Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 27: Geburtstag ---------------------- Geburtstag Es ist Freitag nachmittag, und Keisuke sieht sich vor einer großen Katastrophe. Der Eisschrank, dessen Fach einst mit viel halbwegs leckerem Blut gefüllt war, ist jetzt leer. Keine Blutkonserven mehr da. Die letzte hat er vor der Schule getrunken. Hilflos setzt er sich an den Tisch im Wohnzimmer und überlegt verzweifelt, was er jetzt machen soll. Heute würde er mit Sicherheit keins mehr brauchen, aber morgen und die Tage darauf ohne Blut auszukommen wird schwer. Hätte er doch nur Raitos Nummer! Er würde jetzt nicht zögern, ihn nach Nachschub zu fragen. Wenn er Verena versorgen konnte, dann Keisuke bestimmt auch. In Gedanken versunken bemerkt er seine Schwester gar nicht, die in Eile das Wohnzimmer betritt: „Keisuke!“ Er sieht auf. Sie trägt ihre graue Jacke und ihre Handtasche hängt ihr über die linke Schulter. In den Händen hält sie ein paar Werbeprospekte, aber es ist auch ein Briefumschlag darunter. Miho gibt ihm den Brief, worauf der junge Vampir verwirrt fragt: „Was ist das?“ Seine Schwester seufzt: „Dir ist schon klar, dass ich keinen Röntgen-Blick habe? Es steht dein Name drauf. Ich bin dann weg, ich muss arbeiten.“ Keisuke nickt. „Du weißt, falls Shya wieder auftaucht, will ich das sofort erfahren. Zögere also nicht, mich in der Praxis anzurufen, ja?“ Ihr Bruder ist einverstanden, doch er geht nicht davon aus, dass die Katze ausgerechnet in den Stunden wieder zurückkommt, in denen Miho nicht zu Hause ist. Sie verabschiedet sich und eilt aus dem Haus. Keisuke betrachtet den Brief genauer. Der Umschlag ist cremefarben, und mit den Worten „Für Keisuke“ in schwarz beschriftet. Interessiert reißt er den Umschlag auf, um sich den Inhalt anzusehen. Zuerst vermutet er, dass es sich um einen Brief seiner Großeltern handelt, denn alle paar Monate schenken sie ihm und seinen Geschwistern etwas Geld, Gutscheine und so weiter. Doch das stellt sich als Irrtum heraus: Im Briefumschlag befindet sich eine weiße Einladungskarte! Überrascht liest Keisuke sie durch: „Herr Valley, Sie haben die unglaubliche Ehre, zu meinem Geburtstag eingeladen zu sein. Die Feier findet heute Abend um 19:30 Uhr an. Die Adresse lautet: „Bernsteinstraße 49.“ Anwesenheit ist erwünscht! PS: Zieh dir was ordentliches an, und wehe du kommst zu spät!“ Was ist das denn bitte für eine Einladung? Die klingt wirklich seltsam, womöglich ist es wieder eine Falle der Cursers? Und es ist kein Absender darauf zu sehen, also um wessen Geburtstag handelt es sich überhaupt? Keisuke entscheidet, den Brief erstmal beiseite zu legen, er hat andere Probleme als irgendwelche Geburtstagsfeiern von Leuten, die nicht mal intelligent genug sind ihren Namen dazuzuschreiben. Er läuft hoch, um die Einladung in sein Zimmer zu werfen, aber noch ehe er dort ist, kommt Shizuka ihm auf der Treppe entgegen. „Ist Miho schon gegangen?“, fragt sie ihn, und er nickt. „Schade, ich wollte sie noch fragen, ob sie mir meine weiße Jeans bügelt... Was hast du da?“ Ihr Blick fällt auf das Papier in seiner Hand, und er überreicht es ihr wortlos. Nachdem sie es gelesen hat, sieht sie ihn fragend an: „Von wem kommt das?“ „Keine Ahnung, er oder sie hat auf die Namensangabe verzichtet“, sagt Keisuke zähneknirschend. Shizuka nimmt die mysteriöse Einladung mit nach unten: „Sicher, dass es nicht für Sakito ist? Es steht „Herr Valley“ darin...“ „Nein, auf dem Umschlag steht mein Name. Da war aber auch kein Absender drauf.