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Die Legende von Àr’yûn’nàn dê Y’êrún’gâ

von

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Eine tödliche Gefahr

Das Grauen kam in der Nacht.

Dunkle Wolken verschluckten jeden Lichtschein, nur die Lampen vereinzelter Wanderer erhellten die Straßen der Hauptstadt. Ein Kater warb in einem Hinterhof jaulend um die Gunst einer Katzendame.

Als die klappernden Hufe eines Pferdes auf dem Kopfsteinpflaster erklangen, verstummte er. Etwas rückte näher. Die Ohren angelegt, die Krallen ausgefahren kroch der Kater unter eine Kiste mit Lumpen, in der Hoffnung, der nahende Reiter würde ihn nicht entdecken. Oder das, was er mit sich brachte.

Wie ein dichter Mantel fiel Stille über die Orte, die der Reiter kreuzte. Geruch, den letzten Lichtschimmer, selbst den Wind nahm er mit sich. Nur schwarze Leere blieb zurück.

Das Ziel des Fremden war der Palast. Dicke Steinmauern umgaben das Gebäude, dessen Türme wie mahnende Finger in den Himmel ragten.

Den Wachen vor dem Tor blieb nur ein leiser Schrei. Dann erstickte die Dunkelheit auch sie.

Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern preschte der Reiter auf das Haupthaus zu. Mühelos überwand sein Pferd die Stufe. Vier Wachen mit Lanzen standen vor der Eingangstür. Als sie den Reiter sahen, streckten sie ihm die Waffen abwehrend entgegen.

„Halt! Was habt Ihr …“

Sie schaffte es nicht, zu Ende zu sprechen. Die schwarze Gestalt auf dem Pferd hob eine Hand. Ein rotes Leuchten umgab den Fremden. Er streckte den Arm aus, und mit einer Bewegung fand das Feuer seinen Weg.

Die Wachen schrieen auf, als die glühenden Kugeln ihre Körper einhüllten und verbrannten. Nur ein wenig Asche und eine kleine Rauchwolke berichteten noch von ihrem Dasein. Auch dies verschwand in der Finsternis, die der Reiter brachte.

Er riss an den Zügel, und sein Pferd stieg auf. Mit den Vorderhufen stieß es gegen die Doppeltür, die krachend aufflog. Das laute Klappern wurde gedämpfter, als der Fremde sein Pferd auf den weichen Teppich des Hauses führte.

Kerzen erhellten den mit Holz vertäfelten Gang. Bilder von Landschaften aus dem ganzen Königreich schmückten die Wände. Der Fremde grinste gierig, als er daran vorbei ritt. Die Berge im hohen Norden, wo große Gold- und Kupfervorkommen schlummerten, die fruchtbaren Ebenen, die sich zu ihren Füßen erstreckten, und dann noch die Häfen im Westen, die durch lebhaften Handel mit anderen Ländern großen Reichtum erlangt hatten. Der Reiter ballte die Faust. All das würde bald ihm gehören.

Angetrieben von einer grimmigen Begeisterung stieß er seinem Pferd die Hacken in die Seite. Mit seiner Magie und seinem uralten Wissen gehörte das Land in Kürze ihm.

Die Tür zersplitterte unter seiner Macht als wäre sie aus Pressholz und nicht aus fester Eiche. Sein Blick fiel auf das breite Bett. Ein aufgeschreckter, dicker, kleiner Mann lag darin. Der König gab ein armseliges Bild ab: Die Laken hatten sich um seine Hände gewickelt, seine Beine dagegen waren nackt und schauten weiß unter der Decke hervor. Mit großen Augen starrte er den Reiter in seinem Zimmer an.

„Wer seid Ihr? Und was wollt Ihr?“ Seine Stimme bebte.

Der Fremde lachte kehlig auf. „Mein Name tut nichts zur Sache.“ Seine Worte klangen wie das Grollen einer nahen Steinlawine. „Und ich will den Thron.“

Das Gesicht des Königs veränderte sich. Aufregung und Schrecken wichen daraus. „Oh. Ach so. Ihr seid ein Böser.“

Diese Feststellung verwunderte den Reiter. Hinter ihm türmte sich die Dunkelheit auf, unter den Hufen seins Pferdes krochen sie über den Boden.

„Habt Ihr einen Antrag ausgefüllt?“ Der König seufzte, erhob sich aus seinem Bett und angelte nach einem roten Seidenmantel. Nachdem er den Gürtel über seinem runden Bauch verknotet hatte, steckte er die Daumen hinein.

