Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 42: Geschwister ----------------------- Geschwister Sanfte Sonnenstrahlen, die durch das Fensterglas hineingleiten, empfangen Keisuke am nächsten Morgen. Er gähnt herzhaft und reibt sich die Augen. Diese Nacht ist er sehr schnell eingeschlafen, was ja bei dem anstrengenden Tag gestern kein Wunder ist. Er wirft vorsichtig einen Blick auf Yuri, die immer noch friedlich neben ihm schlummert. Eine Weile bleibt er ganz ruhig liegen und genießt das Sonnenlicht auf seiner Haut, doch nach einigen Minuten wird es ihm unangenehm. Nach allem ist er immer noch ein Vampir, und nicht einmal eingecremt. Zögerlich steht er auf, bedacht darauf, Yuri nicht zu wecken. Kaum ist er aus dem Bett gestiegen, zieht er das T-Shirt und die Hose von gestern wieder an, damit sie ihn, falls sie plötzlich aufwacht, nicht in Unterwäsche dastehen sieht. Das wäre ihm ziemlich peinlich. Barfuß schleicht er ins Badezimmer, er würde gerne duschen. Hat Meadow nicht auf Klamotten zum Wechseln im Schrank hingewiesen? Keisuke geht ins Schlafzimmer zurück, aber als er den alten Holzschrank öffnet, gibt dieser ein lautes Quietschen von sich, das Yuri aufweckt. Verschlafen dreht sie sich um und schaut ihn wortlos an. „Guten Morgen“, begrüßt der Vampir sie leise, aber alles was er als Antwort erhält ist ein undeutliches „Nein... Noch nicht...“ Sie zieht die Bettdecke zur Hälfte über den Kopf und schläft wieder ein. Auch bei ihr haben die Ereignisse von gestern Spuren hinterlassen. Nun wendet Keisuke sich wieder dem Schrank zu; Es hängen verschiedene Kleidungsstücke darin, aber eins ist hässlicher als das andere. Schließlich entscheidet er sich für ein weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose, obgleich ihm solche Klamotten nicht gefallen, denn er ist Jeans gewohnt und mag eher lockere Sachen. Im Badezimmer zieht er sich aus und stellt sich unter die Dusche. Wie spät es wohl ist? Bestimmt schon fast nachmittags. Leider hängt hier nirgendwo eine Uhr. Verdammt, wenn er doch bloß auch ein Handy hätte, so wie Shizuka. Die Gedanken legt er erst einmal beiseite und versucht, sich beim Duschen zu entspannen. Plötzlich klopft es an der Tür: „Keisuke? Bist du da drin?“ Yuri ist offensichtlich wach. „Ich dusche gerade“, ruft er und wirft einen misstrauischen Blick zur Tür. Er hat doch abgeschlossen, oder? Wenn nicht, und Yuri kommt jetzt einfach herein, würde sie ihn nackt sehen. Nein, er muss abgeschlossen haben, er ist sich ganz sicher. „Mach schnell, ich muss mal“, kommt von der anderen Seite der Tür, und dann ist Stille. Erleichtert atmet Keisuke aus. Dann wollen wir ihr den Gefallen mal tun, denkt er, und lässt sich nicht mehr ansatzweise so viel Zeit wie vorher. Als er fertig das Badezimmer verlässt, steht Yuri vor der Tür: „Wie siehst du denn aus?“ Der Kommentar ist wohl auf seine Kleidung bezogen. „Ich habe im Schrank nichts besseres gefunden“, erklärt er und wird dabei rot, sie nickt verstehend: „Aha...“ Der Anflug eines Lächelns bildet sich auf ihrem Gesicht, aber Keisuke kann das nicht richtig deuten. Weil sie nach wie vor auf Toilette muss, geht sie an ihm vorbei ins Badezimmer. „Ich gehe mal nach Miho und Shizuka schauen“, sagt er und geht zur Tür. „Okay. Ich komme gleich nach, aber vorher will ich mich noch bürsten und so“, sagt sie schnell und macht die Tür zu. Er geht aus dem Zimmer und schaut sich im Korridor um. Es gibt hier viele Türen, also viele Gästezimmer, aber im welchen sind seine Schwester und Shizuka noch gleich untergebracht? Er folgt seiner Vermutung und nähert sich der nächsten Tür von links. Hier müsste es sein... Wäre er gestern nur nicht so verdammt müde gewesen, dann wüsste er es wohl mit Sicherheit, aber daran lässt sich jetzt nichts mehr ändern. Er klopft an die Zimmertür, erhält aber keine Antwort. Seltsam, denkt er; Von Shizuka ist er zwar gewohnt, dass sie mal länger schläft, aber Miho steht normalerweise immer als erste auf. „Kann ich dir helfen?