“ Shizuka seufzt. Sie geht entspannt zum Telefon und wählt eine Nummer. „Ich frage einfach die Auskunft. Wir haben ja die Adresse.“ „Gute Idee!“, lobt Keisuke sie und setzt sich auf das Sofa. Auf seine Bitte hin schaltet sie den Lautsprecher ein, sodass er mithören kann: „Guten Tag, hier ist die örtliche Auskunftszentrale. Wie kann ich Ihnen helfen?“ Shizuka liest die Adresse vor: „Bernsteinstraße 49, Logaly. Ich möchte wissen, wer da wohnt.“ „Gedulden Sie sich bitte einen Moment...“, sagt die Frauenstimme. Ungefähr eine halbe Minute warten sie, und Keisuke platzt fast vor Aufregung. Die Stimme meldet sich wieder: „In der Bernsteinstraße 49 wohnen Abram und Mary Spider. Sonst noch etwas?“ „Nein danke“, sagt Shizuka und legt zufrieden auf. Sie wendet sich an Keisuke: „Und?“ „Also... Die beiden Personen kenne ich gar nicht... Aber wenn sie Spider mit Nachnamen heißen...“ Er schluckt. Es kann nicht wirklich wahr sein. „Was ist?“, fragt sie ihn irritiert. „Ich gehe mal davon aus, dass diese Einladung... von Samuel stammt.“ Shizukas Augen weiten sich, dann packt sie das Papier und liest es sich ein weiteres Mal durch: „Samuel? Der Typ, der... Dieser Mann? Wie kommt er dazu, dich zu seinem Geburtstag einzuladen? Seid ihr etwa Freunde?!“ Sie ist am Rande der Hysterie. Keisuke schüttelt heftig den Kopf: „Nein, nein, ganz und gar nicht! Ich hasse ihn, für das, was er gemacht hat! Er ist ein Verbündeter gegen die Cursers, aber ich bin ganz sicher NICHT mit ihm befreundet!“ „Aber warum schickt er dir dann eine Einladung?“, fragt sie deprimiert. „Ich weiß es nicht“, gibt Keisuke zu; „Aber ist schon gut, ich gehe einfach nicht hin.“ „Doch, du wirst hingehen!“, ruft Shizuka laut; „Und ich werde mitkommen!“ Keisuke schaut sie entsetzt an: „Bist du... Bist du sicher, dass du... dass du das willst? Er hat immerhin...“ „Ich weiß, was er getan hat!“, antwortet sie mit entschlossenem Blick; „Und ich werde ihn dafür zur Rede stellen!“ Keisuke seufzt. Na das kann ja heiter werden. Eine Party mit Samuel stellt er sich so schon äußerst unangenehm vor, wenn auch noch eine hasserfüllte Shizuka dabei ist, ist der Ärger vorprogrammiert. „Hast du eigentlich eine Ahnung, wo die Bernsteinstraße ist?“, fragt Keisuke, und Shizuka zuckt mit den Schultern; „Ich schaue mir gleich mal den Stadtplan an, während du im Badezimmer bist. Du lässt dir dafür, wenn ich mich danach im Badezimmer fertigmache, ein Geschenk für ihn einfallen.“ „Was?!“, ruft Keisuke bestürzt; „Du willst dem Mörder echt was schenken?“ Shizuka schüttelt den Kopf: „Nein, aber es ist blöd, ohne Geschenk bei einer Geburtstagsparty aufzutauchen.“ „Ähm, okay...“, sagt er zögerlich und wirft einen Blick auf die Uhr: „Wir haben halb fünf... Ich gehe mich schon mal duschen und so...“ „Okay! Und ich suche in der Zeit den Stadtplan. Hier im Wohnzimmer müsste er doch irgendwo in einer Schublade von einem Schrank sein, oder?“ Keisuke zuckt nur lächelnd mit den Schultern und verlässt den Raum. Fast eine Stunde später steht er vor dem Spiegel im Badezimmer und mustert sich. Frisch geduscht und fertig angezogen sieht er eigentlich ganz gut aus, findet er. Er hatte sich für ein schwarzes Hemd, eine schwarze, enge Hose und einen ebenfalls schwarzen Gürtel entschieden. Um die Bartstoppeln hat er sich mit einem Rasierer gekümmert, nur mit seinen Haaren weiß er nicht wirklich etwas anzufangen, also beschließt er, sie einfach normal zu lassen, ein bisschen verstrubbelt, aber nicht zu viel. Schließlich verlässt er den Raum und schmeißt seine schmutzigen Klamotten in einen Wäschekorb neben der Badezimmertür. Im Wohnzimmer geht er auf Shizuka zu, die voller Konzentration den Stadtplan studiert. „Bin fertig“, meldet Keisuke, und das Mädchen reagiert mit einem stummen Nicken. Er setzt sich auf den Stuhl gegenüber und fragt: „Hast du die Straße gefunden?