Auf das Schweigen des Fremden hin seufzte er abermals und erklärte: „Na, einen Bösen-Antrag. Ihr wisst schon. Antrag auf Übernahme des Königreiches.“

Er verdrehte die Augen. „Das ist alles geregelt.“

Während er sprach, ging er zu einem Schreibtisch in der Ecke des Raumes und öffnete eine Schublade. „Wer das Königreich übernehmen will, muss einen Antrag stellen. Das ist alles festgeschrieben in dem Guten-Bösen-Vertrag von 1276 …“

Der Reiter überlegte. „Kann ich den Antrag jetzt auch noch ausfüllen? Ich wusste nicht, dass es vonnöten ist.“

„Aber sicher.“ Der König kramte in der Schublade herum, bis er zwei Stapel Papier zu Tage förderte. „Mit oder ohne Option auf Weltherrschaft?“

„Äh, mit, bitte.“

„In Ordnung.“ Der König legte den etwas kleineren Stapel wieder zurück in die Schublade. „Es tut mir Leid, das ist wirklich eine Menge Papierkram, aber es garantiert den reibungslosen Ablauf dieser Sache.“

Der schwarze Reiter stieg von seinem Pferd ab. Seine Kutte verbarg seine Gestalt fast völlig, nur zwei leuchtend rote Augen schienen wie Kristalle in der Dunkelheit zu schweben. „Ablauf? Wie geht das denn vor sich?“, fragte er.

„Nun“, der König bot ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch an, auf dem der Fremde dankend Platz nahm, „Ihr füllt diese Formulare aus. Dann wird der Antrag auf Zulässigkeit geprüft. Ist er zulässig, dürft Ihr mit der Übernahme beginnen, wenn nicht, ist es eben abgelehnt. Ihr dürft es allerdings gerne noch mal versuchen, drei Mal ist das Maximum und erst ein Jahr nach dem ersten Antrag wieder.“

Der König beugt sich vor, um in die beiden glühenden Augen zu blicken. „Ihr ward nicht schon einmal hier, richtig?“

Der Böse schüttelte den Kopf. Er streckte eine weiße, knochige Hand aus. „Habt Ihr vielleicht einen Stift?“

Der König reichte ihm Tintenfass und Feder. „Wenn es Euch nichts ausmacht, benachrichtige ich schon einmal die Heldentruppe. Es gibt da einiges zu tun, und ich habe das lieber früher als später hinter mir.“

Während der dunkle Reiter durch die Papiere blätterte, rief der König: „Gustalf!“

Ein leichter Windhauch ließ die Vorhänge erbeben. Als der Böse von seinem Papier aufsah, stand eine weiß gekleidete Gestalt im Raum. Der lange Bart reichte fast bis auf den Boden, die glänzende Robe bildete einen starken Gegensatz zu der Dunkelheit, die den schwarzen Reiter umgab.

„Du könntest dich auch wieder mal rasieren“, bemerkte der König, doch erntete von seinem Diener daraufhin nur einen bösen Blick. „Gustalf, es gibt Arbeit. Such mir einen Helden, ach ja, und ich denke, wir werden eine neue Prophezeiung brauchen. Nimm einfach einen Standardtext, du weißt schon, ‚Wenn Dunkelheit über das Land fällt, wird eines Tages einer kommen …’ und so weiter.“

Er wandte sich kurz dem Reiter zu. „Wie war Euer Name noch mal?“

Die schwarze Gestalt hob ihren Kopf, so weit man das unter der Kapuze ausmachen konnte.

„Oh, ich war mir noch nicht sicher. Ich hatte in die Richtung von „Herr der Finsternis“ gedacht. Vielleicht auch „König des Schreckens“. Was meint ihr?“

Der dickliche Mann lächelte gequält. „Etwas abgedroschen, nicht? Habt ihr vielleicht irgendwelche besonderen Fähigkeiten, die man einbringen könnte?“

Der Böse zeigte auf die Dunkelheit, die sich an der Tür aufstaute. Immer wieder schwappte etwas davon wie eine Welle in den Raum, zog sich dann aber wieder zurück.

„Ich beherrsche die Finsternis.“

Der König gab einen resignierten Laut von sich und zuckte mit den Schultern. „Sieh, was du draus machen kannst, Gustalf.“

Der Bärtige nickte. Aus dem Nichts tauchte ein langer Holzstab in seiner Hand auf. Er vollführte eine Kreisbewegung mit der Spitze. Ein Lufthauch brachte die Gardinen abermals in Bewegung, dann war er verschwunden.

