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Amor Vincit Omnia...?

Die Liebe bezwingt alles...?
von

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Unsicherheit

„Ah -“

Ren Tsuruga, der berühmteste Schauspieler Japans, hatte unter normalen Umständen keinerlei Probleme damit, eine ihm gestellte Frage sofort und völlig überzeugend zu beantworten – egal, ob er log oder die Wahrheit sprach. Normalerweise gab es auch nichts, das ihm in der Öffentlichkeit das glänzende Gentlemanlächeln vom Gesicht wischen konnte. Doch die Situation, in der er sich nun befand, schien nicht unter den Begriff „normalerweise“ zu fallen, denn Ren wusste weder eine Antwort auf die Frage, die die junge Frau ihm gerade gestellt hatte, noch gelang es ihm, dem Kameramann weiterhin sein freundlichstes Lächeln zu zeigen. Zum ersten Mal waren seine Gesichtszüge bei einem Auftritt entgleist – und wie es das Schicksal wollte, wurde gerade dieser live im ganzen Land übertragen.

Wie es dazu gekommen war, wusste er selbst nicht so genau. Als das Interview vor einer knappen Viertelstunde begonnen hatte, war Ren nichtsahnend mit einem besonders strahlenden Lächeln vor die Kamera getreten und hatte dieselben Fragen beantwortet, die ihm in fast jedem Interview in den letzten Jahren gestellt worden waren. Aber diese eine Frage, wegen der er nun stocksteif auf seinem Sessel saß und die blonde Interviewerin schockiert ansah, riss ihn völlig aus der Reserve, da er absolut nicht mit so etwas gerechnet hatte.

„Ah -“, sagte er erneut und versuchte, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen. Nachdem er einmal ein- und ausgeatmet hatte, gelang es ihm tatsächlich, das Gentlemanlächeln zurückkehren zu lassen.

„Tut mir leid, könnten Sie die Frage bitte wiederholen? Ich habe einen Moment nicht aufgepasst.“

Er spürte, wie sein Manager, der sich hinter der Kamera postiert hatte, ihm einen misstrauischen Blick zuwarf, doch er tat sein Bestes, nicht darauf zu reagieren.

Auch die Interviewerin schien ein wenig überrascht zu sein, da sie sich wohl sicher gewesen war, er hätte während seines kurzen Schweigens über die Frage nachgedacht. Doch das glitzernde Lächeln, das ihr der hochgewachsene Mann nun zuwarf, ließ sie diese Annahme sofort vergessen.

„Nun, es war eine Frage, die wir schon mehreren Gästen unserer Sendung gestellt haben“, begann sie hastig das zu erläutern, was sie vor ein paar Minuten auch schon gesagt hatte. Diesmal drohte Ren wirklich abzuschalten, denn sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Eine Frage, die sie schon mehreren Gästen gestellt haben?, wiederholte er in Gedanken und ärgerte sich im selben Moment darüber, dass er seinen Fernseher so selten benutzte. Er hatte jedenfalls noch keinen Kollegen diese Frage beantworten hören.

„Wenn Sie bald sterben müssten, was würden Sie dann unbedingt noch tun wollen?“

Weiter konnte Ren seine Antwort nicht hinauszögern. Wenn er vorgab, schon wieder nicht zugehört zu haben, würde die Interviewerin selbst angesichts seines betäubenden Gentlemanlächelns misstrauisch werden. Doch jedes Mal, wenn er versuchte, sachlich an die Frage heranzugehen, stieg ein fröhlich lachendes Gesicht, umrahmt von kurzen schwarzen Haaren, vor seinem geistigen Auge auf. Kyōkos Gesicht.

„Nun?“, fragte die Moderatorin und blickte neugierig in sein Gesicht, das während des Lächelns eingefroren zu sein schien, da sich kein Muskel rührte.

„Ich -“, begann er, räusperte sich aber vor dem Weitersprechen angesichts seiner ungewöhnlich rauen Stimme. „Ich habe ehrlich gesagt noch nie darüber nachgedacht“, erklärte er schließlich. „Ich bin ja noch jung und -“

„Natürlich, natürlich“, plapperte die Frau dazwischen und errötete. Anscheinend hatte sie plötzlich das Gefühl, Ren mit dieser Frage beleidigt haben. Doch irgendetwas – vielleicht der Blick eines verantwortlichen Produzenten, den Ren nicht sehen konnte – veranlasste sie dazu, dennoch noch einmal nachzuhaken.

„Aber wenn Sie jetzt plötzlich eine schlimme Krankheit bekommen würden und nur noch eine begrenzte Zeit zu leben hätten – was würden Sie dann tun? Es gibt doch sicher irgendetwas, das Sie vielleicht immer wieder aufgeschoben haben, weil Sie denken, Sie hätten später noch genug Zeit dafür, nicht wahr?“

Nachdem sie all das hervorgebracht hatte, warf sie der Person hinter Ren einen unsicheren Blick zu, dann wandte sie sich wieder dem Schauspieler zu, der die Intensität seines Lächelns noch erhöht hatte. Nach außen hin hatte er seine Beherrschung wieder erlangt, doch in seinem Inneren herrschte Chaos; tausende Bilder, Erinnerungen, Träume rauschten unaufhaltsam durch seinen Kopf.

