samuel sie.

Shizuka schluckt. Sie ist kein Mensch, der gerne eine Waffe in der Hand hält.

Raito faltet die Hände zusammen und kurz darauf erscheint vor ihnen eine schattenartige Eule.

„Sie wird euch begleiten. Ihr müsst ihr nur sagen, dass sie mich holen soll, dann kommt sie zu mir zurück und ich helfe euch so schnell ich kann.“ Auf Mihos Frage, warum er ihnen kein stärkeres Wesen zur Verfügung stellt, antwortet er nur: „Das würde nichts bringen, sie werden Rage nicht angreifen, egal, was wir versuchen.“

Die Eule ist somit zumindest eine begrenzte Möglichkeit, mit Raito in Kontakt zu treten.

„Ach, Shizuka“, sagt er noch, bevor er endgültig mit Miho um die Ecke biegt; „Du musst nicht zögern, auf Rage zu schießen. Er ist nicht mein Vater, genau so, wie Emily nicht meine Mutter war. Sie sind nur Mörder, mehr nicht...“

Und so trennen sich die Wege der zwei Truppen vorläufig.
 

„Was?!“ Yuri ist fassungslos. Sie rüttelt so stark sie kann an den Riemen, schafft es aber nicht, sich zu befreien. Sie kann ihre Beine zwar bewegen, aber das bringt ihr jetzt nicht viel.

Für ihren Geschmack wird sie viel zu häufig gefesselt.

„Was soll das heißen, niemand hatte das vor?!“, präzisiert sie ihre Frage; „Warum bin ich dann überhaupt hier?!“

„Weil mein Herr es so befohlen hat“, antwortet Meadow, während er einen der Schränke durchsucht; „Wir wollen noch heute mit den Experimenten anfangen, und du bist die Interessanteste von allen.“

Was redet der Typ da? Ist er verrückt? Was für Experimente?

Er scheint gefunden zu haben, wonach er gesucht hat: Eine durchsichtige, kleine Ampulle.

Gelassen füllt er sie mit einer hellblauen, fast transparenten Substanz aus einem Fläschchen und setzt sie in eine Spritze ein.

„Du bist ein Mensch, der durch die Kraft eines Vampirs zu etwas ganz Neuem gemacht wurde. Ein Tiermensch, wenn man es so ausdrücken kann.“

Ohne zu zögern geht er mit der Spritze auf sie zu.

Er will doch nicht etwa?!

„Wissen Sie, junge Dame... Was über die Vampire wirklich noch ein Geheimnis ist, sind ihre besonderen Fähigkeiten, wie sie zustande kommen, ob sie wissenschaftlich erklärbar sind... Mein Herr interessiert sich schon eine lange Zeit dafür. Ich werde ihm assistieren.“

„Aber ich bin nicht euer Versuchskaninchen! Lass mich gehen!“, schreit sie ihn an, doch er ist sichtlich unbeeindruckt.

„Das ist nur ein Beruhigungsmittel. Damit diese Sache etwas diplomatischer von statten geht“, erläutert Meadow ohne den leisesten Anklang Ironie in der Stimme.

Yuri will das nicht mit sich machen lassen! Verdammt, wenn jetzt niemand kommt und sie rettet...

Es kommt niemand.

Aber etwas anderes passiert.

Kurz bevor Meadow ihr seelenruhig die Droge injizieren kann, ertönt eine elektronisch klingende Melodie aus seiner Tasche.

Sein Handy?

Er lässt von ihr ab und holt tatsächlich ein Handy aus der Tasche.

Nach einem kurzen Blick darauf klickt er auf eine Taste und die Melodie verstummt.

„Die anderen Gäste haben gewaltsam das Zimmer verlassen“, klärt Meadow die verwirrte Yuri auf; „Wir hatten für diesen Fall einen Sensor in der Tür eingebaut, der mich benachrichtigt. Diese Aktion kann man als eindeutige Antwort auf das Angebot meines Herrn werten.“

Die Antwort 'nein'.

Meadow prüft noch einmal schnell, ob Yuri sich auch wirklich nicht losreißen könnte, dann verlässt er das Krankenzimmer.
 

Mit dem Flammenwerfer ist er ein gefährlicher Gegner, doch auch Alexa ist nicht unvorbereitet.

Hastig huscht sie durch die Regale und wird dabei von Rage verfolgt, der eine Spur aus Feuer und Rauch hinterlässt.

Normalerweise würde er sich niemals die Mühe machen, einen Angestellten selbst zu töten, aber da bereits das ganze Personal gestorben ist, bleibt ihm nichts anderes übrig.

Wie auch immer, Alexa empfindet es nicht als Ehre.

Sie rennt zwischen den Bücherregalen immer weiter geradeaus, bis sie an die Wand stößt, eine Sackgasse.

Mit einem hochmütigen Lächeln richtet Rage seinen Schlauch auf sie, doch als er feuern will, ist sie diejenige, die grinst. Mit einem gezielten Kick gegen ein Bücherregal entsteht eine Art Domino-Effekt, der dazu führt, dass einige Regale auf den Körper des Vampirkönigs fallen.

Vermutlich lebt er noch, aber Alexa hat keine Zeit, jetzt lange nachzudenken. Sie klettert über die umgefallenen Regale und eilt zur Tür, während sich das Feuer weiter ausbreitet.

Doch blitzschnell greift von unten eine Hand nach ihrem Bein und zieht sie nach unten.

Erschrocken fällt Alexa zu Boden – es ist Rages Hand, die da unter den Regalen hervor kommt.

Er lebt also wirklich noch! Panisch versucht sie, sich loszureißen, doch es ist sinnlos.

Ihr Gegner hat sie fest gepackt, und schon im nächsten Moment erhebt er sich unter den Regalen und steht langsam auf. Sein weißer Anzug wurde ganz schön stark in Mitleidenschaft gezogen.

Zornig starrt er Alexa an, um sie herum lodern die Flammen.

„Das Spiel ist aus“, knurrt er; „Du warst eine würdige Gegnerin.“

Mit immenser Kraft schleudert er sie viele Meter weit an ein Bücherregal; der Wurf ist so stark, dass wieder eine Kettenreaktion ausgelöst wird und Alexa unter vielen schweren Regalen begräbt.

„Ich wette so wolltest du schon immer sterben“, sagt Rage abfällig.

Sein schöner Anzug! Genervt verlässt er die in Flammen stehende Bibliothek.

Im Korridor hört er ein lautes, metallisches Geräusch, und kurz darauf fahren dicke, stählerne Gitter an den Innen- und Außenseiten der Fenster herunter.

„Sie sind also ausgebrochen“, stellt der Vampirkönig fest.
 

„Was ist das?“ Keisuke bleibt verwirrt stehen, als er merkt, dass es immer dunkler wird.

Die Fensterfront neben ihnen wird durch Stahlgitter schnell abgeriegelt, sodass sie am Ende kaum noch Licht hineinlassen würden. Zeitgleich schaltet sich automatisch alle elektrischen Lampen an.

„Da steckt garantiert der König hinter...“, murmelt Samuel und seufzt.

„Heißt das, das ganze Schloss ist abgeschirmt?“, fragt Keisuke und untersucht die Gitter.

Würden Raitos Schattentiere in der Lage sein, sie zu durchdringen?

Wenn nein, würden sie wirklich gegen den König kämpfen müssen...

„Rage hat irgendwie rausgefunden, dass wir aus dem Zimmer entkommen konnten. Es ist noch nicht sechs Uhr. Wir haben zwar nur zwei Gegner, aber sie sind besser organisiert als wir. Und sie haben Geiseln“, erklärt Samuel und führt sie weiter durch das Schloss.

„Sei nicht so pessimistisch“, ermahnt Keisuke ihn, und sieht dann zu Shizuka rüber, die schon eine ganze Weile die Pistole in ihren Händen anstarrt.

Besorgt fragt er sie, ob alles in Ordnung sei.

Zuerst antwortet sie nicht, doch dann atmet sie tief durch: „Kümmer dich jetzt nicht um mich, es geht schon. Aber ich möchte diese Waffe nicht benutzen, ich möchte niemanden auf dem Gewissen haben...“

„Dann gib sie mir“, fordert Keisuke sie auf.

„Das kann ich nicht! Wenn ihr vom König kontrolliert werdet...“

„Was dann? Dann kann er dich durch Samuel kontrollieren, und dann ist es doch egal, wer die Waffe hat, oder?“, argumentiert Keisuke.

Er will das Ding nicht unbedingt haben, aber wenn es ihr unangenehm ist, die Pistole zu halten, dann tut er ihr damit vielleicht einen Gefallen.

„Es reicht“, mischt Samuel sich wieder ein: „Vergesst nicht, dass es zwei Schritte sind, bis Rage Shizuka kontrollieren kann. Außerdem hat Raito die Waffe ihr gegeben, nicht dir. Du hast doch einen Dolch von ihm bekommen.“

Es ist sinnlos, weiter mit ihnen zu diskutieren.

„Wo gehen wir überhaupt hin?“, fragt Keisuke nach einer Zeit.

„In die Eingangshalle, von dort können wir sowohl das Krankenzimmer, als auch die Bibliothek schnell erreichen“, antwortet Samuel; „Und jetzt stell nicht immer so viele Fragen.“

Sie können nur hoffen, dass Alexa und Yuri wirklich dort sind.

Nach ein paar Minuten gehen sie eine Treppe hinunter und finden sich in der riesigen Eingangshalle wieder. Leider ist hier auch alles von den dicken Stahlgittern umgeben.

Jetzt sind sie schon beim Ausgang und können trotzdem nicht raus. Genial.

Samuel ist so nett, den Jugendlichen die Entscheidung zu überlassen:

„Wo gehen wir jetzt zuerst hin?“

Diese Frage hat eine leichte Ähnlichkeit mit: „Wer ist es mehr wert, gerettet zu werden?“

Keisuke und Shizuka schauen sich an: „Wer ist denn näher dran?“

Ihr Begleiter nimmt sich kurz Zeit, ihnen die Struktur dieser Etage zu erklären: „Von der Eingangshalle führen vier Treppen nach oben, und es gibt vier Gänge, die in jeweils andere Räume des Schlosses führen. Wir sind beim Vordereingang des Gebäudes, also führt der Weg hier links zu den Krankenzimmern. Der Gang hinten rechts bringt uns dagegen in die Bibliothek.“

Er kennt sich hier wirklich gut aus. Bestimmt war er schon öfter hier.

„Dann ist Yuri also...“, fängt Keisuke an, wird aber jäh unterbrochen: Zwei Männer kommen viele Meter entfernt aus dem Gang, hinter dem laut Samuel die Bibliothek liegt.

Es sind Rage Halo und George Meadow.

„Verdammt! Was ist mit Frau Lilienfeld?!“, ruft Keisuke erschrocken, wodurch die beiden Vampire erst aufmerksam auf ihn werden.

„Er wird uns gleich kontrollieren!“, warnt Shizuka panisch.

„Ganz ruhig“, flüstert Samuel; „Die Kontrollfähigkeiten klappen nur ab einer bestimmten Entfernung. Das ist bei mir und bei ihm so. Wenn wir ihm nicht zu nahe kommen, kann er uns nicht seinen Willen aufzwingen.“

Das ist gut zu wissen, denn nun kommen die beiden Feinde auf sie zu.

