Schneeweißer Zuckerguss von Lyria ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Ein Herzschlag, schon begann mir das Blut warm in den Kopf zu schießen. Einen Herzschlag lang erst hatte sich mein Blick an sie geheftet und schon ging es wieder los. Ich hasste das, hasste diesen Moment, in dem ich genau spürte, wie sich meine Wangen rötlich zu verfärben begannen. Apfelbäckchen nannte mich meine Großmutter dann immer. Mein Vater sah mich meistens entschuldigend an und erinnerte mich daran, dass ich diese ungewollte Verfärbung seinen Genen zu verdanken hatte, mich jedoch glücklich schätzen sollte, nur mit schnell errötenden Wangen gestraft zu sein. Sein Kopf sei damals immer vollkommen rot angelaufen, was ihm den Spitznamen „Tomatenbirne“ eingebracht hatte. Dann ermunterte er mich, dass es mit der Zeit von allein besser werden würde. So wäre es zumindest bei allen männlichen Mitgliedern seiner Familie gewesen. Allerdings sah ich ihn manchmal noch immer erröten, beispielsweise, wenn man ihm Tomaten oder Birnen anbot. Sie aß auch gerne Birnen, zumindest hatte sie diesen Herbst oft welche dabei gehabt, in kleinen Stücken, die sie dann auf dem Schulhof an ihre Mitschüler verteilte. Oft war ich dicht an ihr vorbeigegangen, um etwas von dem süßfruchtigen Duft zu erhaschen. Einmal hörte ich dabei, wie sie jemandem erzählte, dass ein Birnenbaum vor ihrem neuen Haus stand, der im Spätsommer viele wohlgeratene Früchte getragen hatte. Ich kannte dieses Mädchen nun schon ein Jahr, genau ein Jahr, auf den Tag genau und kannte sie doch nicht wirklich. Zumindest konnte ich behaupten, dass ich mehr über sie wusste, als sie über mich – ich kannte ihren Namen. Das war auch schon mein größter Vorsprung. Sonst wusste ich nur noch ein paar nebensächliche Kleinigkeiten von ihr, die ich auf dem Pausenhof, von Freunden oder Bekannten zufällig erfahren hatte. Beispielsweise, dass sie Klavier und Gitarre spielen konnte, wobei sie das erste seit acht Jahren lernte und letzteres seit fünf. Zudem hörte sie gerne ruhige, entspannende Musik, ging mindestens einmal im Monat ins Kino, wo sie nicht allzu brutale Fantasy Filme mit einem guten Ende bevorzugte, sie sah ihren Vater meist nur alle zwei Monate, weil er wegen seiner Arbeit oft auf Reisen war, sie hatte eine Perserkatze namens Kugelfisch, fand Hasen auf Grund der Form ihrer Ohren süß, aß am liebsten Blumenkohl, hasste aber dafür Johannisbeeren, mochte nicht den Geruch oder das Gefühl von frischer Farbe auf der Haut, weil es sie daran erinnerte, wie oft sie schon umgezogen war und ihre Lieblingsfarbe war weiß. Schneeweiß. Fast immer, wenn ich sie sah, trug sie etwas weißes. An manchen seltenen Tagen war sie auch ganz in Weiß gekleidet. Wie an jenem Tag vor einem Jahr. Auch damals stand ich hier, mitten auf dem Schulhof, mit dem Kopf in den Nacken gelegt, zum Himmel hinaufschauend. Es war mitten im Februar, am Morgen nach dem Valentinstag, um genau zu sein, aber das war damals nebensächlich. Mein Vater hatte mich auf dem Weg zur Arbeit mitgenommen, weswegen ich sehr früh in der Schule war. Es war kalt, aber windstill. Und es schneite. Beim Betrachten der auf mich hinabschwebenden Flocken hatte ich mich ungewollt in Gedanken versinken lassen. Irgendwie hatte ich Mitleid mit diesen kleinen Eiskristallen. Sie waren mir ähnlich. Wenn sie allein durch die Luft segelten, leise und friedlich, genügte eine kleine Berührung, sogar nur ein Atemhauch, um sie zu zerstören. Viel zu empfindlich waren ihre dünnen Strukturen, als dass man sich ohne Handschuhe und Mundschutz ihnen nähern durfte. Und wenn sie dann doch irgendwo landeten, auf kaltem Boden liegen blieben, gingen sie in der Masse der unzähligen Anderen einfach unter, so dass man keine Einzelne aus dem Ganzen herauserkennen konnte. Ich fühlte mich oft wie eine Schneeflocke. Alleine war ich viel zu