Der Böse schaute ihm kurz hinterher. Dann wandte er sich an den König: „Und was soll ich hier nun bei „Name“ und „Titel“ hinschreiben?“
 

Dichter Nebel raubte den Sonnenstrahlen jegliche Kraft. Das fahle Licht ließ die Welt farblos und trist erscheinen. Der junge Mann, fast noch ein Knabe, trat aus der Hütte. Sein fünfzehnter Geburtstag begann schlecht. Seine Ziehmutter, eine unausstehliche Frau, die ihn stets schikanierte, hatte ihn zur Quelle geschickt, um Wasser zu holen. Eigentlich war das eine Frauenarbeit, aber es machte dem Jungen nichts aus. Einerseits lag das an seinem sanftmütigen, geduldigen Charakter, allerdings bewies der Junge in angebrachten Situationen aber auch Verstand und Mut. Auf der anderen Seite konnte er so dem Haus für eine Weile entkommen.

Sein Ziehvater hatte ihn vor nunmehr fast fünfzehn Jahren in einer Decke bei Sturm und Regen vor seiner Schwelle gefunden. Der Junge wusste also sein genaues Geburtsdatum nicht, aber etwas sagte ihm, dass er an diesem Tag Geburtstag haben sollte.

Seit fast fünfzehn Jahren dauerte sein Martyrium nun schon an. Seine Zieheltern schlugen ihn, zwangen ihn zu den schlimmsten Arbeiten und gaben ihm nur selten zu essen. Trotzdem hatte er es geschafft, ein unglaublich gut aussehender junger Mann zu werden, mit Haaren in der Farbe von nassem Sand, die verwegen um sein kantiges Gesicht wehten. Sein muskelbepackter Körper war ein Bild von Kraft und Anmut gleichermaßen, seine hellblauen Augen erinnerten an Seen, in die jeder Betrachter versinken musste.

Niemand im Dorf mochte ihn. Die anderen Kinder warfen mit Steinen und Dreck nach ihm, sobald er auftauchte, die Erwachsenen schlugen oder mieden ihn.

Den jungen Mann störte dies nicht. Er kannte es nicht anders, außerdem konnte er mit den Tieren, den Bäumen, den Gräsern und den Naturgeistern sprechen. Manchmal hörte er auch die Wassertropfen wispern, aber nur, wenn er etwas zu viel von diesem Kraut geraucht hatte, was sein Ziehvater unter seinem Bett versteckte.

Gerade wanderte der Junge durch den nahen Wald zu der Quelle, um dort Wasser zu schöpfen, als ein Windhauch ihn aufsehen ließ. Vor ihm auf dem Weg stand ein alter Mann. Seine weiße Kutte reichte bis auf den Boden, aber es haftete kein Schmutz daran. Der lange Bart des Mannes reichte fast eben so weit hinunter. Ungezählte Jahre hatten ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen.

„Hallo“, sagte er. „Bist du zufällig bei Zieheltern aufgewachsen, wirst von allen gequält und hast besondere Fähigkeiten?“

Der Junge nickte verwundert.

„Ist heute dein Geburtstag?“

Nun nickte er begeisterter. Es hatte also doch etwas genützt.

„Gut. Wie heißt du?“

„Mein Name ist Àr’yûn’nàn dê Y’êrún’gâ.“

Der alte Mann zog eine Augenbraue hoch. „Es überraschte mich immer wieder, wie diese Helden es schafften, die ganzen Sonderzeichen mitzusprechen“, murmelte er mehr zu sich selbst. Dann wandte er sich wieder an den Jungen. „In Ordnung. Ich glaube, ich werde dich Gary nennen.“

Àr’yûn’nàn dê Y’êrún’gâ zuckte mit den Schultern. „Wenn du das leichter behalten kannst …“

Der bärtige weiße Mann zog eine Papierrolle aus der Tasche. Mit dröhnender Stimme las er vor:
 

„Wenn dunkle Wolken ziehen über das Land

Und über dem Land schwebt eine drohende Hand

Wenn Stürme unaufhörlich blasen

Blitze auf die Erde nieder rasen

Wenn das Wasser sich rot verfärbt

Wenn ihr alle nacheinander sterbt,

Wird ein Knabe kommen, euch zu erlösen

Er wird vernichten den Bösen.“
 

„Na, das war aber schlecht gereimt“, meine Gary. Für einen Augenblick erschien ein roter Schimmer auf dem Gesicht des alten Mannes. „He, ich hatte nur zehn Minuten Zeit!“

Dann beruhigte er sich wieder. „Du bist der Auserwählte.“

Der Junge riss die Augen auf. „Ich? Aber, das kann nicht sein! Ich bin nur ein ganz normaler Junge, der …“

Weiter kam er nicht. Der alte Weise hatte ihm schon ein dickes Buch zugeworfen.