„Keisuke, schnell, geh Yuri retten!“, sagt Shizuka ängstlich; „W-wir machen das schon!“

„Aber...“

„Keine Zeit! Keisuke, lauf!“

Er schluckt: „Viel Glück!“

Hastig rennt er nach hinten weg, in den Gang, der ihn zum Krankenzimmer bringen soll.

Aber wo ist das genau? Er hat seinen Plan nicht dabei!

Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als jede Tür zu untersuchen.
 

„Wo rennt denn euer Freund hin?“, lacht Rage und kommt immer näher.

Samuel und Shizuka müssen mit jedem Schritt, den der König macht, etwas zurückweichen, doch gleichzeitig dürfen sie ihn und Meadow nicht durchlassen.

Das ist ein Problem.

„Mein Herr, ich glaube, er will das Fuchsmädchen befreien“, nimmt Meadow an, und Rage nickt verstehend: „Ah, ja, so muss es sein... Wir werden uns später beide krallen. Aber vorher...“

Er richtet sich an Samuel und Shizuka: „Habt ihr über mein Angebot nachgedacht? Wir mussten leider ein paar Vorsichtsmaßnahmen treffen, damit ihr nicht so einfach entkommt, aber...“

„Spare dir das Gerede, du alter Sack“, schnaubt Samuel.

Seine roten Augen fixieren die des Königs.

„Wir werden nicht kooperieren“, sagt Shizuka leise, aber entschlossen.

Sie wendet sich an die schattenhafte Eule, die sie schon seit einigen Minuten begleitet, und bittet sie darum, Raito so schnell wie möglich zu holen.

Dann richtet sie zittrig ihre Waffe auf ihre Gegner: „B-bleibt stehen...“

Rage zeigt keine Spur von Angst. Er nickt Meadow einmal kurz zu, welcher daraufhin verschwindet.

Oh nein, er hat sich unsichtbar gemacht!

Ratlos hält sie die Pistole in die Luft. Wo ist er?!

„Wenn ihr nicht kooperiert“, lächelt der König; „müssen wir euch ausschalten.“

Gemütlich geht er nun selbst einige Schritte zurück.

„Erschieß ihn, Shizuka!“, fordert Samuel sie auf, während er seine Metallkrallen anlegt, aber sie schüttelt den Kopf: „Er ist zu weit weg! Außerdem ist Meadow hier irgendwo!“

Verzweifelt läuft sie etwas hin und her.

Sie würde Rage jetzt nicht treffen, wenn sie es versuchen würde. Er ist erstens zu weit entfernt, und zweitens hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie eine Schusswaffe in der Hand.

„Dann werde ich...“, murmelt Samuel und bereitet sich darauf vor, Shizuka zu kontrollieren, um selbst zu schießen, doch dann schneidet ihn etwas am Arm.

Samuel stöhnt auf vor Schmerz und geht ein paar Schritte zurück. Das war Meadow!

Shizuka wird noch panischer, als sie den blutigen Schnitt an seinen Oberarm sieht und hält die Waffe nun in Samuels Richtung.

Rage steht nur hinten, mit den Händen in den Taschen seines Jacketts, und lacht vergnügt.

Im nächsten Moment fliegt Shizuka ihre Waffe aus der Hand.

Kreidebleich geht sie ein paar Schritte zurück. Was soll sie machen? Sie aufheben...?

Hastig stellt Samuel sich vor Shizuka und ruft: „Ich bin euer Gegner, ihr Mistkerle!“

Er beschützt sie tatsächlich?

Dies stellt sich als kleiner Irrtum ihrerseits heraus, denn sie verliert kurz das Bewusstsein und hält plötzlich die Pistole wieder in der Hand.

Samuel hat sie also kontrolliert!

„Lass sie dir nicht noch einmal wegnehmen!“, fährt Samuel sie an; „Oder willst du, dass Meadow die Möglichkeit bekommt, damit auf uns zu schießen?“

Plötzlich duckt Samuel sich.

Shizuka spürt einen Luftzug, Meadow muss ihn gerade angegriffen haben!

Ihr Gefährte bleibt nicht lange am Boden sondern springt sofort wieder auf, um direkt den nächsten, nicht sichtbaren Angriff von Meadow auszuweichen.

Wie macht er das nur? Kann er ihn etwa sehen?

Samuel scheint ein weiteres Mal zur Seite zu springen, um auszuweichen, aber dieses Mal ist es eine Täuschung: Er dreht sich ruckartig um und attackiert mit seinen Krallen anscheinend die Luft.

Doch als Bluttropfen auf den Boden fallen, weiß Shizuka, dass er getroffen hat.

Aber wie ist das möglich?

Sogar Rage scheint das nicht erwartet zu haben.

Ein paar Meter vor Samuel wird Meadow anschließend sichtbar.

Sein Rücken hat große, blutige Kratzspuren. An der Stelle wurde er also erwischt.

In seiner Hand befindet sich ein kleines, aber dennoch sehr scharfes Messer.

Ohne eine Emotion im Gesicht zu haben fragt er Samuel: „Meine Hochachtung. Ich habe dich unterschätzt, dafür möchte ich um Entschuldigung bitten. Aber verrate mir, warum kannst du mich anscheinend sehen? Das würde mich wirklich interessieren.“

Samuel schnaubt: „Ich kann dich nicht sehen.“

Meadow hebt eine Augenbraue: „Aber dann verstehe ich nicht, wie...“

„Du bist ein wirklicher Gentleman, Herr Meadow!“, lacht Samuel plötzlich; „Du hast sogar ein dezentes Herrenparfüm aufgelegt. Oh ja, das fällt mir auf. Zufällig besitze ich das selbe, Alexa hat es mir zum Geburtstag geschenkt.“

Das ist das erste Mal, dass man in Meadows Gesicht puren Schrecken sieht: „Du... hast mich gerochen?“

„So ist es. Bricht für dich jetzt eine Welt zusammen, du Schnösel?“, höhnt Samuel, obwohl diese Bezeichnung genau so gut auf ihn selbst zutrifft; „Ach, ich verstehe... Du kannst nicht gut kämpfen, oder? Deine Stärke ist nur, dich unsichtbar an deine Feinde anzuschleichen, um sie dann in aller Seelenruhe zu töten, richtig?“

Entsetzt starrt Meadow ihn an: Ertappt.

„Vorsicht, Samuel!“, kreischt Shizuka.

Rage hat seinen Posten als Zuschauer aufgegeben und nähert sich ihnen nun.

Samuel weicht sofort zurück, um nicht kontrolliert zu werden, aber Shizuka hebt ihre Pistole und ruft: „Bleib sofort stehen! Sonst...“

„Sonst was? Willst du mich erschießen?“, grinst Rage.

Sie muss es tun! Sie hat keine Wahl! Sonst sind sie geliefert!

Zögerlich entsichert sie die Waffe.

Vielleicht reicht es ja aus, ihn ins Bein zu schießen, damit er nicht noch näher kommen kann.

Doch als sie aufs Bein zielt, zerspringt ihre Pistole plötzlich.

Erschrocken lässt sie die Teile fallen: „Ah, was...?!“

Meadow steht vor ihr: „Ja, ich mag nicht sehr stark sein, aber dieses Skalpell ist diamantgehärtet und extrem scharf.“

Er hat tatsächlich die Pistole mit seinem Messer zerstört! Unmöglich!

Jetzt holt er nach hinten mit seiner Waffe aus, um der fassungslosen Shizuka den Rest zu geben, doch er erwischt sie nicht.

Stattdessen steckt sein Skalpell im Bauch von Samuel.

„Neiiin!“, schreit sie, als sie sieht, wie sich dessen Anzug rot färbt.

Samuel atmet schwer, doch er sackt nicht zu Boden sondern richtet seine Krallen auf Meadow, sodass dieser zurückweicht.

„Tut mir leid“, hustet er; „aber...“

Er sackt langsam zu Boden.

Sie kann es nicht glauben, er hat ihr tatsächlich das Leben gerettet.

Das hätte sie niemals von ihm erwartet.

Was sollen sie machen, was nur?

Da kommt ihr eine Idee. Sie mag verrückt sein, aber womöglich ist es ihre letzte Hoffnung.

„Hast du noch genug Energie, um deine Kraft einzusetzen?“, fragt sie Samuel leise.

Dieser nickt.

„Dann gib mir deine Krallen. Ich leihe dir meinen Körper. Wenn du mich kontrollierst, und mich als Waffe benutzt, haben wir eine Chance.“

Sie weiß gar nicht, was sie da sagt, aber es ist ihr egal, denn ihnen fehlt die Zeit, groß nachzudenken. Das hier ist kein Spiel, es geht um Leben und Tod.

„Du könntest... sterben...“, flüstert Samuel, aber Shizuka sagt mit Tränen in den Augen: „Wenn wir es nicht versuchen, sterbe ich auf jeden Fall! Bitte...!“

Er nickt und wirft seine Metallkrallen ab: „Bereit?“

„Ja!“, entgegnet sie und im nächsten Moment dringt Samuel in ihren Kopf ein, steuert sie so, dass sie sich die Krallen korrekt anzieht und lässt sie in Kampfhaltung aufstehen.

„Na was wird das denn?“, lacht der König; „Der Schwerverletzte steuert das Mädel. Großartig. Ich denke, ich werde einfach....“

Shizuka rennt wortlos auf Rage zu und greift in rasender Geschwindigkeit an, dieser springt erschrocken ein paar Meter zurück.

Samuel darf nicht zulassen, dass er ihm zu nahe kommt, sonst kann er ihn kontrollieren, und alles wäre sinnlos.

Aber er kann Shizuka nicht länger beim König stehen lassen, Meadow ist schließlich auch noch da und macht sich wieder unsichtbar.

„Das kannst du vergessen“, sagt Samuel durch Shizukas Körper; „Ich kann dich auch riechen, wenn ich dir in diesem Körper begegne.“

Gesagt, getan. Shizuka stürmt in Richtung Herrenparfüm, und schlägt mehrmals mit den Krallen quer durch die Luft.

Dieses Mal wird er jedoch nicht getroffen, aber zumindest reicht es dafür, dass er sich sichtbar macht: „Du bist wirklich kein Edelmann. Ein junges Mädchen für dich kämpfen lassen...“

Langsam spürt Samuel, wie seine Konzentration nachlässt.

Verdammt, er darf nicht aufgeben, aber seine Wunde schmerzt höllisch!

Meadow zückt sein Messer und greift Shizuka spontan mit einem Stich an, den sie im letzten Moment pariert.

„Deine Reaktionsgeschwindigkeit ist nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass dies nicht dein Körper ist“, lobt Meadow, bekommt aber nur ein „Halt den Mund“ zur Antwort.

Wenn das Skalpell nicht so dünn wäre, würde eine Hand reichen, um es abzuwehren, aber so kann Samuel nicht viel tun.

Er wartet, bis Meadow von ihr ablässt und bringt sie dann dazu, mit den Krallen immer wieder seine Hand, in der er das Messer hält, anzugreifen.

