Wheel The World von LeS ================================================================================ „Jeder kann wütend werden, das ist einfach. Aber wütend auf den Richtigen zu sein, im richtigen Maß, zur richtigen Zeit, zum richtigen Zweck und auf die richtige Art, das ist schwer.“ Aristoteles Copyright: CLAMP Autor: les_lenne Beta/Testleser: Cyel (ff.de), darkcloe (LJ), seelentherapie (LJ) Seishirou saß wieder auf dem Balkon und sah hinunter. Im Rollstuhl reichte sein Kopf knapp über das Geländer. Er konnte keinen besonders weiten Ausblick haben. Subaru legte eine Hand auf Seishirous Kopf und fuhr durch das Haar. Es war fettig und schon beinahe filzig. Allein konnte sich Seishirou nicht richtig waschen. Natürlich war es nicht an Subaru vorübergegangen, dass Seishirou trotzdem versucht hatte, sich allein sauber zu halten. Es war ihm nur mäßig gelungen. ‚Morgen früh wäre eine gute Zeit, um ihn zu baden’, dachte Subaru. Womöglich hatte Seishirou geschlafen, denn er zuckte erst zusammen, als Subaru ein Haarbüschel griff und sanft daran zog. „Du bist wieder zurück.“ Subaru nickte, obwohl Seishirou das nicht sehen konnte. Er saß von Subaru abgewandt und machte keine Anstalten, an dieser Tatsache etwas zu ändern. Subaru war das ganz recht. Für das, was er vorhatte zu tun, brauchte er keinen Augenkontakt. Sonst würde ihn vielleicht der Mut verlassen. Seishirous Augen hatten ihn schon immer genug verwirrt. Selbst jetzt, wo er sich so sicher war, dass er ihn durchschaut hatte, oder wenigstens nahe dran war – wo er die Oberhand hatte – es war dennoch eine schwierige Angelegenheit. Subaru wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Augenkontakt gehörte dazu. Körperkontakt allerdings nicht, und so ließ er seine Hand in Seishirous Haaren. Bevor er zu seiner Rede ansetzte, atmete er noch einmal tief durch. Jetzt war es soweit. Er hatte es sich auf dem Nachhauseweg gut überlegt. Anders würde es nicht funktionieren. Nicht für ihn. Er hatte gar keine andere Wahl. Zumindest fühlte es sich gut an, sich das einzureden. Und Seishirou wäre sicher der letzte Mensch auf der Welt, der versuchen würde, es ihm wieder auszureden. ‚Kamui wäre sicher ganz begeistert.’ Subaru lachte leise. ‚Aber um den geht es hier nicht. Es geht nur um uns zwei.’ „Seishirou, ich bin mir sicher, dir ist auch schon aufgefallen, dass wir uns in einer Krisensituation befinden.“ „Oh.“ Seishirou sah auf seine Stümpfe hinab, die von einer karogemusterten Decke versteckt wurden. „Bist du dir sicher?“ „Ja“, sagte Subaru. Er drehte Seishirou zur Seite, damit dieser nicht ständig in den Abgrund vor sich sah. Seishirou betrachtete den Kachelboden des Balkons genauso eingehend, wie er zuvor die Straße mehrere Stockwerke weiter unten beobachtet hatte. „Du bist des Amtes ‚Sakurazukamori’ endgültig enthoben.“ „Glaubst du, ich könnte den Job so noch erledigen?“ „Weißt du, welche Tragweite dieser Satz gerade hatte?“ Subaru ging um den Rollstuhl herum und kniete sich vor Seishirou auf den Boden. Er legte ihm beide Hände auf die Stümpfe; es war ein merkwürdiges Gefühl, sie anzufassen. Surreal, wie weich die Haut war, was man sogar durch die Decke spüren konnte. Seishirou runzelte die Stirn. „Nun, wenn ich ehrlich sein soll…“ „… was nun wirklich nicht alle Tage vorkommt.“ Subaru seufzte. Seishirou schnaubte. „Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.“ „Als Oberhaupt der Sumeragi bin ich imstande, euren Clan aufzulösen. Dazu muss niemand sterben.“ Subaru lächelte zu Seishirou auf. Er schien ernsthaft verwirrt von der ganzen Sache. Aber es musste eben sein. Nur wenn die Sakurazukamori offiziell nicht mehr existierten, konnte man wieder ohne Probleme über sie sprechen. Und genau das war es, was Subaru wollte. Die Regierung würde ihn wohl kaum dafür belangen, dass er ihren besten Killer ausgelöscht hatte. Sie hatte momentan andere Probleme. Der Weltuntergang war politisch wie kommerziell ein wichtiger Knotenpunkt. Subaru drehte sich der Magen um, wenn er nur daran dachte. ‚Wie gut, dass Seishirou das nicht mehr mitkriegen muss.’ Er streichelte über die Stümpfe. „Was macht das in dieser Situation für einen Unterschied?“ Seishirou grinste, aber seine Beine zuckten. Ihm war die leichte Berührung offensichtlich unangenehm. Nicht dass er das je zugeben würde. Subaru streichelte ihn weiter. „Einen gewaltigen, Seishirou. Einen gewaltigen Unterschied. Für uns beide, aber besonders für dich.“ Er sah auf seine Hände. Die Pentagramme verblassten allmählich. Seishirou sah mit großen Augen zu, wie seine Markierungen verschwanden. „Du bist jetzt nicht mehr an das gebunden, was im Sakurazukamori-Clan vorgegeben ist. Was wir euch vorgegeben haben. Richtig?“ Von weit entfernt hörte man, wie sich eine Sirene näherte. Feuerwehr, Polizei oder Krankenwagen. Vielleicht war wieder ein Kekkai gefallen, oder es hatte einen Drachen getroffen. Morgen würde Subaru es erfahren. In diesem Moment scherte es ihn wenig, ob einer seiner Mitstreiter umgekommen war, oder der Weltuntergang einen Schritt näher kam. Er beugte sich vor, bis sein Kopf Seishirous Bauch berührte. „Du bist frei. Sag mir die Wahrheit. Wolltest du dich an mir für den ganzen Sumeragi-Clan rächen?“ „Wie bitte?“ Seishirou zog den Bauch ein. „Hätte ich dich getötet, wäre alles wieder wie ganz am Anfang gewesen. Das eigentliche Oberhaupt der Sumeragi ist der Sakurazukamori. Nur ist der Zwilling dieses Mal schon tot und deswegen würden beide Clans aussterben.“ Subaru hob den Kopf und sah Seishirou ins Gesicht. „War es nicht dein Plan, war es nicht so?“ Er hatte sich das Alles lange überlegt. War es immer wieder im Kopf durchgegangen. Jetzt, wo er es laut ausgesprochen hatte, kam er sich vor wie ein dummes Kind, das in seinen Verschwörungstheorien Trost fand. Seishirous Reaktion ermunterte ihn dazu, weiterzureden: Er schwieg eisern und kratzte mit den seit einer Woche ungeschnittenen Nägeln das Leder von den Armlehnen des Rollstuhls. „Wenn es so war, dann verstehe ich das gut. Aber ich würde es besser verstehen, wenn ich auch noch wüsste, was wir dir angetan haben, als wir dich aufgezogen haben.“ „Niemand hat mich ‚aufgezogen’.“ „Was auch sehr grausam ist“, sagte Subaru leise. „Ein Kind sollte nicht allein aufwachsen. Es braucht eine Familie.“ Seishirou sagte darauf nichts. Subaru schüttelte den Kopf und erhob sich. ‚Heute wird das nichts mehr.’ Die Sirene kam wieder zurück. Subaru lehnte sich übers Geländer und sah dem Krankenwagen nach. „Es gibt da noch etwas, das ich gerne geklärt hätte.“ „Ich bin ganz Ohr.“ Subaru wandte sich zu ihm um. „Wenn man zusammenlebt, braucht es immer ein paar Regeln. Ich werde sie aufstellen.“ „Soviel zu ‚du bist frei’.“ Seishirou lächelte. In Subarus Brustkorb brannten alle Arterien und Venen. „Sei still.