Handbuch für Helden stand in goldenen Lettern darauf. „Darin steht alles, was du wissen musst.“

Der Mann kramte in seiner Tasche. „Hier ist noch der Vertrag, du musst dort, dort und dort unterschreiben.“

Er zeigte auf die freien Linien und reichte Gary eine magische Feder, die auch ohne Tinte schrieb.

„Aber ich habe doch noch gar nicht ja gesagt“, protestierte Gary.

„Hast du etwas Besseres zu tun oder muss ich erst deine Eltern vom Schurken umbringen lassen?“

Gary überlegte. Nun, am Abend lief sowieso nichts Gutes in der magischen Flimmerkiste, und im Dorf gab es wenig zu tun. Wieso also nicht eine kleine Reise auf Leben und Tod?

Er überflog den Vertrag. „Hier steht, dass ich keinerlei Vergütung außer eventuell Ruhm und Ehre bekomme.“

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Das ist ein Tarifvertrag. Nichts zu machen, nicht verhandelbar.“

„Und hier steht …“

„Unterschreib einfach. Ich wäre dir dankbar, wenn wir das abkürzen könnten.“

Gary tat, wie ihm geheißen. Der alte Mann ließ den Vertrag in den Weiten seines Mantels verschwinden. Ein Stab erschien in seiner Hand, und er schickte sich an, zu gehen.

„Warte! Was soll ich denn jetzt tun?“

„Das steht in deinem Handbuch. Vorne ist auch eine Liste, was du alles brauchst.“

„Aber wieso bleibst du nicht bei mir und hilfst mir?“

Der Mann seufzte. „Das steht alles im Kapitel 3.5, „Mächtige Zauberer“. Wenn du mich brauchst, werde ich dich retten, aber erst im letzten Moment. Dort steht auch, dass es mir per Gesetz verboten ist, den Bösen selbst zu vernichten, obwohl ich viel stärker und mächtiger bin als du. Alles geregelt, lies es nur nach.“

Damit verschwand der alte Weise in einer glitzernden Wolke und ließ Gary verwirrt zurück.
 

Weit entfernt brütete der schwarze Ritter über den Papieren. Er hatte eine Hand an die Stirn gelegt, seine roten Augen huschten über das Papier. Das Licht einer Kerze kämpfte vergeblich an die Dunkelheit an, die er mit sich brachte.

Kurz zögerte, dann beugte er sich zu dem mittlerweile wieder schlafenden König und rüttelte ihn an der Schulter. „Entschuldigung“, flüsterte er, auch wenn er nicht wusste, wieso. „Dieser Abschnitt 35a – was genau ist die ‚Foltersonderklausel?’ Ich habe überall nachgelesen, aber nichts gefunden.“

„Musst du extra beantragen, wenn du Untertanen foltern willst“, nuschelte der König im Halbschlaf. Er schnarchte etwas, selbst jetzt kam immer wieder ein leises Röcheln aus seiner Kehle.

„Und wieso darf ich laut Paragraph 25 nur unfähige Truppen ausschicken, um den Helden zu töten? Kann ich ihm nicht einfach schnell entgegen treten und ihn selbst umbringen?“

„Nein. Halt dich an die Vorschriften.“ Der Ton des Königs machte klar, dass er keine weiteren Diskussionen zu diesem Thema wünschte.

Der Böse schaute mit einem Seufzer auf den riesigen Stapel Papier vor sich herunter. Dann seufzte er und beantragte die Sondergenehmigung für Folter wie vorgeschrieben auf einem weiteren Zettel.

Ein Held erwacht

Schnell eilte Gary nach Hause, um ein wenig Proviant und sein Jagdmesser einzupacken. Auch das Buch warf er in den Beutel, den er mit sich nahm. Für einen Moment überlegte er, sich von seinen Zieheltern zu verabschieden, entschied sich aber dagegen. Mit dem Buch in der Hand lief er los.

Die Liste der Gegenstände, die er benötigte, umfasste elf Punkte:

1.Magisches Objekt (Stein, Dolch, Krone etc.)