„Auf die Schnelle fällt mir nichts ein, tut mir wirklich leid“, sagte er. Wie immer würde niemand sein Lüge bemerken; nur sein Manager Yashiro, den er aus den Augenwinkel beobachtete, schüttelte unmerklich den Kopf, ein wissendes Lächeln auf den Lippen.

Trotz Rens eindeutiger Absicht, das Thema zu beenden, nannte die Frau weitere Beispiele: „Gibt es vielleicht einen Ort, den Sie unbedingt noch besuchen möchten? Oder träumen Sie gar von einer Weltreise?“

„Ich denke, wenn ich todkrank wäre, wäre ich nicht mehr unbedingt in der Lage dazu, eine Weltreise zu machen, finden Sie nicht auch?“, negierte Ren auch diese Frage.

Der schönste Ort auf dieser Welt ist der, an dem sie ist, schoss es ihm durch den Kopf, doch er versiegelte den Gedanken so schnell wie möglich wieder, um bloß keine Gefühlsreaktion zu zeigen.

„Und es gibt keine Person, der Sie unbedingt noch etwas sagen müssten? Vielleicht irgendetwas, das Sie im Moment gar nicht als so dringend ansehen?“

Als Ren diesmal antwortete, gab er sein Bestes, ein wenig genervt zu klingen, während in seinem Kopf schillernd bunte Bilder hervorstiegen, wie er ihr das sagte, was er schon so lange unter Verschluss hielt.

„Nicht, dass ich wüsste. Es gibt vieles, was ich im Moment nicht als so dringend ansehe.“

Sein Tonfall schien der Blondine endlich klarzumachen, dass jede weitere Nachfrage keinen Sinn hatte. Daher sog sie sich irgendeine nicht besonders überzeugende Überleitung aus den Fingern und stellte ihm eine Frage, die nichts mehr mit dem Vorangegangenen zu tun hatte. Ren atmete innerlich auf. Der weitere Verlauf des Interviews würde ihm keine Probleme mehr bereiten.
 

„In solchen Momenten wird mir immer wieder bewusst, was für ein fantastischer Schauspieler du doch bist“, stellte Yashiro fest und grinste Ren schelmisch an, während die beide nebeneinander den Flur entlanggingen, der sie zum nächsten Termin führte.

„Ach ja?“, fragte der Betroffene mit einem glitzernden Lächeln, bei dem fast jedes weibliche Wesen vor Begeisterung in Ohnmacht gefallen wäre. Yashiro jedoch schüttelte nur den Kopf.

„Ich weiß genau, was in dir vorging, als sie dir vorhin diese Frage gestellt haben. Natürlich gibt es etwas, das du unbedingt noch machen müsstest, wenn du bald sterben würdest.“

„Yashiro-san“, sagte Ren. Er warf seinem Manager einen sehr ernsten Blick zu. „Habe ich dir nicht oft genug gesagt, dass du dich aus meinen Privatangelegenheiten raushalten sollst?“

Der Blonde machte unwillkürlich einen Schritt zur Seite. „Ja“, erklärte er seufzend. „Schon gut, ich wollte ja nur helfen.“

Angesichts seines niedergeschlagenen Gesichts lenkte Ren ein: „In jedem anderen Fall würde ich deine Hilfe auch liebend gerne annehmen, aber das hier ist eben eine Sache zwischen mir und ...“

„Kyōko“, ergänzte Yashiro seufzend, da sein Schützling den Satz nicht vollenden zu wollen schien. „Ja, ich weiß. Tut mir leid.“

Schweigend setzten die beiden Männer ihren Weg fort. Ren versuchte vergebens, den Gedanken an das Mädchen aus seinem Kopf zu verbannen, da er ihm nichts als Kopfschmerzen bereitete. Wahrscheinlich würde er ihr das, was er ihr schon so lange hatte sagen wollen, wirklich erst gestehen können, wenn sein Tod kurz bevor stand.

Mitten im Schritt hielt er inne.

Yashiro blickte ihn verwundert an.
 

Andernorts beendete Kyōko gerade die heutigen Dreharbeiten zu Dark Moon, der Serie, in der sie schon seit zwei Monaten die Rolle der Mio Hongō spielte.

„Gute Arbeit, Kyōko“, lobte der Regisseur Ogata ihr Spiel. Sie bedankte sich verlegen.

Während ihr in der Maske mühsam die künstliche Narbe an der Schläfe entfernt wurde, dachte sie darüber nach, was sie an diesem Abend noch tun konnte. Nach Beendigung der Dreharbeiten musste sie sonst häufig noch zur Aufnahme der Sendung Rock Bizarr, in der sie in einem Hahnenkostüm mitwirkte. Und wenn nicht, dann nutzte sie ihre freie Zeit, um mal wieder im Daruma-ya jobben zu können. Heute war jedoch der zweite Mittwoch des Monats, und das Restaurant hatte geschlossen.

