Alabasta no Suna Oasis von Phantom (アラバスタの砂·オアシス) ================================================================================ Epilog: Kein Blick zurück ------------------------- Für einige Sekunden wirkte die Szene fast wie erstarrt. Theodore Chubby sah aus, als wüsste er genau, wovon die junge Adlige sprach. Er schien sich an seinem Kelch festhalten zu wollen. „Sieh doch nur: Diese verblüffende Ähnlichkeit!“ „Stimmt… Darauf hätten wir viel früher kommen müssen.“ Corsa ärgerte sich darüber, dass dies eben nicht der Fall geworden war. Durch seinen Panzer von Indifferenz starrte Glazkov in die Runde. „Dies ist wohl das Ende des gemütlichen Beisammenseins.“ „Nun“, setzte Kobra Nefeltari an. „Er scheint ein Feind von ihnen zu sein. Und wenn die beiden zusammen sind und erst einmal einen Feind ausgemacht haben, dann steht anschließend meist kein Steinchen mehr auf dem anderen.“ „Entschuldige, Vater.“ Vivi sandte ihm einen trösten wollenden Blick. „Aber das ist ein Mitglied der Baroque-Firma, und du weißt, dass ich diese nicht ungestraft davonkommen lassen kann.“ „Ja, das weiß ich“, erwiderte er trocken. „Ich verstehe nur nicht, warum.“ „Er ist weg!“, stellte Corsa fest. „Los, Vivi, hinterher!“ König Kobra ließ dem erbleichten Schäfchenhirten Wein einschenken, während seine "Jugend Alabastas" aus dem Saal stürmte. Das Palastinnere war umfangreich und in Sachen Verzweigungen dem Nebellabyrinth nicht unähnlich. Im Gegensatz zu Corsa hatte Freluquet sicher keinerlei Problem damit, sich hier zurechtzufinden wie eine Spinne auf ihrem großen Netz. Freluquet, Freluquet… Vivi wollte endlich aufhören, ihn als den Sachverständigen zu sehen. Er war Mister Six. Alles andere waren bloß Rollen, die er für die Zwecke der Firma angenommen hatte. „Wir müssen vorsichtig sein!“, rief sie ihrem Freund zu. „Er kann überall stecken! Erinnere dich doch nur an das Labyrinth: Da kannten sich die beiden doch genauso gut aus! Bestimmt hat er noch ein paar Tricks auf Lager!“ Bei diesen Worten schoss Corsa ein Gedanke durch den Kopf. Die beiden… War es möglich, dass Rike ebenfalls…? Ein unvermitteltes Jaulen holte sie in die Gegenwart zurück, und sie folgten dem Geräusch in blinder Hilfsbereitschaft und der Annahme, dass Mister Six sein erstes Opfer forderte. „Er ist bestimmt bewaffnet!“, warnte die Prinzessin ihren Begleiter, dessen Schwert hingegen in seinem Gästezimmer auf die nächste Trainingssession mit dem königlichen Kommandanten wartete. Auch Vivi trug ihre Pfauenräder nicht bei sich und beschloss, ohne sie künftig nicht mehr das Gemach zu verlassen. Sie erreichten eine weitere Galerie. Schräg strahlte die Sonne in diese. Zu beschäftigt mit ihren Gedanken, wie sie ihn ohne Waffen stoppen sollten, achtete Vivi wenig auf das, was aktuell vor ihr lag, und ehe Corsa sie aufhalten konnte, stolperte sie bereits, die Arme ausstreckend wie zwei Flügel – allerdings gerupfte. Gerade wollte sich ein Schrei von ihren Lippen lösen, da fingen zwei Hände sie sicher auf. Instinktiv stellte sie sich senkrecht hin und rammte dabei den hohen Absatz einer Sandale ahnungslos in den langen Zinken von Mister Six. „Oh! Das tut mir aufrichtig Leid; ich bitte vielmals um Entschuldigung!