“ „Die Straße habe ich schon lange, aber egal, wie man es auch dreht und wendet, sie ist zu weit von unserem Haus entfernt, als dass wir zu Fuß dahin gehen könnten...“ „Dann fahren wir eben mit dem Bus“, erwidert Keisuke gelassen, aber Shizuka winkt ab: „Es sind hier keine Haltestellen vermerkt, die Idee ist also auch nicht das Wahre. Ich bestelle uns ein Taxi.“ „Und wer bezahlt das?“, fragt Keisuke deprimiert. Er hat fast gar kein Geld mehr in der Tasche. Shizuka scheint ihm das anzusehen, denn sie antwortet: „Ich mach das schon.“ Dankbar lächelt er sie an. Sie hat aber auch wirklich Geld wie Heu. „Ich will dann auch mal ins Badezimmer gehen“, sagt sie und steht auf: „Du siehst übrigens gut aus, aber ist das nicht ein bisschen zu legere?“ „Warum?“ Keisuke sieht sie voller Unverständnis an. Er findet sich sehr schick. „Moment, ich weiß, was dazu passen würde“, lächelt sie und rennt schnell aus dem Wohnzimmer. Verwirrt wartet er eine Minute auf sie, und als sie zurückkommt, hält sie eine rote Krawatte in der Hand. „Woher hast du die?“, fragt Keisuke erstaunt. Shizuka fängt an zu lachen: „Aus Sakitos Kleiderschrank. Wir geben sie ihm später zurück, aber ich finde, dass sie unglaublich gut zu dir passt.“ „Ähm, danke“, sagt Keisuke, und Shizuka legt sie auf den Tisch: „Da ist noch etwas.“ Fragend schaut er sie an. Sie geht zum Holzschrank und nimmt eine Flasche Rotwein heraus. „Die habe ich zufällig gefunden, als ich nach dem Stadtplan gesucht habe. Ein perfektes Geschenk, findest du nicht?“ Keisuke mustert die Flasche interessiert. Sie ist noch verschlossen, und er fragt sich, seit wann sie da im Schrank steht. Ihm ist bisher noch kein französischer Rotwein dort aufgefallen, aber vielleicht hat Miho sie vor ein paar Tagen für ihr Dinner gekauft und ihn dann im Schrank vergessen. In dem Fall kann man die Flasche ruhig verschenken. Shizuka verschwindet im Badezimmer und Keisuke setzt sich mit der Flasche aufs Sofa. Irgendwie wirkt sie noch etwas kahl, deswegen eilt er hoch in sein Zimmer und holt eine dunkelrote Schleife aus einer Schachtel im Schrank, die er vorsichtig am Flaschenhals befestigt. Dann geht er wieder nach unten und stellt sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Jetzt sollte ich mich um die Krawatte kümmern, denkt er, und bindet sie sich vor dem Spiegel im Flur um den Hals. Weil es schon mehrere Jahre her ist, dass er das letzte Mal eine Krawatte binden musste, dauert es fast eine halbe Stunde, bis er es geschafft hat. Erleichtert atmet er auf und schaut auf die Uhr. Er hat noch mehr als eine Stunde Zeit, bevor sie das Taxi rufen sollten, deswegen setzt er sich auf das Sofa und schmeißt den Fernseher an. Er schaltet eine Weile wahllos um, bis er auf einen der öffentlichen Kanäle über etwas interessantes berichtet wird. Der Beitrag des Nachrichtensprechers lautet: „In den letzten Monaten verschwinden immer wieder Menschen in Logaly. Inzwischen gehen jeden Tag mehrere Vermisstenanzeigen bei der Polizei ein. Diese ist ratlos. Man vermutet, dass hinter den zahlreichen Fällen eine geheime Verbrecherorganisation steckt, die im Untergrund agiert. Falls es irgendwelche Informationen über diese Organisation gibt, zögern Sie, liebe Zuschauer, bitte nicht, sie der Polizei mitzuteilen. Und damit kommen wir zum Wetter.