Kyōko gähnte. Erst jetzt, als sie sich langsam auf den Heimweg begab, fiel ihr auf, wie müde sie eigentlich war. In den letzten Tagen hatte sie immer ungewöhnlich früh aufstehen müssen und das machte sich nun bemerkbar.

Als Kyōko in ihrem kleinen Appartement über dem Daruma-ya angekommen war, war es erst kurz nach fünf. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie nicht doch noch etwas tun sollte, bevor sie ins Bett ging, doch erstens war sie zu müde und zweitens fiel ihr sowieso nichts ein. Also schloss sie die Vorhänge, zog sich um und machte es sich unter ihrer Decke gemütlich.
 

Als ein leises Piepen erklang, wusste Kyōko im ersten Moment nicht, was es damit auf sich hatte. Erst, als sie sich aufgerichtet hatte und ihr Gehirn langsam wieder zu arbeiten begann, erkannte sie den Klingelton des Handys, das sie von der Agentur bekommen hatte. So schnell sie es in ihrem Zustand konnte, sprang sie auf und lief zu ihrer Umhängetasche, die neben dem niedrigen Tisch auf dem Boden lag. Zum Glück hatte das Gerät auch zu Blinken begonnen, sonst hätte sie es in der dunklen Tasche niemals rechtzeitig gefunden.

„Kyōko Mogami, guten Tag“, meldete sie sich höflich.

„Du brauchst ja immer noch recht lange, um ans Telefon zu gehen“, zog Ren Tsurugas Stimme sie auf.

„Ich habe bis eben wunderbar geschlafen“, verteidigte Kyōko sich. Auch wenn es ihrem noch immer schläfrigen Kopf widerstrebte, überhaupt irgendwas zu denken, fragte sie sich, was der Schauspieler mitten in der Nacht von ihr wollte.

Das „mitten in der Nacht“ strich sie allerdings gleich wieder aus ihrer Frage, als sie einen Blick auf die Uhr an der Wand geworfen hatte: es war noch nicht einmal sechs, und dem Licht nach zu urteilen, das durch den Vorhang schien, war es sogar noch hell draußen.

„Nanu?“, fragte Ren. Kyōko hörte Besorgnis in seiner Stimme mitschwingen.

„Keine Sorge, ich war nur etwas müde. Das ist alles“, beeilte sie sich zu erklären.

„Warum bist du schon zu Hause? Arbeitest du sonst nicht jeden Abend?“, hakte er nach.

„Heute nicht“, erwiderte Kyōko kurz. Dieses Thema gefiel ihr ganz und gar nicht, denn es war eng mit ihrem Mitwirken bei Rock Bizarr verbunden und somit absolut Tabu, wenn sie mit Ren sprach. Er durfte niemals erfahren, dass sie im Kostüm des Hahnes Bou steckte.

„Weshalb rufen Sie an?“, versuchte sie daher, davon abzulenken.

„Ah, das...“, begann er, brach aber ab. Das überraschte Kyōko, da sie es bisher noch nicht erlebt hatte, dass Ren die Worte fehlten.

„Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss...“, begann er zögerlich.

Kyōko zuckte zusammen. Warum war seine Stimme so sanft? So hatte sie ihn noch nie sprechen hören, es klang fast schon... zerbrechlich, so als hätte er Angst vor ihrer Reaktion...

Wollte er etwa ...?

Kyōko versuchte, sich zu beruhigen, während er nach den richtigen Worten zu suchen schien. Sie hatte es hier mit Ren Tsuruga zu tun. Dieser Mann würde so etwas sicher nicht am Telefon klären, oder?! Aber vielleicht wollte er ein Treffen mit ihr vereinbaren, um es ihr zu sagen... Was sollte sie antworten?

„Ich bin krank“, sagte er schließlich mit einer leisen, melancholischen Stimme, die sie gar nicht von ihm kannte, und riss sie damit aus ihren Gedanken

„Was -“, stieß Kyōko aus, hielt dann aber inne.

„Was... was haben Sie denn? Wieder die Grippe?“, fragte sie nach und ließ nicht zu, dass ihre Gedanken das erfassten, was er wohl tatsächlich hatte sagen wollen.

„Ich habe Aids.“

„Oh!“ rief Kyōko und hätte fast ihr Handy fallen gelassen.

Einen Moment war ihr Gehirn wie gelähmt vor Schock, doch als es wieder zu arbeiten begann, dachte sie darüber nach, wie oft Ren sie schon reingelegt hatte.

„Wie... wie sollten Sie das denn bekommen haben?“, fragte sie daher misstrauisch nach.

Er zögerte einen Moment, dann sagte er: „Es muss passiert sein, als ich mir in einer Menschenmenge eine leichte Handverletzung zugezogen habe. Anders kann ich es mir nicht erklären.“

Kyōko wusste zwar nicht sehr viel über Aids, fragte aber trotzdem: „Und dann haben Sie sich nicht gleich untersuchen lassen?“

Wieder schwieg Ren kurz, bevor er erklärte: „Ich habe eben nicht so viel Zeit, und ehrlich gesagt kam es mir auch nicht so... dringend vor.“

Als Kyōko darauf nichts erwiderte, murmelte er leise: „Es hätte wohl keinen Unterschied gemacht.“

Die Melancholie in seiner Stimme ließ das Mädchen langsam begreifen, dass dies wohl kein schlechter Scherz war. Er war tatsächlich krank. Und obwohl sie auf diesem Gebiet nicht sehr bewandert war, wusste sie eins: Bis heute gab es kein Heilmittel für Aids.