“ Seishirou hob beschwichtigend die Hände. „Erzähl mir mehr von diesen Regeln.“ „Keine Zeitung, kein Radio, kein Fernseher.“ Subaru zeigte ihm drei Finger. „Des Weiteren: Dir ist es nicht erlaubt, diese Wohnung zu verlassen. Bin ich nicht anwesend und in Sichtweite, ist auch der Balkon tabu. Ich werde mit Bannkreisen dafür sorgen, dass es dir definitiv nicht möglich sein wird. Keine Sorge.“ Seishirou öffnete den Mund, schwieg aber weiter. „Ich wasche dich jeden zweiten Tag. Das bedeutet, dass ich dich bade und dir dabei auch die Haare wasche. Wenn du zur Toilette musst, sagst du mir das, oder gehst selbst. Immerhin scheinst du es hinzukriegen, wenn ich nicht da bin. Es muss dir nicht peinlich sein.“ ‚Weshalb auch immer es das sein sollte.’ „Du liest nur die Bücher, die ich dir gebe und wenn du die nicht annimmst, nun, dann wird deine Freizeit ab jetzt sehr trist.“ Seishirou knirschte mit den Zähnen. „Du isst, was ich dir koche und wann ich es dir koche. Tust du das nicht, dann kannst du dich auf eine Diät freuen. Ich werde deinen Bedürfnissen keine besondere Beachtung schenken.“ „Weil ich deinen nie Beachtung geschenkt habe?“ Subaru schob ihn ins Wohnzimmer. „Genau.“ „Ah.“ Seishirou neigte den Kopf. „Wie interessant.“ „Ich hatte mir schon gedacht, dass du das sagen würdest.“ Und er hatte es gehofft. Denn so würde ihn sein schlechtes Gewissen nicht mehr dermaßen plagen. Bei jedem anderen wäre eine andere Reaktion hervorgerufen worden und Subaru hätte Mitleid bekommen. Aber wenn Seishirou es interessant fand, dann sollte er sein Interesse nicht im Keim ersticken. „Du schläfst jeden Tag neun Stunden.“ Er zog die Decke zurück, schob die kurze Hose hoch und betrachtete die Stümpfe. Es war alles sehr gut verheilt. Die Restmagie, die in Seishirou gesteckt hatte, war wohl vollends dafür verbraucht worden, die Wunden ordentlich zu schließen. Alles sah sehr hübsch und glatt aus. Subaru fühlte sich schwindlig und setzte sich auf die Couch. „In meinem Bett. Und dass ich neben dir liege, musst du ertragen.“ „Kannst du es ertragen, dass der Mörder deiner Schwester neben dir liegt?“ „Höre ich da Schuldgefühle.“ Es war keine Frage. Es war aber auch keine Feststellung. Seishirou senkte den Blick. „Mit diesen Regeln muss ich nun also leben, hm?“ „Erinnern sie dich an irgendwas?“ „Sollten sie.“ Subaru faltete die Hände. „Richtig, das sollten sie.“ Was er sich ausgedacht hatte, schien bisher gut zu funktionieren. Nun galt es nur noch, auch alles in die Tat umzusetzen. Während die Sache mit Radio, Fernsehen und Zeitung einfach sein würde, da er nichts davon besaß oder plante zu kaufen, waren die anderen Regeln gefährlich. Wenn er einen schwachen Moment hatte, wäre alles kaputt. Sein ganzer Plan. Das durfte nicht geschehen. „Morgen werde ich dich baden. Jetzt solltest du erstmal richtig schlafen.“ Er neigte den Kopf in Richtung Schlafzimmer. „Es ist zwar ein wenig zu früh für erwachsene Männer, aber…“ Seishirou nickte. Er beschwerte sich nicht, als Subaru ihn ins Schlafzimmer schob. Auch nicht, als Subaru ihm unter die Arme griff, er sich festhalten musste und Subaru ihn dann zudeckte. Die ganze Zeit über war er still und kooperativ gewesen. „Zur Entspannung werde ich dir ein Öl einmassieren.“ Subaru zog ihm das Hemd und die Hose aus. Seishirou lag nur noch in Unterwäsche bekleidet da. Noch hatte er Muskeln, aber Subaru wusste, dass das nicht mehr lang so sein würde. Kanda hatte ihn vorgewarnt. Patienten, deren Mobilität dermaßen eingeschränkt war, nahmen sehr schnell ab, wurden schwach und dürr. Die Muskeln würden dahinschwinden, bis kaum mehr etwas übrig war. Und so wie sich Seishirou verhielt, war er der Standardpatient für diese Entwicklung. Er saß ja tatsächlich nur noch da. Subaru holte das Fläschchen und tröpfelte das Öl auf den Stumpf des rechten Beins. Die Muskeln dort spannten sich unter seinen Fingern an. Von dem Duft wurde ihm heiß und noch schwindliger, als ihm ohnehin schon war. Seishirou schien davon unberührt zu bleiben. Andererseits war er gut darin, so etwas nicht zu zeigen. Vielleicht würde sich das ändern, wenn das Öl einmassiert war. Subaru rieb mit den Fingerspitzen über die Haut. Es freute ihn, als Seishirou sich zurücklehnte und entspannte. Er stellte das offene Fläschchen auf den Nachttischschrank, wo es direkt neben Seishirous Kopf war, damit er noch mehr von dem Duft abbekam. Subaru wollte nicht als Einziger einen wolkenleichten Kopf haben. Er massierte das Öl in den ganzen Oberschenkel ein. Seine Hand streifte weiter hoch. Subaru stutzte. ‚Ganz hart.’ Die Hitze stieg ihm bis in die Ohren. ‚Er ist erregt!’ Seishirou rollte sich auf die Seite. „Gute Nacht.“ Seine Stimme war rau. Auch wenn er es nicht gern zugab, Subaru ging nicht auf die Toilette, weil er noch mal vorm Schlafengehen musste. Er bewegte die Hand schnell auf und ab, hielt sich mit der anderen am Waschbecken fest und stieß die Hüften vor. Erst als er gekommen war – zweimal, nach einer halben Stunde – stieg er zu Seishirou ins Bett, der schon fest schlief. ‚Wenigstens etwas’, dachte Subaru. Auch wenn es sich anfühlte, als wäre der Punktestand nach diesem Abend eher 1:1 als 1:0. *** „Guten Morgen.“ Subaru rieb sich die Augen. Neben ihm lag Seishirou. Er war offenbar schon länger wach. Die Augenringe waren nicht mehr so dunkel. Subaru atmete erleichtert aus und streckte sich. Der erste Teil des Plans war also aufgegangen. Es konnte nur noch besser werden. Dann erinnerte er sich daran, was er gestern angekündigt hatte. „Morgen. Sollen wir dich gleich baden?“ „Kommst du mit in die Wanne?“ Subaru lachte. „Möchtest du das?“ Seishirou rollte sich auf den Rücken. „Natürlich nicht.“ Die Antwort hatte Subaru nicht erwartet. Sie war nicht besonders humorvoll. Seishirou scherzte nicht. Es bedeutete ihm wohl doch etwas, hilflos wie er war nackt gesehen zu werden. Aber es gab keinen anderen Weg, außer er wollte vor Dreck starren. Subaru kletterte aus dem Bett und zog den Rollstuhl heran. „Gib mir deine Hände.“ Er packte Seishirou und nach fünf langen Minuten hatten sie es geschafft, dass er wieder im Rollstuhl saß. Subaru suchte aus dem Schrank ein paar frische Klamotten zusammen, legte sie Seishirou in den Schoß und schob ihn ins Badezimmer. „Möchtest du erst noch auf die Toilette?“ Auf eine Reaktion konnte er wohl lange warten, beschloss Subaru nach kurzer Zeit, in der Seishirou ihm nicht mal ein Schnauben als Antwort gegeben hatte. „Wir sind doch beide Männer, oder nicht?“ „Bei dir bin ich mir da nicht so sicher. Zeig doch mal.“ Subaru verdrehte die Augen. Er schloss den Ausguss in der Wanne und ließ das heiße Wasser einlaufen. Er nahm auf dem Rand Platz und beobachtete Seishirou, der regungslos dasaß und abwartete, bis es weiterging. Subaru gähnte. „Welches willst du?