Meadow ist nicht so dumm, den Fehler zu machen und seine Waffe hinter den Rücken zu halten. Dann hätte Samuel leichtes Spiel, weil er ihn nur frontal aufschlitzen müsste.

Aber so kommt ihr Gegner zumindest nicht zum Angriff.

„Meadow! Komm her!“, ruft der König und schon im nächsten Moment wird Meadow unsichtbar.

Jetzt kann man ihn nicht so leicht anhand des Geruchs aufspüren, da er sich von Shizuka und Samuel entfernt statt ihnen näher zu kommen.

Rage kommt ihm ein bisschen entgegen, und als nun noch ungefähr sechs Meter zwischen den beiden liegen, ruft er: „Was die können, können wir schon lange! Mach dich bereit!“

Wie es sich für einen Diener gehört, verneigt Meadow sich und im nächsten Moment dreht er sich wieder um, um auf Shizuka los zu stürmen.

Er ist viel schneller als vorhin!

Kann es etwa sein, dass... Der König kontrolliert Meadow, damit dieser besser kämpfen kann?

Das ist schlecht, Samuel muss sich ja schon zusammenreißen, um nicht ohnmächtig zu werden.

Ihm bleibt keine Wahl. Er hält seine Verbindung zu Shizuka aufrecht und lässt sie Meadows Angriff ausweichen, doch das klappt nicht immer. Meadow erwischt ihre Hüfte, und sofort fließt Blut aus der Wunde.

Shizuka selbst spürt davon momentan zwar nichts, aber Samuel muss trotzdem aufpassen.

Mit rasender Geschwindigkeit säbelt Meadow ihr in Richtung Gesicht, doch Samuel lässt sie einen gekonnten Sprung nach hinten machen.

Ein paar von Shizukas Haaren fallen zu Boden – ihr Pony ist ruiniert.

Das war wirklich knapp, noch ein paar Millimeter und sie wäre tot gewesen.

Nun steht sie mit dem Rücken zur Wand.

Gerade will Samuel sie in eine andere Position bringen, doch seine Wunde schmerzt und blutet immer schlimmer. Stöhnend richtet er sich auf – seine Kraft verlässt ihn.

Auch wenn er sich zusammenreißt, er kann die Kontrolle über Shizuka nicht länger behalten.

„Ah!“, schreit sie und greift sich an die Hüfte.

Erst jetzt wird der Schmerz für sie spürbar.

Doch ihr wird auch schnell klar, in welcher Gefahr sie sich befindet, denn Meadow rammt sein Messer direkt neben sie in die Wand.

„Mist, daneben“, flucht Rage und versucht durch seinen Diener, das Skalpell wieder aus der Wand zu ziehen.

Voller Angst spurtet Shizuka geduckt los, um sich von ihm zu entfernen.

„Was ist nur passiert?“, fragt sie sich ängstlich und wirft einen Blick auf Samuel, der an der gegenüberliegenden Wand lehnt und schwer atmet.

Sofort rennt sie zu ihm und wirft die Metallkrallen ab, um ihn stützen zu können, doch er lässt sich nicht bewegen.

„Verdammt“, knurrt er; „Ich habe keine Kraft mehr. Ich kann mich kaum noch... auf den Beinen halten...“

Unglaublich viel Blut fließt aus seiner Wunde und färbt sein Hemd und seinen Anzug rot.

Besorgt fasst Shizuka sich an den Kopf: „Was mache ich denn jetzt? Alleine kann ich doch nicht...“

Sein Gesichtsausdruck wird plötzlich zornig, er stemmt sich an der Wand ab und drückt Shizuka hinter sich.

„Was machst du da?“, schreit sie erschrocken und dreht sich um.

Meadow hat von Hinten einen Angriff gewagt.

Mit seinem Skalpell hätte er Shizuka vermutlich umgebracht.

Jetzt steckt es in der Brust von Samuel, der schmerzerfüllt aufstöhnt und dann zusammensackt.

„Neiiin!!!“, kreischt Shizuka und beugt seinen Körper etwas vor.

Samuel spuckt Blut, das auf ihrer Jeans landet.

Das Messer steckt nach wie vor in seiner Brust, mit seiner blutüberströmten Hand krallt er sich geradezu an Shizuka fest.

„Du hast mich schon wieder gerettet“, flüstert sie und vergießt ein paar Tränen, die auf sein Gesicht tropfen; „Warum machst du das? Du wirst das... nicht überleben...“

Der blonde Vampir hustet zweimal und auch dabei fließt Blut aus seinem Mund.

„Shizuka...“, sagt er leise; „Ich glaube, ich habe mich nie dafür entschuldigt, was ich deinen Eltern... und dir angetan habe...“

Ausgerechnet davon spricht er jetzt, jetzt, wo er ihr Leben gerettet hat?

Er sollte seine Energie lieber sparen!

„Es tut... mir leid... dass ich dein Leben zerstört habe... dass ich deine Eltern umgebracht habe...“

Sie merkt, wie er immer schwerer wird.

Unter Tränen klammert sie sich an ihn fest: „Nein, ich verzeihe dir! Ich verzeihe dir, was du getan hast! Bitte, stirb nicht! Du darfst nicht sterben! Lass mich nicht alleine!“

Während ihre Stimme immer verzweifelter wird, wird sein Atem immer schwächer.

Als er dann friedlich die Augen schließt, sogar mit einem Lächeln auf dem Gesicht, fängt sie an, ihn zu rütteln und anzuschreien: „Nein! Nein, nicht! Samuel! Samuel!!!“

Er wacht nicht auf. Er hat sein Leben für sie geopfert. Weinend drückt sie ihn an sich.

Warum musste es nur so weit kommen?

Schon wieder ist jemand gestorben.

Warum nur? Nimmt das Töten denn nie ein Ende?

Meadow steht direkt hinter ihr.

Wahrscheinlich wird er sie jede Sekunde umbringen, aber es ist ihr egal.

„Schon wieder einer weniger“, flötet Rage hinten; „Das war eigentlich nicht mein Plan, aber meiner Berechnung nach sind wir noch sieben in diesem Schloss.“

Als Meadow wieder mit seiner gewöhnlichen, ehrerbietigen Stimme spricht, ist klar, dass er nicht mehr vom König kontrolliert wird: „Mein Herr, was sollen wir mit dem Mädchen machen?“

„Schick sie ins Reich der Träume“, blafft Rage und lacht schallend.

Eine Sekunde später wird Shizuka von Meadow bewusstlos geschlagen.

Ausdruckslos bricht sie neben Samuel auf dem Boden zusammen.

„Sehr gut, wir tragen sie gleich weg. Aber zuerst...“

Der Vampirkönig unterbricht sich selbst, denn er sieht, wer am anderen Ende der Halle gerade aus dem Gang schreitet.

Es ist niemand anderes als ein ziemlich wütender Raito.

Finale - Ersehntes Tageslicht

Finale – Ersehntes Tageslicht
 

Es sieht wirklich schlecht aus.

Dieses Schloss ist so unglaublich groß!

Keisuke eilt durch die Gänge und prüft jeden Raum, doch er scheitert häufig schon daran, dass die meisten Türen einfach abgeschlossen sind und er so nicht hineinkommt.

Was ist, wenn Yuri nun in einem dieser Räume eingesperrt wurde?

Er hämmert rücksichtslos gegen die Türen und ruft ihren Namen, er weiß ja, dass seine Feinde sich nicht dahinter verbergen sondern von Samuel und Shizuka zurückgehalten werden.

Hoffentlich haben die beiden Erfolg...

Meadow und der König sind so mächtig!

Als Keisuke die nächste Tür erreicht, würde er am liebsten seinen Kopf gegen die Wand schlagen.

Ein mit Gold umrandetes, rotes Kreuz verrät offensichtlich, dass sich hier das Krankenzimmer befindet. Er hätte sich das ganze Theater, jeden Raum vorher so energisch zu prüfen, sparen können.

Aber daran lässt sich jetzt nicht ändern, er kann nur hoffen, dass sie nicht abgeschlossen ist.

Bingo, er öffnet sie und wen sieht er da auf der Liege?

Yuri, und sie ist bei vollem Bewusstsein!

„Keisuke!“, ruft sie glücklich.

Erleichtert läuft er zu ihr hin: „Zum Glück, ich habe dich gefunden!“

„Mach bitte diese blöden Dinger weg!“

Erst jetzt fallen ihm die Riemen auf, mit denen ihre Handgelenke an die Liege gefesselt sind.

Im Handumdrehen befreit er sie von ihnen.

Eigentlich sind es sehr leicht zu öffnende Riemen, doch für jemanden, der sie mit keiner Hand berühren kann, ist es unmöglich, sie ab zu machen.

Dankend umarmt Yuri ihn, dabei bemerkt er die roten Streifen an ihren Handgelenken.

Diese Riemen waren also wirklich eng befestigt.

„Ist ja gut“, lacht Keisuke und will sie abschütteln, doch sie lässt zuerst nicht locker.

„Was ist? Hattest du solche Angst?“

Als er das fragt, wird sie purpurrot und erwidert: „Nein, ich hatte gar keine Angst!!! Ich... ich dachte nur, dass es eine wirklich dämliche Idee war, mit ihm zu gehen...“

Keisuke schaut sie ungläubig an.

„Gut, ich hatte ein klein bisschen Angst. Zufrieden?“

„Ja“, antwortet er; „Ich hatte auch Angst um dich. Dass dir etwas passiert sein könnte...“

Sie verstummt einen Moment. Sie hätte nicht damit gerechnet, dass er so etwas sagt.

Er auch nicht.

„Ähm, ist ja auch egal. Warum warst du eigentlich gefesselt?“

Die beiden tauschen kurz ihre Informationen.

„Er hatte also nie vor, dir die Fuchsmerkmale zu nehmen...“, stellt Keisuke anschließend fest.

„So ist es“, stimmt sie bedrückt zu; „Das war eine fette Lüge. Genau wie die Sache mit dem Leben in Luxus hier...“

„Also Luxus stelle ich mir wirklich anders vor. Anscheinend hatten sie irgendein Experiment mit dir vor. Vielleicht kann Frau Lilienfeld Licht ins Dunkel bringen...“

Dafür müssen sie sie aber erst einmal finden.

„Gehen wir“, lächelt Keisuke und läuft so schnell er kann mit Yuri aus dem Krankenzimmer, dann den Gang entlang, der zu der riesigen Eingangshalle führt.

Dort sind Shizuka und Samuel, zumindest sollten sie dort sein.

Plötzlich ist ein extrem lautes Grollen zu hören, das die Erde erzittern lässt.

„Was war das?!“, fragt Keisuke erschrocken.

„Woher soll ich das wissen?!“, gibt Yuri zurück.

Jetzt rennen sie noch schneller, und als sie die Eingangshalle erreichen, bleiben beide für einen Moment erstarrt stehen.

Ihre Münder stehen vor Schreck weit offen.

Mitten in der Eingangshalle trampelt ein gigantischer, schwarzer, schattenartiger Drache hin und her. Würde er seinen Kopf ganz ausstrecken, würde er durch die Raumdecke brechen, die schon ziemlich hoch angesetzt ist. Er steht auf vier Beinen, alle dicker als Steinsäulen, hat ledrige wirkende, breite Flügel und einen langen Schwanz. Sein furchterregendes Maul offenbart riesige Zähne und eine geteilte Zunge, wie die, einer Schlange.