Das Handy glitt aus ihrer Hand und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppich.

„Nein“, flüsterte sie. Ihr Körper schien wie gelähmt zu sein und selbst wenn sie wusste, dass sie jetzt das Gerät aufheben und mit Ren sprechen sollte, gelang es ihr nicht, sich auch nur ein kleines Stücken zu bewegen.

Erst, als sie hörte, wie er mit besorgter Stimme ihren Namen rief, kehrte das Leben in sie zurück. Sie beugte sich herab und nahm das Handy in ihre Hand, die zu zittern begonnen hatte.

„Tu- tut mir leid, Tsuruga-san.“ Selbst im Flüsterton war deutlich zu hören, dass auch ihre Stimme zitterte.

Ren seufzte tief. „Ich hätte es dir nicht sagen sollen.“

„Doch, das ist – in Ordnung“, brachte Kyōko heraus. „Es war ein Schock für mich, ich war unvorbereitet...“

Einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Ren: „Du bist die erste, die es erfährt.“

„Ah, danke, also ich...“ Kyōko war zu verwirrt, um ganze Sätze hervorzubringen.

Ein leises Lachen ertönte aus dem Hörer. „Mach dir keine Sorgen, es ist schon in Ordnung.“

„In Ordnung?“, fragte Kyōko, die Stimme eine Oktave höher als gewöhnlich.

„Ich komme schon damit klar, ehrlich.“

„Machen Sie nichts Unvernünftiges!“, rief Kyōko alarmiert.

Ren lachte erneut, diesmal lauter. „Was glaubst du, was ich anstellen werde? Mich von der nächsten Brücke stürzen?

Kyōko errötete. In diesem Moment war sie wirklich froh, Ren nicht persönlich gegenüberzustehen.

„Vergessen Sie’s“, murmelte sie. „Vielleicht sollten Sie jetzt auch Yashiro-san anrufen.“

„Nein“, sagte Ren einfach. Bevor Kyōko nachfragen konnte, fügte er hinzu: „Ich werde es niemandem außer dir erzählen. Noch sind keine Symptome bei mir aufgetreten, also kann ich es noch eine ganze Weile geheim halten. Bitte sprich mit niemandem darüber.“

„Aber -“, widersprach Kyōko.

„Bitte, Mogami-san!“

„Meinetwegen, aber Sie können doch nicht einfach -“

Ren unterbrach sie mit fester Stimme: „Doch, kann ich.“ Dann legte er auf.

Wie hypnotisiert starrte sie auf das Handy. War das gerade tatsächlich passiert? Hatte Ren Tsuruga, der größte Schauspieler Japans, ihr wirklich gestanden, dass er mit dem HI-Virus infiziert war und ihm somit nur noch einige Jahre blieben?

Bis eben war Kyōko erstarrt gewesen, doch auf einmal löste sich diese Starre auf und sie fiel auf die Knie. Tränen bildeten sich in ihren Augenwinkeln und begannen, ihre Wangen hinabzulaufen.

„Du Arsch!!“, schrie sie das Poster von Shō an ihrer Wand an, auch wenn sie selbst wusste, dass er nicht das Geringste damit zu tun hatte und dass er auch nichts daran ändern konnte, dass Ren Aids hatte.

Als sie das deutlich kleinere Bild des Dunkelhaarigen sah, das daneben hing, verpuffte jedoch all ihre Wut. Seit ihrem ersten Tag bei LME war er immer da gewesen und hatte ihr mit mehr oder weniger aufbauenden Kommentaren zur Seite gestanden. Und jetzt sollte er einfach so... verschwinden? Was war denn LME schon noch ohne seinen großen Vorzeigeschauspieler? Und was war ihre Schauspielerei ohne einen Sempai und gleichzeitig stärksten Rivalen, der sie ständig dazu trieb, immer noch mehr Leistung zu bringen?

Kraftlos sank sie in sich zusammen.
 

Einen wundervollen Moment lang verdeckte ein trüber Nebel Kyōkos Erinnerung, als sie am nächsten Morgen erwachte. Doch als sie bemerkte, dass sie auf dem Teppich lag und ihr Handy fest umklammert hielt, lichtete er sich und die Ereignisse des Vorabends stürzten zurück in ihr Bewusstsein.

„Tsuruga-san“, murmelte Kyōko.

Sicherlich würde sie beim Dreh auf ihn treffen, das übliche sanfte Lächeln im Gesicht, und alle würden sich so verhalten, wie immer... Doch wie sollte sie sich verhalten? Was sollte sie sagen, was sollte sie tun?

Was konnte sie tun?

Sie atmete tief ein, richtete sich langsam auf und ließ ihre Schulter kreisen, die von der Nacht auf dem ungewöhnlich harten Untergrund schmerzte. Wieder atmete sie ein, dann aus.