“ Subaru hob zwei Flaschen hoch, auf einer stand Mango-Milch, auf der anderen Kirsch-Onsen. Letzteres war zur Hälfte leer. „Du badest… wie interessant.“ Seishirou nahm das Kirsch-Onsen-Fläschchen in die Hand und las sich die Rückseite durch. „Das hier nehme ich.“ „Na schön.“ Er füllte zwei Verschlusskappen und schüttete die rote Flüssigkeit ins Wasser. Mit den Händen verteilte er sie. Das Wasser war zu heiß. Er drehte den Hahn auf blau und wartete, bis es weniger brühend war. „Dann wollen wir dich mal reinsetzen.“ „Du redest schon wie diese Kanda. Seid ihr zusammen?“ Subaru schüttelte die nasse Hand aus und bespritzte Seishirous Gesicht. „Sind wir nicht.“ Er griff Seishirou unter die Arme und hievte ihn auf den Wannenrand. „Darf ich?“ ‚Obwohl er das bestimmt auch selber könnte… aber nicht, dass er hintenüber fällt.’ Subaru zog an der Boxershorts und warf sie zu Boden. Er räusperte sich. Der Anblick war, wie Seishirou wohl gesagt hätte, interessant. Subaru wandte den Blick ab. „Wir sind doch beide Männer“, sagte Seishirou. Subaru schob ihn ins Wasser. „Ist es zu kalt?“ „Nein, perfekt.“ Er rutschte weiter herunter, bis nur noch sein Kopf sichtbar war. Dann rutschte er noch etwas weiter – es sah nicht geplant aus. Subaru schlang die Arme um seine Brust und zog ihn wieder über die Wasseroberfläche. Er atmete schnappend. „Seishirou!“ Seishirou hustete und spuckte Wasser aus. „Das war unvorhergesehen.“ „Du solltest besser aufpassen.“ Subaru sank auf den Fliesen zusammen, die Arme um Seishirous Hals gelegt. „Dein Körper ist nicht mehr wie vorher.“ Seishirou hob eine Hand. Er berührte Subarus Unterarm. „Du siehst das nur. Ich spüre es.“ Es war das erste Mal, dass Seishirou ihn nicht nur angefasst hatte, weil er aus dem Rollstuhl gehoben werden musste. Subaru genoss die Berührung. Er schloss die Augen und horchte auf das platschende Wasser. Jedes Mal, wenn Seishirou sich bewegte, gab es ein kleines Geräusch. „Soll ich dir die Haare waschen?“, fragte Subaru. „Ja, bitte.“ Seishirou klang nicht begeistert, aber auch nicht ablehnend. Subaru nahm das als gutes Zeichen hin und suchte in der Dusche nach einem geeigneten Shampoo. Er hatte erst letztens ein neues gekauft, das nicht seine liebste Marke war. Auf Kamuis Anregen hin hatte er sich verändern wollen. Es hatte nicht geklappt. Er nahm das Zitronenshampoo und trug es zur Wanne. Seishirou beäugte es misstrauisch. „Keine Kirsche?“ „Nein.“ Das war zwar eine glatte Lüge, aber er wollte Seishirou nicht zeigen, wie sehr er die letzten Jahre an ihm gehangen hatte. Er würde sich sicherlich noch daran erinnern, und der Punktestand war nicht entsprechend auf Subarus Seite, um sich so eine Blöße geben zu können. Später vielleicht, in ein paar Tagen. Subaru hoffte zumindest, dass ihr kleiner Kampf sich schnell entwickelte und er bald als Sieger hervorging. Was er danach mit Seishirou machen wollte, wusste er aber noch nicht. ‚Das kommt schließlich auch darauf an, was er mir erzählen wird.’ Der Duft des Shampoos war stechend, fast unangenehm. Subaru massierte es gründlich in Seishirous Kopfhaut ein. Es war ein merkwürdiges Gefühl, aber er mochte es. Endlich einmal war alles friedlich und niemandem drohte Gefahr. Subaru fing an, leise zu summen. Er wusste nicht, welche Melodie er da anstimmte. Darüber nachzudenken, bereitete ihm Kopfschmerzen. Da gerade alles so gut lief, wagte er es: „Weißt du, wie das Lied heißt?“ „Es ist ein altes deutsches Kinderlied.“ Subaru nickte. „Stimmt, als ich fünf war oder… oder vielleicht sechs? Ja, sechs, da sind meine Großeltern mit mir nach Europa gegangen.“ ‚Ohne Hokuto.’ Er schüttelte sich. Das war die schlimmste Zeit seiner Kindheit gewesen. Hätte er gewusst, wie viel schlimmer es in der Zukunft werden würde, hätte er die Zeit in Europa sicher mehr genossen. Oder darauf bestanden, dass Hokuto mitkam. „Summ weiter, vielleicht fällt uns der Name ein.“ Es war ungewöhnlich, dass Seishirou von sich aus sprach. Und auch wenn er nicht darauf eingegangen war, was Subaru gesagt hatte, es war doch ein deutlicher Fortschritt zu einem immerwährenden Schweigen. Subaru lächelte und summte weiter. Ihm fielen wieder einzelne Wortfetzen ein, aber er konnte den Sinn nicht entziffern und wusste auch nicht, was sie bedeuteten, was alles doppelt so schwer machte, wie es sein sollte. Nach einer Weile gab er seufzend auf. Er griff nach dem Duschkopf und schaltete das Wasser um. „Hast du je Kinderlieder gesungen?“ „Wenn ich Kinder töten musste, ja. Sie schreien gerne, das fällt auf.“ Subaru saß da. Seine Augen brannten, als hätte er sich das Zitronenshampoo hinein gerieben. „Musstest du viele Kinder töten?“ „Aber ja.“ Seishirou rieb sich über die Stirn und wusch das überschüssige Shampoo im Wannenwasser ab. „Gefahren muss man im Keim ersticken.“ „Das ist grauenvoll.“ Er prüfte nach, ob das Wasser zu heiß oder zu kalt war und wusch Seishirou das Shampoo aus dem Haar. Seishirou lehnte den Kopf zurück. Seine Augen waren fest geschlossen. „Und du hast ihnen etwas vorgesungen, damit sie keine Angst haben müssen?“ Das passte auf zwei Arten zu Seishirou. Subaru fragte sich nur, welche die richtige war, oder ob die Wahrheit irgendwo dazwischen lag. Entweder war es etwas, das Seishirou zu einer noch verstörenderen Persönlichkeit machte, oder zu jemandem, der nie töten wollte. „Das war… sehr nett von dir.“ Seishirou öffnete die Augen. Ein golden schimmernder Augapfel sah in Subarus Gesicht. „Gesang ändert nichts an Mord.“ „Nein.“ Subaru drehte den Hahn zu. Er legte den Kopf auf Seishirous Schulter und eine Hand auf seine nackte Brust. Seishirous Herz schlug ganz normal und regelmäßig. Wie lang er wohl trainiert hatte, um so zu werden? „Deine Finger sind ganz schrumplig.“ Subaru stand auf und zog den Rollstuhl heran. Er ließ das Wasser ablaufen und holte ein Handtuch. Erst trocknete er Seishirous Haare und band ihm einen Turban. Subaru prustete, hob aber gleich die Hand, als Seishirou ihn skeptisch musterte. Nachdem er ihn auf den Rand gesetzt und abgerubbelt, ihm die frischen Klamotten angezogen (Seishirou wäre beinahe zurück in die Wanne gefallen, als er die Arme hob, um in den Sweater zu kommen) und ihn in den Rollstuhl zurück verfrachtet hatte, schob er ihn ins Wohnzimmer. „Ich muss jetzt etwas Papierkram erledigen. Wenn du möchtest, hole ich dir ein Buch.“ Seishirou schüttelte den Kopf. Er sah zum Balkon. „Du darfst nicht raus“, sagte Subaru. „Ich weiß, ich weiß.“ Seishirou zupfte seine Decke zurecht. „Ich werde etwas dösen. Weck mich, wenn es Frühstück gibt.“ ‚Stimmt, Frühstück. Das hätte ich fast vergessen.’ Subarus Wangen flammten auf, aber er ließ sich sonst nichts anmerken. „Mh. Werde ich machen.“ Er setzte sich auf die Couch und ließ den Blick über die Ordner auf dem Tisch schweifen. Es war wieder ein beträchtlicher Berg angewachsen, und das in wenigen Stunden. Subaru seufzte. „Ging das bei dir auch immer so ad hoc?