Alles an ihm ist schwarz und leicht transparent, außer seine rot glühenden Augen.

Yuri schreit auf, als sie dieses Ungetüm brüllen hört.

Keisuke sieht, dass Raito einige Meter vor ihnen, fast direkt unter dem Drachen steht.

Sein Blick ist zorniger als je zuvor.

Also ist dies auch eines der Schattenwesen, die Raito beschwören kann?

Bisher hat Keisuke angenommen, er könne nur Tiere herbeirufen, die in dieser Welt auch normal anzutreffen sind, wie der Vogel, der Wolf oder der Stier.

Er hätte niemals gedacht, dass er auch Fabelwesen wie Drachen rufen kann.

Wahrscheinlich liegt es daran, dass sie aus einer Parallelwelt stammen, in der es solche Dinge wirklich gibt, wo es nicht nur Märchen und Legenden sind.

Dafür gibt es dort vielleicht keine Vampire.

Keisuke ruft Raitos Namen, doch er ignoriert ihn.

Wenn sie sich ihm nähern, könnten sie von dem Riesendrachen zertrampelt werden.

„Du fährst ja ganz schön auf“, ruft der König amüsiert.

Er steht am hinteren Ende der Halle.

Meadow, der etwas näher an dem Drachen steht, schaut geschockt zu dem Vieh auf und macht sich eine Sekunde später unsichtbar.

Doch das rettet ihn nicht.

Grollend stellt das Schattenwesen seine Vorderbeine weit auseinander, atmet tief ein und haucht einen Moment später lodernde Flammen in alle Richtungen aus.

Es ist so laut, dass Keisuke sich die Ohren zuhalten will.

Ihnen steht nicht nur ein Drache gegenüber, er kann auch noch Feuer speien!

Ob dies Raitos ultimative Waffe ist?

Sofort wird Meadow vom Feuer erwischt und verrät seine Position dadurch, dass er sein brennendes Jackett abwirft. Unter lautem Getöse holt der Drache mit dem Schwanz aus und donnert Meadow mit voller Wucht durch die Wand.

Eigentlich ist offensichtlich, dass er das nicht überlebt haben kann, doch der Drache geht auf Nummer sich und speit auch noch einmal Feuer durch den von ihm verursachten Riss und setzt damit den benachbarten Raum in Brand.

„Ich habe keine Gnade mit euch“, schreit Raito; „Ihr Mistkerle! Ihr habt meinen besten Freund auf dem Gewissen!“

Der König lacht: „Er hätte halt nicht so frech werden sollen.“

Er versucht gar nicht, Meadow zu retten?

Obwohl dieser ihm schon seit mehreren hundert Jahren als Diener, Berater und Freund zur Seite steht? Rage ist wirklich ein kaltherziger, grausamer Vampir.

„Wovon redet er da?“, fragt Yuri, und Keisuke nimmt all seinen Mut zusammen und läuft zu Raito hinüber. Den Drachen scheint das nicht zu interessieren.

„Raito, was ist passiert?“, will Keisuke wissen.

„Sie haben Samuel getötet“, sagt er und seine Hand verkrampft sich zu einer Faust.

Was? Das ist unmöglich...!

Dann sieht er Shizuka und ihn an der Wand da vorne liegen.

„Shizuka!“, ruft Keisuke voller Angst und will schon hin zu ihr, da hält Raito ihn zurück; „Sie ist nur bewusstlos. Er hat sein Leben für sie geopfert.“

Das hat er wirklich getan?

Keisukes Augen füllen sich mit Tränen: „Das ist meine Schuld! Ich hätte die Beiden nicht alleine hier lassen dürfen! Dann wäre das vielleicht nicht passiert... Und ich hätte dich nicht bitten sollen, mit Miho zu gehen! Wenn du dabei gewesen wärst...“

„Halt den Mund!!“, schreit Raito ihn plötzlich an.

Keisuke schreckt zurück.

„Mir ist vollkommen egal, ob du Schuld hast oder nicht, das macht es auch nicht rückgängig!“

Das stimmt...

Jetzt ist etwas anderes entscheidend: Dieses Monster von König aufzuhalten.

Als Yuri erkannt hat, dass der Drache zwischen Freund und Feind unterscheiden kann, kommt sie auch her.

„Wie hattet ihr denn vor, ihm irgendwas zu tun? Er kann euch doch einfach kontrollieren!“

„Wenn wir ihm zu nahe kommen...“, fügt Keisuke nervös hinzu.

Im nächsten Moment verschwindet der Drache langsam.

„Er greift ihn einfach nicht an, was immer ich ihm auch telepathisch vermittle“, knurrt Raito.

Noch während das Wesen sich auflöst, rennt er ohne Vorwarnung auf den König los.

„Nein!“, rufen Keisuke und Yuri beide.

Was tut er da? Er müsste doch am besten wissen, dass es sinnlos ist!

Beim Rennen zieht er plötzlich ein ungefähr ein 60 cm langes Ninjaschwert hervor.

Das er sowas mit sich führt!

Trägt er deshalb immer diesen langen Mantel?

„Stirb!“, brüllt Raito, als er mit der Waffe ausholt.

Doch eine halbe Sekunde, bevor die Klinge Rages Hals berührt, erstarrt der Angreifer.

„Nein...“ Raitos ganzer Körper zittert, mit aller Kraft versucht er, sich der Kontrollfähigkeit des Vampirkönigs zu widersetzen; „Nein, ich habe es... doch fast geschafft...“

Rage grinst: „Lieber Sohn, der Verlust deines Freundes mag deinen Willen gestärkt haben, aber du glaubst doch nicht wirklich, dass das ausreicht?“

Er lacht schallend und greift das Schwert an der Klinge. Dann reißt er es ihm aus der Hand und befördert Raito zu Boden, indem er ihn das Heft des Schwerts an den Kopf schlägt.

So ein Mist! Es war wirklich leichtsinnig von Raito, so zu handeln.

Sonst verhält er sich immer so cool und besonnen, aber dieses Mal...

Keisuke erinnert sich daran zurück, wie ruhig und gefasst er war, nachdem Verena gestorben ist.

Anscheinend war es jetzt sogar für ihn zu viel.

Der König wirft das Schwert weg und tritt näher an Keisuke und Yuri heran:

„Nun, ich hätte euch gerne lebend. Aber wenn ich euch töten muss...“

„Was wollen Sie denn machen?!“, fährt Yuri ihn an und macht sich bereit.

Gleichzeitig flüstert sie Keisuke zu: „Denk immer daran, halt Abstand zu ihm!“

„Mir kommt da eine sehr schöne Idee“, lächelt Rage und hinter ihm steht Raito auf.

Zuerst ein Hoffnungsschimmer für Keisuke, doch dann sieht er seine leeren, emotionslosen Augen.

Ohne etwas zu sagen faltet er die Hände zusammen und zahlreiche Schattentiere erscheinen.

Ein Löwe, eine Katze, eine Eule und ein Bär.

„Mal sehen, wie ihr euch gegen sie haltet“, lacht Rage.

Die Schattenwesen kommen langsam auf sie zu.

Also wird Raito wirklich von seinem Vater kontrolliert, sodass die Schattenwesen nun Keisuke und Yuri angreifen?

„Scheiße...“, flucht er ängstlich, als er sieht, dass der Löwe sich ihm nähert.

„Was machen wir jetzt?“, fragt Yuri verzweifelt.

Rage lacht immer mehr. Doch dann hört er plötzlich auf.

Aus irgendeinen Grund machen alle beschworenen Wesen vor den beiden Halt und drehen sich um.

Was hat das zu bedeuten?

Yuri spricht den Bären, der jetzt wie die anderen mit dem Rücken zu ihnen steht, einfach an:

„Wollt ihr uns etwa helfen?“

Der Bär erwidert nichts, aber Tiere können ja auch im Normalfall nicht sprechen.

„Was soll das?!“, faucht der König; „Los, macht sie schon fertig!“

Aber die Schattenwesen reagieren nicht.

Sie stehen nur wie ein Schutzwall vor Keisuke und Yuri.

„Ich habs!“, ruft er; „Das sind nicht irgendwelche Werkzeuge! Raito spricht von ihnen doch immer als Gefährten. Sie sind seine Freunde! Sie können selbst denken. Auch wenn sie den König nicht angreifen können, lassen sie sich nichts befehlen. Sie wollen uns nichts tun!“

Reine Spekulation, aber anders kann man es momentan nicht erklären.

„Greift sie schon an!“, fordert Rage sie auf, aber ohne Erfolg.

„Du hast ihren Vertrauten verletzt. Sie werden nicht auf dich hören!“, ruft Yuri.

Sie glaubt wohl auch an Keisukes Theorie.

„Gut, dann eben nicht. Sie können mir trotzdem nichts tun, egal, was ihr versucht. Wirklich beschützen können sie euch nicht. Ich nehme mir euch dann eben persönlich vor.“

Mit diesen Worten schreitet der König im Schnellschritt auf die beiden zu.

An den Tieren würde er einfach vorbei gehen!

„Keisuke, lauf so weit nach hinten wie du kannst!“, schreit Yuri und rennt mit höchster Geschwindigkeit auf Rage zu.

Extrem schnell wie sie ist, hat sie ihn in ein paar Sekunden erreicht, und er will schon einen Angriff parieren, da schlägt sie einfach einen Salto über ihn hinweg und läuft weiter.

Was macht sie da?

Überrascht dreht Rage sich zu ihr hin: „Hm? Oh, du willst das Schwert holen? Meinst du, damit hast du eine Chance gegen mich?“

Yuri dreht sich um: „Na und? Wir werden sehen, dass ich dich damit besiegen kann!“

Also hat er wirklich ihren Plan erraten?! Verdammt!

Rage lacht: „Tja dann. Ich zeige dir mal, was du davon hast.“

Er geht weiter seines Weges auf Keisuke zu, der schon an der Wand steht.

Bevor er sich entscheiden kann, ob er versuchen soll, nach links oder nach rechts zu entkommen, verliert er schon das Bewusstsein: Der König übernimmt die Kontrolle.

Als Yuri hinten beim Schwert angekommen ist, gehen Keisuke und Rage gerade gemütlich aufeinander zu.

„Das war ein Fehler“, grinst sie.

„Danke!“, sagt Raito.

Ihr wahrer Plan ist aufgegangen. Raito und Keisuke sind so weit voneinander weg, dass es für den König nicht möglich ist, beide gleichzeitig zu kontrollieren.

Wie konnte er nur so hochmütig sein und das außer Acht lassen?

Rage, der eine von Samuels Krallen aufgehoben hat, hat sie Keisuke gegeben und dieser hält sie sich nun an den Hals.

„Ihr solltet wirklich kapitulieren“, schlägt er Yuri vor; „Du siehst ja, welche Macht ich habe.“

„Du hast einen kleinen Denkfehler, Vater!“, fährt Raito ihn an, woraufhin Rage erst bemerkt, dass dieser nicht mehr unter seiner Kontrolle steht.