2.Besonderes Schwert (Vorbesitzer muss eine besondere Person gewesen sein, magische Aktivität erwünscht)

3.Heiltrank o.ä.

4.Reittier (Pferd, Drache, Einhorn – Tiere, die Ähnlichkeiten mit einem Schwein aufweisen, sind unerwünscht, auch wenn man auf ihnen reiten kann)

5.Gefährte Typ Zwerg

6.Gefährte Typ Mensch (bester Freund)

7.Gefährte Typ Elfe (auch Elb mögl.)

8.Gefährte Typ mysteriöser Wanderer

9.Gefährte Typ Zauberer (muss nicht unbedingt mitreisen, „Rettung in letzter Sekunde“ [siehe 3.5.1: „Mächtige Zauberer“]ist aber Pflicht)

10.Gefährte Typ Abenteurerin (mögl. in ansprechender Lederkleidung)

11.Geliebte (Adlig; mögl. selbst gerettet; Elf oder Elbe erwünscht)

Er stöhnte auf. Wo sollte er das denn alles her bekommen?

Sein Weg führte ihn durch den Wald. Alte Bäume ragten zu beiden Seiten des Pfades in die Höhe, das Sonnenlicht fiel als grünlicher Schimmer durch die Wipfel.

Plötzlich sprang ihm ein Zwerg vor die Füße. „Hoo, junger Wanderer!“ rief er. „Ich bin ein Zwerg und suche noch eine Gefährtentruppe, der ich mich anschließen kann!“

Das klappte doch besser als erwartet. „Natürlich, komm mit mir. Ich bin ein Held auf dem Weg zur Rettung der Welt.“

Der Zwerg sah aus, wie Zwerge nun einmal aussehen: Klein, rund, mit langem Bart und kräftiger Rüstung. Seine Streitaxt steckte in seinem Gürtel.

„Hast du vielleicht eine Ahnung, wo wir weitere Gefährten finden können?“, fragte Gary, während er einen Haken hinter Punkt 5 machte.

„Natürlich, mein edler Freund. Unweit von hier gibt es die Schenke zum lachenden Pony. Da hängen immer so ein paar Typen rum.“ Er räusperte sich. „Da gibt es auch einen Laden für Heldenbedarf.“

„Oh, großartig.“ Der Zwerg musste seine magere Ausstattung bemerkt haben. Gary war ihm für den Hinweis dankbar. Zwar hatte er kein Geld, ging aber davon aus, als Held einiges umsonst zu bekommen. Schließlich rettete er das Land und die Freiheit, dafür schuldete man ihm einiges.

Als er das Dorf wieder verließ, hatte sich zu mehreren hundert Jahren Leibeigenschaft verpflichtet. Das magische Schwert, das man ihm gegeben hatte, schien jeden Moment auseinander zu fallen. Auch das magische Objekt – ein gelblicher Stein, der vom Geruch her verdächtig an Schwefel erinnerte – hatte schon bessere Tage gesehen. Der Heiltrank roch nach Wein, die Farbe war durch das verdreckte Glas der Phiole nur schwer erkennen.

Mit einem Seufzer drehte sich Gary zu seiner Heldentruppe um.

Der Zwerg und der Elf hatten sich schon nach zehn Minuten in die Haare bekommen. Darum gebeten, damit aufzuhören, verwiesen sie Gary auf Punkt 3.1 und 3.2., wo die Regeln für elbische und zwergische Gefährten erklärt wurden. Ein Streit gehörte zu ihren Aufgaben.

Sein eigener „bester Freund“ war mindestens dreißig Jahre älter als er und litt an Rückenschmerzen, der mysteriöse Wanderer dagegen machte seinem Namen alle Ehre. Er ließ sich nur selten blicken, schaute sich dann ab und zu geheimnisvoll um und schlug sich dann wieder in die Büsche. Gary hatte das ungute Gefühl, dass er auf die Flucht vor Gläubigern war, der Zwerg hatte so etwas kurz erwähnt.

Die Abenteurerin trug Lederstiefel, ein knappes Lederoberteil und eine sehr kurze Lederhose. Ein Schwert schlug ihr gegen die Seite, ihre schwarzen Haare wallten im Wind. Sie sah tatsächlich sehr gut aus, aber leider musste sie ihm laut Handbuch die kalte Schulter zeigen, weil er sich in seine Geliebte verlieben musste. Gary seufzte abermals. Was für eine Verschwendung. Beim Hinweis darauf, dass man sich vorher doch trotzdem ein bisschen kennen lernen könnte, schüttelte sie empört den Kopf.