Ich muss mich normal verhalten, sagte sie sich. Sie stand auf und ging ein paar Mal im Zimmer hin und her, um sich zu beruhigen.

Nach einer Weile fiel ihr Blick zufällig auf die Uhr an der Wand und sie erstarrte. Es war schon viertel vor acht, und zur vollen Stunde musste sie in der Maske sein, um sich für den Dreh umzuziehen und stylen zu lassen.

Sofort schob sie alle anderen Gedanken zur Seite, warf ihr Handy in die Tasche und schwang sich diese über die Schulter. Während sie in Windeseile aus dem Zimmer stürmte, fuhr sie mit den Fingern durch ihr wirres Haar, um wenigstens ein bisschen Ordnung hineinzubringen. Sie hoffte inständig, niemandem zu begegnen, bevor sie in die Maske fliehen konnte.
 

Als sie jedoch in einem rasanten Tempo auf das Gebäude, in dem sie drehen würden, zugerast kam und ihr Fahrrad mit quietschenden Bremsen wenige Zentimeter vor der Eingangstür zum Stehen brachte, wäre niemand auch nur auf die Idee gekommen, sie zu fragen, weshalb ihre Haare so unordentlich waren.

Einige Passanten, die den dämonischen Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen hatten, beschleunigten ihren Schritt, wobei sie ihr immer wieder ängstliche Blicke über die Schulter zuwarfen.

Kyōko bemerkte all dies gar nicht, als sie ihr Fahrrad im Fahrradständer deponierte und hastig die Eingangstür passierte. Erst, als sie nach Luft schnappend vor der Tür zur Maske stand, wagte sie es, einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. Sie hatte es geschafft, die Strecke, für die sie gewöhnlich zwanzig Minuten brauchte, in weniger als zehn zurückzulegen.

„Kyōko-chan!“, rief da eine überraschte Stimme hinter ihr. Die Angesprochene drehte sich um und erblickte Yōko Kajiwara, eine der Stylistinnen, die für das Design ihrer Narbe verantwortlich war.

„Wie siehst du denn aus?“, fragte sie und blickte Kyōko geschockt an.

„Ich hab verschlafen“, entschuldigte diese sich verlegen.

Yōko seufzte. „Eigentlich macht es ja nichts, da wir dich sowieso stylen müssen. Aber so solltest du als Schauspielerin nicht rumlaufen. Zerzaustes Haar, völlig ungeschminkt... Hast du dir denn keinen Wecker gestellt?“

Die Erinnerung an den vergangenen Abend ließ Kyōko zusammenzucken. „Ich hatte ... anderes im Kopf“, murmelte sie und zwang sich dabei zu einem Lächeln.

Die junge Frau sah sie zweifelnd an, sagte aber nichts mehr dazu.

„Komm, ich fange schon mal mit deiner Narbe an. Ami-chan müsste gleich kommen“, meinte sie und ging an Kyōko vorbei, um den Raum aufzuschließen.
 

Schließlich, als sie nach fast drei Stunden endlich fertig war und sich auf den Weg zum Set machte, traf das ein, was sie schon die ganze Zeit befürchtet hatte: Sie begegnete Ren, der wohl auch gerade fertig war. Yashiro war wie immer an seiner Seite und redete munter auf ihn ein, doch als er Kyōko sah, sog er sich eine fadenscheinige Entschuldigung aus den Fingern und trabte munter davon.

„Guten Tag“, begrüßte Kyōko ihren Sempai mit einer Verbeugung. Bei seinem Anblick war all ihre Nervosität mit einem Mal verschwunden, denn er sah so gesund und munter aus wie jeden Tag, kein Anzeichen davon, dass er todkrank war.

„Guten Tag“, erwiderte Ren ihren Gruß belustigt.

Sie sah auf. Ein unterdrücktes Lachen zeichnete sich auf seinen Gesichtszügen ab. „Weshalb lachen Sie?“, fragte Kyōko geradeheraus.

„Ich dachte nur gerade, was für eine fantastische Schauspielerin du doch bist“, erklärte er und gab auf, sein Lachen unterdrücken zu wollen.

„Ich spiele nicht“, erklärte Kyōko beleidigt. „Weshalb behaupten Sie das, wo ich Sie doch immer so begrüße?“

„Ist heute... wie immer?“, fragte Ren langsam und sah sie an.

Da sie seinem aufmerksamen Blick nicht standhalten konnte, sah sie zur Seite. „Gewissermaßen...“, flüsterte sie.

„Danke.“

Neugierig sah sie wieder in seine Richtung, da in diesem Wort nicht im Geringsten die Neckerei zu hören gewesen war, die er sonst ihr gegenüber an den Tag legte. Doch, von seinem heiligen Lächeln geblendet, musste sie gleich wieder wegsehen.