„Du gehst nämlich davon aus, dass meine Gefährten, die hier noch überall herumstehen, dich nicht angreifen können. In Wahrheit ist es aber nur so, dass sie dich nicht direkt angreifen können.“

Bevor der König irgendwie reagieren kann, lassen die Schattenwesen Taten folgen: Der Bär zerschmettert die Säule, neben der Rage steht, sodass ihm beinahe dicke Felsbrocken aus der Wand und der Decke an den Kopf knallen.

„Wenn du das nochmal wagst“, knurrt Rage; „wird dieser Junge sich gleich umbringen.“

Er deutet auf Keisuke, der sich immer noch die Metallkralle an den Kehlkopf hält.

„Ist mir egal“, sagt Raito sofort; „Er ist indirekt dafür verantwortlich, dass Samuel tot ist. Ich mache dich auf jeden Fall fertig, mir egal, ob er dabei draufgeht.“

Yuri sieht ihn geschockt an. Das kann doch nicht sein Ernst sein!

„Spinnst du? Du willst ihn echt sterben lassen?!“, kreischt sie.

„Ja!“, ruft er entschlossen, flüstert jedoch direkt darauf: „Nein, natürlich nicht. Aber dann wird mein Vater nicht auf die Idee kommen, ihn zu töten. Er braucht ja so viele von uns wie möglich.“

Ausgefeilter Plan. Aber wenn er scheitert, wird Keisuke das mit dem Leben bezahlen.

Das würde sie Raito nicht verzeihen.

„Wenn das so ist...“, sagt der König in einem überlegenen Tonfall; „muss ich trotzdem nichts anderes tun, als mich dir gemeinsam mit dem Kerl hier zu nähern. So verliere ich über ihn nicht die Kontrolle, wenn ich gleich wieder Besitz von dir ergreife, Sohn!“

Raito nickt Yuri zu: Jetzt müssen sie schnell handeln.

Während das Fuchsmädchen sich mit dem Schwert in Bewegung setzt, den König anzugreifen, zielt die schattenhafte Eule darauf ab, einen der Kronleuchter von der Decke zu trennen und auf Rages Kopf stürzen zu lassen.

Es entgeht ihm nicht, dass Yuris Ansturm nur ein Ablenkungsmanöver ist und springt zur Seite.

Der Kronleuchter zerschellt auf dem Boden, und im gesamten Raum wird es ein wenig dunkler.

„Nett, aber aus Distanz kannst du mich einfach nicht effektiv angreifen“, lacht Rage und will sich um Yuri kümmern, doch er sieht sie bereits nicht mehr.

Wollte sie ihn nicht angreifen?

Dann bemerkt er, dass sie schon hinter ihm ist, das Schwert hat fallen lassen und Keisuke gerade die Metallkralle aus der Hand geschlagen hat. Das kann doch nicht wahr sein, sie ist schneller, als Rage dachte.

Ohne zu zögern packt sie den jungen Vampir an der Hand und zerrt ihn zu Raito.

Doch Keisuke stellt sich als ein sprichwörtlicher Klotz am Bein heraus: Mit ihm kommt sie viel langsamer voran, als wenn sie alleine rennen würde, und irgendwie scheint es auch so, als würde er nicht richtig mitkommen wollen.

Rage lacht laut auf: „Ha ha ha! Kindisch. Ich muss mich doch nicht einmal vom Fleck bewegen, um zu verhindern, dass ihr entkommt.“

Im nächsten Moment reißt Keisuke sich los und attackiert Yuri mit einem hohen Tritt, dem sie dank ihrer guten Reflexe gerade noch rechtzeitig ausweichen kann.

Leider hat sie bei seinem nächsten Hieb nicht so viel Glück: Mit einem kräftigen Schlag bringt er sie quietschend zu Boden, wo sie jedoch nicht lange bleibt.

Der König ist so ein Mistkerl! Er lässt ihre Freunde gegen sie kämpfen!

Und das schlimmste ist, wenn Keisuke vom König gesteuert wird, ist er viel stärker, als er normalerweise wäre!

Hilflos sieht sie zu Raito.

Dieser überlegt einen Moment, doch Yuri hat keine Zeit und muss schon den nächsten Attacken ausweichen. Sie will ihn nicht verletzen! Und Rage weiß das. Dieser Drecksack.

Nun steht sie mit dem Rücken zur Wand, und Keisuke direkt vor ihr.

Seine Augen sind matt und ausdruckslos.

Als wäre er eine Puppe. Als wäre sie eine Puppe.

Plötzlich fällt Raito etwas ein: „Yuri!!“

Sie dreht sich kurz um, duckt sich dann jedoch direkt, denn Keisuke schleudert seine beiden Fäuste ruckartig auf sie zu, rammt jedoch die Wand.

Als das Fuchsmädchen sich zögerlich erhebt, fallen ihr die Blutspuren an der Wand auf.

Ihr Blut ist es nicht.

Sie mustert Keisukes Fäuste und stellt fest, dass sie es sind, sie bluten.

Yuri wird sauer. Der König lässt ihn wirklich mit so einer Wucht zuschlagen, dass seine Hände danach verletzt sind!

„Yuri, hat Keisuke den Dolch dabei?!“, ruft Raito von hinten.

Eigentlich hat er ihn immer dabei, oder?

Keisuke sieht an sich hinunter.

Der Griff der Waffe schaut an seinem Gürtel hervor.

So schnell sie kann greift Yuri danach und zieht den silbern funkelnden Dolch heraus, bevor ihr Gegenüber es tut und sie damit umbringt.

„Der Knabe hatte einen Dolch dabei?“, spricht Rage durch Keisukes Mund; „Dann hätte das ja viel einfacher laufen können.“

Yuri hält den Dolch schützend vor sich, doch nichts liegt ihr ferner, als Keisuke damit aufzuschlitzen.

Was soll sie nur tun?

„Gib ihm die Waffe!“, brüllt Raito; „Schnell!“

„Was?! Dann wird er mich töten!“, kreischt sie verständnislos.

Jetzt redet Raito aber wirklich Unsinn!

Sie wird Keisuke sicher keine Waffe in die Hand geben, solange dieser vom König kontrolliert wird.

„Tu, was ich sage!“, ruft er; „Es ist unsere einzige Chance!“

„Hast du jetzt völlig den Verstand verloren, Raito?“, grinst Rage.

„Ach, verdammt!“, flucht Yuri und drückt Keisuke das Messer in die Hand.

Im nächsten Moment rollt sie sich über den Boden auf eine sichere Distanz.

„Ah, meine Hände!“, stöhnt Keisuke plötzlich.

Verwirrt sieht er sich um.

Rage ist geschockt: „Was? Warum... ist meine Verbindung abgebrochen? Was soll das?“

„Du bist wieder du?“, fragt Yuri misstrauisch.

„Wer soll ich sonst sein?“, gibt Keisuke sauer zurück.

Seine Fingerknochen schmerzen.

„Du... dieses Messer... es ist nicht dieses Messer, oder?“, keucht Rage fassungslos und geht auf Raito zu.

„Doch“, antwortet dieser ruhig; „Es ist der Dolch, den du mir einst geschenkt hast. Der Dolch, in dem dein Blut eingearbeitet wurde, um ihm absolute Macht zu verleihen. Zu der Zeit, zu der du ihn mir überreicht hast, warst du noch ein richtiger, liebender Vater, der um seinen Sohn besorgt war. Nicht wie heute, ein Psychopath der seine kranken Spielchen spielt.“

„Hier ist das Blut vom König drin?“, wiederholt Keisuke überrascht.

Raito nickt.

„Ich verstehe!“, ruft Yuri; „Wer ihn hält, wird immun gegen die Fähigkeiten anderer Vampire. Deswegen kann er dich nicht kontrollieren, wenn du ihn hast.“

„Du musst ihn aber in der Hand halten!“, mahnt Raito; „Sonst wirkt seine Kraft nicht!“

Das muss der Grund sein, warum er überhaupt kontrolliert werden konnte, obwohl er den Dolch die ganze Zeit am Gürtel getragen hat.

„Tja mein Lieber, habt ihr tatsächlich eine Waffe gegen mich...“, spottet der König und kommt immer näher an Raito; „Leider kann immer nur einer von euch sie tragen. Unglück, was?“

„Nein, das dürfen wir nicht zulassen!“, schreit Yuri und holt das Schwert, das immer noch auf dem Boden herumliegt, während Keisuke schon einmal zu Raito läuft.

„Raito, kannst du ihn auffangen?“, fragt er laut.

„Nein, behalte du ihn!“, fordert er ihn auf.

„Aber...“

„Ich sagte, DU behältst ihn!!!“, brüllt Raito und Keisuke nickt schließlich eingeschüchtert.

Rage steht jetzt direkt vor seinem Sohn, welcher augenblicklich verstummt und erstarrt.

Yuri überholt Keisuke und stürzt sich mit dem Ninjaschwert auf Rage, doch dieser packt es einfach, und schleudert es mitsamt Yuri, ganz ohne sich zu verletzen, nach hinten weg.

Mit einem lauten Krachen landet sie auf dem Boden, ihre Waffe direkt neben ihr.

Jetzt, wo Rage ihm den Rücken zugedreht hat, ist das seine Chance!

Keisuke rennt auf ihn zu, hebt seinen Dolch...

Es tut mir leid, Verena. Ich will mein Versprechen nicht brechen müssen, aber ich habe keine Wahl. Ich muss jemanden töten, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Danach wird alles vorbei sein. Danach werden wir endlich wieder in Frieden leben können. Auch wenn ich dich nie wiedersehe, und auch Samuel gestorben ist, zumindest Raito, ich und die anderen...

Doch der Dolch sollte Rage niemals erreichen.

In der Tat kann er nicht mehr schnell genug ausweichen, also macht er etwas anderes.

Keisukes Angriff ist ein Volltreffer.

Ein Volltreffer in Raitos Brustkorb.

Nein, das darf nicht wahr sein, denkt Keisuke, nein, bitte nicht...

Der König hat seine Fähigkeit eingesetzt und seinen eigenen Sohn dazwischen springen lassen, um sein eigenes Leben zu retten.

„Lass... den Dolch... nicht los...“, keucht Raito; „... zieh ihn... heraus... und lass... nicht los...“

Dadurch, dass Raito jetzt auch im direkten Kontakt mit der Waffe ist, hat Rage keine Kontrolle mehr über ihn.

Für einen Moment wird alles um sie herum still.

„Nein... Bitte... Warum... Das darf nicht passiert sein... Nicht du...“, flüstert Keisuke heiser und Tränen laufen ihm über die Wangen. Was hat er nur getan?

„Zieh es... heraus...“, wiederholt Raito unter Anstrengung.

Mit zitternden Händen und schreiend zieht Keisuke schließlich den Dolch aus dem Fleisch seines Gegenübers.

Dabei spritzt eine große Menge Blut auf ihre Kleidung und in ihre Gesichter.

Raito stöhnt vor Schmerzen auf und sackt schon zusammen, da stützt Keisuke ihn und hält ihn mit aller Kraft in den Armen, den Dolch immer noch fest in der Hand.

„Das darf nicht sein...“, nuschelt er.

Raitos Körper ist schwer und kraftlos.

Als Keisuke ihn an sich drücken will, spuckt er eine Menge Blut über seine Schulter.