“, plapperte sie reflexartig und beeilte sich, zur Seite zu hüpfen – alles unter den leicht verdutzten Augen jener Wache, die ihren Sturz unterbunden hatte. Erst dann begriff sie, was hier eigentlich Sache war. „Mit Verlaub, Prinzessin, aber bin ich ein Sommerschlussverkaufstisch, dass heute alle in mich hineinrennen?“ Es war Peruh, der Falke, und zu seinen Füßen: Freluquet! „Oh!“ Beschämt schlug sie sich die Hände vor den Mund. „Peruh! Ich wusste nicht, dass… ähhh, ich meine, es tut mir…!“ Ihr treuer Beschützer lächelte nur und winkte ab. Indessen gab Mister Six alles dafür, sich aufzurichten: Knirschend stemmte er seine dünnen Arme auf den Boden, dann die Beine – wie die Spinne, welche Vivi zuvor schon in ihm gesehen hatte. Corsa war es, der das Ungeziefer packte und auf die Füße zog. „Macht er euch etwa Ärger?“ Peruh kannte selbstverständlich nur den Gutachter, nicht den Agenten. Deshalb klärte ihn Vivi darüber auf – und vertraute ihm ihr Problem damit an. Der Flüchtling selbst schien bereits eine Ahnung, was ihm blühen würde, zu entwickeln, als der weißgewandete Wächter Alabastas das folgende Mal auf ihn herabsah. Die grollende Schärfe seiner Augen allein machte jeden Einspruch, jede Widerwehr, jeglichen Fluchtgedanken zunichte, bevor sie überhaupt ans Licht des zu Erkennenden gelangten. Hiernach beschloss Vivi, tunlichst die ganze Wahrheit über Crétin Freluquet – Mister Six – in Erfahrung zu bringen. Zu diesem Zweck suchte sie Theodore Chubby auf, welcher seither planlos durch die Korridore des Palastes pilgerte. Es war offenkundig, dass der freundliche Mann irgendetwas darüber wusste. Als Vivi und Corsa ihn mit der Angelegenheit konfrontierten, war er unangenehm berührt, erklärte sich schließlich jedoch bereit, ihnen einen Teil seines Wissens zu offenbaren. „Sicherlich wünscht ihr zu erfahren, was ihn mit der Baroque-Firma verbindet.“ Corsas Blick wurde scharf. „Sie wussten es?“ „Viele wussten das. Crétin hat schon immer zu jener bedauernswürdigen Art von Menschen gezählt, deren Taten und Entscheidungen großes Unglück zur Folge haben, sofern niemand diese überwacht. In seiner Kindheit verlor er beide Eltern auf einmal. Nicht etwa aufgrund eines Raubüberfalls oder einer schweren Krankheit, sondern weil er sie eines Tages versehentlich in eine Kammer ihres eigenen Hauses sperrte und nachher schlichtweg vergaß, dass sie dort waren.“ „Das ist ja schrecklich“, kommentierte Vivi die Erzählung ehrlich betroffen. „Konnten sie sich denn nicht irgendwie befreien?“ „Durchaus denkbar, aber jedenfalls sah er sie nie wieder, da er schon bald vor Scham und Reue aus seiner Heimat geflüchtet war… Von diesem Tag an versuchte er, sich mittels allerlei Arbeiten über Wasser – oder eher: Sand – zu halten, doch – wie gesagt: Crétin ist ein geborenes Unglückskind, was seine Entlassung immer sehr begünstigte. Bis er schließlich in Rainbase strandete, wo er eine Anstellung als Croupier fand.“ Rainbase war jedem der Anwesenden ein Begriff als das Domizil Sir Crocodiles. „Dort wurde der Kopf der Baroque-Mafia auf ihn aufmerksam, und er offerierte ihm tatsächlich einen Posten. Warum, können wir nur spekulieren. Vielleicht aus der oberflächlichen Gunst, die Überhebliche einem Unterlegenen gegenüber manchmal erblicken lassen. Was immer es war: Crétin dachte nicht lange nach. Er träumte von einem endlich sorgenfreien Alltag, während er blind in den Teufelskreis seines Lebens tapste.