„Willst du, dass ich meine Zulassung verliere?“

Mit gesenkten Schultern lief Gary ihnen voraus. Er ging zu Fuß, weil sein Reittier ein störrischer Gaul war, dessen schwarzes Fell zwar in der Sonne glänzte wie Pech, dessen Charakter allerdings unbezwingbar war.

Wieso nur hatte er diesen blöden Vertrag unterschrieben?

„Ich will nicht mehr!“, stöhnte er auf. Der Zwerg, der neben ihm lief, immer bemüht, Schritt zu halten, erwiderte: „Hast du das Handbuch überhaupt gelesen?! Kapitel 1.2, ‚Verhalten des Helds auf Reisen’! Da steht ausdrücklich, dass die Selbstzweifel erst nach der ersten Schlacht kommen dürfen, wenn du dich fragst, ob du überhaupt stark genug bist, den Bösen zu besiegen, und ob es in Ordnung ist dafür unschuldige Soldaten zu töten, weil dich das auch zum Mörder macht und so weiter und so fort.“

Gary beschloss, den Mund zu halten.
 

„Möchtet Ihr auch ein Frühstück?“ Der König saß mit einem Tablett auf dem Schoss im Bett. Ein Bediensteter stand neben ihm, um ihm von Zeit zu Zeit den Mund abzuwischen.

Der schwarze Reiter schüttelte verkniffen den Kopf. Er hatte erst ein Drittel der Zettel durchgelesen und ausgefüllt. „Verdammt, was soll denn das hier: ‚136. Bitte geben Sie den Namen Ihres Untergebenen an und unter 136a., wie Sie gedenken, ihn bei seinem Versagen umzubringen.’ Ich habe keinen Untergebenen, und wenn, würde ich mir jemanden suchen, der nicht versagt!“

„Dann lasst es frei“, meinte der König mit vollem Mund. Ihn schienen die Schwierigkeiten seines Gastes wenig zu stören. Endlich beendete er mit einem lauten Schmatzen sein Essen. „Ich gehe mich waschen“, erklärte er dem Bösen. „Ruft mich, wenn Ihr wieder meine Hilfe benötigt.“

Der schwarze Reiter nickte nur. Verbissen konzentrierte er sich auf die Fragen vor ihm.
 

Gary atmete keuchend durch. „Das war ein Kampf!“

Seine Beine zitterten, ihm schwindelte. An einen Baumstamm gelehnt starrte er auf den Feind. Sein Schwertarm hing kraftlos herunter. Die Klinge hatte dem Ansturm der Feinde Stand gehalten. Erleichtert ließ er den Atem frei, den er bis eben angehalten hatte.

„Muss er so eine Schau daraus machen?“, fragte die Abenteurerin. Sie betrachtete die erlegte Katze skeptisch. „Ich meine, es war schon ein ziemliches Biest, sich einfach so aus uns zu stürzen, aber er übertreibt doch ein bisschen, findet ihr nicht auch?“

Die anderen nickten. Der Zwerg murmelte etwas davon, die Katze zu begraben.

Gary rollte mit den Augen. „Ja, schon. Aber findet ihr nicht, dass es inzwischen etwas … nun, langweilig wird? Laut Heldenhandbuch müssten wir inzwischen schon drei Mal angegriffen worden sein, aber nichts ist passiert.“

Er beugte sich über die Katze. „Vielleicht war es ja wenigstens eine magische Katze?“

Plötzlich entstieg ein feiner Glitzernebel dem Leichnam. Ein Glockenspiel erklang, während sich der Nebel zu einer Gestalt formte.

„Die Wahrscheinlichkeit war nicht sehr groß“, gab Garys bester Freund zu. Ein junges Mädchen, ungefähr in Garys Alter, entstieg dem Nebel. Ihre langen blonden Haare fielen über ihre anmutigen Schultern. Trotz ihrer zarten Gestalt waren ihre Brüste perfekt geformt und voll, auf Gary schien sie das hübscheste Mädchen der Welt.

Sofort fiel er vor ihr auf die Knie. „Ich liebe dich, schönste, hübscheste, wunderbarste von allen“, hauchte er. „Wie ist dein Name?“

„Mary.“ Ihre Stimme klang wie das Meer und der Himmel, wie das Zwitschern eines Vogels, wie das Plätschern eines Gebirgsbaches.