empfindlich, fühlte mich viel zu schnell angegriffen, verletzt, zerstört. Ich war nicht gut im Umgang mit anderen Menschen, hielt ihre Nähe selten lange aus, auch wenn ich mich stets um Freundlichkeit und Zurückhaltung bemühte. Wenn ich mich jedoch in einer größeren Menge befand, fiel ich einfach nicht mehr auf. Ich konnte mich problemlos auf den Schulhof stellen, ohne dass mich jemand wahrzunehmen schien, selbst in jenen seltenen Fällen, in denen man mich suchte. Wahrscheinlich lag es wirklich an der Leere des Hofes in jenen Morgenstunden, dass sie mich nicht übersah, vielleicht auch daran, dass ich eine weiße Mütze trug. Jedenfalls war es ihre glockenhelle Stimme, die mich aus meinen deprimierenden Selbsterkenntnissen riss und mich fragte, wo sie das Sekretariat fände. Bevor ich antworten konnte, fügte sie noch hinzu, dass sie seit heute neu auf der Schule sei, sogar neu in der Stadt, was mir einen Augenblick gab, sie genauer zu betrachten. Ich glaube, es wäre vielen bei ihrem Anblick der Gedanke an einen Engel gekommen, wie sie so vor mir stand, in ihrem knielangen, eng anliegenden, weißen Mantel, aus dem gleichsam farblose Hosenbeine bis zu ihren hohen Stiefeln führten, die sich farblich kaum vom Schnee bedeckten Boden abhoben. Ebenso hell leuchtete ihr Halstuch und ihre Handschuhe. Die hellblonden Haare, in denen unzählige Schneekristalle glitzerten und die gräulichen Augen, die zartrosa Lippen und die blasse Haut – all das hätte wohl zu einem Engel gepasst. Doch mich erinnerte dieses Bildnis an eine Göttin, eine Gottheit aus purem Eis. Ob dies der Mensch war, dessen Berührung mich nicht zerstören würde? Ich wies ihr den Weg und sie schenkte mir ein Lächeln. Dann sah ich ihr nach und glaubte zu wissen, dass ich es nie erfahren würde. Ich musste sie vergessen, denn nichts in der Welt hätte mir den Mut geben können, sie noch einmal anzusprechen, so viel war klar. Viel zu erhaben, viel zu leuchtend waren ihre Gestalt, Ausstrahlung, Bewegungen, Stimme und ihr Lächeln... Mein Entschluss, sie bis zum ersten Tauen des Schnees zu vergessen, jeden Anflug von Gefühlen mit dem kalten Wasser davonfließen zu lassen, traf sich von selbst – ebenso wie die Erkenntnis im Spätfrühling, dass ich mir dies wohl zu einfach vorgestellt hatte und die verzweifelte Gewissheit zur Adventszeit, dass ich mich meinen Gefühlen zu ihr ergeben musste. Es brachte nichts. Es war auch nicht zu leugnen. Zuletzt meine errötenden Wangen verrieten mir bei jeder unserer Begegnungen, mochten sie auch noch so flüchtig sein, dass sie mich eindeutig viel zu nervös machte, um die Angelegenheit zu ignorieren. Was wohl auch verständlich war, denn welche göttliche Erscheinung lässt sich schon einfach übersehen oder gar verdrängen? Ein zusätzliches Hindernis war, dass sie es geschafft hatte, mich gelegentlich in der Masse wiederzuerkennen, mich herauszufiltern, was es ihr möglich machte, mir im Vorbeigehen ein Lächeln zuzuwerfen oder mich gar zu grüßen. Das war ungewohnt. So brauchte ich einige Anläufe, um zu begreifen, dass tatsächlich ich gemeint war und noch einige mehr, um, wenn auch meist eher zögerlich und leise, zurückzugrüßen. Vielleicht waren es sogar diese dezenten Aufmerksamkeiten, die mir letztendlich den kleinen Funken Selbstvertrauen gegeben hatten, vielleicht war es auch einfach die Verzweiflung darüber, ständig mit rotem Gesicht durch die Schulflure zu wandeln. Was immer es auch war, es hatte mich nach einem Jahr letztendlich dazu bewegt, Kekse zu backen. Ungewöhnlich für einen 17 – Jährigen Jungen war es bestimmt – zumal ich persönlich dafür bekannt war, eher ungern Süßes zu essen – aber ich backte sehr gerne. Es entspannte mich einfach, mit dem alten Holzlöffel meiner Oma Eier, Butter und Zucker zu einer weichen, hellen Einheit verschmelzen zu lassen, ehe ich das Mehl fein und leicht darüber rieseln