“ „Teufelskreis“, echote die gebannte Zuhörerin. „Mit denen kennt sich das Krokodil aus wie Tänzerinnen mit Hula Hoop-Reifen.“ „Seinerzeit stellte Sir Crocodile noch einen Volkshelden dar“, gab Chubby zu bedenken. „Es musste einem wie eine Ehre vorkommen, unter so jemandem arbeiten zu dürfen. Ich schätze nicht, dass es damals viele gab, die das Angebot abgelehnt hätten.“ Weil niemand nach den Hintergründen geforscht hatte. „Wie kam es zu Ihrer Bekanntschaft mit ihm?“ „Es war einiges an Zeit seit Crétin Freluquets Eintritt in die Firma verstrichen, da ließ Sir Crocodile Gutachter unseres Instituts in sein Kasino laden. Ich vermute sehr, dass er durch uns nach außen hin zur Schau stellen wollte, was für ein ehrenwerter und sauberer Mann er doch wäre. Crétin arbeitete dieser Tage als sein persönlicher Sekretär. Die permanente Gefahr unter seinem Vorgesetzten hatte ihn sich enorm entwickeln lassen. Irgendwie spürte ich diese Gefahr – womöglich übte Sir Crocodiles Erscheinung jenen Eindruck auf mich aus – und weil ich von seinem Verständnis für Zahlen sowie Formen begeistert war, fragte ich den jungen Mann freiheraus, ob er nicht interessiert an einer Ausbildung in unserem Institut wäre. Zu meiner doch leichten Verwunderung sagte er sofort zu. Allerdings ahnten wir damals nicht, dass Crétin fortan sowohl mit uns arbeitete als auch weiterhin für die Baroque-Firma. Ein beachtliches Pensum muss das gewesen sein, findet ihr nicht auch? Heute bedauere ich es sehr, dass wir sein Doppelleben nicht haben aufdecken können. Es gab verräterische Anzeichen, ja, aber…“ Was immer Chubbys zitternde Pupillen gerade sahen: Es befand sich nicht innerhalb dieser hohen, hellen Wände, auf die sie gerichtet waren. Vivis Lippen formten ein Lächeln, ehe sie seinen Satz verständnisvoll beendete: „…Sie wollten es nicht wahrhaben.“ Für Theodore Chubby war Freluquet offenbar ein Schützling, ein Freund, und auch sie sollte ihre Meinung über ihn noch einmal revidieren. Dass hinter jedem Mitglied der Baroque-Firma eine so bewegende Geschichte stecken konnte, selbst hinter ihrem Boss, daran hatte sie nie gedacht; zu verärgert war sie gewesen. „Was wissen Sie über Sunny?“, meldete sich Corsa unvermittelt. „Sunny?“, musste Chubby nachfragen. „Rike, seine Schurkenkollegin, wie auch immer! Irgendwann muss er die Bekanntschaft eines Mädchens gemacht haben, das…“ Seinem Gegenüber ging ein Licht auf. „Ach, aber natürlich… Er hat ein junges Fräulein aufgezogen. Uns wollte er sie nie vorstellen, aber in den Mittagspausen ist ihm bisweilen stolz entglitten, was für wunderbare Fortschritte die kleine Sunny machte.“ „Sunny…“ Der Name drängte sich Corsa auf die Lippen. Nach Jahren ihn wieder zu hören… aus einem anderen Mund als dem eigenen. „Zu der Zeit der schweren Dürre Alabastas ließ er sie in ihm so etwas wie einen großen Bruder finden. Er zog sie unter den Pelzmantel der Baroque-Firma… doch zugleich aus dem Schrecken und Aktionsradius des Krieges. Welcher dieser beiden Wege mochte für ein Kind der ihm wünschenswerte sein?