Cruel Nature von Rhyo ================================================================================ Kapitel 18: Schüsse am Brunnen ------------------------------ Schüsse am Brunnen Es klingelt, und Miho öffnet die Tür. Ihre Haare sind hochgesteckt, ein langes, weißes Kleid mit hellblauem Innenrand ziert ihren Körper, und sie trägt ein charmantes, nicht zu direktes Parfüm. In der Tat sieht sie aus, als würde sie auf einen Ball gehen wollen, dabei hat sie nur ein Date. Stephan begrüßt sie mit großen Augen: „Wow, Miho, du bist umwerfend!“ Er selbst trägt ein weißes Hemd zu einem schwarzen Anzug, aber keine Krawatte. Keisuke und Shizuka sehen den beiden noch nach, wie sie in sein Auto steigen und wegfahren. Luna, die immer wieder von Sakito angemacht wurde, aber ihn stets abgelehnt hat, war schließlich so genervt dass sie auch gefahren ist. Keisuke hat eben noch etwas Blut aus einer Konserve getrunken, damit ihm so etwas wie bei Yuri nicht schon wieder passiert. Aber seine Vorräte neigen sich auch dem Ende zu, also würde er Verena bald fragen müssen, ob sie ihm wieder etwas geben könnte. Er verabschiedet sich von der verwirrten Shizuka und macht sich auf den Weg zum Park. Auf den Straßen begegnet er kaum Menschen, dabei ist es noch gar nicht so spät. Gerade mal neun Uhr durch... Keisuke merkt, dass er wahrscheinlich etwas zu spät kommt. Er biegt ab und geht eine Treppe aus Stein hinunter, und nach ein paar Minuten ist er auch schon im grünen Park von Logaly angelangt. Nachts hierhin zu gehen ist eigentlich nie eine gute Idee, fällt Keisuke spontan ein. Hier wurden schon ab und zu Passanten überfallen. Er sieht sich um, kann aber bis auf einen älteren Mann, der einen Hund an der Leine führt, niemanden entdecken. Im Park gibt es eine Abkürzung durch das Gebüsch, wenn man zum Brunnen will. Keisuke huscht durch das Gestrüpp und kann den Brunnen schon sehen. Eine Person lehnt an ihm, deren Gesicht aber durch eine Kapuze verhüllt ist. Langsam geht Keisuke auf die Person zu. Er ahnt schon böses. „Raito...?“, fragt er zurückhaltend. Die Person nimmt die schwarze Kapuze runter und es kommt Raitos blau schimmerndes Haar zum Vorschein. Keisuke ist erleichtert. „Setz dich doch“, sagt Raito und deutet auf den Brunnen. Der Springbrunnen ist nur tagsüber aktiviert, also kann man nachts eigentlich auf dem breiten Rand aus Marmor Platz nehmen. Zu Keisukes Überraschung ist er nicht nass. Raito setzt sich ebenfalls hin, und sieht Keisuke ruhig an, ohne ihm einen Vorwurf zu machen, weil er zu spät ist. „Hallo...“, sagt Keisuke etwas schüchtern. Es ist das erste Mal, dass er alleine mit Raito ist, seit dem Tag, an dem er zum Vampir wurde. Zumindest wenn man das Ereignis in Desmonds Keller außer Acht lässt, indem sich noch fünf andere Personen befanden, die allerdings alle bewusstlos waren. Raito nickt und lächelt ihn an: „Gut, dass du gekommen bist.“ „Ich wollte unbedingt kommen“, sagt Keisuke; „Ihr meldet euch ja nicht mehr bei mir.“ Er versucht, seinen Gegenüber vorwurfsvoll anzusehen, schafft es aber nicht. „Du willst also wissen, welche Informationen wir bekommen haben?“ Keisuke nickt: „Ich finde, ich habe ein Recht das zu erfahren.“ „Also gut“, er räuspert sich; „Erstens hat Lure uns alle Fähigkeiten aufgezählt, die Emily hat.