Gary schloss sie in die Arme. Ihr Geruch war einfach überwältigend.

„Wie wär’s wenn wir weitergehen, während sie uns von ihrer tragischen Vergangenheit berichtet“, schlug die Abenteurerin vor und zeigte mit dem Daumen in den Wald hinein. „Wenn wir demnächst die Hauptstadt erreichen wollen, sollten wir das bald tun.“

Ohne seine Augen von Mary zu wenden, nickte Gary. Also begann sie zu erzählen.
 

„Ich werd’ hier noch wahnsinnig“, knurrte der dunkle Mann. In seinen roten Augen glühte die Wut. „Wieso muss ich das denn angeben?“

Der König schaute ihm über die Schultern. „Nun ja, zur besseren Einschätzung …“

„Aber mein Lieblingskuscheltier? Ich bin das personifizierte Böse!“

Der König klopfte dem Mann auf die Schulter. „Das wird schon.“

Doch statt ihn zu ermunterten, frustrierte er den schwarzen Reiter nur noch mehr. Mit einer knochigen Hand hieb dieser auf die Formulare. „Nein! Es reicht! Ich such mir ein anderes Land!“

Mit wenigen Schritten war er bei seinem Pferd. Er ließ es kurz aufsteigen, dann galoppierte er durch den Flur davon.

„Vergesst Eure Dunkelheit nicht!“, rief der König ihm hinterher. Dann zuckte er mit den Schultern und setzte sich, um sich eine Tasse Tee zu genehmigen und Gustalf zu informieren.
 

„Das war … eine zutiefst tragische Geschichte.“ Gary standen Tränen in den Augen, als er das zarte Geschöpft vor sich sah. „Wie konnten sie dir nur so etwas antun? Das ist wirklich das Schrecklichste, was ich je gehört habe.“

Mary nickte langsam. Sie lächelte trotz allem, was sie Gary eben offenbart hatte. Vorsichtig streckte er eine Hand nach ihr aus.

„Ich werde dich immer beschützen“, flüsterte er.

„Mein Axt ebenfalls!“, sagte der Zwerg und hieb sich gegen seine Rüstung. Garys bester Freund verbeugte sich ebenfalls, wie auch der Ef. „Was für eine grausame Geschichte. Nie gab es eine schlimmere, nie wird es eine schlimmere geben. Unglaublich, wirklich unglaublich. Wer es nicht aus deinem Mund vernahm, wird es nie glauben.“

„Noch nie ist mir eine so starke, tapfere Frau begegnet, die Schönheit mit Weisheit vereint“, sagte er. „Und ich lebe schon seit zweihundert Jahren unter dem edelsten der Völker.“

Diese Aussage brachte einen erneuten Streit zwischen dem Zwerg und ihm hervor, da der Zwerg heftig protestierte.

„Ich danke euch allen“, sagte Mary mit ihrer Glocken-Vogel-Himmel-Wasserstimme und zauberte ein verliebtes Lächeln auf Garys Gesicht.

Ein Windhauch brachte sie zum Aufsehen. Gustalf erschien aus dem Nichts, eine leuchtend weiße Gestalt.

„Oh“, machte Gary und zog sofort sein Schwert. „Gibt es einen Feind zu erschlagen?“

Er hoffte, dabei eine gute Figur zu machen, und Mary bewunderte lauthals seine prallen Muskeln.

„Nein, vergiss es. Die Sache ist abgeblasen, den Schurke hat es sich anders überlegt.“

Gary runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

Gustalf hob die Schultern. „Ich weiß auch nur, was der König mir gesagt hat. Also, du kannst wieder nach Hause gehen.“

Die Gefährten stöhnten auf und wandten sich ab. Selbst Mary schüttelte nur den Kopf und drehte sich weg.

„Wartet! Ihr seid doch meine Freunde? Mary! Ich dachte, ich bin die Liebe deines Lebens?“

Sie rollte die Augen. „Träum weiter. Tut mir Leid, ich habe zu tun.“

Einer nach dem anderen verschwanden sie im Wald und ließen Gary allein mit Gustalf zurück. Dieser legte Gary verständnisvoll eine Hand auf die Schulter.

„Mach dir keine Gedanken darüber, so ist das im Leben. Vielleicht braucht mal jemand einen besten Freund.“

Tränen standen in Garys Augen, als er herumfuhr. „Aber … der Ruhm? Die Ehre?“

Er schluchzte auf, dann wischte er sich schnell über das Gesicht, da Helden nicht weinen durften.