“ Genug. Corsa starrte auf seine verkrampften Fäuste. Er hatte genug gehört. Vielleicht zu viel. Geschehnisse, die er nicht realisieren konnte – nicht realisieren wollte. Nicht nur, dass Sunny niemals in der Wüste gestorben war… Jetzt sollte es Mister Six gewesen sein, der sie vor dem Tod gerettet hatte? Dieser Typ? Unglaublich. Und er hatte ihn wie Dreck behandelt, hatte ihm nur Vorwürfe an den Kopf geworfen. Wer war hier eigentlich der Böse? Er schämte sich. Nicht allein für sein Verhalten gegenüber diesem Freluquet. Er schämte sich dafür, dass er Rike in der einstürzenden Ruine zurückgelassen hatte. Für den Tod seiner Mutter. Dafür, dass er Sunny aus den Augen verloren hatte. Für die Rebellion gegen den König. Einfach für alles. Vivi lockte ihn aus seinen Gedanken. Sie schaute ihn mit leuchtenden Augen an, und er wusste genau, was sie ihm so zuversichtlich mitteilen wollte. Du hast es nicht getan. Du hast sie gar nicht sterben lassen. Doch, hätte er gerne erwidert. Zweimal. Aber er brachte es nicht über sich. Stattdessen nickte er erst der Perplexen, dann dem Sachverständigen knapp zu und rauschte anschließend davon. Er musste allein sein. Die düsteren Erkenntnisse sacken lassen. Und eine Entscheidung treffen. * „Majestät? Ich kann Euer Angebot nicht annehmen.“ Kobra merkte auf, als hätte er niemals im Leben damit gerechnet, dass er nein sagen würde. „Aber warum?“ „Ich möchte einfach nicht mehr kämpfen. Ich bin des Kämpfens müde.“ Das Antlitz des alabastanischen Staatsoberhauptes verzichtete noch immer auf einen Hinweis für die an ihm so gepriesene Verständnisfülle. „Stellvertretender Führer meines Heeres zu sein bedeutet noch lange nicht, kämpfen zu müssen. Du hast die Rebellen geleitet. Das dürfte dir doch bekannt sein?“ „Trotzdem“, beharrte er lakonisch. „Ich möchte es einfach nicht mehr.“ „Ich wäre dir gegenüber nicht ehrlich, wenn ich sagte, dass ich deine Entscheidung verstehe, aber ich akzeptiere sie auf jeden Fall.“ „Ich danke Euch.“ Erlösung lüftete sein dunkles Inneres. „Corsa?“ Er blieb stehen. „Nach dem fatalen Putschversuch Sir Crocodiles möchte ich aus meinen Fehlern lernen und habe aus diesem Grund beschlossen, meine alleinige Befehlsgewalt über Alabasta aufzugeben, indem ich Ämter ins Leben rufe, die die tiefe Kluft zwischen dem Königshaus und dem Volk schließen sollen. Wenn dir der Kommandant nicht zusagt, was hältst du dann von dem Amt des Umweltministers?“ Corsa spürte Verdruss in sich aufwallen. Weshalb war der König so versessen darauf, ihn irgendwo am Hof einzuspannen? „Du musst nicht kämpfen. Deine Aufgabe besteht darin, den Menschen dieses Landes nahe zu sein und mir lediglich zu berichten, wenn dir etwas eingefallen oder zu Ohren gekommen ist, das die Qualität des Lebens in Alabasta aufwerten könnte.“ Und weshalb sagte er ihm das nicht mehr ins Gesicht? „Ich werde darüber nachdenken“, antwortete er stattdessen. „Eines noch, Corsa.“ Wieder hielt er an. „Vivi würde sich freuen, dich dann und wann im Palast zu sehen. Bitte lass sie nicht vergeblich warten.“ Er wägte ab, ob er antworten sollte, entschied sich dann aber, es nicht zu tun. Die Nacht ließ Arbana sich wie ein einziger Leuchtturm aus dem tintenblauen Wüstenmeer erheben. Hell thronte die Hauptstadt auf ihrem hohen Felsen; die blassgrauen, bunt bekuppelten Gebäude schlossen ihre Bürger sicher ein. Auf den Straßen patrouillierten schmunzelnde Wachen, und hier und da wurden Haustüren von munteren Nachtschwärmern aufgeschlagen, die wussten, dass es nichts gab, wovor sie sich noch hätten fürchten müssen. Zwei Kinder beobachteten ihr wackelndes Spiegelbild in einer Pfütze