“ Keisuke erinnert sich an Emily, der Königin der Cursers. Sie hat die ekelhafte Fähigkeit, anderen Vampiren ihrer Kraft zu berauben. Keisuke hat durch sie seine Fähigkeit verloren, bevor er sie auch nur einmal anwenden konnte. „Das hätte dir Verena bestimmt auch sagen können, dafür brauchst du Lure doch nicht“, kritisiert Keisuke. „Verena kann auch nicht alles sehen“, antwortet Raito kurz; „Und wahrscheinlich kennt Lure auch nicht sämtliche Fähigkeiten von Emily, aber die meisten wissen wir jetzt. Auch hat Lure uns Emilys Aufenthaltsort bestätigt, aber den wird sie mittlerweile wieder gewechselt haben.“ „Was hat das gebracht?“, will der Jüngere wissen. „Wir halten sie auf Trab, zwingen sie, sich neu zu organisieren. Dann können wir am besten angreifen.“ Plötzlich raschelt etwas im Gebüsch, und es treten drei Männer heraus. Der Vordere, ist ein großer Mann mit schwarzen Haaren und kalten Augen. Neben einer grauen, mit Nieten besetzten Jacke trägt er ein langes, schwarzes Gewehr in seinen Händen. „Epheral Locover...“, bringt Keisuke leise hervor. Die beiden Typen hinter ihm tragen Sonnenbrillen und dunkle Mäntel. „Vampirjäger... Ihr musstet hier ja auftauchen“, sagt Raito in normaler Lautstärke. Es kann doch nicht sein, dass dieser Epheral, der Präsident der Provitas, jetzt hier auftaucht? Aber zugegeben, jetzt passt es Keisuke besser als zu einer anderen Zeit, denn jetzt ist Raito an seiner Seite. Da muss er sich ja keine Sorgen machen. Auf einmal richten alle drei Männer ihre Schusswaffen auf die beiden Vampire. „Ihr sitzt in der Falle“, lacht Epheral; „Endlich habe ich den berühmten Raito Umi gefunden und kann ihn zur Strecke bringen. Und mit dir muss ich auch noch abrechnen!“ Er schaut Keisuke wütend an. „Du hättest mich aber seit damals die ganze Zeit töten können... Warum ausgerechnet jetzt?“ Epheral fasst sich mit der Hand an die Stirn: „Ihr Vampire seid echt dumm... Ich habe dich gebraucht, damit du mich zu den anderen Vampiren führst. Speziell zu ihm. Ich habe euer Telefon abgehört, und als du dich mit ihm verabredet hast, habe ich beschlossen, sofort zur Stelle zu sein... Das kann ich doch nicht an mir vorbeigehen lassen!“ So ein Mist, denkt Keisuke, warum hat Verena das nicht Kommen sehen, als sie ihm die Telefonnummer gab? Wenn Raito jetzt wegen ihm sterben muss, würde er sich das nie verzeihen. Er würde auch nicht mehr viel Zeit dafür haben. Raito scheint Keisukes Angst zu spüren, denn er hält seine Hand schützend vor ihn. „Naja, mir egal was ihr tut. Swift, Klaus, macht die beiden kalt!“ Die komischen, großen Männer hinter Epheral treten plötzlich vor ihn und fangen an, zu schießen. Keisuke spürt, wie er von Raito gepackt und hinter dem Brunnen geworfen wird, wo er Deckung hat. „Bleib da!“, ruft der Vampir, und Keisuke versucht zu sehen, was passiert. Der Gegner schießt mit seiner Handfeuerwaffe immer weiter auf Raito, aber Raito faltet schnell die Hände zusammen, wie als wolle er beten, und ein schattenartiger, großer Vogel taucht auf, der ihm seine Waffe wegnimmt und davonträgt. „Was soll das?!“, ruft der Mann zornig. Epheral steht nur stumm dahinter und schaut zu, während der dritte irgendwie verschwunden zu sein scheint. Jetzt macht Raito einen großen Sprung nach vorne, und gibt dem Fremden einen kräftigen Tritt, der daraufhin ein paar Meter weit wegfliegt. Epheral schaut ihm nach, verzieht aber keine Miene: „Das hast du ja gut hingekriegt. Und wie sieht's mit dem Kleinen aus?“ Für einen ganz kurzen Moment bleibt Raito wie angewurzelt stehen. Dann dreht er sich blitzschnell zu Keisuke um. Zu ihm? Warum zu ihm? Plötzlich merkt er, dass jemand hinter ihm steht, und springt gerade noch rechtzeitig zur Seite. Ein paar Schüsse fallen auf den Brunnen und reißen Löcher in den Marmor. Keisuke fühlt sich, als wäre sein Herz stehen geblieben. Der andere Fremde hat seine Waffe direkt auf ihn gerichtet, und Keisuke sieht sein fettes Grinsen: „Fahr zur Hölle, du Ratte!