“ Seishirou zog eine Braue hoch. „Was? Ah, die Aufträge.“ Er nickte. „Man hat nie Ruhe.“ „Ist wohl unser Schicksal.“ Dabei war eben dieses Schicksal ja in letzter Zeit vollkommen durcheinander gekommen. Subaru hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken. Später musste er ohnehin zur Rainbow Bridge, um beim Aufbau zu helfen. Im Moment war es wichtig, schnell die Mappen durchzusehen, um Seishirou dann zum Frühstücken zwingen zu können. Zwischen zwei Mappen fiel Subaru auf, dass Seishirou auf seinem Stuhl hin- und herrutschte. Er runzelte die Stirn, kommentierte das merkwürdige Verhalten aber nicht weiter. Nach zwei weiteren Aufträgen (zwei Hundedämonen, einer davon allerdings weiblich und ehemals Mensch) lehnte sich Subaru zurück und sah Seishirou aufmerksam zu. Der hatte wohl bemerkt, dass er beobachtet wurde und bewegte sich immer weniger. „Ist alles okay?“ „Ja, natürlich.“ Seishirou hielt still. Er wirkte angespannt, beinahe verkrampft. „Ganz sicher?“ Subaru griff nach der nächsten Mappe. Noch ein Hundedämon. Er überflog die Daten, immer mit einem Auge bei Seishirou. „Ja“, sagte Seishirou mit Nachdruck. Irgendetwas war hier nicht richtig, befand Subaru. Er schnüffelte in der Luft. Dann riss er die Augen auf. ‚Er hat doch wohl nicht…’ „Was schaust du denn so – heißt dein nächster Fall auf der Liste ‚Sakurazukamori exorzieren’?“ „Du hast dich… du musstest…“ Subaru stand auf und zog Seishirou die Decke von den Stümpfen. Auch wenn Seishirou sich bemühte, darauf keine Reaktion zu zeigen, wurden seine Wangen doch rot. „Wenn du es sonst geschafft hast, wieso bist du nicht einfach gegangen?“ Subaru schüttelte den Kopf. „Ich wäre dir schon nicht in die Quere gekommen, wenn du das gedacht hast.“ Seishirou sah durch ihn hindurch. Sonst rührte er sich nicht. Die Hände hatte er ausnahmsweise nicht im Schoß gefaltet. Seine Finger krallten sich in die Armlehnen des Rollstuhls. „Komm, ich mach das sauber.“ Subaru wehrte sich dagegen, aber es half nichts. Er grinste breit und fühlte sich fast betrunken vor Triumph. Seishirou zog die Decke wieder an sich. „Nicht nötig.“ „Aber das ist sehr unhygienisch.“ Es ging nicht anders, sein Mund war zu einem Grinsen eingefroren. Wenigstens konnte er sich davon abhalten, laut loszulachen. „Na gut, dann gehe ich jetzt eben.“ Mit einem Achselzucken legte er die Akte zurück zu den anderen. „Frühstück fällt heute aus. Bettnässer kriegen kein Essen.“ Aus Seishirous Kehle kam ein abgebrochenes Grunzen. „Lass dich nicht aufhalten.“ Sein Gesicht war tiefrot, sonst bewahrte er die Fassung. Als Subaru die Haustür hinter sich geschlossen hatte, die Autos vor ihm auf der Straße hupten und quietschend bremsten, ließ er endlich das Lachen zu, dass er zurückgehalten hatte. Er wusste, er würde sich deswegen spätestens am Abend furchtbar fühlen. Aber in genau diesem Moment hatte er gewonnen. Und das wollte er auskosten. *** Love is not blind - it sees more, not less. But because it sees more, it is willing to see less. Rabbi Julius Gordon Arashi sprach mit einem der Männer, die für das Bauunternehmen arbeiteten, das damals die Rainbow Bridge hochgezogen hatte. Die Firma hieß inzwischen anders, doch die Verbindung zur Magie war geblieben. Der Mann verzog das Gesicht. Er wirkte ungeduldig, nickte aber auf Arashis Worte hin bedächtig. Sie drehte sich um und seufzte tief. Für gewöhnlich schenkte sie Sorata solche genervten Blicke, aber der war heute an einem anderen Ort eingeplant. „Subaru.“ Es war ihm nicht geheuer, wie vertraut sie alle miteinander umgingen, seit Hinoto tot war. Aber er hielt es für besser, sich dieser neuen Gepflogenheit anzupassen, statt sich stur dagegen zu wenden. Sonst würden sie ihn vielleicht für einen Deserteur halten. Es war ja schon schlimm genug, dass er sich mit Seishirou die Wohnung teilte. „Arashi“, sagte er knapp. „Wie läuft’s?“ „Die eigentliche Stärke wird der Bannkreis nicht mehr erreichen, aber es dürfte reichen.“ Sie lächelte ihn höflich an. „Wie läuft es bei dir?“ Innerlich war er schon dabei gewesen, sich auf die Beschwörung und einige Exorzismen vorzubereiten – die Brücke war nach dem Vorfall von Geistern besetzt worden und noch hatte er sie nicht alle erwischt – die Frage traf ihn aus heiterem Himmel. „Was meinst du?“ „Mit dem Sakurazukamori und dir natürlich.“ Sie rieb ihre Handinnenfläche. Vielleicht hatte sie das Schwert heute schon benutzt. „Es geht ihm gut.“ „Und dir?“ Sie neigte den Kopf. „Du siehst blass aus.“ „Ich sehe immer blass aus“, sagte Subaru. Und das stimmte. Hokuto hatte ihm immer wieder nahe gelegt, mehr in die Sonne zu gehen. Aber auch wenn er sich viel draußen aufhielt, er wurde nicht braun. Spätestens bei ihrem Tod hatte er es aufgegeben, gesund aussehen zu wollen. Es hätte nicht zu seinem Inneren gepasst. „Vielleicht schlafe ich nicht genug.“ „Das wird es sein“, sagte Arashi. „Um auf ihn zurück zu kommen…“ Subaru verdrehte die Augen. „Er ist keine Gefahr mehr, wirklich!“ „Das wollte ich nicht sagen.“ Sie schmunzelte. „Kamui hat mit mir geredet. Karen auch.“ Sie runzelte die Stirn. „Ihre Geschichten liefen weit auseinander.“ ‚Das kann ich mir vorstellen.’ Subaru setzte sich auf einen umgestürzten Pfosten. Arashi nahm neben ihm Platz. Sie griff nach seiner Hand, haderte und ließ sie wieder los. „Wie ist es denn nun tatsächlich?“ „Er nimmt die Medikamente regelmäßig, lässt sich aber nicht helfen. Wenn ich zuhause bin, bewegt er sich kein Stück vom Fleck, Hilfe von mir nimmt er nicht an.“ „Du versuchst trotzdem dein Bestes, nicht?“ „Nein.“ Subaru schluckte. „Ich meine ja.“ Sein versicherndes Lächeln hatte nicht gewirkt. Arashi zog eine Augenbraue hoch und fixierte ihn eingehend. „Was machst du mit ihm?“ „Ich koche, wasche seine Wäsche, sorge dafür, dass er Schlaf kriegt…“ „Und Beschäftigung?“ Subaru leckte sich mit der Zunge über die untere Zahnreihe. Einer der Bauarbeiter schleifte einen schweren Sack an ihnen vorbei. Arashi sprach erst weiter, als der Mann an ihnen vorbeigegangen war; er hatte nicht wie ein Japaner ausgesehen, aber sie hatte wohl sicher sein wollen. „Er weiß sicher nichts mit sich anzufangen. Ich wüsste nichts mit mir anzufangen, ohne meine Gabe.“ Sie rieb sich wieder über die Hand. „Du bist Miko… das heißt, du verlierst sie, wenn du…“ Arashi räusperte sich. „Wenn ich die Geschichte richtig kenne, dann gibt es für die Sakurazukamori in ihrem Leben von Kindheitsbeinen an nichts anderes, als ihre Gabe.“ Subaru sog die Backen ein. Ob das so stimmte? Er musste seine Großmutter treffen. Bald. „Der vorige Sakurazukamori sucht sich den Nachfolger aus, der wird trainiert, bis es soweit ist…“ „Das klingt kompliziert.