„Nicht, bitte... Immer, wenn ich in Schwierigkeiten war, immer, wenn ich fast gestorben wäre, bist du gekommen und hast mich gerettet. Ich konnte mich immer auf dich verlassen. Bitte, du darfst jetzt nicht sterben!“

Er weint ihm geradezu ins Ohr.

„Hör zu, Keisuke“, flüstert Raito schwer atmend; „Niemand... ist schuld an dem, was... passiert ist... Versprich mir bitte, dass du... Rage aufhältst... Lass... den Dolch... nicht los...“

„Aber Raito!“, weint er, mehr Tränen vergießend als je zuvor.

„Lebewohl... Kei... su...ke...“

Schließlich erlischt seine Stimme und das Licht in seinen Augen.

Im selben Moment verschwinden alle Schattenwesen, die noch in der Halle sind.

Er hört Raitos Atem nicht mehr.

Nein, das kann nicht sein... er darf nicht tot sein. Nicht er!

Warum ist es so weit nur gekommen?

Nach wie vor liegt er in seinen Armen, doch nichts an ihm ist lebendig.

Am liebsten würde Keisuke ihn nicht mehr loslassen, doch es gibt nur eine Sache, die er jetzt tun muss. Vorsichtig legt er Raito ab und richtet sich auf.

Rage steht ein paar Meter vor ihm, Yuri liegt daneben bewusstlos auf dem Boden.

„Ich werde dich töten“, knurrt Keisuke zornig; „Ich werde dich definitiv töten, auch wenn du um Gnade flehen solltest.“

Er verliert immer noch Tränen, aber das ist jetzt egal.

Raito ist tot.

Und Keisuke hält die Waffe, mit der er ihn getötet hat, an der noch sein Blut klebt, immer noch verkrampft in der Hand und darf sie nicht loslassen.

„Ich werde nicht in die Situation kommen, in der ich um Gnade flehe“, lacht der König.

Es interessiert ihn nicht die Bohne, dass sein eigener Sohn gerade gestorben ist.

Er hat ihn ja auch selbst in den Tod geschickt.

„Du glaubst, weil ich dich nicht kontrollieren kann, seist du in der Lage, mich zu besiegen oder was? Lächerlich...“

Mit dem Fuß kickt er das Ninjaschwert in seine Hand und hält es schützend vor sich.

Es ist nur geringfügig länger als Keisukes Dolch.

Angst macht es ihm keine.

Wenn er bei dem Versuch, den König zu töten, sterben sollte, dann ist es halt so.

Er würde trotzdem mit aller Kraft kämpfen!

Und so zögert Keisuke nicht länger und greift diagonal von unten an, was Rage problemlos pariert.

Was auch immer, er darf jetzt auf keinen Fall auf irgendwas warten sondern macht einen Hieb nach dem anderen. Er weiß, dass es wichtig ist, den Gegner in der Defensive zu halten.

Um zu gewinnen muss man den Kampf voran treiben und schnell zum Ende bringen. Das hat er mal jemand in einer Fernsehserie gesagt.

Es kommt dazu, dass die Klingen der Kämpfer direkt aneinander treffen.

Jetzt entscheidet, wer mehr Stärke hat.

Obwohl Keisuke zornig ist und sich mit aller Kraft anstrengt, kommt er trotzdem nicht gegen Rage an.

Er wird von ihm zurückgedrängt und mit einem waagerechten Schnitt wird Keisukes rechter Arm und ein teil seiner Seite brutal aufgerissen.

Keisuke weicht schreiend zurück und lässt beinahe seinen Dolch fallen.

Als er sieht, wie das Blut sein Hemd herunter läuft, bekommt er es mit der Angst zu tun.

„Ich gebe zu, ich bin ein bisschen aus der Übung“, grinst Rage selbstsicher.

Der Schnitt schmerzt höllisch, aber im Moment kann er nicht verarztet werden, also hat er keine Wahl, als weiter zu kämpfen.

Doch als er seine Waffe auf Rage richten will, hält ihn der plötzlich auftauchende Schub von Schmerzen in seinem blutenden Arm zurück.

Verdammt, wie soll er mit der Verletzung nur kämpfen? Er ist doch Rechtshänder!

Während er noch überlegt, tritt sein Gegner näher an ihn heran, und natürlich geht Keisuke einige Schritte zurück.

„Komm schon, du bist der Letzte, der noch übrig ist. Mach kein Theater, sondern...“

„HALT DIE SCHNAUZE“, brüllt Keisuke ihn schwer atmend an; „Du hast Raito ermordet! Du hast kein Recht, hier irgendwas zu sagen!!!“

„Also genau genommen hast du Raito ermordet“, grinst Rage.

Das war zu viel.

Keisuke setzt sich über jeden Schmerz hinweg und stürmt mit erhobener Klinge auf ihn zu, täuscht an, Rage anzugreifen, schmettert jedoch stattdessen mit voller Wucht gegen sein Schwert.

Dabei fühlt es sich an, als würde sein Arm gleich abfallen.

„Was soll das? Ich dachte, auf mich bist du sauer?“, fragt der König hochmütig.

So schnell und so stark er kann schlägt Keisuke ein weiteres Mal auf die Waffe seines Gegners.

Wenn er sie nicht hätte, dann wäre er... dann könnte er ihn besiegen!

Dieses verdammte Ding muss weg!

„Kriegst du meine Waffe nicht kaputt? Soll ich dir zeigen, wie man sowas macht?“, lacht Rage und hakt sein Schwert in den Dolch von Keisuke ein, um beide dann mit unglaublicher Kraft gegen die Wand zu schleudern.

Keisuke hat keine Zeit, jetzt auch noch um seinen schmerzenden Kopf zu trauern, er muss seinen Dolch, der genau wie das Schwert des Königs durch die Wand gebrochen ist, sofort herausziehen.

Auch Rage zieht seine Waffe heraus.

Allerdings sind beide ziemlich perplex, denn von beiden Waffen ist nur noch der Griff übrig, die Klingen stecken irgendwo in der Wand.

„Oh, ich wollte gar nicht so viel Kraft in den Schlag stecken“, überlegt Rage laut; „Naja, kann ich dich jetzt wieder kontrollieren?“

Ängstlich klammert Keisuke sich an dem Griff des Messers fest.

Hat es seine Schutzfähigkeit jetzt eingebüßt? Warum geht es überhaupt so leicht kaputt?

Der Vampirkönig trägt seinen Titel nicht grundlos. Er hat eine immense Körperkraft.

„Schade...“, sagt der König leise.

Das ist wohl so zu interpretieren, dass er nicht in der Lage ist, Keisuke seinen Willen aufzuzwingen. Sehr gut! Das heißt, die besondere Kraft funktioniert auch ohne die Schneide des Messers.

Rage kommt ihm näher, und schon wieder muss Keisuke zurückweichen.

Na toll, jetzt hat er schon sein Ziel erreicht und die Waffe von Rage ist zerstört, da bringt es ihm nichts, weil sein Dolch auch Schrott ist und er nur noch den im Nahkampf nutzlosen Griff in der Hand hält.

„Weil wir jetzt wirklich ohne Waffen da stehen, muss ich dich wohl nach guter alter Schule direkt verprügeln“, lacht Rage; „Es sei denn, du gibst auf.“

„Vergiss es!“, schreit Keisuke ihn an; „Damit würde ich Raito betrügen! Ich werde mich dir niemals ergeben!“

„Na dann komm her“, grinst der König. Er zieht sein Jackett aus, wirft es weg und lässt seine Fäuste knacken.

„Warum legst du dich nicht mit jemandem in deinem Alter an?“, fragt plötzlich eine Stimme von hinten.

Keisuke nimmt Abstand von Rage, bevor er sich umdreht. Es ist Miho!

„Ach, wahrscheinlich gibt es da nicht genug Auswahl, wie?“, sagt sie sauer.

„Miho, bleib da! Er hat Raito und Samuel umgebracht!“, schreit Keisuke und ihre Augen werden groß.

Sie trägt irgendetwas großes, in ein weißes Tuch gepacktes mit sich herum.

„Wieso kontrolliert er dich nicht? Ich dachte, er kann das?“, fragt sie ernst.

Bevor er antworten kann, bekommt er von Rage einen extrem heftigen Tritt in den Bauch, so stark, dass er fast zu Boden geht.

„Hier spielt die Musik, Schwächling!“, fährt er ihn an.

Keisuke läuft Wasser aus dem Mund, der Kick hat gesessen...

Miho hat das Eingepackte etwas sofort fallen lassen und rennt vorbei an Shizuka und Samuel, zu ihrem Bruder.

Als sie dort angekommen ist, duckt sie sich zu ihm: „Ist alles okay? Oh Gott, du blutest...“

„Nicht so schlimm...“, lügt Keisuke.

Es sind die schrecklichsten Schmerzen, die ihm je zugefügt wurden.

„Steh auf, schnell“, drängt sie ihn und hilft ihm auf.

Dabei flüstert sie ihm etwas ins Ohr.

„Was soll das werden?“, fragt Rage mit hochgezogenen Augenbrauen.

Keisuke nickt und läuft, oder eher humpelt zu dem eingepackten Ding, das hinten auf dem Boden liegt, den Griff des Dolchs stets fest umklammert.

Der König will ihm schon folgen, da stellt Miho sich ihm in den Weg: „Keinen Schritt weiter.“

Überrascht bleibt er stehen: „Du?“

„Ich habe es zugelassen, dass mein kleiner Bruder verletzt wird... Samuel, Raito... sind tot. Und Shizuka und Yuri... Mädchen in ihrem Alter sollten über Mode und Jungs quatschen anstatt hier fertig gemacht zu werden. Ich... werde dich aufhalten...“

Jetzt bricht Rage in schallendes Gelächter aus: „Oh Mann! Ernsthaft? Ein Mensch kann es niemals mit mir aufnehmen! Ist dir das nicht klar? Deswegen bin ich der König. Die Menschen sind zu schwach für mich, und die Vampire kann ich kontrollieren!“

Und auch bei Miho versucht er den Tritt, mit dem er Keisuke so schwer zugesetzt hat, doch im Gegensatz zu ihm weiß sie sich zu helfen: Sie hebt sein Bein mit ihren Händen noch weiter an anstatt den Tritt direkt abzuwehren.

Das hat zur Folge, dass Rage unerwartet auf den Rücken fällt.

Zornig richtet er sich auf: „Ich habe dich ein bisschen unterschätzt. Du kannst ja kämpfen...“

„Meine beste Freundin Luna hat mir mal ein paar Handgriffe gezeigt“, erklärt Miho ruhig.

Rage spricht nicht weiter sondern bombardiert sie mit Faustschlägen.

Sie kann sich gegen ein paar von ihnen verteidigen, aber sie ist keine Meisterin, daher wird sie schnell in die Enge gedrängt.

Gerade, als der König ihr mit einem Schlag den Rest geben könnte, hält er ein und schaut, was hinter ihr passiert.

Eine Frau steht dort gerade auf.

„Bettina?“, staunt der König; „Wie... kommt sie her?“

„Ich habe sie her getragen!“, ruft Miho und geht aus der Schusslinie.

Bettina Richters Körper wandert jetzt direkt auf Rage zu.