Gustalf seufzte. „Ich werde mich darum kümmern, dass zumindest jemand deine Geschichte aufschreibt. Aber jetzt muss ich wieder los.“

Mit einem gutmütigen Lächeln schlug er Gary auf den Rücken, dann berührte nur noch ein Hauch seine Wange und der alte Weise war verschwunden.

„Aber ich weiß doch noch nicht einmal, wo ich bin!“ Gary sah sich entsetzt um. Die Dunkelheit fiel über den Wald und raubte jedes Licht. Das Leben zog sich zurück, selbst das kleinste Geräusch der Tiere verschwand.

Erschrocken fuhr Gary herum, als er gedämpftes Hufgetrappel auf dem weichen Waldboden hörte. Vor ihm ragte ein schwarzer Reiter mit glühend roten Augen auf.

„Willst du mit mir kommen, mein Freund?“, fragte er und streckte die Hand aus.

Gary zögerte nicht lange, sondern schlug ein. „Auf zu neuen Taten!“

Der schwarze Reiter grinste breit. „Ja. Auf zu neuen Taten …“

Und so entstand die Legende von Àr’yûn’nàn dê Y’êrún’gâ.
 

Ende



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Kommentare zu dieser Fanfic (2)

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Von: abgemeldet
2009-08-27T19:51:11+00:00 27.08.2009 21:51
Hey,
ich habe soeben deine Geschichte gelesen und lag am Boden vor Lachen :D Sie war außerdem genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte, hier erst einmal die Punktevergabe:
Der Name verdient natürlich 10 Punkte, sehr lustig mit den ganzen Sonderzeichen xD
Das Aussehen beschreibst du auch öfter mal, sodass man ein grobes Bild von ihm bekommt. Er ist ja so unglaublich gut aussehend, muskelbepackt, hat so schöne Haare. Dafür geb ich 8 Punkte.
Die Herkunft ist auf jeden Fall tragisch, genauso wie seine jetzigen Familienverhältnisse. Wer seine Eltern, nicht mal seinen Geburtstag kennt und bei fiesen Zieheltern, die einen schlecht behandeln, aufwächst, kann nur eine Mary Sue oder ein Gary Stu sein, wenn man so seelisch unberührt bleibt. 10 Punkte.
Seine ungewöhnliche Fähigkeit mit der Natur zu sprechen, die Andeutung auf weitere besondere Fähigkeiten und der Kampf gegen die Katze rechtfertigen 8 Punkte. Da der Bösewicht ja frühzeitig an der Bürokratie scheitert, kommt er leider nicht allzu oft dazu, die Fähigkeiten einzusetzen.
Liebe/Hilfsmittel/Begleiter ist mein nächstes Kriterium. Das hast du auf jeden Fall mit 10 Punkten erfüllt, denn alles ist ja gegeben, auch wenn es auf dem einen Buch basiert. Dem Handbuch zum Helden, eine coole Idee.
Die Art des Weltuntergangs habe ich auch mit 10 Punkten bewertet. Dass da ein Ritter kommt und ein Königreich und dann die Welt erobern will ist zwar relativ eintönig, aber du hast das alles lustiger gemacht mit deinen ganzen Verträgen.
Für das Ende gibt es 8 Punkte. Gary kommt leider nicht dazu, die Welt zu retten, weil die Bürokratie im zuvorkommt, und er bekommt auch nicht die große Liebe seines Lebens, aber ich finde, dass du auf jeden Fall eine gute Idee damit hattest, ihn sich dem Ritter anschließen zu lassen. Wahrscheinlich geht seine Gary Stu Karriere jetzt erst richtig los oder Ähnliches. Ich finde das Ende sehr vielversprechend.
Für die Rechtschreibung und Grammatik gibt es noch mal 10 Punkte, denn es gab kaum Fehler.
Insgesamt sind das 74 Punkte. Dazu kommt, dass mir die Geschichte super gut gefallen hat, ich fand sie absolut amüsant und bin froh, dass du bei meinem Wettbewerb mitgemacht hast. Ich muss natürlich alle fünf Einsendungen miteinander vergleichen, um zu einem Ergebnis zu kommen. Wenn ich das getan habe, melde ich mich per ENS.

inu
Von: abgemeldet
2009-05-03T13:15:41+00:00 03.05.2009 15:15
Ich liebe diese Fanfic! Sie ist wirklich toll geschrieben *~* ich freu mich auf weitere Kapitel!


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