“ Es war nicht die Fassung, die er kannte. Aber über die Jahre hatte er so viele verschiedene ‚Fakten’ über die Sakurazukamori gesammelt, dass er keinen Überblick mehr hatte, was zu den richtigen und was zu den falschen Wahrheiten gehörte. Die Antwort darauf konnte ihm wohl nur Seishirou geben. Der nicht mit ihm reden wollte. Subaru knirschte mit den Zähnen. „So genau weiß ich es natürlich nicht. Hat dir“, sie biss sich auf die Lippe, „Seishirou nichts davon erzählt?“ „Seishirou?“ Subaru lachte. „Nein.“ „Du wirkst frustriert“, sagte sie. Wenn er nur so wirkte, war das wohl noch ein gutes Zeichen. Er sah einem anderen Bauarbeiter nach, der an einem Pfosten hochkletterte wie ein junger Schimpanse. „Vielleicht solltest du dir Hilfe ins Haus holen.“ Sie tätschelte seine Hand. Subaru schüttelte den Kopf. „Das würde er nicht akzeptieren.“ „Hattest du nicht gesagt, er ist ungefährlich? Dann muss er es akzeptieren.“ Sie verstärkte den Griff. „Wir brauchen dich, Subaru.“ Darum ging es also. Kamui war um ihn als Person besorgt… aus eigennützigen Gründen, weil er zu ihm aufsah, weil er in ihn verliebt war, da er unerreichbar war. Karen fand es einfach interessant. Und Arashi lag daran, dass ihre Seite gewann. Subaru nickte. „Ich werde Kanda fragen. Aus dem Krankenhaus“, fügte er hinzu, als Arashi ihn verwirrt ansah. „Eine Krankenschwester, die mir schon oft gute Ratschläge gegeben hat.“ „Falls ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen. Ich könnte nach ihm sehen, wenn du zu tun hast.“ „Nein“, antwortete Subaru hastig. Er strich sich die schweißfeuchten Hände an seiner Jeans ab und stand auf. „Er kommt allein ganz gut klar und ich glaube, die paar Stunden allein braucht er auch.“ Arashi blieb sitzen und sah zu ihm hinauf. „Bist du dir sicher?“ „Ja. Wenn sich das ändert, melde ich mich sofort. Versprochen.“ Er lächelte. „Na gut. Wir sollten mit der Arbeit beginnen.“ Sie klopfte sich Baustellenstaub vom Rock und erhob sich. „Nimmst du das nördliche Ende?“ Wenn er dieses Ende nahm, das nördliche, wo sie sich gerade befanden, musste er an der Unfallstelle nicht vorbei. Wie aufmerksam sie doch sein konnte. „Ist in Ordnung. Wenn du mich brauchst – ich gebe dir meinen Shikigami mit.“ „Das wird nicht nötig sein.“ Sie verschränkte die Arme. „Ich kann mich ganz gut allein verteidigen.“ „Und du stehst unter Soratas Schutz.“ Sie errötete. „Yuzuriha wartet dort auf mich.“ „Dann lass sie nicht länger warten.“ Er faltete die Hände, legte die Zeigefinger aneinander und sprach die erste Beschwörung aus. Arashi stellte sich vor ihn. Er ließ die Arme sinken, ohne die Fingerstellung zu unterbrechen. „Ist noch etwas?“ „Wir brauchen dich, Subaru. Aber wenn du eine Gefahr wirst, dann habe ich keine Probleme damit…“ ‚Mich wie Hinoto aus dem Weg zu räumen?’ Subarus Herz klopfte rasend schnell in seiner Brust. „… bis bald“, sagte sie und sprang davon. Subaru sank auf dem Boden zusammen. War es denn schon so weit? Kamuis Verhalten war absurd gewesen, aber nicht bedenklich. Letzten Endes war Kamui nur ein Kind und er hätte nie etwas unternommen. Subaru traute Arashi aber allemal zu, zwei Fliegen mit einer Klatsche erwischen zu wollen. In dem Fall Seishirou und ihn. Er konnte sich kaum darauf konzentrieren, die eingenisteten Wesen aus der Brücke zu exorzieren. Nach einer Stunde lehnte er verschwitzt und keuchend an einem Briefkasten in der Nähe des Ausgangs der Brücke. Wenn er zuhause war, würde er gleich duschen gehen, nahm er sich vor. Arashi und Yuzuriha tauchten hinter ihm auf. Inuki lief um ihn herum, aber Subaru war zu müde, um ihn zu streicheln. Enttäuscht trottete der Hundegeist wieder zu seinem Frauchen zurück. „Wir wollten uns verabschieden“, sagte Yuzuriha. „Wir sind heute ein ganzes Stück weitergekommen. Gut, dass wir dich haben, Subaru.“ Arashi lächelte ihn an. Auch sie hatte Schweiß auf der Stirn, atmete allerdings ganz ruhig. Yuzuriha sprang in die Höhe. „So ein Clanoberhaupt für sich zu haben ist schon toll!“ Subaru lächelte schwach und mied Arashis Blick. „Dann bis morgen.“ „Morgen nicht“, sagte Arashi. „Da haben wir etwas anderes vor.“ „Aha?“, sagte Subaru. „Hättest du bei der letzten Besprechung nicht vor dich hingestarrt, wüsstest du das.“ Kamui tauchte hinter Yuzuriha auf. Arashi und Yuzuriha begrüßten ihn kurz und stimmten ihm dann im Chor zu: „Du musst besser aufpassen!“ „Das hier ist eine wichtige Sache“, sagte Arashi. „Es geht um die ganze Welt!“, sagte Yuzuriha. Kamui sah ihn einfach nur streng an. Subaru konnte sich lebhaft vorstellen, wen Kamui gerade in Gedanken an einen Pfahl band, skalpierte und dann langsam verbrannte. „Es tut mir leid.“ Er ließ die Schultern hängen. „Mit einem Patienten zuhause ist es sehr anstrengend.“ Yuzuriha sprang auf ihn zu und umarmte ihn. „Armer Subaru.“ „Dann schick ihn weg“, sagte Kamui. Die Bauarbeiter winkten ihnen zu, als sie sich auf den Nachhauseweg machten. Die Männer warfen ihnen skeptische Blicke zu. Vielen war wohl nicht mal bewusst, was für einen wichtigen Ort sie da gerade reparierten. Die meisten sahen aus, als ob sie zuhause gleich eine Flasche Whiskey aufmachen würden, die den Abend nicht überleben würde. Subaru schob Yuzuriha sanft von sich. „Ich werde mir eure Meinung zu Herzen nehmen und darüber ernsthaft nachdenken.“ Innerlich wehrte sich alles gegen diesen Satz. Er hielt seine nichts verratende Miene aufrecht. „Aber jetzt muss ich dringend nach Hause. Er braucht etwas zu essen.“ „Natürlich.“ Arashi verlagerte ihr Gewicht vom linken auf das rechte Bein. „Grüß ihn von uns.“ „Werde ich machen.“ ‚Er wird sich überschlagen vor Freude.’ „Dann bis übermorgen.“ „Ganz genau.“ ‚Weshalb auch immer’, dachte Subaru. Falls sie wieder jemanden umbringen wollten, war es ihm sogar ganz recht, nichts davon zu erfahren. Er hatte Seishirou beinahe umgebracht. Das hatte ihm an Erfahrung in dieser Sache gereicht. *** Subaru stellte seine Tasse Tee beiseite und sah zu Seishirou, der sich immer noch nichts zu essen genommen hatte und nur ganz am Anfang einmal an seinem Glas Wasser genippt hatte. Mit etwas Mühe gelang es Subaru, ihn nicht sofort anzuschreien. „Was ist es heute?“ Subaru griff nach einem Brötchen und schnitt es Seishirou auf. Wenn er selbst nichts tat, musste halt nachgeholfen werden. Im Krankenhaus hatte Seishirou das Essen auch immer fertig bekommen. Allerdings, das gab Subaru offen zu, war es wohl einfacher jemanden unfreiwillig über eine Sonde zu ernähren als ihm bröselige Teigklumpen hinunter zwingen zu wollen. „Butter, Marmelade?“ Subaru griff nach der Butter, bevor Seishirou antworten konnte. Was er ohnehin nicht getan hätte, sonst wäre er schon davor mit einer zynischen Bemerkung angekommen. Nachdem er das Brötchen mit Butter und Marmelade bestrichen hatte drückte er die beiden Hälften zusammen und legte sein Werk auf Seishirous Teller. Er verzog nicht eine Miene und machte auch keine Anstalten, das Essen anzurühren. Subaru atmete tief durch. „Was ist los?