“ Das Wetter ist Keisuke egal, also schaltet er den Fernseher aus. Er ist sich ziemlich sicher, dass er weiß, warum so viele Menschen verschwinden. Das sind die Cursers, die nach und nach die gesamte Menschheit ausrotten wollen. Natürlich lassen sie die Leichen ihrer Opfer nicht einfach auf der Straße rumliegen, sondern sie verstecken sie irgendwo, oder sie vernichten sie. Keisuke seufzt. Die Polizei kann die Curser-Gesellschaft nicht aufhalten. Würde er zur Polizei gehen und alles sagen, was er weiß, würde die Existenz der Vampire vor den Menschen kein Geheimnis mehr sein, und wer weiß, was dann passiert. Womöglich gibt es dann wirklich so einen Krieg zwischen den Menschen und den Vampiren, wie in einem Spielfilm, den er vor ein paar Jahren mal gesehen hat. Allein bei der Vorstellung läuft es Keisuke kalt den Rücken runter. Er schaltet den Fernseher wieder ein und entscheidet, lieber eine Komödie anzuschauen um auf andere Gedanken zu kommen. Nach ungefähr einer Stunde kommt Shizuka aus dem Badezimmer und stellt sich vor Keisuke: „Wie sehe ich aus?“ Sie ist echt schön, fällt Keisuke auf. Zu einem blauen, ärmellosen Kleid hat trägt sie einen etwas dunkleren Schal als auch blaue Schuhe mit Absätzen. Ihre Haare hat sie hinten hochgesteckt und mit einem saphirbesetzten Haarschmuck versehen. Sie ist geschminkt, wenn auch nur leicht. „Toll!“, ruft Keisuke begeistert. Egal welche Probleme auf sie zukommen, zumindest würden sie sehr gut aussehen, wenn sie sie meistern oder an ihnen zugrunde gehen. „Ich rufe dann mal das Taxi“, lächelt Shizuka, nachdem sie die Nummer des Unternehmens aus dem Telefonbuch gefischt hat. Zehn Minuten später ist das Taxi da und fährt die beiden zum Zielort. Keisuke ist sehr aufgeregt, aber er kann Shizuka das selbe ansehen. Sie hat sich aber auch wirklich schick gemacht, für den Mörder ihrer Eltern. Er muss schmunzeln. Nach einer ungewöhnlich langen Taxifahrt steigen sie aus. Shizuka hinterlässt dem Taxifahrer ein großzügiges Trinkgeld, bevor sie gemeinsam mit Keisuke zum Haus geht. Das Haus der Spiders ist kein Haus, sondern eine Villa. Alleine der Vorgarten ist extrem groß, mit einem Springbrunnen, zwei Engelsstatuen und einen vielfältigen Blumenbeet. Die Hecke ist ordentlich gepflegt und Keisuke muss erst durch einen hölzernen Torbogen schreiten, ehe er über den Marmorboden zur Haustür gelangt. Shizuka folgt ihm und kontrolliert ihr Aussehen in der Fensterscheibe. Von außen könnte man schätzen, dass das Haus mehr als zwanzig Zimmer hat. Nervös stehen die beiden vor der weißen Haustür. „Soll ich klingeln?“, fragt der Vampir mit Herzklopfen. Shizuka nickt, und eine Sekunde später läutet Keisuke die Klingel. Schon ein paar Momente später wird die Tür geöffnet, und sie werden von einem Dienstmädchen begrüßt: „Guten Tag. Treten Sie bitte ein.“ Die beiden folgen ihr ohne etwas zu sagen. Sie befinden sich in einer großen Halle, mit schwarzen und weißen Fliesen, einer Menge Steinsäulen und allerlei sonstigem Schnickschnack. Keisuke kommt gar nicht dazu, sich umzusehen, denn das Dienstmädchen führt sie weiter durch einen Gang, an denen viele Bilder mit goldenem Rahmen an den Wänden hängen. Vor einer weißen Ebenholztür bleibt sie schließlich stehen und erklärt den beiden: „Warten Sie bitte in diesem Saal, bis das Dinner angerichtet ist.