Touch of Delight von LeS ================================================================================ Wenn man nur eine Arterie traf – und das tat er für gewöhnlich im Schlaf – starben die Menschen, egal ob alt oder jung, in weniger als zehn Minuten. Seishirou blickte auf. Er zog die schwere Taschenuhr aus seinem Mantel. Sie drehte sich zweimal nach links, einmal nach rechts. „Drei Uhr morgens.“ Er ließ den Kopf in den Nacken rollen. Die junge Frau zu seinen Füßen hustete. Ihr warmes Blut, das sie auf seine Schuhe gespuckt hatte, konnte er selbst durch das Leder hindurch spüren. Er rollte die Zehen ein und ging in die Hocke. „Sehen Sie das, Fräulein... wie war gleich Ihr Name? Wie unhöflich von mir.“ Sie sah ihn aus leeren Augen an. Ihre Lippen bewegten sich, ihre Zunge kam zwischen ihren Lippen hervor, doch es war nichts zu hören außer einem leisen Schmatzen, als sie Schleim und Blut herunterschluckte. Seishirou tippte die Uhr an. „Es ist schon so spät. Ich hoffe, Sie werden mir nicht böse sein, wenn ich Sie schon verlasse? Sonst verpasse ich meinen nächsten Termin.“ Ihre Augen weiteten sich. „Danke. Wirklich sehr freundlich von Ihnen. Einen geruhsamen Tod wünsche ich.“ Er schob die Sonnenbrille über seinen Nasenrücken und stand auf. Noch einmal fiel sein Blick auf die Taschenuhr. „Nur noch fünf Minuten! Herrje.“ Er verschwand lächelnd und ließ nur Blüten zurück. Zwanzig Kilometer vom Kirschblütengrab entfernt landete er auf einem Balkon. Seishirou legte die Hand flach an die Glasscheibe und spähte ins Innere der Wohnung. „Er scheint noch nicht da zu sein.“ Seishirou schob die Unterlippe vor. „Nun ja.“ Er lehnte sich ans Geländer und beugte sich vor. ‚Wieder eine Nacht ohne Sternenhimmel vergangen.’ „Tokyo“, sagte er leise. Die Balkontür wurde kratzend aufgeschoben. Eine erstickte Stimme riss Seishirou aus seinen Gedanken: „Wer sind Sie... was machst du hier!?“ Seishirou hatte sich umgedreht. „Oh“, sagte er. ‚Ich habe ihn gar nicht bemerkt. Wie interessant.’ Er rieb die Hände aneinander. „Es ist ziemlich kühl. Wollen wir nicht lieber reingehen?“ „Seishirou“, wiederholte der junge Mann. Dieses Mal war seine Stimme schneidend. Er sprach aus zusammengepressten Lippen und versuchte wohl gefährlich zu klingen. „Schön, dass du dich noch an meinen Namen erinnern kannst.“ Seishirou griente. Subaru drehte ein Ofuda zwischen seinen Fingern. „Verschwinde.“ „Tatsächlich?“ Seishirou legte den Kopf schief. Er schnalzte mit der Zunge. „Wo es so kalt hier draußen ist, da willst du mich einfach wegscheuchen?“ Er seufzte leise. „Aber Subaru! Deine Schwester...“ Subaru schmiss das Ofuda. Es verbrannte wenige Zentimeter vor Seishirous Gesicht, wurde zu Staub und vom Wind weggetragen. Seishirou zog den Mantel enger um sich. „Es ist wirklich frisch, Subaru. Du wirst dich erkälten.“ Er schob ihn in die Wohnung; der feuchte, nackte Oberkörper war warm gegen seine kalten Finger. „Dass du dich um diese Uhrzeit duschst. Du hast bestimmt die Nachbarn geweckt.