„Du sagst, du bist stärker als jeder Mensch und kannst Vampire kontrollieren, hm? Was bringt dir das gegen eine vollkommen andere Lebensform, einen Zombie?“

Miho bringt sich in hinter einer Säule in Sicherheit.

Den Plan, den König mit einem Zombie anzugreifen, hat sie vorhin mit Raito geschmiedet. Weil es nicht Keisukes Kraft ist, die den Körper steuert, kann er Rage angreifen.

Und man kann ihn nicht töten!

„Es tut mir leid, Frau Richter...“, keucht Keisuke.

Es hat ihn viel Kraft gekostet, ihren Körper ein weiteres Mal als Leiche umher wandeln zu lassen.

„Denkt ihr, ich werde mit einem Zombie nicht fertig?“, knurrt Rage und läuft auf Bettinas Körper zu, doch diese ist schneller, als man es ihr ansieht.

Sie vergräbt ihre Fingernägel tief in seinem Rücken und beißt ihm ein Stück Fleisch aus der Brust heraus. Schreiend und fluchend versucht er, sie abzuschütteln, doch sie hat sich an ihn geheftet.

Mit aller Kraft reißt er sie schließlich von sich und befördert sie mit einem Tritt auf den Boden.

Das Blut läuft überall an ihm hinunter.

„Scheiß Monster“, fährt er den am Boden liegenden Zombie an, der darauf direkt wieder aufsteht.

„Was?“, stöhnt Rage fassungslos.

„Du kannst sie nicht töten, denn sie lebt nicht“, erklärt Keisuke; „Vampiren sagt man Unsterblichkeit nach, dabei altern sie eigentlich nur nicht. Sie sind, wie du schon sagtest, kranke Menschen, kranke Menschen, die leben. Deshalb können wir sterben...“

Bettina Richter will ihn schon wieder beißen, doch er schüttelt sie ab und hält sie auf Distanz.

Sie folgt ihm zwar immer weiter, doch sie ist als Leiche zu ungeschickt, um wirklich Erfolg mit ihren Attacken zu haben.

Letzten Endes bricht sie zusammen.

Rage starrt sie interessiert an.

„Keisuke!“, ruft Miho und rennt auf den Vampirkönig zu.

„Du schon wieder?“, fragt er und fängt an, mit ihr zu kämpfen.

Währenddessen läuft Keisuke zu Bettinas Körper hin und legt seine Stirn an ihre.

Sie ist seine einzige Hoffnung, Miho kann Rage nicht besiegen und er selbst ist auch schon am Ende.

Mit aller Kraft stellt er die Verbindung, den Kanal, zwischen ihm und der Leiche ein weiteres Mal her und lässt seine Lebenskraft in sie hinein fließen. Seine Wärme geht in sie über und er das Atmen fällt ihm immer schwerer.

Vielleicht sollte er ihr mehr Energie geben als vorher, so viel wie nur geht?

Er presst ihren Körper an sich und konzentriert sich.

Jetzt bekommt er kaum noch Luft.

Die Wunden schmerzen höllisch, er hat so viel Blut verloren...

Diese Übelkeit... es wird ihm schwindlig, doch vor allen Dingen wird er müde.

So müde, dass er nicht mal mehr hocken kann, er verliert immer mehr Kraft.

„Keisuke, warum dauert das so lange?!“, beschwert sich Miho, die Rage kaum noch zurückhalten kann. Auch sie blutet mittlerweile, an der Lippe, und hat schon einige schmerzhafte Prellungen abbekommen.

Ihr Bruder liegt mittlerweile auf Bettina, ihre Stirnen berühren sich nach wie vor.

Es bringt nichts, wenn sie vorzeitig zusammenbricht, denkt Keisuke.

Er fühlt, wie heiß ihr Körper mittlerweile ist.

Oder... ist seiner einfach nur so kalt?

Jedenfalls wird der Unterschied immer größer.

Ich will nur glücklich mit meinen Freunden und meiner Familie leben...

Inzwischen atmet Keisuke nicht mehr. Er spürt, wie es zu Ende geht.

Sein ganzer Körper zittert. Er sollte jetzt aufhören, denkt er, von Todesangst gepackt.

Als er es versucht, stellt er fest, dass es keinen Unterschied mehr macht.

Selbst wenn er jetzt aufhört, sein Leben in sie zu pumpen, würde das an seinem Zustand jetzt nichts ändern.

Zuletzt ist er nicht mehr stark genug, den Kanal aufrecht zu erhalten und die Verbindung bricht automatisch ab.

Bettina richtet sich mechanisch auf und steht wieder, Keisuke rutscht seitlich von ihr zum Boden.

Miho rennt schnell vom König weg, als der Zombie zu den Beiden hin wackelt.

„Sehr gut, Keisuke!“, lobt sie ihren Bruder, doch dieser antwortet nicht.

Er regt sich nicht einmal.

„Verschwinde, Mistvieh!“, brüllt Rage und versucht, Bettina abzuschütteln.

Mit einem gekonnten Hieb schlägt er sie brutal auf den Boden.

Als er dann weglaufen will, greift jedoch ihre Hand nach seinem Fußgelenk und zieht ihn ebenfalls nach unten auf den Boden.

Er versucht, sich loszureißen, doch er schafft es nicht, sie rammt ihre Fingernägel tief in Rages Körper.

Dann fällt sie über ihn her und frisst sich energisch durch seinen Oberkörper.

Rage schreit wie am Spieß und fleht den Zombie um Gnade an, was natürlich wirkungslos ist.

Er muss schreckliche Schmerzen haben, denkt Miho, aber die gönnt sie ihm.

Nach einer Zeit lassen Rages Schreie und Versuche, sich zu befreien nach, bis er sich schließlich gar nicht mehr bewegt.

In eben diesem Moment scheint Bettina ihr Interesse an ihm zu verlieren und steht auf.

Rages gesamter Brustkorb sieht beinahe ausgeweidet aus.

Der Mund und die Finger des Zombies sind voller Blut, welches rapide auf den Boden tropft.

Aber das Hauptproblem ist: Sie kommt auf Miho zu.

Zombies scheinen sich nicht so für bewusstlose oder tote Personen zu interessieren, und zu ihrem Pech ist Miho gerade die einzige, die auf zwei Beinen steht.

Gelähmt vor Angst sieht sie Bettinas Körper auf sie zu kommen.

Ist das das Ende? Wird sie genau so sterben wie der dreckige Vampirkönig?

Plötzlich fahren alle Eisengitter hoch, und langsam dringt das Sonnenlicht in den Raum.

Als es auf Bettinas Richters Leiche trifft, fällt diese in sich zusammen.

Miho schaut sich verwirrt um: Was hat das zu bedeuten?

„Es stimmt also wirklich, dass Zombies machtlos gegen Tageslicht sind. Ich war mir bei dieser Theorie nicht ganz sicher, zugegeben.“

Miho sieht auf. Diese Stimme...

Alexa Lilienfeld tritt aus einem der Gänge.

Ihre Kleidung ist verbrannt, ihre Brille kaputt und sie hat viele Verletzungen, aber sie ist am Leben.

„Hast du das Licht wieder hereingelassen?“, fragt Miho sie, während sie zu ihrem kleinen Bruder geht.

Alexa nickt: „Ich habe eine Anleitung gefunden, in der steht, wie man sie ausschaltet. Der Schalter dafür ist im Keller.“

Miho bedankt sich und rüttelt Keisuke etwas: „Wach auf. Wir haben es geschafft! Es ist endlich vorbei. All das Sterben ist vorbei!“

Ein paar Meter weiter rührt sich Yuri. Langsam steht sie auf, noch ein bisschen wackelig auf den Beinen: „Was... ist passiert? Haben wir... gewonnen?“

„Offensichtlich“, lächelt Alexa.

Yuri hebt glücklich die Arme: „Dann hat das alles endlich ein Ende! Es gab schon viel zu viele Opfer...“

Sie wirft einen traurigen Blick auf Raito und Samuel.

Auch Shizuka bewegt schon wieder ihre Hand, allerdings hat sie wohl noch nicht genug Kraft, um aufzustehen.

„Was ist los, Miho? Freust du dich nicht, das alles vorbei ist?“, fragt das Fuchsmädchen sie.

Miho, die vor Keisuke hockt, dreht langsam ihren Kopf zu ihr hin. Sie weint.

„Ja...“, sagt sie leise; „Es ist vorbei. Alles ist vorbei... Keisuke ist tot...

Yuri schaut sie entsetzt an. Sie sagt nichts, sie kann nichts sagen.

Alexa seufzt und geht zu Shizuka, um ihr zu helfen, aufzustehen.

Nein, der Alptraum ist für Miho definitiv nicht vorbei.

Sie ist gerade in einen Alptraum gefallen, aus dem sie nie wieder aufwachen wird.

Resolution

Epilog „Resolution“
 

Seit den Ereignissen im Schloss des Vampirkönigs ist nun eine Woche vergangen.

Es ist ein schöner Herbsttag.

Shizuka, die einen weißen Pullover und einen schwarzen Faltenrock trägt, wandert über die hellgrünen Wiesen des St. Johanna-Friedhofs.

Für eine ganze Weile scheint sie die einzige Person zu sein, die hier anwesend ist, doch schon bald kommt ihr ein anderes Mädchen mit orangenen Haaren entgegen.

„Du hast sie also immer noch“, begrüßt Shizuka Yuri und deutet auf ihre Fuchsohren.

„Vermutlich werden sie auch für immer bleiben. Sie sind mein ganz persönlicher Beweis, dass die Vampire und ihre Kräfte existiert haben“, lächelt sie und umarmt Shizuka sanft.

Ein paar Minuten später sitzen sie gemeinsam vor den Gräbern von Raito, Keisuke, und Verena.

„Es ist wirklich unfassbar... Wie kann man nur so unmenschlich sein und seinen eigenen Sohn in den Tod schicken...? War ihm denn so egal, was aus Raito wird?“, fragt Yuri kopfschüttelnd.

„Ich glaube, Rage hat schon vor langer Zeit aufgehört, ein Mensch zu sein“, erwidert Shizuka bedrückt und gießt etwas Wasser über jedes der Gräber.

Sie hat sich vorgenommen, sie von nun an regelmäßig zu pflegen, und dabei wurde ihr Unterstützung von Verena Engels Eltern versprochen.

„Ich habe gehört...“, sagt Shizuka leise; „... dass du Logaly verlässt...“

„Ja“, antwortet Yuri und senkt den Kopf: „Nach allem was passiert ist... wird meine Familie umziehen. Unser Café macht nun auch keinen Ertrag mehr... Tut mir leid...“

„Dafür musst du dich doch nicht entschuldigen“, lächelt Shizuka und stellt die Gießkanne weg.

Einen Moment wird nur geschwiegen.

Dann flüstert sie kaum hörbar: „Ich vermisse ihn...“

Yuri steht auf und umarmt sie von hinten: „Ich auch. Ich vermisse sie alle. Es war eine schöne Zeit, egal, mit wie viel Chaos wir umgehen mussten. Ich werde all das... nie vergessen...“
 

Alexa wandert zielgerichtet durch das Hospital.

Es ist kein großes Krankenhaus, sondern eher eine bescheidene Klinik, von Natur umgeben.