“, ertönt plötzlich eine weibliche Stimme hinter ihm. Er erschrickt und dreht sich um. Vor ihm steht eine Frau, blonde Haare, ein freundliches Gesicht, die eine Art Dienstmädchen-Uniform trägt. Sie kommt ihm bekannt vor, auch wenn er nicht sagen kann, um wen es sich handelt. „Ähm, ja... Ich suche meine Schwester. Ich glaube, sie wohnt in diesem Zimmer.“ Die Frau mustert Keisuke von allen Seiten: „Schwester? Meinst du Miho?“ Überrascht starrt er sie an: „Sie kennen sie?“ „Ich habe noch diese Nacht ihre Schusswunde am Oberarm behandelt.“ So ist das also. Meadow sagte, jemand würde sich sofort um ihre Verletzung kümmern, und in diesem Fall war dies die junge Frau vor ihm. „Wo ist sie jetzt?“, will Keisuke wissen. „Wahrscheinlich frühstückt sie. Ich begleite dich nach unten, du würdest dich sonst wahrscheinlich verlaufen.“ Sie lächelt unentwegt, als sie das sagt. Er bedankt sich bei ihr und geht neben ihr durch den langen Gang, bis sie bei einer Treppe angelangen, die sie hinuntergehen. Um nicht die ganze Zeit zu schweigen, fragt Keisuke die Frau, die ein Mensch und kein Vampir zu sein scheint: „Wie lange sind Sie schon Ärztin?“ Daraufhin fängt sie kurz an zu lachen: „Nein, nein, ich bin keine Ärztin, sondern nur Arzthelferin. Aber Dinge wie Wunden versorgen oder Blut abnehmen bekomme auch ich hin.“ Bei dem Wort „Arzthelferin“ klingelt etwas bei Keisuke, aber es will ihm einfach nicht einfallen. Es wundert ihn auch, dass ihm Schloss eines Vampirs Menschen angestellt sind. Hat das einen besonderen Grund? Weiß die junge Frau überhaupt, für wen sie arbeitet? Keisuke sieht sich nicht berechtigt, sie darüber zu informieren, falls sie es nicht wissen sollte, also schweigt er. „So, nun da wir im Erdgeschoss sind...“, murmelt sie und zeigt ihm, dass er nur noch geradeaus gehen müsse, um zum Speisesaal der Gäste zu kommen. Er bedankt sich und geht langsam durch den Flur, dessen eleganter, reiner Marmorboden glänzt und strahlt. An den Wänden hängen ein paar Gemälde, die sich Keisuke interessiert anschaut. Auf einigen kann man Personen sehen, bei denen es sich sowohl um Menschen als auch um Vampire zu handeln scheint, wenn man nach den Augenfarben geht. Andere zeigen wunderschöne Landschaften wie provinzielle Dörfer oder wuchernde Wälder. Dann gibt es wiederum noch Bilder, auf denen er nicht wirklich etwas erkennen kann. Scheint moderne Kunst oder sowas zu sein. Schließlich lässt Keisuke die Gemälde an den Wänden stehen und geht zu der Tür, die angeblich in den Speisesaal führt, dorthin, wo Miho sein soll. Bevor er sie öffnet, hält er inne: Was, wenn sich das um eine Falle handelt? Misstrauisch schaut er sich um. Im Moment ist er ganz alleine, und dazu noch unbewaffnet. Wenn sich hinter den freundlichen Gastgebern nun in Wirklichkeit Feinde verstecken, die seine Wehrlosigkeit ausnutzen, dann... Naja, dann ist er geliefert. Seufzend öffnet er die Tür. Er möchte jetzt nicht daran glauben, schon wieder in eine Falle gelockt worden zu sein. Hinter der Tür ist wirklich eine Art Speisesaal, ein recht langer Esstisch, an dem Shizuka sitzt. „Guten Morgen!“, sagt sie glücklich, während sie sich ein Brötchen aufschneidet. „Guten... Morgen...“ Er ist erleichtert; „Wo ist Miho?“ „Sie hilft den Dienern in der Küche beim Frühstück. Wie sie eben ist.