“ Dann steuert sie in die entgegengesetzte Richtung, und Keisuke geht etwas schüchtern durch die Tür, mit Shizuka im Schlepptau. Der Saal ist sehr geräumig, verfügt nicht nur über einen blutroten Teppich, sondern auch über ein kleines, dunkelrotes Sofa an einem Glastisch vor einem Kamin. Auf diesem Sofa sitzt niemand anderes als Samuel Spider, der sofort aufsteht, als er seine Gäste erblickt. „Sie!!!“, schreit Shizuka plötzlich; „Sie haben meine Eltern umgebracht!“ Mit zornig funkelnden Augen geht sie auf Samuel zu, und Keisuke macht keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Aber noch bevor sie ihn erreicht, hebt Samuel die Hand und Shizuka bleibt plötzlich stehen. Genervt führt er seine Hand zum Sofa, und wie eine willenlose Marionette folgt die bis eben noch sehr wütende Shizuka und setzt sich wortlos hin. Samuel seufzt, ehe er sich Keisuke zuwendet: „Was fällt dir ein, die da mitzubringen? Hast du noch alle Tassen im Schrank?“ „Du hast nirgendwo erwähnt, ob ich keine Begleitung dabei haben darf!“, entgegnet Keisuke sauer; „Und überhaupt, was fällt DIR ein, deine Kraft bei ihr anzuwenden? Lass sie sofort frei!“ Samuel schnaubt: „Du hast mir hier nichts zu sagen.“ Aber es ist Keisuke egal, dass er sich ihm gegenüber respektlos benimmt. Was er getan hat, ist viel schlimmer, und das wird er ihm nicht so leicht verzeihen. „Ich hätte dich nicht einladen sollen“, knurrt der blonde Vampir; „Es war ja klar, dass das nur Ärger gibt.“ „Und warum hast du es dann gemacht?“, faucht Keisuke. „Weil ich es so wollte“, antwortet plötzlich eine andere Stimme. Keisuke und Samuel drehen sich zur Tür und sehen, dass Raito wohl schon seit einiger Zeit dort steht, aber niemand ihn bemerkt hat. „Ihr solltet einmal die Gelegenheit bekommen, euch auszusprechen“, sagt er ruhig; „Ich finde es nicht gut, wenn es diese Art von Konflikten zwischen meinen Leuten gibt.“ Keisuke schweigt. Er kann seinen Standpunkt zwar verstehen, aber er wird Samuels Vergehen trotzdem nicht so einfach hinnehmen. „Hast du dein Geschenk schon überreicht?“, fragt Raito. Er trägt einen schwarzen Anzug, ebenso wie Samuel. „Erst wenn Shizuka wieder frei ist“, sagt Keisuke mit einem Blick auf das stumme Mädchen, das immer noch mit leeren Augen auf dem Sofa sitzt. „Wenn du sie dazu kriegst, sich zu beruhigen“, nörgelt Samuel und wartet, bis Keisuke bei ihr ist, ehe er die Kontrolle löst. Shizuka nickt kurz ein, aber einen Moment später wacht sie mit einem Schreck auf: „Was... Was war los?“ „Ganz ruhig...“, lächelt Keisuke. Shizuka packt sich an den Kopf: „Mir ist schwindelig...“ Er klopft ihr beruhigend auf die Schulter und steht auf, um Samuel den Wein zu überreichen. Samuel nimmt ihn an, und nickt nur, anstatt sich zu bedanken. Das findet Keisuke zwar überhaupt nicht nett, aber er hat absolut keine Lust, sich darüber nun aufzuregen. Die Tür geht auf und das Dienstmädchen kommt hinein: „Ein weiterer Gast ist eingetroffen.“ Alle schauen gespannt zur Tür, und es tritt eine junge Frau ein, die ein schwarz-weißes Kleid trägt und deren braune Haare zu einem kurzen Zopf zusammengebunden sind. Lächelnd rückt sie ihre Brille zurecht: „Guten Abend.“ „Guten Abend, Alexa“, grüßt Raito und verneigt sich leicht. Samuel nickt ihr nur zu. Keisuke hat Alexa vor kurzem schon einmal getroffen, denn ihr gehört die Lilienfeld-Bibliothek. Als sie die beiden Jugendlichen sieht, erinnert sie sich sofort: „Euch kenne ich doch auch. Wie nett, euch wiederzutreffen.“ „Gleichfalls“, sagt Keisuke und Shizuka murmelt irgendetwas vor sich hin. Währenddessen gibt Samuel dem Dienstmädchen die Rotweinflasche, damit Alexa ihr Geschenk überreichen kann: Herrenparfüm. Samuel grinst: „Was willst du mir damit sagen?