„Wofür?“

„Dafür, dass du mir gestern zugehört hast, dass du dich weiterhin so natürlich verhältst wie eh und je...“

Kyōko sah ihn verständnislos an. „Weshalb sollte ich mich anders verhalten?“

Er schüttelte nur den Kopf und sagte: „Daran solltest du am besten gar keinen Gedanken verschwenden... Aber ich möchte mich trotzdem... erkenntlich zeigen.“

Ein fast schon bittender Ausdruck, den Kyōko nie zuvor bei ihm gesehen hatte, trat in seine Augen, als er fragte: „Möchtest du mich heute Abend zum Essen begleiten?“

Kyōko ging in Gedanken ihren Zeitplan durch und stellte fest, dass sie nach einem Love-Me-Job, der spätestens um sieben Uhr zu Ende sein sollte, keine weiteren Termine mehr hatte. Was sie davon halten sollte, wusste sie nicht so recht, doch ihr Verstand sagte ihr, dass sie dieses Treffen auf keinen Fall absagen sollte.

„In Ordnung.“

Ren zeigte ihr erneut sein schönstes Lächeln. „Danke, Mogami-san. Näheres können wir ja nach dem Dreh besprechen.“

Sie nickte, dann machten sich die beiden auf zum Set, an dem der Rest der Crew und ein übers ganze Gesicht grinsender Yashiro schon warteten. Sofort machten sie sich an die Arbeit.
 

Das Restaurant, in das Ren Kyōko am Abend ausführte, war so luxuriös, dass sie, nachdem sie es betreten hatte, erst einmal einen Moment mit offenen Mund stehen blieb und staunend die Einrichtung betrachtete.

Die ganze Etage des Hochhauses, in dessen zwölften Stock das Restaurant sich befand, wurde vom Licht mehrerer kristallener Leuchter an der Decke erhellt. Die Tische waren an den Fenstern des kreisrunden Gebäudes platziert, sodass in der Mitte Raum für ein leicht erhöhtes Podest war, auf dem ein Orchester in angenehmer Lautstärke ein Stück spielte.

Begrüßt wurden die beiden Schauspieler von einem jungen Mann mit äußerst gepflegtem Äußeren, der zudem in einem piekfeinen schwarzen Nadelstreifenanzug steckte und sich nun tief vor ihnen verbeugte.

„Herzlich willkommen im Tower Palace“, begrüßte er sie. „Haben Sie reserviert?“

Nachdem Ren dies bestätigt und seinen Namen genannt hatte, führte der Bedienstete sie zu einem Tisch auf der anderen Seite des Podests. Nach einer weiteren Verbeugung ließ er sie allein.

„Wow“, staunte Kyōko, deren Blick auf die atemberaubende Aussicht gefallen war, die sich ihnen aus dem großen Fenster bot. Von diesem Standort schien man die halbe Stadt überblicken zu können, alles war voller bunter Lichter und Schilder, und in der Ferne blinkten regelmäßig die roten Lichter des Tokyo Towers auf.

„Gefällt es dir?“, fragte Ren amüsiert und ließ sich auf seinem Platz nieder. Kyōko setzte sich ihm gegenüber hin, den Blick immer noch ruhelos umherwandernd.

„Auf jeden Fall, es ist fantastisch!“, beteuerte sie. „Aber das war doch nicht nötig, oder?“

Ren lächelte. „Doch, ich finde es angemessen.“ Lachend fügte er hinzu: „Außerdem habe ich als Topschauspieler nicht gerade mit Geldsorgen zu kämpfen.“

Kyōko blickte ihn ernst an. „Das ist noch lange kein Grund, Ihr Geld zum Fenster rauszuschmeißen!“

Er schüttelte den Kopf. „Ich schmeiße es nicht zum Fenster raus. Ich möchte dir nur zeigen, dass ich dir wirklich dankbar bin.“ Der aufrichtige Ausdruck in seinem Gesicht ließ Kyōko erröten und sie richtete ihren Blick erneut aus dem Fenster.

„Außerdem...“, murmelte er leise, „gibt es nicht wirklich etwas, wofür ich mein Geld sparen müsste.“

Der resignierte Unterton in seiner Stimme ließ Kyōko zusammenzucken. Fast hatte sie wieder verdrängt gehabt, was ihr Sempai ihr am vorigen Abend eröffnet hatte.

„Wie lange -“, begann Kyōko, brach dann aber ab, als ihr auffiel, dass die Frage nicht wirklich dazu dienen würde, ihn aufzuheitern.

Er hatte anscheinend trotzdem verstanden, was sie meinte, und erwiderte: „Ich weiß es nicht. Da sich noch keine Symptome gezeigt haben, wird es wohl noch eine Weile dauern, aber...“

Gedankenverloren blickte er ebenfalls aus dem Fenster. Es schien, als hatte er noch etwas sagen wollen, das er jetzt vergessen hatte.

„Ach so“, murmelte Kyōko, die nicht wirklich wusste, was sie sagen sollte. Die Atmosphäre, die vor ein paar Minuten noch absolut entspannt gewesen war, hatte sich mit einem Mal so verändert, dass es ihr nicht richtig vorkam, jetzt irgendein unverfängliches Gespräch anzufangen.