“ Keisuke setzt sich ihr gegenüber. Sie trägt ihre normalen Sachen von vorher, aber sie ist vermutlich auch die Einzige, die sich in dieser Nacht nicht ziemlich schmutzig gemacht hat. „Findest du es nicht komisch, dass es in einem Schloss von Vampiren Essen für Menschen gibt?“, fragt er sie, aber sie zuckt nur mit der Schulter: „Du hast doch auch immer normales Essen gegessen, als du mir noch verheimlicht hast, dass du ein Vampir bist. Und wenn es ihnen eben schmeckt...“ Da hat sie recht. „Wo hast du denn Yuri gelassen?“ Keisuke rutscht das Herz in die Hose: „Ups... Die ist noch oben im Zimmer... Hoffentlich findet sie nach hier unten.“ Shizuka lacht und in diesem Moment kommt Miho aus der Küche. Ein langer, weißer Pullover verdeckt den Verband, den sie um ihren Oberarm trägt. „Oh, guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?“ „Wahrscheinlich schon“, antwortet er beiläufig; „Hast du neue Ohrringe?“ „Ähm... Streng genommen sind das nicht meine...“ Miho wird rot; „Aber sie lagen in einer Schublade in meinem Zimmer und deshalb habe ich sie einfach heute angezogen. Ich denke, dass das schon in Ordnung geht. Schönes Hemd hast du an. Auch wenn es nicht ganz deine Farbe ist.“ „Das ist mir auch klar“, sagt er etwas beleidigt; „Ähm... Wann werden wir endlich zu Desmonds Leiche gebracht? Sie soll ja angeblich hier sein, aber wie soll ich sie wiederbeleben, wenn uns keiner sagt, wo sie ist?“ Für eine kurze Zeit tritt Stille ein. Dann sagt Shizuka leise: „Es ist... nicht einfach für mich, das zu sagen, aber...“ Quietschend geht die Tür auf und Yuri kommt herein: „Hier seid ihr also alle!“ Vorwurfsvoll schaut sie die drei der Reihe nach. „Wir haben nur schon mal gefrühstückt“, besänftigt Miho sie und bietet ihr einen Platz an: „Komm, du bist sicher hungrig.“ Das kann sie nicht verneinen, also gesellt sie sich zu ihnen, um gemeinsam zu essen. „Unser Leben ist in letzter Zeit ja wirklich aus der Bahn geworfen“, merkt Shizuka nach einer Weile an. Yuri seufzt zustimmend, aber Miho winkt ab: „Ich finde, wir halten uns alle sehr gut, wenn man bedenkt, was wir durchmachen mussten. Aber du hast schon recht...“ „Ich will gar nicht wissen, was noch auf uns zukommt“, sagt Keisuke traurig. Das Haus seiner Familie ist mittlerweile nur noch ein großer Trümmerhaufen, zudem weiß niemand von ihnen, was aus Raito, Samuel, Luna, Epheral und Alexa geworden ist. „Ich weiß, was du meinst“, spricht Miho leise; „Bei uns zu Hause liegen auch noch zwei Leichen, auch wenn dieser Meadow mir versichert hat, er würde sie wegräumen lassen.“ Wie nett von ihm. Keisuke weiß einfach nicht, was er von diesem Typen halten soll. Gute Manieren hat er zwar, aber das heißt noch lange nicht, dass er nichts Böses im Sinn hat. Mihos Blick wird plötzlich ernst: „Ich möchte über etwas mit euch reden, Keisuke, Shizuka. Es geht darum, dass ich gerne umziehen möchte.“ „Umziehen? Wohin?!“, kommt von den beiden Angesprochenen fast gleichzeitig zurück. „Ich bin mir noch nicht sicher, wahrscheinlich erstmal zu unseren Großeltern. Die wohnen nicht in Logaly. Es wäre wirklich besser, wenn wir aus dieser Stadt verschwinden würden.“ Auch wenn er seine Schwester verstehen kann, diese Idee gefällt Keisuke einfach nicht. Er hat sein ganzes Leben in der Großstadt Logaly gewohnt, genau wie Miho und Sakito. Sowohl Emily als auch die Cursers sind besiegt, also hat diese ewig lange Spur aus Blut nach so langer Zeit ein Ende gefunden. „Würdest du uns damit nicht noch mehr Stress aufhalsen, als wir so schon haben?“, fragt er leicht deprimiert. „Selbst wenn“, antwortet sie streng; „Unser Haus ist eine unbewohnbare Ruine. Wir können nicht dahin zurückkehren. Wir haben so schon wenig Geld, die Reparaturen und all das können wir uns nicht leisten. Wir werden Probleme mit den Versicherungen und vor allen Dingen mit der Polizei bekommen. Siehst du das nicht ein?