“ Zwischen den Brötchenhälften tropfte die Marmelade auf den Teller. Dafür, dass er den Menschen jeden Tag half, war er ein mieser Therapeut. Subaru rieb mit dem Daumen über den Henkel seiner Tasse. „Habe ich etwas falsch gemacht?“ Damit hatte er einen Punkt bei ihrem Spiel aufgegeben, aber wenn es nicht anders ging, dann ging es eben nicht anders. Er lag ohnehin weit vorne. Seishirou hatte keine Chance, dieses Spiel zu gewinnen. Genauso wie er letztes Mal verloren hatte und wie er immer verlieren würde. Subaru rutschte auf seinem Stuhl herum. „Du kannst es mir ruhig sagen.“ Noch ein verlorener Punkt. Seishirou hob den Kopf und sah ihn an. Er hatte schon wieder blutunterlaufene Augen. Subaru war in der Nacht zu müde gewesen um ständig zu prüfen, ob Seishirou auch wirklich schlief. Es war auch nicht seine Aufgabe. Subaru spürte dennoch einen Stich, als er die entzündeten Stellen betrachtete. „Du bist süß, Subaru“, sagte Seishirou. Subaru stand auf und knallte die Hände auf den Tisch. „Ich bin nicht mehr sechzehn!“ „Ah?“ Seishirou legte den Kopf schief. „Und außerdem…“ Das Telefon klingelte. Heute war doch ein freier Tag für ihn, hatte Arashi das nicht gestern gesagt? Seine Großmutter hatte ihn auch schon seit Ewigkeiten nicht mehr angerufen, seit Seishirou bei ihm lebte gar nicht mehr. „Entschuldige mich bitte kurz. Aber dieses Gespräch ist noch nicht beendet.“ Er nahm den Hörer ab. „Kishuu Arashi.“ „Hallo“, sagte er knapp. „Braucht ihr mich doch?“ Sie antwortete nicht auf seine Frage sondern sprach gleich aus, was sie hatte sagen wollen. „Morgen brauchen wir dich auch nicht, du kannst also ruhig zu Hause bleiben. Entspann dich ein wenig und sammle neue Energien, übermorgen erwarten wir dich wieder an der Brücke, um die letzten Sachen dort in Ordnung zu bringen. Man sieht sich, und viel Spaß, auf Wiederhören.“ Subaru hob sich den Hörer vom Ohr und starrte ihn an. Sie hatte einfach aufgelegt. Er atmete tief durch. Wieso waren alle Menschen in letzter Zeit so schwierig? Er hatte zuviel Kontakt. Wenn er nur die Zeit wieder zurückhaben könnte, in der er nach Seishirou gesucht hatte. Ganz allein. Er wandte sich um und lugte in die Küche. Da saß, wonach er jahrelang verzweifelt gesucht hatte. Subaru seufzte. ‚So habe ich ihn nicht finden wollen.’ Er legte den Hörer neben das Telefon. Wenn ihn heute noch mal jemand sprechen wollte, hatte er Pech gehabt. Subaru wollte nur mit einem sprechen und dazu brauchte er kein Telefon. Aber viel Glück. Er ging zurück in die Küche und setzte sich vor Seishirou auf den Stuhl. „Geht es jetzt weiter?“, meinte Seishirou amüsiert. Subaru legte sich das Marmeladenbrötchen wieder auf den eigenen Teller und hob den Deckel herunter. Er schnitt die bestrichene Unterseite in kleine Teile und rückte dann mit dem Stuhl nahe an Seishirou heran. „Mach den Mund auf.“ Seishirou presste die Lippen so fest aufeinander, dass die Haut von fleischfarben zu schneeweiß wechselte. „Sehr witzig.“ Subaru seufzte. Er hatte zehn Stunden lang geschlafen, aber er fühlte sich schon wieder todmüde. Seine Finger verklebten von der Kirschmarmelade. Er packte sanft Seishirous Kinn und legte den Daumen an seine Unterlippe. „Mach den Mund auf, Seishirou.“ Er zog und Seishirou wehrte sich nicht dagegen. Subaru schob das Stückchen in seinen Mund und wartete darauf, dass Seishirou zu kauen begann. „Na los“, sagte er. „Hm.“ Seishirou kaute langsam und schluckte. Subaru fütterte ihm die weiteren geschnittenen Stückchen. Sein Herz fühlte sich mit jedem Schlucken leichter an. Als Seishirou aufgegessen hatte, ging Subaru ins Bad um sich die Marmelade von der Hand zu waschen. Er schloss die Tür hinter sich und steckte sich den Finger in den Mund, der immer Seishirous Lippen berührt hatte. Er sog daran wie ein kleines Kind. Seishirou saß schon im Wohnzimmer, als Subaru zurückkam. Er hatte sich seine Decke über die Stümpfe gezogen und sah nach draußen. Subaru setzte sich in den Sessel und sah ihm wiederum dabei zu, wie Seishirou die Wolken draußen beim Wandern beobachtete. Heute wäre ein guter Tag zum Spazierengehen gewesen, aber Subaru hatte sich etwas vorgenommen und er würde das Spiel gewinnen. ‚Dabei wäre ich gerne mit ihm raus gegangen.’ Er ließ seufzend den Kopf hängen. Heute hatte er, ausnahmsweise, nichts zu tun. Außer den ewigen, niemals enden wollenden Papierkram. Er schnappte sich einen der schwarzen Ordner vom Wohnzimmertisch und blätterte darin. Subaru fühlte sich unangenehm an eine Situation von vor wenigen Tagen erinnert. Die nicht noch mal eintreten würde. Warum sollte sie. Seishirou und er hatten jetzt ein besseres Verhältnis. So war es doch. Subaru zog die Knie auf den Sessel und lehnte sich in eine Ecke, während er den Ordner durchsah. Es ging mal wieder um einen Fuchsdämon. Sie schienen in letzter Zeit Hochsaison zu haben. Andere Dämonen gab es kaum mehr. Sie flohen wohl vor Tokyo, bevor das große Unheil losbrach. Subaru konnte es ihnen nicht verdenken. Er rechnete seinem Team keine wirklichen Chancen aus, wenn sie ihren neuen Kampfstil beibehielten; Leute aus dem Weg räumen, bevor sie einem in die Quere kommen können. Das taten nicht einmal die Erddrachen. Subaru strich ein Eselsohr glatt. „Die Welt wird untergehen.“ Seishirou schaute ihm direkt in die Augen. „Ja?“ „Das wollte ich nicht laut sagen.“ „Aha.“ Subaru knabberte an seinen Nägeln. ‚Wenn Arashi das wüsste… ich sollte besser Acht geben, was ich sage.’ Wenigstens hatte Seishirou einmal auf etwas reagiert. Auch wenn es nichts war, das ihn anging. Vielleicht war das ein guter Gesprächsstart. „Wusstest du schon lange davon?“ Seishirou faltete die Hände im Schoß. „Von was? Dem Ende der Welt?“ Er schmunzelte. „Das wüsstest du wohl gerne.“ „Nein“, sagte Subaru und erwiderte das Lächeln. „Ich würde lieber mehr über dich erfahren, aber es könnte doch ein Anfang sein, wenn du mit mir darüber sprichst. Immerhin kannst du mir nichts verraten, was ich nicht ohnehin schon weiß.“ „Wieso sollten wir uns dann darüber unterhalten?“ „Kommunikation ist gut für die Menschen.“ Subaru legte den Ordner beiseite. „Ach so? Nun, dann könnten wir auch über das Wetter reden.“ „Hier in dieser Wohnung kriegt man fast nichts von den Erdbeben mit, oder? Es scheint fast unwirklich, dass draußen das Ende der Welt, das der Kampf darum begonnen hat. Hier ist alles so friedlich.“ Die Worte flossen einfach so von seiner Zunge. Aber es war egal. Das alles wusste Seishirou. Er verriet ihm nichts Wichtiges. Arashi konnte ihn wohl kaum dafür umbringen oder mundtot machen, dass er über seine Gefühle sprach. Seishirou nickte. Er wirkte nachdenklich. Auf seiner Stirn waren kleine Falten zu sehen. „Möchtest du etwas fragen?“, sagte Subaru. „Du wirst mir keine Antwort geben.