Er sah dies allerdings anders, denn nach einem kurzen Schweigen begann er wieder zu lächeln und fragte: „Was hältst du eigentlich von der Szene, die der Regisseur uns heute zusätzlich hat spielen lassen?“

Überrascht über seinen plötzlichen Themenwechsel, sah sie ihn wieder an. „Na ja...“, begann sie. „Natürlich passt es irgendwie, den Hass, den Mio auf Katsuki hat, in so einer Szene zu verdeutlichen, aber andererseits... kommt es mir falsch vor, wenn Mio so direkt auf seine Gegenwart reagiert.“

„Inwiefern?“, hakte er nach.

Sie seufzte. „Ich weiß es selbst nicht so genau. Aber ich werde mich wohl damit anfreunden müssen.“

„So ist das eben als Schauspieler.“ Nach einem kurzen Schweigen, in dem er abzuwiegen schien, ob er diese Informationen preisgeben sollte, fügte er hinzu: „Als ich jung war, habe ich den Anweisungen der Regisseure oft keine Beachtung geschenkt, weil ich meinte, es besser zu wissen.“

Kyōko lächelte. „Ja, und darum wurden Sie in dieser Zeit auch so oft gefeuert, dass Sie den Überblick über die genaue Anzahl verloren haben.“

In dem Moment, in dem sie den Satz beendet hatte, wurde sie sich ihres Fehlers bewusst. Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ren sah sie mit erhobenen Augenbrauen an.

Kyōko schloss die Augen und kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen, da sie sich innerlich auf einen Wutausbruch des Schauspielers vorbereitete. Diese kleine Information hatte er ihr damals gegeben, als sie gerade ihren Job als Bou verloren hatte. Sie hatte noch immer in dem Hahnenkostüm gesteckt und bis zum heutigen Tag hatte er nicht erfahren, dass sie es war, mit der er so vertraut umgegangen war...

„Ah!“, sagte Ren. Anscheinend hatte er einen Moment gebraucht, bis er eine Erklärung für ihr Verhalten gefunden hatte.

„Du bist... dieser Hahn...?“, fragte er langsam. Kyōko öffnete die Augen einen Spaltbreit und stellte fest, dass er sie noch immer überrascht musterte.

Sie nickte und blickte zitternd zu ihm auf. Noch immer zeigte er keine Anzeichen von Wut, es war eher Erstaunen, was nun in seinem Gesicht stand. Dieses veränderte sich langsam zu einem Ausdruck, den Kyōko nicht so ganz zu deuten wusste, der aber dem gegenüberzustehen schien, was sie erwartet hatte.

„Also weißt du Bescheid?“

„Worüber?“, fragte Kyōko, da sie sich sicher war, dass es ihm nicht mehr um die belanglosen Themen der ersten Begegnung mit Bou ging.

Als er ihr antwortete, wurde sein Blick sanft und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Über meine Gefühle zu dir.“

Sie riss die Augen auf und starrte ihn an. Wie Puzzleteile schoss all das, was er ihr im Hahnenkostüm anvertraut hatte, durch den Kopf und ordnete sich nach seinen Worten zu einem völlig neuen Bild an. Die sechzehnjährige Highschool-Schülerin, der er so starke Gefühle entgegenbrachte, war sie.
 

Ren war in sie verliebt.
 

Auch noch Stunden später, als Kyōko längst in ihr kleines Zimmer zurückgekehrt war und sich dort auf ihr Bett geschmissen hatte, kreisten ihre Gedanken noch unaufhaltsam um diese Tatsache. Sie fragte sich, warum sie seine Gefühle die ganze Zeit nicht bemerkt hatte. Immerhin war die Begegnung, bei der sie ihn davon überzeugt hatte, dass er für das Mädchen, von dem er ihr erzählt hatte, Liebe empfand, schon einige Wochen her. Und seitdem war das Gefühl, das damals gerade erst aufgekeimt war, sicher immer stärker geworden.

Auf einmal kam Kyōko auch das Abendessen in den Sinn, das sie auf Yashiros Wunsch für Ren gekocht hatte. Sie hatten im Fernsehen eine Talkshow mit einem Paar gesehen, das altersmäßig neunzehn Jahre auseinander lag. Nun dämmerte ihr auch, warum sich Ren danach ihr gegenüber so überaus seltsam verhalten hatte, immerhin lagen zwischen ihm und ihr nur vier Jahre, und auch das Lehrer-Schüler-Verhältnis, das für das Paar im Fernsehen eine große Hürde dargestellt hatte, war bei ihnen nicht vorhanden. Ren war zwar ein Sempai für sie, aber das war kaum ein Vergleich.

Kyōko drehte sich auf den Bauch und stützte ihr Gesicht in ihre Hände. Am liebsten hätte sie all diese Gedanken aus ihrem Kopf verbannt, doch sie wusste beim besten Willen nicht, woran sie sonst denken konnte; diese Sache schien ihr ganzes Gehirn überflutet zu haben.

Ein tiefer Seufzer verließ ihre Kehle. Gleich morgen würde sie beim Dreh von Dark Moon wieder auf Ren treffen. Und bis dahin musste sie ihre Antwort parat haben. Sie seufzte erneut. Warum hatte sie ihm vorhin auch dieses Versprechen gegeben?