“ „Du übertreibst! So schlimm ist es jetzt auch nicht!“, erwidert Keisuke sauer. Shizuka und Yuri sitzen einfach nur still da, ohne etwas zu sagen. „Doch! Du musst dich mit alldem ja nicht herumschlagen, aber kannst du dir überhaupt vorstellen, wie schwer das für mich ist? Ich bin doch schon vorher kaum mit dem ganzen Stress zurecht gekommen... Mit der ganzen Arbeit, nur um euch ein Leben zu ermöglichen, das so angenehm wie möglich ist! Ich habe mir damals geschworen, auf euch aufzupassen, und das zu tun, was das Beste für euch ist, und ich halte es für das Beste, Logaly zu verlassen.“ Warum sagt sie das? Sie hat doch immer schon Stress gehabt... Nie hat sie sich beschwert. Und sie weiß doch, wie sehr er sich in Logaly zu Hause fühlt, wie ungern er das Haus, in dem sie einst alle zusammen mit ihren Eltern lebten, verlassen würde. Geht es ihr nicht genauso? „Ich kann dir ja helfen. Aber ich will auf keinen Fall weg von hier“, sagt er schließlich. „Ich möchte nicht weiter darüber diskutieren.“ Obwohl das offensichtlich Mihos letztes Wort ist, will er noch nicht aufgeben: „Wenn wir nicht in Logaly bleiben, werde ich auch niemanden wiederbeleben.“ Über das, was er gerade gesagt hat, hat er nicht wirklich nachgedacht. Und schon hat er Mihos flache Hand mit einem lauten Klatschen im Gesicht; sie ist plötzlich aufgesprungen, noch bevor Keisuke irgendetwas gemerkt hat. Die Ohrfeige hinterlässt einen schmerzenden Druck auf seiner Wange, sein Kopf ist für einen Moment wie leergefegt und er schaut seine Schwester entsetzt an. Den Ausdruck in ihren Augen kann er nicht so recht deuten, aber sie atmet schwer und zittert leicht. Yuris Mund steht vor Schreck weit offen; Shizuka hingegen neigt mit traurigem Blick ihren Kopf zur Seite und schaut niemanden an. „Du wirst... jeden wiederbeleben. Hast du gehört?“ Mihos Augen füllen sich plötzlich mit Tränen; „Du wirst Desmond... Mama, Papa, Shizukas Eltern... Du wirst sie alle ohne Ausnahme wiederbeleben.“ Sie greift mit ihrer rechten Hand an ihre Brust. „Miho, ich...“ Keisuke schluckt. Was hat er da nur gesagt? Sie weint fast. „Ich gehe...“, sagt er leise und läuft aus dem Speisesaal. Niemand hält ihn auf. Er geht schnell den leeren Gang entlang, achtet darauf, nicht zu rennen, damit er nicht unnötig Aufsehen erregt, biegt bei der ersten Gelegenheit links ab und setzt sich nach einiger Zeit vor eine Tür. Er hat keine Ahnung, wo er hin soll, er will erstmal nur Abstand zu Miho halten. Wie konnte er sie nur so verletzen? Kann er nicht nachdenken, bevor er etwas sagt? Eine Entschuldigung würde sie vermutlich annehmen, aber so leicht fällt ihm auch das nicht. Von seiner großen Schwester vor den Freunden geohrfeigt zu werden ist schon peinlich, aber er beharrt auch darauf, in Logaly zu bleiben. Er muss hier bleiben! Hier wohnen seine Freunde, hier ist die Schule, in die er sich gerade eingelebt hat, und er kann sich nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu leben. „So ein Dreck...“, flüstert er und schließt die Augen. Natürlich wird es problematisch. Das Haus ist zu großen Teilen zerstört, und Reparaturen sind nicht billig. Die Stadt selbst dürfte nicht mehr als ein Drittel ihrer ursprünglichen Bevölkerungszahl haben, was der Curser-Gesellschaft zu verdanken ist. Aber das sind Probleme, für die es mit Sicherheit Lösungen gibt. Warum gibt Miho so schnell auf? „Hier bist du...“ Keisuke schreckt hoch, nachdem er die Stimme hört. Shizuka steht vor ihm, sie wirkt besorgt. „Wie hast du mich gefunden?“ Sie antwortet nicht sofort. Langsam beugt sie sich herunter und hockt sich neben ihn: „Intuition...