ließ. Für jenen Holzlöffel musste ich meiner Großmutter einst versprechen, ihr jedes Jahr einen „Apfelbäckchenkuchen“ zu backen, mit roter Glasur. Und auch wenn ich diese Tradition selbst eher als demütigend empfand, war ich doch stolz, dass er mir jedes Mal besser gelang. Was ich dieses Mal jedoch geschaffen hatte, war selbst für meine eigenen Erwartungen überraschend gut geworden. Ich hatte Schneeflocken gebacken. Locker leichte Plätzchen, die den Zähnen kaum Widerstand boten, auf der Zunge zerschmolzen und nichts übrig ließen, als einen fein süßlichen Schimmer. Die Zutaten hatten wie von selbst zueinander gefunden. Verträumt hatte ich am Fenster unserer Küche gestanden, an meine Göttin gedacht, an all unsere Begegnungen, bis hin zur ersten. Meine Hände hatten indessen fast von selbst gearbeitet, nur nach Gefühl gewogen, getrennt, geschlagen, gerührt und geknetet. Das Rezept kannte mein Herz und ich ließ mich leiten, während ich zum wolkenlosen Sternenhimmel sah, den ich im Moment nur verfluchen konnte. Zu schön war wohl die Vorstellung gewesen, sie noch einmal im Schnee wandeln zu sehen, mit glitzernden Haaren, doch kein einziger weißer Kristall hatte dieses Jahr die Erde, geschweige denn ihr Haupt berührt. Und wie ich so an ihre Erscheinung dachte und meine Hände den Teig ausrollten, kam mir eine Idee und ich Griff nach einem Messer. Vorsichtig durchzog die scharfe Spitze der Klinge die glatte Teigmasse. Ich ließ mir Zeit, nutzte jeden freien Zentimeter, ließ keinen Fehler zu. Bis eine Vielzahl kleiner, weicher Schneekristalle vor mir lagen, jeder anders, jeder einzigartig und jeder mit einem Wunsch an sie erschaffen. Die gesamte Zeit hielt ich vor dem Ofen wache und auch, als ich sie zum Abkühlen hinaus stellte, wandte ich mich keinen Augenblick ab. Schließlich waren sie bereit für die Vollendung. Schneeweißer Zugerguss als hauchdünnen Überzug. Nun stand ich hier, mitten auf dem Schulhof, wie damals, fast. Ich warf einen Blick auf die Tüte zwischen meinen Fingern, welche mit einem Stoffband verschnürt war. An das eine Ende war eine Briefmarken große Karte gebunden. „Für Shiromi“ stand in geschwungenen Buchstaben darauf. Ich legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen, hörte ihre Schritte näher kommen und versuchte verzweifelt durch die Kraft meiner Gedanken die Röte aus meinen Wangen zu verbannen. Dann spürte ich einen leichten Windzug im Gesicht und ihre Schritte entfernten sich wieder. Sie war vorbei gegangen. Vorbei. In diesem Moment hatte ich eine ungemeine Lust, die ganzen Kekse alleine zu essen und die Sache zu vergessen. Wieder kam das Gefühl von damals in mir auf, dass ich nie erfahren würde, ob sie es war, der Mensch, dem ich nahe sein konnte. Wieder wollte ich sie einfach vergessen. Sollte ich schlicht noch ein Jahr warten? Würden die Plätzchen so lange halten? Würde ich es so lange aushalten Tag für Tag zu erröten, wenn ich sie auch nur von weitem sah? Und was sollten Schneeflockenplätzchen schon daran ändern? Irgendetwas. Irgendetwas würden sie ändern und das reichte. „Warte bitte.“ Meine Stimme klang erstaunlich ruhig und deutlich, dafür spürte ich umso deutlicher, wie mein Kopf sich mehr und mehr mit Blut füllte. Ihre Schritte entfernten sich weiter, verloren sich in denen anderer Schüler. Der Hof füllte sich, die erste Stunde fing bald an. Hatte sie mich nicht gehört? Fühlte sie sich nicht angesprochen? Wahrscheinlich. Ich öffnete die Augen und wandte mich ihr zu. „Shiromi, bitte warte kurz“ Sie ging weiter, ein paar Schritte, dann wurde sie langsamer, blieb schließlich stehen und drehte sich um. Einen Moment stand ich einfach nur da und sah sie an, als wäre ihre Rektion der Beweis für die Aufhebung aller physikalicher Gesetze. Sie wartete. Sie wartete auf mich. Jetzt fühlte ich mich fiebrig, hörte fast schon die schummrige Stimme, die