des vergangenen Regenschauers; ihr Kichern echote durch die schlummernden Gassen wie ein Gummiball. In Alabasta war Frieden gekehrt, und dies schienen auch die Gutachter so zu sehen, da sie inzwischen bei der Begutachtung des königlichen Spirituosenvorrats angekommen waren. Sogar Glazkov brach in ein richtig mitreißendes Gelächter aus, als der beschwipste Gastgeber einen Witz über eine Umzugskrabbe und eine alte Frau zum Besten gab. Trotzdem gelang Vivi nur ein kraftloses Lächeln. So als wäre diese Angelegenheit eine Krankheit, die sie unvermittelt überfallen hatte, kreisten ihre Gedanken seit Stunden ununterbrochen um das Verschwinden ihres Freundes – um Corsa. Sie wusste noch nicht, weshalb es sie so bekümmerte, schließlich war er ein erwachsener Mann, der gehen durfte, wohin er wollte, aber sobald die Gelegenheit dazu da war, verzog sich Vivi unbemerkt von der Seite ihres Vaters und eilte durch den Palast. Außen ließ sie sich von der Brüstung eines Balkons stoppen und warf einen Blick über den Hof. Es war genau jener Balkon, von welchem aus sie Corsa so oft beobachtet hatte, wenn er mit Chaka trainierte oder seinen Gedanken nachhing. Würde es eine verblassende Erinnerung werden? Je länger sie auseinander waren, desto mehr trennte es sie für die Ewigkeit, und das wollte sie auf keinen Fall. Sie wusste, sie konnte sich erlauben zu träumen, durfte sich dabei jedoch nicht verlieren. Die Zeit mit Ruffy, Chopper, Zorro, Sanji, Nami und Lysop war zwar fantastisch gewesen, aber sie war auch vorbei, und ganz anders als die Freundschaft mit Corsa würde diese niemals betrübt werden, auf die Probe gestellt, erlöschen – schlicht und ergreifend aus dem Grund, dass sie die Piraten nicht wiedersehen würde. Was blieb, waren der ewige Gedanke an sie, die ihr immer Kraft schenkende Hoffnung. Aber Corsa sollte weder ein Gedanke noch eine Hoffnung sein. Er sollte keine Erinnerung werden, die sich nicht verändern würde. Nicht ihm sollte jene Erhabenheit gebühren, das Gefühl der Unerreichbarkeit, welches längst ihren Freunden auf hoher See anhaftete. Ihn wollte sie berühren. Spüren. In sich aufnehmen. Und als sie sich dessen endlich bewusst wurde, als sie schließlich keine Furcht mehr vor der Veränderung hegte, die niemals an ihm, sondern an ihren Gefühlen ihm gegenüber gelegen hatte, da nahm ihre Nase jenen Duft auf, diesen vertrauten Duft nach Sandelholz, der sie schon einmal zusammengebracht hatte. Er stand am Rand der Südtreppe, die aus Arbana führte, mit dem Blick gen Horizont, an welchem sich der breite Nimbus der Sonne noch gleich einem puderblauen See erstreckte. Der schwere Mantel bewegte sich kaum im Wind, der seinen Duft bis an den Palast getragen hatte, nun weit hinter ihnen liegend. Ihre Füße in den hohen Sandalen schmerzten, und sie atmete schnell. Am Fuß der hohen Treppe wieherte sein Hengst und warnte sie vor seiner baldigen Abreise. „Verschwenden wir unsere Zeit nicht mit überflüssigen Worten“, sagte er, noch ehe sie auf sich aufmerksam gemacht hatte. „Aber willst du wirklich gehen?“, kam sie also umgehend zur Sache. Sowie sie sich ihm näherte, setzte auch er sich in Bewegung, schritt, ohne sie einmal anzusehen, Stufe für Stufe hinab. Obschon sie an Geschwindigkeit hätte zulegen können, tat sie es nicht – es war wie ein Traum, in dem es ihr gar nicht erst möglich war. „Ich gehöre nicht hierher, Vivi, das weißt du.