“ Subaru hielt den Atem an. Er trat genug Schritte zurück, dass Seishirou ihn nicht mehr durch bloßes Armausstrecken würde berühren können. „Jetzt wäre es an der Zeit, mir einen Tee anzubieten. Oder dich kurz zu entschuldigen, um dich noch anzuziehen. Wobei mich dein Anblick freilich nicht stört.“ Subaru runzelte die Stirn. „Die Küche ist gleich rechts, richtig?“ Subaru öffnete den Mund und nickte, ohne etwas erwidert zu haben. Er ging voraus in die Küche. Seishirou folgte ihm, nachdem er sich kurz im Wohnzimmer umgesehen hatte. Natürlich war er schon öfter in dieser Wohnung gewesen, aber in dieser Nacht zum ersten Mal mit offizieller Erlaubnis. Er setzte sich auf den dem Fenster am nächsten liegenden Stuhl und schlug die Beine übereinander. „Schwarztee, Kräutertee...“ Subaru fuhrwerkte in einer Schublade herum. Seine Hände zitterten. Die eine drehte nervös am Knauf der Schublade, die andere zupfte an den Teepäckchen. „Früchtetee, bitte. Du weißt doch, ich bin ein ganz Süßer.“ Seishirou schenkte ihm sein schönstes Lächeln. Er rückte die Sonnenbrille zurecht. Subaru schnaubte leise und füllte Wasser in den Wasserkocher. Er legte den Schalter um. „Wir haben Oktober.“ „Ja?“ „Und es ist mitten in der Nacht.“ „Ja!“ „Ich habe das Licht nicht angemacht. Siehst du überhaupt etwas?“, sagte Subaru tonlos. Seine Mundwinkel hingen nach unten. „Genug“, sagte Seishirou. Er schmunzelte. „Aber wenn du mich lieb bittest... für meinen Subaru würde ich doch alles tun.“ „Dann t...“ Der Wasserkocher pfiff. „Dann trink.“ Subaru schüttete das heiße Wasser in eine Tasse und warf Seishirou einen Teebeutel zu. „Die Tasse.“ Seishirou winkte mit dem Teebeutel. Subaru reichte ihm die Tasse. Es dauerte eine Weile und Seishirou pustete den Dampf in unregelmäßigen Abständen weg, dann konnte man den Tee trinken, ohne sich dabei die Zunge zu verbrennen. Subaru lehnte am Küchenbord und hatte die Arme verschränkt. Seine Brauen waren kritisch zusammengezogen, sein ganzes Gesicht voller Falten. Er kaute auf seinen Lippen herum. Es war kalt in der Wohnung. Der Tee wärmte Seishirou von innen und doch – „Hast du die Heizung nicht an?“ „Energieverschwendung“, sagte Subaru. Seishirou nickte. „Oh, aber Leichenbestatter hielten es gewiss auch für Energieverschwendung, wenn sie deinen erfrorenen Leib aus dem siebten Stock transportieren müssten.“ „Ich habe nicht vor zu sterben.“ ‚Interessant’, dachte Seishirou und nippte am Tee. Er schmeckte sehr süß. Wahrscheinlich eine Mischung aus Himbeere und Vanille. Seishirou lehnte sich zurück. Er konnte Falten erkennen und die rosa Lippen, die weiße Haut, nur Subarus Augen waren mit der Sonnenbrille nicht zu lesen. Seishirou griff nach der Brille und nahm sie ab. Er rieb sich die Lider, blinzelte und sah Subaru an. Seine Augen waren erstaunt geweitet, dennoch lag etwas Ausdrucksloses in seinem Blick. Seishirou legte die Brille auf den Tisch vor sich, stand auf und zog seinen Mantel aus. Er hing ihn über die Stuhllehne und setzte sich wieder. „Wenn du vorhast, länger zu bleiben, muss ich dich leider enttäuschen. Auf Besuch bin ich nicht vorbereitet.“ „Kein Problem. Ich kann mich ganz gut selbst versorgen.“ „Du hast da Blut kleben.