“ Yuri und Miho sitzen noch immer im Speisesaal, haben jedoch mit dem Frühstück aufgehört. Mihos Fuß zappelt unruhig unter dem Stuhl, und Yuri schaut sie prüfend an: „Willst du nicht auch nach deinem Bruder sehen?“ Als Shizuka gesagt hat, sie würde Keisuke suchen, hatte Miho keine Einwände, weigerte sich jedoch, selbst zu ihm zu gehen. „Ich weiß nicht, wie ich ihm gegenübertreten soll... Nachdem ich sowas gemacht habe...“ Das Fuchsmädchen schaut sie gelangweilt an: „Fühlst du dich schuldig?“ Miho nickt: „In unserer Familie wenden wir keine Gewalt an, egal aus welchem Grund. Er hätte es nicht so weit treiben sollen, es ist ganz spontan passiert...“ Schuldbewusst starrt sie auf ihre Finger, während sie an ihnen herumspielt. „War doch nur eine Ohrfeige. Er wird es dir nicht übel nehmen“, sagt Yuri zuversichtlich. Mit einem ungläubigen Blick antwortet Miho: „Ich muss mich trotzdem bei ihm entschuldigen. Es ist nur so, dass ich... dass ich... Ich brauche eine Pause, unbedingt, ich brauche einfach eine Pause von all diesem Unheil, diesem Stress... Ich kann nicht mehr!“ Verzweiflung liegt in ihren Augen. Yuri holt Luft, um etwas zu sagen, aber Miho ist schneller: „Für ihn ist das ganze ja vorbei, er muss sich nicht mit den Konsequenzen herumschlagen. Aber er denkt auch nicht an mich. Weil meine Eltern tot sind, muss ich mich alleine um alles kümmern, das ist schon lange so. Aber jetzt ist mein bester Freund tot, der Mann den ich liebe war nichts als eine Illusion und hat versucht mich umzubringen, aber weil ich ihn getötet habe, bin sogar ich zur Mörderin geworden! Meine beste Freundin liegt im Krankenhaus und unser Haus ist vollkommen zerstört...!“ „Miho...“ Yuris Blick ist besorgt. „Meine kleine Hoffnung war, dass zumindest Desmond wiederbelebt werden kann, von Keisuke...“ Nun geht Yuri ein Licht auf: „Daran hast du dich also die ganze Zeit geklammert. Und als er dann die Bemerkung vorhin fallen ließ, ist es mit dir durchgegangen.“ Sie erwidert nichts darauf, aber Yuri weiß auch so, dass sie recht hat. „Ich... ich...“, stammelt Miho, aber die Jüngere sagt entschieden: „Du frisst immer alles in dich rein! So kann das doch nicht weitergehen. Du bist auch nur ein Mensch, Miho!“ Mihos Blick, bis jetzt unsicher und von Zweifel erfüllt, wirkt plötzlich entschlossen: „Ich sollte auch zu Keisuke gehen.“ Sie nimmt ihren ganzen Mut zusammen, steht auf und geht zur Tür. Yuri bleibt sitzen. „Ich werde traurig sein...“, sagt sie leise. Miho dreht sich zu ihr um und schaut sie fragend an. „Wenn ihr wegzieht. Dann werde ich sehr traurig und einsam sein“, wiederholt sie verträumt. „Die Ohrfeige war ein ziemlicher Schock für dich, oder?“, fragt Shizuka munter. Keisuke sieht sie nicht an: „Ja. Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass mir das passiert.“ Shizukas Interesse ist geweckt: „Wann ist es denn schon mal passiert?“ „Raito hat mir damals eine Ohrfeige gegeben, weil ich aus Wut und Trauer etwas unüberlegtes gesagt habe...“ Die Erinnerung daran schmerzt ihn jetzt noch. Er muss wirklich ein Idiot sein, wenn ihm diese Sachen schon öfter passieren. Sanft legt Shizuka ihren Arm um Keisukes Nacken und streichelt ihn leicht die Schulter: „Ich kann dich verstehen. Ich möchte Logaly auch nicht verlassen, aber wenn es Mihos Wunsch ist...“ Keisuke fühlt sich durch ihre warme Fürsorge schon um einiges wohler. „Ich wusste gar nicht, dass sie soviel Stress hat... Ich habe es nie wirklich bemerkt...“ „Sie ist eure große Schwester, aber sie kümmert sich um uns, als sei sie unsere Mutter. Das ist schon nicht leicht...