“, ruft er, und will gerade abdrücken, da erschlafft sein Körper. Keisuke traut seinen Augen nicht. Ein stählerner, blutgetränkter Dolch ragt dem Mann aus dem Bauch. Hustend fällt er zu Boden und bleibt liegen. Raito steht hinter ihm und sieht ihn hasserfüllt an. „Swift!!!“, schreit Epheral, und rennt zu ihnen. Raito bückt sich und zieht das Messer aus Swifts Körper heraus. „Du hast ihn umgebracht, du Monster!“, faucht Epheral zornig. Keisuke wirft einen Blick auf seinen toten Körper. Er hat noch nie eine Leiche gesehen, geschweige denn, wie jemand stirbt. War das richtig, ihn direkt umzubringen? Keisukes Mitleid hält sich in Grenzen, aber trotzdem... War es wirklich nötig, so weit zu gehen? Raito hält Epheral jetzt seinen Dolch entgegen, aus dem immer noch Blut tropft. „Wer auch immer versucht, Keisuke zu töten... Wird von mir ohne Rücksicht vernichtet!“ Der Ausdruck in Raitos verkörpert eine Mischung aus Hass, Zorn und Leidenschaft. Bewundernd schaut Keisuke ihn an. Dass er ohne zu Zögern sogar einen Menschen tötet, wenn es darum geht, ihm zu helfen, macht Keisuke total sprachlos. Auf ihn kann man sich verlassen, denkt er, und schaut etwas mitleidig auf den toten Mann am Boden. Epheral richtet jetzt auch sein braunes Gewehr mit silbernem Lauf auf Raito. Eine ganze Weile stehen sie nur da, ohne das etwas passiert. Keisuke, der sich immer noch hinter dem Brunnen versteckt, will einfach nur, dass dieser ganze Horror schnell aufhört. Es ist seine Schuld, dass es so weit gekommen ist, immerhin war er so naiv und hat sich von den Vampirjägern verfolgen lassen. „Ich werde dich nicht dazu kommen lassen, deine Kraft einzusetzen“, sagt Epheral, ohne den Blick von Raito abzulassen. Im nächsten Moment duckt Raito sich schnell nach unten, und eine Kugel von Epherals Gewehr geht ins Leere, Raito springt mit dem Dolch auf Epheral zu, aber dieser kann die Messerattacke problemlos mit seinem Gewehr parieren. Das Geräusch, wie Metall aufeinander schlägt, ist noch einige Male zu hören. Dann läuft Raito ein paar Meter rückwärts, und gerade als Epheral die Gelegenheit nutzen und ihn erschießen will, wirft Raito ihm seinen Dolch entgegen, sodass er zum Ausweichen gezwungen ist. Jetzt richtet der Vampirjäger wieder entspannt sein Gewehr auf Raito: „Dumm von dir, dass du deine Waffe weggeworfen hast. Weißt du, dass in meinem Gewehr mit Weihwasser getränkte Silbermunition ist? Wenn ich einen Vampir damit treffe, kann er sich nicht mehr bewegen. Probieren wir es doch aus!“ Und mit diesen Worten jagt Epheral Raito eine Kugel in den Körper, aber da dieser vorher noch versuchte, zur Seite auszuweichen, trifft sie ihm nur im Arm. Raito fällt zu Boden, und hält sich den Arm unter Schmerzen fest. „Raito!“, ruft Keisuke voller Angst. „Bleib... da!“, knurrt Raito, und Keisuke gehorcht. Was soll er jetzt nur machen? Wenn er nichts unternimmt, wird Raito getötet! Aber er kann jetzt nicht da sitzen bleiben und zuschauen, er muss etwas tun, und zwar sofort. Ohne überhaupt zu wissen, was er vorhat, steht Keisuke auf. Epheral hat seine Waffe immer noch auf Raito gerichtet, er scheint Keisuke wohl nicht für gefährlich zu halten. „Bitte...“, fängt der junge Vampir an; „Du darfst ihn nicht töten! Er ist... nicht böse!“ Epheral schnaubt nur: „Ihr seid alle böse, ihr Kreaturen der Nacht. Kleiner, warte bis du dran bist. Erstmal wird der Prinz beseitigt.“ Prinz? Plötzlich ist ein lautes Geräusch zu hören, wie von einem Tier. Epheral sieht nach oben, und der schattenartige, große Vogel stürzt sich auf ihn – mit Raitos Dolch in den Krallen. „Nein!