“ „Was meinst du damit?“ „Ich bin ein einfacher Landarbeiter, kein Edelmann oder Ritter. Dein Vater mag großartige Ziele für mich in Aussicht haben, für uns beide, aber… ich kann seinen Ansprüchen nicht gerecht werden.“ Diese Aussage versetzte ihr einen sehr schmerzhaften Stich. „Wir müssen verstehen, dass wir keine Kinder mehr sind, Vivi“, fuhr er fort, ohne stehen zu bleiben. „Auch du.“ „Bist du etwa noch immer…? Ist es wegen der Sache mit deiner Mutter? Wegen Sunny?“ Auch sie ging weiter. Die Treppe schien ein endloses Ausmaß angenommen zu haben. Schon einmal und erst kürzlich war es eine Treppe gewesen, die sie voneinander getrennt hatte. „Warum bist du auf einmal so? Trotz des Zwischenfalls mit Freluquet: Du musst doch gesehen haben, dass du und niemand sonst wie gemacht für diese Position ist!“ Sekundenlang nur der Klang steter Schritte. „Diese Position… an meiner Seite.“ Just wurde sie daran erinnert, wie es ihr ergangen war, als die Strohhüte sie verlassen hatten. Ein Lächeln beim Abschied tröstet nicht über den Trennungsschmerz hinweg. Sie war es leid, dass jeder, der sie zurückließ, der Meinung war, sie würde darüber hinwegkommen. Sie war es leid, die Prinzessin zu sein. „Lass mir einfach die Zeit, über alles nachzudenken, okay? Lauf mir nicht hinterher.“ Die Treppe endete. Inzwischen trennte sie ein Viertel derselben voneinander, denn Vivi war nach und nach langsamer geworden, wie auch ihre Entschlossenheit mit jeder Stufe gesunken war. Nüchterner Miene besah sie Corsa beim Aufsitzen. Das Pferd schnaubte. In der Dunkelheit schien es ein eindrucksvoller Schatten seines verschlossenen Herrn zu sein. Wieso mussten sie sich so trennen? Kein Gruß, kein Handschlag, keine Umarmung, kein Kuss, nicht einmal ein Blick. Er würde sie stehenlassen mit der Kühle, mit welcher er ihr schon in der Ruine begegnet war. Sie hatte es versucht, doch an seinem Eisenmantel prallte einfach alles ab. „Na gut, Corsa…“ Sie drehte sich auf der Stelle um. Stieg mit dem bitteren Stolz einer einsamen Königin hinauf, bis der hohe Thron Arbanas ihre Gestalt vor den Blicken von unten verbarg. Der Wüstenwind wiederholte seine elegant in den Sand gezogenen Muster wieder und wieder. Sobald sie gegangen war, wurde Corsas Blick zu seiner Rechten gezogen. Sunny saß dort auf einem Stein mit baumelnden Beinen und ihrem typischen Grinsen. „Hey! Irgendwann sehen wir uns wieder. Nich’ mehr im Krieg – sondern im Frieden. Aber bis dahin will ich, dass du mit einem Lächeln lebst, so wie ich mit einem Lächeln gegangen bin. Hier!“ Sie tatschte sich auf den Mund, zog ihre Hand wieder fort und zeigte dabei eine ganz ernste Schnute. „Ich schenk’ dir meins.“ Er lächelte betrübt, aber es hielt sich nicht lange aufrecht. Der schwarze Hengst setzte sich in Bewegung. Schnaufend galoppierte er an Sunny vorbei, und der aufgewirbelte Sand ließ ihre Erscheinung in der Luft zergehen wie eine enttarnte Fata Morgana. Geschwind verlor sich die Silhouette des Tieres und seines Reiters in der nächtlichen Wildnis, und kaum waren sie nicht mehr zu sehen, gab sich die ganze Wüste wieder ihrer schläfrigen Trägheit hin, ihrer ariden Gleichgültigkeit, ihrer hungrigen Ewigkeit scheinbar ohne jegliche Abwechslung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)