“, hauch Shizuka ruhig. „Warum hat sie nie was gesagt? Sogar ich bin mit meinen Problemen zu ihr gekommen, als ich es nicht mehr aushalten konnte. Das war nach Verenas Tod...“ Betrübt legt er vorsichtig seinen Kopf auf Shizukas Schulter. „Sie trägt die Verantwortung...“, flüstert sie; „Als große Schwester will man doch Vorbild sein, man möchte nicht, dass die kleinen Geschwister die eigene Schwäche sehen, sondern stets für sie da sein. Miho konnte einfach nicht mit uns reden.“ Überrascht schaut er sie an. Sie hat so unglaublich viel Verständnis... „Ich wollte schon immer Geschwister haben“, lächelt sie; „Und seitdem ich bei euch wohne, ist es wirklich so, als hätte ich welche. Dafür bin ich dankbar. Deswegen kann ich auch mit euch zusammen aus Logaly ausziehen, wenn es Miho glücklich macht.“ Beeindruckt hebt er den Kopf und schaut in ihre tiefgrünen Augen, die regelrecht strahlen. Wie kann sie nur so weise sein? Sie lächelt ihn an. Obwohl sie so viel durchmachen musste, kann sie lächeln und sich um andere kümmern, sich um andere Gedanken machen und sich in sie hineinversetzen. Für einen Moment, in dem er wie gebannt in ihre Augen schaut, ist alles um sie herum still. Schließlich merkt er, wie sich auch auf seinem Mund ein Lächeln bildet. Langsam kommt sein Gesicht ihrem näher. Oder ist sie es, die näher kommt? Er weiß es nicht genau. Nun sind sie nur noch einen Zentimeter voneinander entfernt... „Kennen wir uns nicht?“ Die Stimme reißt die Beiden aus ihrer Trance; erschrocken sehen sie auf. Vor ihnen steht eine Frau mit braunen, schulterlangen Haaren. Sie trägt eine Brille und ein Dienstmädchen-Outfit, eines von der selben Sorte wie die Arzthelferin, die Keisuke etwas zuvor getroffen hat. „Ich weiß nicht...“, nuschelt er; Er ist noch etwas durcheinander. Shizuka steht zitternd auf: „Oh mein Gott! Frau Lilienfeld!“ Erst jetzt erkennt Keisuke sie: Es ist die Besitzerin der Bibliothek, Alexa Lilienfeld. Laut Miho ist sie gestern urplötzlich verschwunden. Normalerweise trägt sie strenge Kleidung, hat ihre Haare zu einem kurzen Zopf zusammengebunden und läuft mit ein paar Büchern in der Hand herum, aber diese Aufmachung passt absolut nicht zu ihr. Ist sie undercover unterwegs? Als könne sie Gedanken lesen schaut sie an sich herab und sagt: „Ja, das ist peinlich, oder? Wenn ich eine Wahl gehabt hätte, hätte ich auch andere Kleidung bevorzugt.“ Keisuke versteht nicht genau, was sie damit meint, aber weil er sich blöd vorkommt, als einziger noch auf dem Boden zu sitzen, erhebt er sich auch: „Was machen Sie hier?“ „Das ist eine lange Geschichte...“, seufzt Alexa, und plötzlich biegt Miho um die Ecke, mit Yuri im Schlepptau. „Alexa?!“, ruft Miho fassungslos, während Yuri nur ein erstauntes „Oh!“ verlauten lässt. „Ihr seid also auch hier...“, schmunzelt Alexa; „Wurdet ihr vom König eingeladen?“ „Ähm, ja“, antwortet Miho unsicher; „Was hast du da an?!“ Frau Lilienfeld stößt ein weiteres Mal einen Seufzer aus: „Ich sehe schon, ich habe eine Menge zu erklären.“ Sie öffnet die Tür, an der Keisuke und Shizuka noch vor einer Minute saßen. „Hier drinnen kann man sich setzen.“ Warum kennt sie sich hier so aus? Die vier folgen ihr in das Zimmer, das an allen Ecken und Kanten aufwendig dekoriert ist. So ziemlich in der Mitte des Raumes steht ein schwarzer, länglicher Tisch mit insgesamt acht Stühlen daran, jeweils drei an den Seiten und einer an jedem Ende. „Nachdem ich gestern Abend von Miho bewusstlos geschlagen wurde...“ Sie wirft ihr einen vorwurfsvollen Blick zu und nimmt am hinteren Ende Platz. Die anderen setzen sich ebenfalls hin. „Tut mir wirklich leid. Ich habe dich für Cyst gehalten, der deine Gestalt angenommen hat. Ich hatte ja keine Ahnung, dass wirklich du es bist!