“ Subaru streckte einen Finger aus und deutete auf Seishirous weißes Hemd. Seishirou sah an sich herunter. „Oh je. Dabei war das Hemd so teuer!“ Subaru knirschte mit den Zähnen. „Solange es nicht Seide ist, lässt es sich bestimmt rauswaschen.“ „Meinst du?“ Seishirou lächelte ihn an. Subaru zog den Bauch ein und die Schultern hoch. „Ich hoffe es doch.“ Er trank einen weiteren Schluck Tee. „Setz dich doch. Ich bitte dich. Du machst mich ganz nervös!“ Seishirou lachte heiter. „Du brichst nachts bei mir ein. Ich habe jeden Grund, nervös zu sein.“ „Hattest du mich nicht eingeladen?“ Seishirou hob die Tasse in die Höhe. „Du hast mir ja sogar Tee angeboten! Ich würde nicht von einem Einbruch sprechen. Außerdem habe ich nicht vor, etwas zu stehlen.“ Subaru errötete. Seishirou stellte die Tasse ab. „Möchtest du etwa, dass ich dir etwas stehle?“ „Vergiss es und geh.“ „Aber du suchst doch nach mir. Richtig?“ Subaru tappte mit dem Fuß. „Mag sein, aber nicht um drei Uhr morgens.“ „Ich töte um drei Uhr morgens schon.“ Seishirou stand auf. Er war mit vier Schritten bei Subaru angelangt. „Das Töten ist nicht auf die abendlichen Dämmerstunden eines Tages beschränkt. Es ist zeitlos. Du kannst es jederzeit tun. Auch jetzt.“ Es schien langsam wärmer zu werden. War die Heizung angesprungen, weil die nächtliche Energiesparzeit um war? Das wäre eine Erklärung für die vorige Raumeskälte gewesen. Subaru schien noch zu frieren. Er hatte eine Gänsehaut am ganzen Oberkörper. Seishirou legte die Hände auf seine Arme und rieb über die Haut um ihn zu wärmen. Subaru zuckte zusammen. „Ich werde dir heute Nacht keinen einzigen Knochen brechen.“ „Darum geht es nicht“, flüsterte Subaru. Seishirou lehnte sich vor. „Um was geht es dann?“ Subaru presste sich mit aller Kraft gegen das Küchenbord. „Du sollst gehen.“ „Ich fürchte, das kannst du aus Höflichkeit nicht zulassen. Um diese Uhrzeit kann ich unmöglich ganz alleine durch Tokyo ziehen. Was für Gestalten gerade jetzt wach sind und in den Straßen herumlungern! Mir könnte sonst was passieren.“ „Wieso, hast du dich etwa geklont?“ Subaru legte eine Hand auf Seishirous Bauch und hielt ihn auf Abstand. Seishirou lachte leise. „Sehr amüsant. Nein, habe ich nicht.“ Er packte Subarus Handgelenk. „Lass mich los!“ „Nein.“ Für einen Moment dachte er darüber nach, ihm doch die Knochen zu brechen, ihn Blut husten zu lassen wie die Dame vor wenigen Minuten und zehn Minuten damit zu verbringen zuzusehen, wie er starb. Dann lockerte er seinen Griff und strich mit den Fingerspitzen die Konturen von Subarus Handinnenfläche nach. „Du trägst keine Handschuhe mehr. Hältst du das nicht für etwas riskant?“ Er schob seine Finger zwischen Subarus und schloss die Hand. „Deine Großmutter hat dir doch beigebracht, sie selbst beim Schlafen zu tragen. Du enttäuschst sie bestimmt.“ „Ich jage dich, Seishirou. Für die Rache an meiner Schwester. Wieso sollte ich unsere einzige bestehende Verbindung brechen?“ Subaru versuchte die Hand zurückzuziehen. Seishirou verstärkte den Druck. „Die einzige bestehende Verbindung zwischen uns sind meine Pentagramme? Wie einseitig.“ „Das ist nichts neues.