mir sagte, dass dies die Sekunde war, in der es kein Zurück mehr gab. Kurz darauf merkte ich, wie sich mein Abstand zu ihr kontinuierlich verringerte – ohne eine Bewegung ihrerseits. Ich war losgegangen, irgendwie. Wahrscheinlich hatten meine Beine einfach keine Lust mehr gehabt, sich in meinen Bauch zu stehen und kurzerhand ein Eigenleben entwickelt. Hoffentlich erkannten sie auch eigenständig, wann sie still zu stehen hatten. Einen Schritt zu spät, aber ich stand, vor ihr, dicht vor ihr, viel zu dicht. Ihr in schwach erkennbaren Wolken aufsteigender Atem wärmte sacht meine Nasenspitze. Er roch süßfruchtig. Seltsam wirr verschwammen meine Gedanken und die Unglaubwürdigkeit dieser Situation ließ etwas in mir heranwachsen, was es schaffte, meine Nervosität zu überragen: Eine Art Todesmut – wodurch sich die Durchblutung meines Gesichtes jedoch leider nicht verringerte. Aber selbst das schwand für mich zu einer Nebensächlichkeit. Die Eigenständigkeit, die zuvor meine Beine beseelt hatte, war nun auf meine Hände übergesprungen. Meine Finger berührten leicht die weichen Wollefasern ihres Handschuhs, umfassten die ihren und zogen sie sanft ein Stück an mich heran. Dann legte ich die Tüte mit dem Gebäck auf ihre Handfläche. „Für mich?“ Sie lächelte überrascht. „Nein, du sollst sie nur kurz halten.“ „Was?“ „Natürlich sind sie für dich.“ Und dann erkannte ich etwas in ihrem Gesicht, dass mich einen Moment stutzen ließ. Eine leichte Röte schimmerte von ihren Wangen. „Aber“, setzte sie an und wich meinem Blick kurz aus, „Valentinstag war doch gestern.“ Sie betrachtete die Kekse, drehte die Tüte langsam zwischen ihren Fingern und ich verlor mich in ihrem verlegenen, berauschend süßen Schmunzeln. Doch der Zuckerschock folgte, als das Grau ihrer Augen die meinen fixierte, während ihr gesenkter Kopf und ihr Schmunzeln unverändert verharrten. „Danke.“, hauchte es über ihre Lippen und ich verlor den Glauben, je wieder zu einer Bewegung fähig zu sein – was wohl mein Glück war, denn anders hätte ich ihrem lieblichen Mund wohl in dieser Sekunde nicht widerstehen können. Selbst dann nicht, als ihm ein kurzes Lachen entkam und sie die Worte aussprach, die mich wohl hätten aus meinem euphorisierten Zustand befreien müssen. „Du bist ja ganz rot im Gesicht.“ Kurz war mir, als erstarrte mein Herz, dann überkam mich unweigerlich ein Grinsen. Es tat nicht weh. So oft hatten diese Worte geschmerzt, doch die Stimme meiner Göttin ließ selbst diese zu wohltuenden Klängen zerschmelzen. „Du doch auch.“, entgegnete ich gelassen und wie aufs Stichwort glühten ihre Wangen auf. „Aber bestimmt nicht so sehr wie bei dir.“ Sie lachte. Warum klang es so freundlich, so warm? Wieso hatte ich nicht das Gefühl, verspottet zu werden? „Ich finde das richtig niedlich“, beantwortete sie die Fragen in meinem Kopf und mir war, als würde ich dahinfließen. Es war unmöglich. Vollkommen unmöglich oder zumindest unbegreiflich für mich, der nun ein Jahr sie, Shiromi, Göttin des Eises und jeder weißen Schönheit, in seinen Gedanken, ständig und immer in seinen Gedanken getragen hatte. Für mich, der sich glücklich schätzen musste, wenn er nicht in den Gedanken anderer war, da ihm kaum ein guter gewidmet wurde – bis jetzt. War es Wunschdenken, ein Traum, eine Illusion – oder doch wahr? Konnte es sein, dass sie mich mochte? Dann sah ich das Glitzern in ihrem Haar. Gebannt streckte ich meine Hand aus, berührte den kleinen Kristall, der unter meiner Fingerkuppel sich in einen kalten Tropfen Wasser verwandelte. „Schnee... Es schneit.“ stellte ich fest, während ich durch ihre Haare strich und die Augen schloss. Kaum einen Herzschlag später spürte ich, wie etwas kühl auf meiner heißen Wange landete. Ein Kuss, so leicht wie eine Schneeflocke und so süß wie schneeweißer Zuckerguss. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)