Sie selbst lag nie hier, die Verletzungen, die sie von dem Kampf im Schloss davon getragen hat, erachtete sie nicht als so schlimm.

Immerhin ist sie eine Geschäftsfrau, und in ihrer Bibliothek würde ohne sie überhaupt nichts laufen. Dennoch hat sie sich heute Zeit genommen, die Großstadt Logaly zu verlassen und dieses kleine Krankenhaus hier zu besuchen.

Sie streift weiter den Gang entlang.

„Entschuldigung, sind Sie Frau Lilienfeld?“, fragt ein ihr entgegen kommender Arzt.

„Ja, richtig. Guten Tag“, grüßt sie ihn.

„Bitte folgen Sie mir.“

Er bringt sie in ein leeres Krankenzimmer und weist sie an, sich zu setzen, doch sie lehnt ab, denn sie steht lieber.

„Es ist jetzt eine Woche her, dass Luna Mitsuki und Epheral Locover hier eingeliefert wurden“, erklärt der Arzt; „Ich freue mich zwar, dass sich jemand um sie erkundigt, aber...“

„Wie steht es um die beiden?“, fragt Alexa unverblümt.

Es waren Shizuka und Yuri, die sie gebeten haben, hierher zu fahren und nach den beiden zu sehen. Sie selbst kennt sie nicht wirklich.

„Nun... Epheral hatte schwere Verbrennungen und Verletzungen, doch er wird wieder ganz gesund werden. Selbstverständlich werden einige Narben zurückbleiben, und vermutlich dauert es noch etwas, bis seine Wunden ausheilen...“

„Und weiter?“, fragt Alexa gefasst.

„Luna dagegen hatte eine schwere Vergiftung, die sich immer weiter ausgebreitet hat. Wir konnten ihr zwar Medikamente geben, die sie am Leben hielten, doch im Endeffekt waren wir gegen diese unbekannte Art von Gift machtlos. Es tut mir leid...“

Sie hat es also nicht geschafft.

Alexa seufzt und bedankt sich bei dem Arzt für die Informationen.
 

In einem anderen Zimmer dieses Krankenhauses sitzt Epheral, der schwarzhaarige Vampirjäger und Präsident der Provitas, auf seinem Bett und starrt aus dem Fenster.

Sein Oberkörper ist an vielen Stellen bandagiert, aber ansonsten sieht er gesund aus.

Verträumtheit liegt in seinen indigoblauen Augen.

Es war alles umsonst, denkt er, und sein Blick wandert auf das leere Krankenbett neben seinem.

Ich habe versucht, sie zu retten, aber es war umsonst.

Am liebsten würde er sich aus Zorn darüber den Kopf weg schießen.

Ob es noch Vampire auf der Welt gibt?

Epheral seufzt und legt sich auf den Rücken.

In Zukunft wird er den Versicherungsbetrieb wohl ernst nehmen müssen.
 

Wie hoch ist dieses Gebäude?

Zwanzig Meter? Dreißig Meter? Vielleicht sogar vierzig?

Miho kann und will es nicht genau abschätzen.

Nun steht sie auf dem Dach dieses Hochhauses, von denen es in Logaly nicht wenig gibt, und starrt in diese schier endlose Tiefe.

Sie kann die Straße sehen, den Bordstein, ein paar Menschen, ein paar Autos...

Zögerlich steigt sie auf das Geländer.

Ihre Arme und Beine zittern.

Nichts kann sie jetzt mehr davon abhalten.

Sie hatte alles und jeden verloren.

Ihre Eltern, die ihr immer so viel Liebe schenkten...

Ihren Bruder, der sie immer vor seinen Problemen beschützen wollte...

Ihren Geliebten, der nicht mehr als eine Illusion war...

Ihre beste Freundin, die immer ein offenes Ohr sie hatte...

Ihren besten Freund, der sich so rührend um sie kümmerte...

Nicht einmal ihr Haus ist noch ganz.

Sie hat auch keine Nachbarn mehr, bei denen sie einen guten Eindruck machen konnte.

Sie hat aufgegeben.

Ein leichter Wind von hinten scheint sie sogar noch ein wenig anzustubsen.

In ihr ist überall dieser kalte Schmerz, von dem sie weiß, dass er nie verschwinden wird.

Es gibt nur einen Weg für sie, sich von diesem Leid zu erlösen, und der liegt einen Schritt vor ihr.

Mama, Papa... Keisuke... Desmond, Luna... werde ich euch wiedersehen?

Wenn ich jetzt springe?

Tränen laufen ihr über die Wangen.

Sie wird nicht die Balance verlieren, auch wenn sie auf diesem dünnen Geländer steht.

Sie wird diese Welt verlassen, weil es ihr Wunsch ist...

Plötzlich hört sie von hinten das Quietschen einer Tür.

Erschrocken dreht sie ihren Kopf, um zu erkennen, wer da kommt.

Es ist ein junger Erwachsener mit braunen Haaren, auf seinem Arm eine rotbraune Katze.

Miho stockt der Atem.

Sakito... Shya?

Ihr Bruder kommt direkt auf sie zu, Miho fängt an, zu schreien: „Nein, bleib da! Sakito, es ist zu spät! Alles ist zu spät! Ich werde springen!“

Mit sicheren Schritten tritt er weiter an sie heran, seine Augen strahlen pure Entschlossenheit aus.

Kurz vor dem Geländer setzt er Shya ab, die einmal miaut und sich dann brav hinsetzt.

Dann nimmt er Mihos Hände und zieht sie daran auf das Dach zurück.

Fürsorglich nimmt er sie in den Arm und gibt ihr somit das Gefühl, dass sie noch nicht alles verloren hat.
 

Cruel Nature - Ende



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Kommentare zu dieser Fanfic (127)
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Von: abgemeldet
2013-01-22T21:26:56+00:00 22.01.2013 22:26
Oh Gott, jetzt ist es wirklich vorbei. Na ja, bis auf den Epilog.
Raito ist tot - und mit ihm auch das RaiXa-Pairing, schade.
Die Tode der Vampire waren unvermeidbar und daher in jeder Konsequenz logisch, leider. Die ganzen C-Tode wurden auf Dauer nur leider immer weniger dramatisch und zu vorhersehbar. Wenn du noch mal was schreibst, nicht wieder alle abschlachten, ja?
Von: abgemeldet
2013-01-22T17:52:48+00:00 22.01.2013 18:52
Awww, was für ein süßes Kapitel, auch wenn ich vermutlich die Stelle, an der erklärt wurde, was das Bild von Lure da zu suchen hat, irgendwie überlesen habe. Na ja, ich kann sie ja suchen gehen :)
Und Miho und Keisuke müssen zusammenhalten - vor allem, weil der dusselige Bruder der beiden ja mal wieder undercover unterwegs ist :)
Und ich glaube, dass das der letzte Kommentar war, den ich schreiben musste
Von: abgemeldet
2013-01-22T17:49:07+00:00 22.01.2013 18:49
Meadow ... der undurchsichtige Gentleman mit dem Faible für französisches Essen hat seinen ersten Auftritt - und ist etwa genau so suspekt wie die ganzen Curser zusammen.
Keisuke ist ein PC_Suchti, kein Zweifel daran.
Von: abgemeldet
2013-01-22T17:45:45+00:00 22.01.2013 18:45
Yuri ist gekidnappt/gefoxnappt worden :) wahrscheinlich für irgendwelche gruseligen Experimente.
[Nur mal so, ich bin jetzt fast fertig mit CN]
Keisuke wird endlich mal zum Mann ~ verdammt, jetzt hab ich das Disneylied im Kopf. Man kann halt nicht alles haben, was?
Von: abgemeldet
2013-01-22T17:42:27+00:00 22.01.2013 18:42
Decay ... was für ein Bastard ... erst killt der Vigor und bringt damit erst DD auf die Idee, Raito x Yuri zu shippen, tsk.
Stephan ist ein totaler Psychopath, just saying :D
Oh sorry, er heißt Cyst.
Psycho-Miho ist echt klasse ;)
Na ja, dann hat Emily sich ja wenigstens für Sense ein wenig interessiert :D

Von: abgemeldet
2013-01-22T17:37:30+00:00 22.01.2013 18:37
Ich nehme es zurück.
Da läuft doch einiges schief - und Stephan war mir ja immer schon unsympathisch - wie alle von Mihos bisherigen Lovern :D
Und Alexa, warum hast du sie allein gelassen?
Warum?!
Ansonsten stimme ich Luna bei Punkt 1 zu, während ich ihr bei Punkt 2 widerspreche. Ich sage mal, dass Luna sehr wohl weiß, dass Desmond tot ist, es aber noch nicht richtig verarbeitet hat, weswegen ihr solche Freudsche Versprecher unterlaufen :)
Von: abgemeldet
2013-01-22T17:32:41+00:00 22.01.2013 18:32
Bibelanspielung ftw :D
Yuri kommt so rüber, als wäre das ganze ein Ausflug in den Vergnügungspark ... tsk :)
Alexa liest dann mal ne Runde, so muss das sein ;)
Oh mein Gott, Luna ist mit dem Auto da! Die Welt geht jetzt unter!
Schön, jetzt wissen sie auch, dass Desmond nicht länger unter ihnen weilt, sehr schön :)
Ach ja, das war der Grund, warum Alexa erst mal zurückgeblieben ist, richtig :)
Nur müssen wir dafür erst die Königin besiegen. Und das machen wir noch heute Abend! Nachdem wir im Kino und Pizza essen waren, aber das versteht sich wohl von selbst.“
„In dem Fall ist es eine Bombe.“
Und das ist auch kein großes Problem, versteht ihr?

Na dann, dann kann ja nichts mehr schiefgehen :D
Von: abgemeldet
2013-01-22T17:27:01+00:00 22.01.2013 18:27
„Ich werde mir jetzt ein paar Menschen zum Auslöschen suchen.“
Klar, Kumpel.
Das zeugt ja auch wirklich nicht von Projektion von Problemen auf andere Personen oder so ... nur nicht.
Und wenn du schon dabei bist, bringst du mir was Blut mit, Darling?

Genau - wo ist der Text über Alexa? Die hat noch nicht mal ein Bild. Luna und ich haben jegliches Recht, uns darüber zu beklagen!
Von: abgemeldet
2013-01-22T16:47:16+00:00 22.01.2013 17:47
Alle daten ... und wo ist RaiXa? Also ehrlich, du hättest die beiden in diesem Kontext wirklich erwähnen können. Luna und Epheral sind natürlich das Kitschpärchen Nummer 1, aber Keisuke und Shizuka lassen sich auch nicht wirklich abhängen :D
Und währenddessen vergammelt Desmonds Körper irgendwo ... seufz...
Von: abgemeldet
2013-01-22T16:43:58+00:00 22.01.2013 17:43
Ich kann mich Luna-chan nur anschließen, auch wenn ich natürlich noch weiß, was da wirklich abgegangen ist. Es ist auch beim zweiten Lesen noch immer ein extrem spannendes Kapitel, auch wenn ich Shou persönlich als zu hysterisch betrachten würde.
Ah ja, R.I.P., Desmond. Dein Tod war weit unter deinem Niveau.


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