“ „Dass du stinkst“, flüstern Keisuke und Shizuka gleichzeitig, werden aber gekonnt überhört. „Ich habe diese Duftnote ausgewählt, weil sie zu deinem seriösen Auftreten passt“, erklärt Frau Lilienfeld; „Es ist sehr wertvoll, französische Nonnen haben 50 Jahre gebraucht, um dieses Fläschchen herzustellen.“ Samuel übergibt das Parfüm auch an das Dienstmädchen, welche sich dann verneigt und den Saal verlässt. „Hast du sonst noch irgendwelche Gäste eingeladen?“, fragt Samuel Raito genervt. Das löst Verwirrung in Keisuke aus. „Hast du nicht die Einladungen verschickt?“, will er von Samuel wissen, aber dieser schnaubt nur. Raito übernimmt das Antworten für ihn: „Nein, ich war das. Er wollte zuerst gar nicht feiern, aber ich habe ihn überredet, den Tag nicht verstreichen zu lassen. Und nein, es kommt niemand mehr.“ Plötzlich öffnet sich ein weiteres Mal die Ebenholztür, und es kommt eine ziemlich hässliche Frau Mitte 40 ins Zimmer. Sie hat kurze, blonde Haare und trägt eine braune Baskenmütze. „Was willst du, Ruth?“, fährt Samuel sie an, aber sie antwortet nur: „Ich wohne auch hier, Bruderherz. Und ich kann hingehen, wo ich will.“ Alle Gäste schauen die neu hinzugekommene an. Samuel seufzt: „Das ist meine kleine Schwester Ruth. Beachtet sie gar nicht, sie wird gehen, wenn sie merkt, dass niemand sich für sie interessiert.“ Ruth schnaubt nur, so wie es ihr Bruder auch gerne tut. Sie ist also seine kleine Schwester? Sie sieht zwanzig Jahre älter aus als er. Keisuke fragt sich, wie alt Samuel wirklich ist. „Ich wollte mir ja nur mal deine Gäste ansehen. Wenn das alle sind, bist du ja nicht besonders beliebt. Aber das ist nichts neues, das warst du noch nie“, lacht sie, woraufhin Samuel die Blumenvase, die neben ihm auf einem Holztisch steht, wütend nach seiner Schwester wirft, die gerade noch rechtzeitig einen Schritt zur Seite geht. Die Vase zersplittert an der Wand hinter ihr, und Ruth grinst ihn höhnisch an. Langsam versteht Keisuke, warum Raito nicht viel von Samuels Familie hält. In so einem Haushalt zu leben, muss ja die Hölle sein. Das Dienstmädchen taucht plötzlich im Türrahmen auf: „Verzeiht, die Herrschaften, aber das Dinner ist angerichtet.“ Sie geht wieder, und alle folgen ihr aus dem Salon. Sie führt die Gäste in einen Speisesaal, der von einem Kronleuchter geziert wird. Am langen Esstisch stehen sieben Stühle, wovon einer schon besetzt ist. Ein alter Mann mit grauem Haar und einem Monokel sitzt am hinteren Ende und begrüßt die Gäste mit einem einfachen: „Guten Abend.“ Dieser Mann muss Samuels Vater sein. Das Dienstmädchen verschwindet in der Küche, als eine alte Frau mit blonden Haaren das Zimmer betritt und sich verneigt: „Guten Abend. Mein Name ist Mary, bitte setzen Sie sich alle, das Essen wird gleich serviert.“ „Spiel dich nicht so auf, Mutter“, gähnt Samuel und setzt sich an das andere, freie Ende des Tisches, während Alexa, Ruth und Raito in einer Reihe Platz nehmen. „Oh mein Gott!“, schreit Mary; „Wir haben einen Stuhl zu wenig! Keine Aufregung, ich werde sofort Denise veranlassen, einen herzuholen.“ Und sie eilt aus dem Speisesaal. „Mutter, die einzige die sich aufregt, bist du“, murmelt Ruth kaum hörbar. „Ihr könnt euch schon mal hinsetzen“, nickt Samuel Keisuke und Shizuka zu; „Mutter setzt sich dann selbst auf den Stuhl, den das Dienstmädchen besorgt.