“, entschuldigt Miho sich. „Kann ja mal vorkommen“, entgegnet Alexa mit einem ironischen Unterton; „Aufgewacht bin ich jedenfalls hier, in diesem Schloss. Mir wurde schon nach kurzer Zeit klar, wo ich mich befinde.“ „Ich habe sie hergebracht“, ertönt plötzlich eine Stimme. Alle wenden sich überrascht zur offenstehenden Tür, durch die Meadow den Raum betritt. „Hallo“, begrüßt Miho ihn, aber sowohl die Jugendlichen als auch Frau Lilienfeld schweigen. Meadow, der einen sehr schicken, dunklen Anzug trägt, verneigt sich leicht und geht auf die Gäste zu. Hoffentlich ist es erlaubt, dass wir uns hier aufhalten, denkt Keisuke. „Alexa, der Herr möchte Sie sprechen. Bitte warten Sie im Empfangszimmer.“ Ohne etwas zu erwidern, steht sie auf. Mit den Worten: „Wir reden später weiter“, verlässt sie das Zimmer. Meadow geht zu ihrem Stuhl, bleibt aber dort stehen, anstatt sich hinzusetzen. „Können Sie es uns vielleicht erklären?“, bittet Miho ihn. Er schließt kurz die Augen und sagt: „Selbstverständlich.“ Erwartungsvoll blicken alle ihn an. „Mein Herr ist momentan auf der Suche nach neuem Personal. Er lässt mich nach Menschen suchen, die er für sich arbeiten lassen kann. Natürlich werden sie in einem angemessenen Umfang bezahlt.“ „Warum ausgerechnet Frau Lilienfeld?“, will Keisuke wissen. „Nun, die Menschen, die wir aussuchen, müssen zwei Bedingungen erfüllen. Erstens müssen sie in ihrem Bereich kompetent sein, und das Wissen, das Alexa trotz ihres recht jungen Alters in sich birgt, ist unermesslich. Sie weiß jetzt schon mehr als die meisten Vampire, und die sind unsterblich.“ „Was ist die zweite Bedingung?“, fragt Miho. „Sie müssen über die Existenz von Vampiren bescheid wissen. Wir stellen niemanden ein, der nicht weiß, was wir sind. Das ist wichtig, um es als Geheimnis zu wahren“, erklärt er gelassen. Das ergibt alles irgendwo Sinn. „Dann wusste diese Arzthelferin also auch vorher über Vampire bescheid?“, überlegt Keisuke laut, und Meadow antwortet: „Sie hat sich damals in einer Klinik um die Blutspenden gekümmert. Da war es nur eine Frage der Zeit, bis sie dahinter kommt.“ Jetzt erinnert Keisuke sich endlich. Das war es! In der Klinik, von der er damals das Blut gestohlen hat, hat eine Arzthelferin gearbeitet, die nach ein paar Tagen vermisst gemeldet wurde! Er hat die Anzeige in der Zeitung gelesen. Bettina Richter... „Aber Sie sind doch noch in der selben Nacht bei der Villa am Riverside Hill aufgetaucht, um Emily und Sense abzuholen“, wirft Yuri ein. „Das ist korrekt“, gesteht Meadow; „Ich habe sofort, nachdem ich Alexa hier abgeliefert habe, den Befehl erhalten, dort hin zu fahren und sie herzubringen. Aber über den Befehl meines Herrn möchte ich lieber nicht sprechen.“ „Sind wir in Wahrheit auch deswegen hier? Um als Arbeitskräfte eingestellt zu werden?“, fragt Miho entsetzt; „Müssen wir auch diese Dienstmädchen-Uniformen tragen?“ „Nein, nein“, beruhigt Meadow sie; „Ihr seid aus anderen Gründen hier. Und was diese Outfits angeht, mein Herr hat eine Art Fetisch dafür.“ Einen Fetisch? Ist der wahre König der Vampire in Wahrheit nur ein alter Lüstling? Keisuke muss kichern. „Damit sollten eure Fragen beantwortet sein...“, nickt Meadow und will gehen, aber Shizuka sagt plötzlich: „Ich habe noch eine Frage.“ Aufmerksam schaut er sie an. „Wer ist die Frau auf dem Bild da?“ Sie deutet auf ein Porträt mit breitem, goldenen Rand an der hinteren Zimmerwand. Abgebildet ist eine junge, wunderschöne Frau, gute Figur, ein großer Busen, blutrote Haare und mit nichts anderem bekleidet als schwarzen Leinentüchern, die so platziert sind, dass sie die intimsten Zonen verdecken. Im Hintergrund sieht man dunkelblaue Wolken. „Oh mein Gott!