“ Seishirou zeigte Zähne. „Nicht wahr, Subaru?“ „Vielleicht. Vielleicht doch. Ich bin nicht du, auch wenn ich dir über die Jahre hinweg sicher ähnlicher geworden bin.“ Subaru lehnte sich zurück. „Frag einfach.“ „Was geht draußen vor sich?“ Subaru ahmte den Laut nach, der in Spielsendungen bei einer falschen Antwort ertönte. „Ich sagte es doch.“ Seishirou sah an sich herunter. Dann drehte er sich von ihm weg und starrte wieder nach draußen. Subaru runzelte die Stirn. ‚Das kenne ich doch irgendwoher…’ Er schnüffelte in der Luft. „Oh“, sagte Subaru. Seishirou zupfte an der Decke. Wahrscheinlich, damit sie nicht feucht wurde. Subaru kniete sich vor ihm hin. „Es ist nicht schlimm.“ Er sah ihn mit, wie er hoffte, eindringlichem Blick an. „Ich werde dich jetzt waschen.“ Seishirou wich ihm aus. „Du willst nicht so sitzen bleiben. Ich weiß das. Komm.“ Subaru stand auf und schob Seishirou ins Bad. Subaru wachte am nächsten Tag mit schweren Lidern auf. Das Sonnenlicht war kräftig und er wollte die Augen nicht öffnete. Er tat es erst, als sein Wecker laut begann ihn aus dem Bett zu schrillen. Seine Augen tränten bei dem plötzlichen Kontakt mit gleißendem Licht. Er zog die Vorhänge zu. Als er sich nach seiner Katzenwäsche in die Küche begab und dort aus dem Fenster sah, war die Welt draußen weniger hell. Graue Wolken schwebten über Tokyo, verdeckten aber noch nicht die Sonne. Dennoch wirkte die Stadt bläulich trüb. Deswegen war sie allerdings nicht weniger laut. Er kippte das Fenster und entgegen kamen ihm tausend Geräusche. Hupen, Lachen, Kinderschreien. Er würde das Fenster für Seishirou offenlassen. Dann bekam er wieder etwas von der Außenwelt mit. Das war eine sehr nette Geste. Subaru nickte und warf den Wasserkocher an. ‚Wo Seishirou wohl gerade wieder ist?’ Er musste nicht lange suchen. Seishirou saß im Wohnzimmer, wo es immer noch nach Urin stank. Wenn das noch öfter passieren sollte, würde er sich ein Raumspray besorgen. Oder er hatte eine zu empfindliche Nase und konnte deswegen noch die letzten Geruchspartikel wahrnehmen. Vielleicht spielte ihm sein Gehirn auch etwas vor. Seishirou wirkte immer noch genauso abwesend wie am Vortag nach dem Bad. Subaru schnappte sich den Rollstuhl und schob ihn in die Küche. „Es gibt gleich Frühstück“, sagte er. Subaru tippte an Seishirous Schulter. Sie waren doch über ‚gar keine Reaktion’ hinausgewachsen. Zumindest hatte er das so für sich empfunden. Er schob ihn an den Tisch und widmete sich dem kochenden Wasser. Er schenkte sich und Seishirou eine Tasse ein und stellte beide auf den Tisch. Seishirous Brust hob und senkte sich langsam. Subaru setzte sich neben ihn. ‚Schläft er?’ Er fuhr durch das weiche Haar. Seishirous Lider zuckten. „Tatsache.“ Subaru lächelte und trank seinen Tee aus. Er schloss das Fenster. Dann schob er den Riegel heraus und öffnete es ganz; es war weit genug oben und es gab keine Klettermöglichkeiten. „Bis später, Seishirou.“ Er beugte sich zu ihm herunter und küsste seine Stirn. Als die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war lehnte er sich gegen sie und betastete seine Lippen. ‚Oh Gott, ich will ihn küssen.’ Er schüttelte den Kopf. Er musste zu seiner Großmutter. Heute war der perfekte Tag dafür. Tokyo war trotz des schlechten Wetters überfüllt und bis er in Kyoto ankam, schien eine Ewigkeit zu vergehen. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, das Fenster zu schließen, während er aus den Scheiben seines Zugabteils starrte. Er musste sich den Platz mit zwei älteren Damen teilen, die die ganze Zugfahrt über ihre Erfahrungen austauschten, was Medikamente anging. Die kleinere der beiden mit den strahlend weißen Haaren zog immer wieder die Nase hoch, verweigerte aber das Stofftaschentuch, das ihre Freundin ihr alle paar Minuten anbot. ‚Was, wenn er sich erkältet?’ Auf dem Bahnhof wehte ein eisiger Wind um die Ecken. Er pfiff und schlug Subaru gegen das Gesicht, auch wenn er den Kragen seines Mantels umschlug und sich übers Gesicht zog. Subaru zitterte. ‚Bei seiner Verfassung könnte er an einer Grippe sterben.’ Seine Beine schienen zu Eisstäben zu werden, während er zum Anwesen der Sumeragi lief. Einige der Leute erkannten ihn noch immer. Er hatte sich seine Haare wieder wachsen lassen, wie er sich früher die Frisur mit Hokuto geteilt hatte. Wahrscheinlich sprachen ihn deswegen viele der alten Damen an. Er redete kurz mit ihnen, streichelte ihnen über den Rücken, half ihnen über die Straße, wankte dann wieder zurück auf die andere Straßenseite (immer weggeblasen vom Wind) und ließ sich nie lange aufhalten. Ein alter Herr kam gerade aus dem kleinen Supermarkt an der Ecke, bevor es zu den Sumeragi ging. Seine Augen strahlten, als er Subaru entdeckte. Er schwenkte seine Tüten hin und her. „Subaru! Söhn, daffu unff bettsuchen kommst.“ Er kannte den Mann nicht. „Ähm, entschuldigen Sie?“ Das schien seit einer halben Stunde sein Standardsatz zu sein. Er kramte in seiner Jackentasche und fand eine Packung Zigaretten. Eine davon zündete er sich an. ‚Seishirou.’ Er lächelte bitter. „Der Gerdner.“ „Oh.“ Subarus Lächeln wurde breiter und ehrlicher. An den Namen erinnerte er sich immer noch nicht, aber wenigstens erkannte er ihn wieder. Er war einer der Gehilfen des Gärtners gewesen, der sich um den Garten des Anwesens gekümmert hatte. Wie alt war er jetzt wohl… höchstens sechzig, wenn Subaru ihn richtig in Erinnerung hatte. Der Gärtner selbst war schon lange tot. Vor sieben Jahren hatte er sich geweigert, zu seiner Beerdigung zu gehen, weil er auf eine Sakurazukamori-Spur gekommen war, die keinen Aufschub geduldet hatte. Er fühlte Schuld in sich aufkeimen. Sie unterhielten sich ein paar Minuten, dann ließ der ältere Herr – dessen Name im Gesprächsverlauf herausgekommen war: Hitomi – ihn wieder ziehen. Subaru stand vor dem Anwesen und schnippte die Zigarette weg. Er musste nicht erst klingeln. Das Tor öffnete sich von alleine. Eine Frau kam ihm entgegengelaufen. Sie wirkte noch sehr jung und reichte ihm gerade so bis über den Bauch. Subaru lächelte zu der kleinen Dame hinab. „Sie sind Subaru Sumeragi, 13. Oberhaupt des Sumeragi-Clans, korrekt?“ Sie haspelte es herunter, als ob sie es lange auswendig gelernt hätte und jetzt der wichtigen Prüfung unterzogen wurde, nach der sie entweder weitermachen durfte oder ihr fristlos gekündigt wurde. Subaru nickte. „Ich möchte mit meiner Großmutter sprechen. Sanae Sumeragi, 12. Oberhaupt des Sumeragi-Clans.“ Das Hausmädchen strahlte ihn an. „Sofort!“ Er folgte ihrem Weg durch das verwirrende Labyrinth an Fluren und Türen, die zu weiteren Fluren und leeren Zimmern führten. „Wie heißt du?“ „Mie, Mie heiße ich.“ „Mimi?“ „Mie“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Einfach nur Mie.