“ Schulterzuckend setzen die beiden sich hin, und schon ein bisschen später erscheint Denise, das Dienstmädchen mit einem Stuhl, auf dem Mary Spider Platz nimmt. „Nun gut, fangen wir mit einem Toast an“, sagt sie, und weißt das Dienstmädchen unauffällig an, Getränke einzuschütten. „Möchte jemand Wein?“, fragt sie. „Ja, ich bitte“, sagt Mary, und ihre Tochter Ruth möchte auch welchen haben. Das Dienstmädchen schüttet ihnen den Wein ein, den Keisuke und Shizuka heute als Geschenk überreicht haben. „Ich auch!“, ruft Samuels Vater, aber Mary sagt sofort: „Auf keinen Fall, du hast ein schwaches Herz.“ „Tu ihm doch den Gefallen“, grinst Ruth heimtückisch, aber Mary verneint. „Wie sieht es mit Ihnen aus, Alexa? Rotwein?“ Sie schüttelt den Kopf: „Ich muss gleich noch fahren.“ Den Vampiren wird Blut ausgeschenkt, was Keisuke ein bisschen seltsam findet, aber er ist zufrieden damit. Shizuka und Samuels Vater bekommen dagegen Orangensaft. „Lasst uns anstoßen!“, sagt Mary fröhlich; „Auf meinen Sohn Samuel, der heute Geburtstag hat. Wie alt er genau wird, darauf wollen wir nicht näher eingehen, aber wir freuen uns, ein weiteres Jahr mit ihm gemeinsam erleben zu können.“ „Möge es das letzte sein“, flüstert Ruth und alle sehen sie an. „Was denn, versteht ihr keinen Spaß?“, blafft sie in die Runde. Nachdem alle miteinander angestoßen haben trinkt Keisuke einen Schluck und merkt, wie gut es ihm tut. Scheinbar ist es jetzt Zeit für Smalltalk, denn Mary fragt Alexa danach, wie es in ihrer Bibliothek so läuft. Sie antwortet: „Ganz gut. Ich würde das Haus gerne um ein weiteres Stockwerk erweitern, aber dann besteht die Gefahr, dass es einstürzt. Es ist eben schon ein sehr altes Gebäude.“ Keisuke würde sich auch gerne unterhalten, hat aber keine Ahnung, was er sagen soll. Alle sind hier so vornehm und elegant, und achten auf die Einhaltung der Benimmregeln und diese ganzen Sachen. Er entscheidet sich, einfach mit Raito zu reden: „Ähm, Raito, ich wollte dich etwas fragen.“ Die beiden Vampire schauen sich an: „Ja?“ „Ähm, ich habe keine Blutkonserven mehr. Kannst du mir vielleicht welche geben...?“ Er hofft inständig, dass Raito nicht nein sagt. Aber noch bevor Raito zum Antworten kommt, schnaubt Samuel: „Du ernährst dich echt von Konserven? Wie jämmerlich.“ Keisuke sieht ihn sauer an, mit ihm hat er nämlich nicht geredet. „Das ist gar nicht jämmerlich, du Blödmann!“, fährt Shizuka ihn an; „Es ist besser, als rumzulaufen und Menschen auszusaugen!“ Samuel lacht: „Was verstehst du schon davon? Es liegt in der Natur der Vampire, anderen Wesen das Blut zu entziehen. Wenn wir das nicht machen, können wir nicht überleben. Frag doch Raito.“ Nach dieser Bemerkung schauen alle zu Raito, der sich kurz räuspert und sagt: „Jeder sollte selbst entscheiden, wie er sich ernähren will. Es gibt viele Vampire, die versuchen, den Menschen nicht zu schaden, aber lasst euch auch gesagt sein, dass man Menschen nicht umbringen muss, um etwas von ihren Blut zu bekommen.“ „Das ist schon klar“, sagt Samuel, aber Shizuka wirft ein: „Das ist DIR überhaupt nicht klar, du Mörder!!!“ Plötzlich ist alles still. „Du hast meine Eltern getötet, obwohl sie dir gar nichts getan haben! Du bist so ein Monster, ich hasse dich!!!“, schreit sie und steht auf. Mary sagt schneidend: „Samuel, ich sagte dir schon so oft, dass du niemanden töten sollst. Das wirft ein schlechtes Licht auf die Familie und das Unternehmen deines Vaters.“ „Wen interessiert denn das?!“, schreien Shizuka und Samuel gleichzeitig. „Bitte etwas leiser“, stöhnt Samuels Vater, aber Ruth ruft dazwischen: „Sei ruhig, Papa, jetzt wird es doch erst spannend!“ „Findest du das allen ernstes lustig?!