“ Subaru sah ihm in die Augen. Die Sonnenbrille lag reglos auf dem Esstisch, neben der Tasse. Seishirou hatte nie über telekinetische Kräfte verfügt und hatte auch nie daran gedacht, wie es wäre, sie zu besitzen. Bis zu diesem Moment. Er räusperte sich und löste ihre verhakten Finger voneinander. „Seishirou.“ „Ja?“ Seine Hand schwebte wenige Zentimeter von Subarus entfernt in der Luft. Er hätte den Arm schlaff neben sich herabhängen lassen können. Doch vielleicht ergab sich noch etwas interessantes, wenn er die Muskeln weiter spannte. „Wieso hast du mich noch nicht getötet?“ „Wieso sollte ich?“ Subaru schluckte und ließ den Kopf hängen. „Ich verstehe.“ Er griff nach Seishirous Hand. Seine Nägel stachen fest in die Haut. Es war nicht mehr kalt, aber es war noch immer stockduster, draußen wie drinnen. Der nächste Auftrag erwartete ihn erst in zehn Stunden. Seishirou hatte noch genug Zeit, um etwas länger zu bleiben, als er es geplant hatte. Eigentlich war es nicht einmal geplant gewesen, in die Wohnung zu gelangen, Tee zu trinken und die Beute zu berühren. Besonders letzteres war äußerst ungeplant geschehen. „Wieso auch“, sagte Subaru. „Zieh dich an, Subaru. Du wirst dich erkälten.“ Subaru nickte; Seishirou wusste, wo das Schlafzimmer war. Er begleitete Subaru dorthin, der die ganze Zeit über nicht seine Hand loslassen mochte. „Etwas schönes, flauschiges.“ Seishirou öffnete mit der freien Hand die Schranktür und zog einen Wollpullover heraus. Es war leicht, Subarus Kopf durch den Kragen zu bekommen – der Pullover war ihm mindestens zwei Nummern zu groß – aber seine Arme wollten nicht in die Ärmel. „Könnten wir das Händchenhalten kurz unterbrechen um dich anzukleiden?“ Subaru schüttelte den Kopf, löste ihre Hände aber voneinander. Es war das erste Mal, dass er jemanden anzog, der noch lebendig war. Seishirou krempelte die Ärmel zurück und betrachtete sein Machwerk. „Jetzt ist dir sicher schon viel wärmer.“ Er nickte zufrieden. „Ja. Danke. Seishirou.“ Er setzte sich auf die Bettkante. „Ich werde schlafen.“ Seishirou runzelte die Stirn. „Nun, das tut man für gewöhnlich in einem Bett. Ich bin also nicht überrascht!“ Er lachte. „Was du machst, ist mir egal.“ „Ich darf also noch bleiben?“ Subaru lächelte. Wenn er auch nicht wusste, was es war: seine Nervenstränge gaben Energie frei. Seishirou schloss die Schranktür. „Ich werde die Tasse ausspülen.“ „Mach das“, sagte Subaru. „Mach das.“ Seishirou stand zwischen Flur und Schlafzimmer. „Und dann?“ Er sah zu Subaru, der sich unter der Decke eingerollt hatte wie ein Embryo. Die spitzen Knie zeichneten sich deutlich ab. Subaru zuckte die Schultern. „Verstehe“, sagte Seishirou. Nachdem er die Tasse gespült und herausgefunden hatte, wo ihr rechtmäßiger Platz war, verließ er Subarus Wohnung. Die Tasse zu spülen hatte ihn neunzig Sekunden gekostet. Sie wegzuräumen drei Minuten. Auf dem Balkon hatte er fünfeinhalb Minuten gestanden. Es hatte ihn insgesamt zehn Minuten Zeit gekostet zu beschließen, die Wohnung zu verlassen und es dann letztlich auch zu tun. Er kam nicht wieder. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)