“, ruft Epheral erschrocken, aber der Vogel rammt ihm den blutbefleckten Dolch direkt in die Brust, woraufhin er zu Boden fällt und sich nicht mehr bewegt. Raito, dessen Wunde immer noch sehr schlimm blutet, versucht, sich zu erheben, und Keisuke geht ein paar Schritte auf ihn zu. Er hat das Bedürfnis zu fragen: „Alles okay?“ Natürlich ist es aber offensichtlich, dass es nicht so ist. Raito atmet schwer. Keisuke hört Sirenen, die immer näher kommen. „Oh nein! Hat irgendwer die Polizei gerufen?!“, fragt er ängstlich. Raito versucht, ihn zu beruhigen: „Die kommen hier mit den Autos nicht rein. Aber wir müssen in jedem Fall schnell weg. Keisuke versucht, Raito zu stützen, schafft es aber nicht lange, denn er ist zu schwer für ihn. Besser gesagt ist Keisuke zu schwach für ihn. „Geht schon“, sagt Raito und läuft, so schnell es eben geht, durch den Park, bis sie am Westausgang sind. „Die Polizei wird doch gleich auch hier sein?“, vermutet Keisuke. Plötzlich biegt ein schwarzer Wagen um die Ecke und fährt in schnellen Tempo auf die beiden Vampire zu, um dann einen Meter vor ihnen anzuhalten. Die Tür geht auf, und Keisuke sieht, dass Samuel der Fahrer ist. Er! Er, der Shizukas Eltern ermordet hat! Warum ausgerechnet dieser Mistkerl?! Raito bemerkt, dass Keisuke Samuel voller Groll ansieht und schiebt ihn etwas zurück: „Steig hinten ein!“ Raito setzt sich nach vorne, auf den Beifahrersitz, und Keisuke nimmt hinten Platz, neben Verena, die auch im Wagen ist. „Hallo“, sagt sie müde. „Wie schnell?“, fragt Samuel und schaut in den Rückspiegel. „Sechzig wird reichen...“, antwortet Verena und der Wagen fährt los, noch ehe Keisuke angeschnallt ist. Eine Weile sagt niemand was. Dann entscheidet sich Keisuke, die Stille zu brechen und fragt: „Wo fahren wir hin?“ „Zu uns nach Hause“, sagt Verena lächelnd; „Du bleibst auch erstmal bei uns.“ Keisuke nickt. Er weiß nicht, was er sagen soll. Es gibt schon wieder einige Sachen, die er Raito oder Verena fragen möchte, aber es ist ihm stark unangenehm, wenn Samuel dabei ist. „Was macht die Wunde?“, fragt der blonde Vampir. „Geht schon... Aber ich kann den Arm nicht bewegen“, seufzt Raito. Keisuke bemerkt, dass Raito immer noch blutet. „Habt ihr kein Verbandszeug im Auto?“, fragt er zurückhaltend. „Doch, aber warum sollten wir das rausholen? Wir sind doch gleich da“, antwortet Verena; „Außerdem sind Raitos Regenerationskräfte groß genug, dass die Wunde schon verschwinden wird, wenn erstmal die Kugel draußen ist.“ Von der Kugel weiß sie also auch. Keisuke beneidet Verena ein bisschen um ihre Fähigkeit. Der Wagen hält. „Wir sind da“, sagt Samuel und steigt aus. Alle anderen tun es ihm gleich. Die Vampire stehen vor einem normalen, weißem Haus, umgeben von Wald. Sie gehen den gepflasterten Weg entlang zur Haustür aus Glas. „Hier wohnt ihr also?“, flüstert Keisuke zu Verena und diese nickt. Raito kramt einen Schlüssel aus seiner Jackentasche und lässt die anderen damit rein. „Erstmal Raitos Wunde versorgen. Wir müssen die Kugel rausholen. Kommt mit in sein Zimmer“, erklärt Verena. Keisuke wagt nicht, zu widersprechen und geht die morsche Holztreppe hoch. Er folgt den anderen durch den finsteren, und nicht sehr sauberen Flur in einen großen Raum mit dunkelrotem Teppich. Hier und da findet man Spinnweben und umgestoßene Flaschen und Gläser. Raitos und Verenas Heim ist nicht so majestätisch und schön, wie Keisuke es sich vorgestellt hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)