“ Subaru zuckte die Schultern. Das konnte sie nicht sehen, da er hinter ihr herlief und nicht voraus. Dabei kannte er den Weg noch sehr gut. Sie führte ihn mit ein paar Umwegen in das Zimmer seiner Großmutter. Sie saß auf dem Boden, eine Heizdecke über den Beinen. Er verneigte sich tief vor ihr. „Großmutter.“ „Subaru.“ Sie sah nicht von dem Brief auf, den sie gerade schrieb. „Setz dich doch.“ „Jawohl.“ Er setzte sich ihr gegenüber. Mie tappte mit dem Fuß. „Möchten Sie Tee?“ Seine Großmutter bedachte Mie mit einem strengen Blick. Mie zuckte zusammen. „Möchten Sie etwas zu trinken, ehrenwerter Sumeragi?“ Subaru lächelte sie aufmunternd an. „Einen Tee bitte. Du darfst eine Sorte aussuchen.“ Sie strahlte ihn an. Seine Großmutter schien wenig begeistert. „Du bist immer noch zu nett, Subaru.“ ‚Du kennst mich nicht.’ Er dachte an Seishirou, der allein bei ihm zu Hause saß, an kein Essen herankam, weil entweder die Schränke zu weit oben hingen oder abgeschlossen waren. Der weder durch Fernsehen, Computer noch Zeitung oder Zeitschriften (ausgenommen von einem Micky-Maus-Heft, das Subaru vor zwei Wochen hatte exorzieren müssen) Zugang zur Außenwelt hatte. Subaru fror. Er zog die Heizdecke über seine Knie. „Wie geht es mit der Rainbow Bridge voran?“ „Ganz gut.“ Er bedankte sich bei Mie, die ihnen Tee brachte. Er bekam Grünen Tee, seine Großmutter Schwarzen Tee. „Sie ist wieder stabil, wenn auch nicht betriebsfähig.“ „Mir kam zu Ohren, du kümmerst dich um eins der Opfer.“ Sie musste wissen, dass es sich um Seishirou handelte, auch wenn sie seinen Namen nicht aussprach. „Er hat kaum mehr Magie, Großmutter.“ Der Dampf des Tees brannte in seinen Augen. Er schob die Tasse zur Seite. „Er ist nicht mehr gefährlich.“ „Wie geht es ihm?“ Subaru runzelte die Stirn. „Den Umständen entsprechend. Er ist sehr still.“ Seine Großmutter zog die Brauen hoch. Er biss sich auf die Zunge. „Es geht ihm gut.“ „Richte ihm meine besten Wünsche aus.“ Subaru nickte schweigend. „Seine Mutter...“ „Ist tot. Seit vielen Jahren.“ „Aber du hast sie gekannt. Gib es zu.“ Ihre Falten schienen tiefer zu werden. Vielleicht waren nur die anderen Lichtverhältnisse, die es so scheinen ließen. Wolken schoben sich vor die Sonne und tauchten das Zimmer in graues Aschelicht. Die weißen Haare warfen gespenstische Schatten auf das Gesicht seiner Großmutter. Sie hatte sich immer gut um Hokuto und ihn gekümmert. Jetzt war er sich nicht mehr sicher, ob das Liebe gewesen war oder Eigennutz. Subaru tendierte zu letzterem, je länger sie schwieg. Ihre Gesichtszüge waren hart, ihre aufgerissenen Lippen eine schmale Linie. „Großmutter“, sagte Subaru. „Setsuka war ein gutes Kind.“ Er runzelte die Stirn. ‚Sie kannte sie schon, als seine Mutter, diese Setsuka, noch ein Kind war?’ Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte ihn in keine direkte Verbindung mit einem Gesicht bringen. „Wir haben miteinander gespielt, damals. Vor langer, langer Zeit.“ Sie lächelte. Ihre Augen waren trübe und leer, fixierten die Teetasse vor ihr. „Wie kann das sein...?“ Sie hob den Kopf und sah ihn an. Das Lächeln war von ihren Lippen verschwunden, doch ihre Augen glänzten. Entweder würde sie bald weinen, oder sie war glücklich. Oder beides. „Sie war meine jüngere Schwester.“ Subarus Finger krampften sich um die Teetasse. „Das ist nicht wahr.“ „Doch, das ist es.“ Das machte Seishirou zu seinem... Großcousin? Onkel zweiten Grades? Er schauderte. Sie trank einen Schluck Tee und schloss dabei die Augen. „Meine Halbschwester, um genauer zu sein.“ Subaru atmete erleichtert aus. Wenigstens waren sie nur zur Hälfte miteinander verwandt. „Sie ist viel jünger gewesen als ich. Aber ich habe sie sehr geliebt.“ Ihre Hände zitterten, als sie die Tasse abstellte. „Das war töricht.“ Subaru wollte nachfragen, doch der kälter werdende Ausdruck in den Augen seiner Großmutter schreckte ihn ab. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Aber wenigstens erklärte das, warum Seishirou ihn direkt nach seiner Geburt zum ersten Mal gesehen hatte. Die Tante zweiten Grades wollte ihren Neffen sehen. Seine Rückenmuskulatur verspannte sich. Er rieb seinen Nacken. Vielleicht sollte er das Massageöl auch an sich selbst testen. „Onkel Seishirou“ würde es ihm aber kaum einmassieren. „War das die Information, die du hören wolltest?“ Er schreckte hoch. Sie musste ihm etwas erzählt haben, doch er hatte nicht zugehört. „Ich – wie bitte?“ Sie seufzte tief. „Setsuka half mir, zu einem guten Oberhaupt zu werden. Bis zu ihrem fünften... oder war es das sechste? Ich weiß es nicht mehr, zu ihrem fünften oder sechsten Lebensjahr wurde sie mir weggenommen.“ „Wohin?“ „Dort, wo alle hinkommen.“ „Alle Sakurazukamori? Aber wieso? Wer legt das fest?“ „Sie tötete deinen Vater.“ Subaru wurde bleich. Er konnte spüren, wie das Blut aus den Adern in seinem Gesicht schwand. „Dein Vater war der ehemalige Sakurazukamori“, sagte sie. Sein Kopf schwirrte. „Aber er – Seishirou ist nicht...“ „Nein, er ist nicht dein Halbbruder. Sie wurde von einem der Hausangestellten vergewaltigt.“ Ihm war, als müsse er sich erbrechen. „Von einem unserer Hausangestellten?“ „Du kennst ihn“, sagte sie. „Er hat sich später um den Garten gekümmert. Die Kamelien waren sein Augenstern. Und eben auch diese eine, besondere Kamelie.“ Sie seufzte. „Wegen ihm hat sie wohl den Verstand verloren.“ „Tanaka...“ Er konnte sich noch gut an den Gärtner erinnern. Ein netter alter Herr, der ihm die verschiedenen Blumensorten im Garten des Sumeragi-Anwesens erklärt hatte. Seishirous Vater. Er versuchte sich an die Farbe seiner Augen zu erinnern. Ja. Ja, sie waren golden gewesen. Wie ein Bernstein. Tanaka hatte ihm erklärt, wie ein Bernstein entstand. Dass sehr, sehr altes Harz von Bäumen irgendwann trocknete, hart wurde und zu einem schönen Stein wurde. Und dann konnte er sich auch an das Gesicht erinnern, das er schemenhaft mit dem Namen „Setsuka“ verband. Die alte Dame, die mit ihm geredet hatte. Die Kamelien. Das Krankenhaus. Ihr Sohn. ‚Sie hat Seishirou gemeint.’ Subaru blinzelte. Er wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers über die Augen. „Den Rest solltest du Seishirou fragen. Über die Toten werde ich nicht schlechter sprechen, als ich es ohnehin schon getan habe.“ Sie zog eine Klingel aus ihrem Kimono hervor und schüttelte sie. Eine Bedienstete kam ins Zimmer gestolpert. „Ja, meine Dame?“ „Begleite meinen lieben Enkel bitte nach draußen.“ Subaru stand zitternd auf. Seine Großmutter blieb sitzen. Sie sah ihn nicht einmal an. Er verbeugte sich vor ihr; nicht so tief wie üblicherweise. „Auf Wiedersehen, Großmutter.“ Er war schon aus der Tür, da hörte er ein leises Weinen aus dem Zimmer kommen. Subaru atmete tief durch und ging zurück zu Seishirou. Er hatte noch mehr Fragen in sich brodeln, als zwanzig Minuten zuvor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)