Schreibübungen & Co. von Ditsch ================================================================================ Kapitel 4: #17: Abschiedsnachricht - An Mama -------------------------------------------- Wie immer hab ich auch diesmal die Aufgabe gesehen, einfach losgeschrieben und erst nachher genau hingeguckt... Eigentlich sollte es um das Verfassen einer Abschiedsnachricht gehen. Na ja, ich hoffe, es ist trotzdem in Ordnung so ^^" --- Ruth saß auf ihrem Fernsehsessel, als das Telefon klingelte. Mühsam richtete sie sich auf; sie war kurz davor gewesen, einzuschlafen. Zum Glück lag der Apparat neben ihr auf dem Tisch, sonst hätte sie ihn wohl nicht rechtzeitig erreicht. Sie brauchte in letzter Zeit so furchtbar lange, um aus ihrem Sessel aufzustehen... „Ruth Winter, guten Tag“, meldete sie sich mit kratziger Stimme. Sie räusperte sich leise. „Hallo, Mama“, hörte sie am anderen Ende die sanfte Stimme ihrer Tochter Josephine sagen. Früher hatte Ruth am Telefon nie zwischen ihrer Stimme und der ihrer Schwester Janina unterscheiden können, doch das Problem hatte sich vor zwei Wochen gelöst. „Hallo, Josephine.“ „Wie geht es dir, Mama?“ „Eigentlich wollte ich gerade ein Nickerchen halten“, grummelte Ruth mürrisch. Sie hatte keine Lust, mit ihrer Tochter zu reden. Überhaupt hatte es in letzter Zeit wenig gegeben, zu dem sie Lust hatte. „Oh, das tut mir leid...“ Es war nicht zu überhören, wie schwer es der Tochter fiel, mit ihrer Mutter zu reden. Dies war kein Wunder, da sie bis vor zwei Wochen nur äußerst selten ein Wort gewechselt hatten und sich nun dauernd unterhalten mussten, weil es so viele Dinge zu regeln gab. „Weshalb rufst du an?“, fragte Ruth. „Ich habe etwas in ihrer Wohnung gefunden“, sagte Josephine. Bisher hatte Ruth sich jedes Mal darüber beschwert, dass sie Janinas Namen nicht aussprach, doch sie war es leid geworden, deshalb blieb sie einfach stumm und wartete darauf, dass ihre Tochter fortfuhr. „Scheinbar hat sie so eine Art... Abschiedsbrief verfasst. Der Briefumschlag ist an dich adressiert, darum habe ich ihn nicht geöffnet. Wenn du möchtest, sage ich Gerd bescheid und er bringt ihn dir heute Abend vorbei.“ Ruth schwieg einen Moment. Ein Abschiedsbrief also... Das überraschte sie ziemlich, immerhin war Janina sehr plötzlich gestorben. Oder war es etwa kein Unfall gewesen? Ruths altes Herz zog sich krampfhaft zusammen. „Ja, bitte“, sagte sie dennoch. Sie bemerkte gar nicht, wie ihre sonst so kräftige und raue Stimme sehr leise geworden war. Gegen sieben Uhr abends klingelte es an der Tür. Ruth quälte sich auf die Füße und ging so schnell sie konnte zum Eingang, wo Gerd auf sie wartete. Den ganzen Nachmittag hatte sie sich Gedanken gemacht – und was für welche. Sie hoffte, dass ihr Schwiegersohn keinen Kommentar darüber verlor, wie elend sie aussah. „Bitteschön“, sagte er und überreichte ihr mit einem freundlichen Lächeln den weißen Briefumschlag. Sie nahm ihn mit zitternden Fingern entgegen. Auch Gerd schien dies zu merken, denn er fragte vorsichtig: „Soll ich einen Moment hier bleiben? Ich könnte dir einen Kaffee machen, während -“ „Ach was“, winkte Ruth ab. Sie war froh, dass wenigstens ihre Stimme nicht zitterte. „Geh nach Hause.“ Er warf ihr noch einen beunruhigten Blick zu, dann verabschiedete er sich aber und ging. Ruth schloss die Tür. Sie mochte Gerd und wusste, dass er sich nur Sorgen machte, trotzdem wollte sie nicht, dass er sie sah, wenn sie den Brief las. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, stolperte sie fast über die Teppichkante, weil sie so damit beschäftigt war, den Briefumschlag zu öffnen, was sich mit den noch immer unruhigen Händen als nicht gerade einfach herausstellte. Schließlich hielt sie das schmucklose, blütenweiße Papier in ihrer Hand. Sie ließ sich auf ihrem Sessel nieder, der sie mit seinen weichen Polstern empfing und begann zu lesen. Liebe Mama, ich hoffe, dass du diesen Brief nie lesen wirst, aber wenn dem so ist, bin ich wohl tot. Dann bin ich froh, dass du ihn gefunden hast, obwohl ich ihn hinter meinem Schreibtisch versteckt habe. Wenn du alles gelesen hast, wirst du dir denken können, warum das nötig war. Es gibt einiges, was ich dir nie gesagt habe, einfach, weil ich es nicht kann. Darum tue ich es nun so, weil ich dir dann danach nie wieder in die Augen schauen muss. Es tut mir leid, ich weiß, dass das feige ist... Aber du hast ja sowieso nie viel von mir gehalten. Schon in der Schulzeit habe ich dir oft Anlass zum Ärger gegeben. Ich habe nicht viel getan, weil ich die Schule so sehr gehasst habe. Du dachtest, ich wäre faul, aber es gab Dinge, die ich dir nicht erzählen konnte. Ich hatte mich in ein Mädchen verliebt und es ihr gestanden, geblendet von der Vorstellung, sie würde wenigstens meine Ehrlichkeit zu schätzen wissen. Doch am nächsten Tag schien es die ganze Schule zu wissen und niemand wollte mehr etwas mit mir zu tun haben. Deshalb habe ich erkannt, dass ich meine Andersartigkeit verbergen musste, um erfolgreich zu sein. Meine erste Stelle war zwar nicht sehr gut bezahlt, aber da ich mein Geheimnis wahrte, wurde ich wenigstens akzeptiert. Es gab sogar Männer, die mit mir ausgehen wollten. Aber genau diese waren mein Problem. Zu Beginn dachte ich noch, dass ich mich ändern konnte, dass ich vielleicht einfach noch nicht den richtigen Mann gefunden hatte. Doch diese Hoffnung löste sich bald in Luft auf. Ich ging mit allen möglichen Männern aus und bei einigen von ihnen war ich mir sicher, dass andere Frauen sich um ihn gerissen hätten. Aber ich gehörte und gehöre immer noch nicht zu diesen Frauen. In den bisher 45 Jahren meines Lebens habe ich keinem Mann gegenüber das empfunden, was man Liebe nennt. Du fragst dich, warum ich trotzdem dreimal geheiratet habe? Das ist ganz einfach: deinetwegen. Ich weiß, dass du es niemals akzeptiert hättest, wenn ich alleine geblieben oder mir gar eine Frau gesucht hätte. Und obwohl du ständig mit mir geschimpft und dich über mich beschwert hast, war mir deine Meinung immer noch wichtig. Ich wollte einfach normal sein. Arne und Hans haben sich zwar von mir scheiden lassen, aber sie sind nie dahinter gekommen, dass meine Gefühle ihnen gegenüber nur Zuneigung und Pflichtbewusstsein waren – niemals Liebe. Die Gründe für meine beiden Scheidungen waren identisch: Ich sollte ein Kind mit einem Mann bekommen, den ich nicht liebte. Es wäre nur schief gegangen. Deshalb bin ich froh, dass Gerd keine Kinder bekommen kann. Vielleicht war dies sogar der Grund, weshalb ich ihn geheiratet habe. Um seinetwillen bitte ich dich auch, ihm nichts davon zu erzählen. Er ist ein sehr liebevoller Mann und trotz allem hatte ich ihn sehr gern, selbst wenn das wohl nicht das Gefühl ist, das er sich gewünscht hat. Du fragst dich, warum ich dir das alles nie erzählt habe? Du hättest es nicht verstanden. Ich weiß nicht, ob du es jetzt verstehst, aber ich möchte trotzdem, dass du es weißt. Eine Tochter sollte keine Geheimnisse vor ihrer Mutter haben. Und eines möchte ich noch sagen: Ich war nicht unglücklich. Es gab natürlich Tage und auch Wochen, in denen ich mich wie Dreck gefühlt habe und am liebsten gestorben wäre, aber ich hatte trotzdem ein gutes Leben. Mach dir bitte keine Vorwürfe, du kannst jetzt sowieso nichts mehr ändern. Leb wohl, Mama, und vielen Dank für alles. Ich liebe dich. Janina Eine einzelne Träne tropfte auf das Papier und ließ die Tinte verschwimmen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)