“, ruft Keisuke; „Lure!“ Er, Miho und Yuri haben das Bild bis jetzt noch gar nicht gemerkt. Ungläubig springt Keisuke auf und geht zum Porträt, Yuri und Shizuka folgen ihm. Miho und Meadow bleiben etwas hinter ihnen und haben genau wie sie ihre Blicke auf das Gemälde gerichtet. „Sie ist es wirklich...“, flüstert Keisuke; „Lure...“ „Lure?!“, wiederholt Yuri; „Ist das nicht die blöde Kuh, die dich einmal fast vergewaltigt hat?! Und die dir später sogar angeboten hat, mit dir Sex zu haben?!“ Mit zornigem Blick und knirschenden Zähnen starrt sie auf das Bild. Keisuke nickt langsam. „Mein kleiner Bruder ist für sowas doch noch gar nicht bereit“, lächelt Miho ruhig, woraufhin sowohl Yuri als auch Shizuka Keisuke, der einen hochroten Kopf bekommt, anstarren. Warum sagt sie jetzt auch sowas?! Ein paar Sekunden betrachten alle das Porträt, ohne etwas zu sagen. Lure wurde von Lunas Pfeil erwischt und ist in den Logaly-Viola-Fluss gestürzt. Sie konnte sich zwar noch festhalten, lehnte Keisukes Angebot, ihr zu helfen, allerdings ab und akzeptierte ihr Schicksal. „Ich verstehe nicht, warum ihr Bild hier hängt...“, murmelt er. „Wirklich nicht?“ Meadow blickt ihn prüfend an: „Lure war die Lieblingstochter des Königs.“ „Was?!“, ruft Keisuke erschrocken und dreht sich um; „Sie war seine Tochter?!“ „Nicht seine leibliche“, erklärt Meadow; „Aber der König hat sie zu einem Vampir gemacht, ebenso wie mich. Wusstest du denn nicht, dass Vampire diejenigen, die sie zum Vampir machen, manchmal als ihr Kind bezeichnen?“ Keisuke schüttelt den Kopf. Aber er versteht, was der Mann meint. Es wäre ihm auch komisch vorgekommen, wenn Lure Raitos Schwester wäre. „Hat Raito dich nie 'Sohn' oder so ähnlich genannt?“, fragt Meadow lächelnd. Keisuke überlegt kurz: „Ich kann mich nicht daran erinnern...“ „Dir muss bewusst sein, dass jeder Vampir auf der Welt entweder vom König oder von seinem Sohn Raito zu dem gemacht wurde, was er nun ist. Du wurdest von Raito verwandelt. Emily, ich und Lure aber beispielsweise von seinem Vater.“ „Sie ist sehr schön“, sagt Shizuka plötzlich und betrachtet immer noch interessiert das Porträt. „In ihrer Freizeit hat sie gemodelt“, erklärt Meadow; „Der König war außer sich vor Zorn, als er von ihrem Tod gehört hat.“ Keisuke schluckt. Luna hat wirklich Glück, dass sie nicht auch hier ist. Wer weiß, was der Vampirkönig sonst mit ihr anstellen würde... „Ich muss jetzt wieder los“, sagt Meadow schließlich und geht zur Tür: „Wir haben jetzt gleich zwei Uhr. Bitte kommt um fünf Uhr in das Empfangszimmer. Ihr werdet dort den König kennenlernen. Mit ihm könnt ihr über die Sache mit dem gestorbenen Wissenschaftler sprechen.“ Er greift in die Tasche seines Anzugs und zieht vier Papierblätter heraus. Je eins teilt er an Miho, Keisuke, Yuri und Shizuka aus: „Das ist ein Plan des Schlosses, damit ihr euch nicht verlauft. Bis zu der verabredeten Zeit steht es euch frei, euch hier im Schloss umzusehen.“ Miho bedankt sich für seine Hilfe und er geht. „Wollen wir auch gehen? Wir haben einen Fernseher in unserem Zimmer“, schlägt Shizuka vor, woraufhin sie mit Yuri den Raum verlässt. Die beiden Geschwister stehen sich nun alleine in dem schönen Raum gegenüber. „Keisuke, ich wollte dir etwas sagen...“, fängt Miho traurig an, während er „Miho...“ flüstert. „Es tut mir leid!“, rufen beide wie aus einen Mund und sehen sich erstaunt an. „Ich hätte mehr Verständnis für dich haben sollen...“, gesteht sie, woraufhin er erwidert: „Und ich hätte mehr Rücksicht auf deine Situation nehmen sollen...“ Sie lächelt ihn dankbar an. Von Erleichterung gepackt umarmen die Geschwister sich wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)