“, fragt Keisuke sie entsetzt. Auf ihr höhnisches Lachen antwortet er nur: „Giftspritze!“ Shizuka schreit währenddessen Samuel weiter an: „Du hast es nicht mal für nötig befunden, dich zu entschuldigen! Du bereust es kein Stück! Ich wünschte, du würdest auch sterben!“ Samuel lacht nur: „So schnell sterbe ich nicht!“ Nun mischt sich Ruth wieder ein: „Tja, darüber könnte man streiten, aber es ist ja wohl offensichtlich, wer Vaters Unternehmen weiterführen wird. Der Mörder ganz sicher nicht!“ Sie lacht und Samuel schaut sie böse an. „Ruth, das Thema wollten wir heute nicht anschneiden!“, ermahnt ihre Mutter sie, aber Shizuka brüllt: „ES GEHT HIER UM DEN TOD MEINER ELTERN!!!“ Ruth lacht nur: „Nein, du blödes Gör, es geht um Geld, wie bei allem anderen in Leben auch!“ Samuel blafft sie an: „Nicht jeder ist so eine geldgierige Ziege wie du!“ Daraufhin wirft Ruth ihr Weinglas, aus dem sie noch keinen Schluck getrunken hat, Samuel entgegen, aber dieser duckt sich noch rechtzeitig, und das Glas verwandelt sich in ein Häufchen Scherben auf dem Boden. „Was machst du da?!“, schreit Mary entsetzt; „Diese Gläser sind über 100 Jahre alt!“ „Du hast auch nichts besseres zu tun, als Vaters gesamtes Vermögen für so einen Müll rauszuschmeißen, oder?“, faucht Ruth. Die Tür geht auf und das Dienstmädchen Denise kommt herein: „Wollen Sie, dass ich die Vorspeise serviere?“, fragt sie höflich, aber Samuel, Mary, Shizuka und Ruth rufen gleichzeitig: „Verschwinde!!!“, woraufhin sie ängstlich von dannen zieht. „Wofür ich unser Geld ausgebe, geht dich nichts an, du kleines Miststück!“, brüllt Mary ihre Tochter Ruth an, aber diese schnaubt: „Wir wissen doch sowieso alle, dass du Vater nur wegen seines Einkommens geheiratet hast!“ „Aber nein, sie liebt mich!“, ruft ihr Vater kleinlaut, aber Mary gibt wutentbrannt zurück: „Was soll man an diesem Spießer denn sonst auch mögen?! Seine Warzen vielleicht?!“ Alexa steht auf: „Ich werde mal auf die Toilette gehen.“ Schleunigst bewegt sie sich aus dem Saal, denn auch ihr wirft jemand ein Weinglas hinterher. „Verstehst du jetzt, warum ich meine Geburtstage nie feiere?!“, schreit Samuel Raito an: „Weil sie jedes mal so laufen! Aber du wolltest ja nicht hören!“ „Hey, lass Raito in Ruhe, er wollte dir nur etwas Gutes tun!“, verteidigt Keisuke ihn. „Misch du dich nicht ein, du Nervensäge!“, entgegnet Samuel sauer, woraufhin Shizuka ruft: „Wie hast du Keisuke genannt?“ Raito seufzt, und eine Sekunde später folgt ein Schrei. Alle drehen sich zu Ruth, die am Boden hockt und über ihre Mutter gebeugt ist, die sich schwer atmend an den Hals fasst. „Schnell!!!“, schreit Ruth; „Ihr müsst einen Krankenwagen rufen!!!“ Samuel steht auf und rennt zu ihr, während Raito den Raum schnell verlässt und zum Telefon läuft. „Was ist passiert?“, fragt Shizuka ängstlich. „Sie bekommt keine Luft!“, ruft Samuel verzweifelt, Mary läuft langsam blau an. Verdammt, nie ist Luna da, wenn man sie braucht, denkt Keisuke. Eine Stunde später sitzen Keisuke, Raito, Ruth, Samuels Vater Abram, Shizuka und Alexa um das Bett, in dem Mary bewusstlos liegt, herum. Sie befinden sich im Krankenhaus. „Zum Glück hat sie überlebt...“, seufzt Raito, und alle nicken. Die Tür geht auf und Samuel kommt mit wütender Mine herein. Er hat gerade mit den Ärzten gesprochen. „Was ist passiert?“, fragt Raito sofort. Samuel knurrt: „Ihre Lungen wurden durch Gift gelähmt. Der Wein war vergiftet. Irgendwer hat versucht, sie zu töten!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)