Weil sein flehender Blick kein Nein erlaubt hat, beantwortete sie sich ihre Frage selbst.

Kurz bevor sie beim Daruma-ya angekommen waren – er hatte darauf bestanden, sie nach Hause zu bringen – hatte er sie gefragt, wie es mit ihren Gefühlen stand. Als sie gezögert hatte, hatte er sie gebeten, sich an diesem Abend Gedanken darüber zu machen, und dabei hatte er sie so bittend angesehen, dass sie es ihm nicht hatte abschlagen können.

Für ihren Geschmack häuften sich die flehenden Blicke seinerseits geradezu, und sie wünschte sich, irgendwie gegen ihren Einfluss ankommen zu können. Doch andererseits war sie sich auch im Klaren darüber, dass es ihm wirklich sehr wichtig sein musste, da so ein Blick sonst sicherlich weit unter seiner Würde war.

Und so war sie nun in dieses Schlamassel hereingeraten. In ein paar Stunden würde sie ihrem Sempai wieder gegenüberstehen, wahrscheinlich würde er sie wieder so ansehen, und dann müsste sie ihm sagen, was sie für ihn fühlte.

Allein der Gedanke daran ließ Kyōko das Gesicht verziehen. Sie zog sich die Decke über den Kopf, als könne sie dadurch all ihre Sorgen von sich abhalten, doch nichts veränderte sich. Und wenn sie jetzt noch mehr Zeit damit verbrachte, sich über ihre Misslage zu ärgern, würde sie am nächsten Morgen, völlig erschöpft vom Schlafmangel, vor Ren stehen und ihm sagen müssen, dass sie keine Ahnung hatte, was sie für ihn empfand.

Kyōko richtete sich auf und beschloss, sich einen Tee zu machen. Das würde sie sicher ein wenig beruhigen. Und dann könnte sie sich endlich an die Beantwortung der Frage machen, die sie nun schon seit fast zwei Stunden großräumig umging, auch wenn all ihre Gedanken im Grunde um nichts anderes kreisten.

Als sie dann schließlich an ihrem kleinen Tisch saß und gedankenverloren ihren Tee schlürfte, hatte sie sich tatsächlich etwas beruhigt. Ihre Gedanken ordneten sich langsam, nur die eine große Frage schwirrte noch unaufhaltsam in ihrem Kopf umher.

„Also“, sagte sie zu sich selbst und setzte sich auf. Es kam ihr ein wenig komisch vor, diese Sache wie eine zu erledigende Arbeit anzugehen, doch sie wusste auch keine andere Methode. Jemand anderes hätte ihr vielleicht geraten, sich einfach von ihren Gefühlen leiten zu lassen, aber da sie einige Zeit völlig ohne diese gelebt hatte und im Grunde auch nicht genau wusste, wann und wie sie zurückgekommen waren, half ihr das nicht wirklich weiter.

Da Kyōko nicht den blassesten Schimmer hatte, wo sie anfangen sollte, erinnerte sie sich zuerst einmal an ihre erste Begegnung mit Ren Tsuruga. Sie war ihm zufällig in der Agentur über den Weg gelaufen und sofort zusammengebrochen, weil er Shōs ärgster Konkurrent war, und sie ihn somit bis kurze Zeit vor diesem Tag auch noch gehasst hatte. Gemeinsam mit Sawara hatte er sie rausgeschmissen, weil sie sich noch nicht einmal überlegt hatte, in welche Sparte des Showbusiness sie einsteigen wollte.

Mit Sawara hatte sie sich danach ziemlich schnell angefreundet, mit Ren hingegen hatte sie sich ziemlich schwer getan. Gleich bei ihrer zweiten Begegnung hatte er angefangen, sie zu verachten, weil er von ihrem Motiv, aus Rache ins Showgeschäft einzusteigen, alles andere als begeistert gewesen war.

Aber wann hatte sich ihre Beziehung verändert? Seit wann versuchte er nicht mehr, ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit eins auszuwischen?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, musste Kyōko eine Weile in ihrem Gedächtnis kramen. Schließlich kam sie zu dem Ergebnis, dass ihr Einsatz als seine stellvertretende Betreuung während Yashiros krankheitsbedingter Abwesenheit einen großen Teil zur Entwicklung ihrer Beziehung beigetragen haben musste. Ihr fiel wieder ein, wie er ihr damals das erste Mal ein wirklich freundliches Lächeln gezeigt hatte – und sie noch dazu mit „Kyōko-chan“ angesprochen hatte. Zwar hatte er zu diesem Zeitpunkt hohes Fieber gehabt, doch auf einmal war sie sich nicht mehr so sicher darüber, ob er nicht wirklich von oder mit ihr gesprochen hatte. Vielleicht hatte er schon damals angefangen, Gefühle für sie zu entwickeln...?

Den Ausschlag hatte aber wohl die gemeinsame Mitarbeit an Dark Moon gegeben. Während des Drehs war es für sie selbstverständlich geworden, fast täglich mehr oder weniger lange Unterhaltungen zu führen, die immer mehr die Ebene der Höflichkeit verlassen und etwas Freundschaftsmäßiges betreten hatten.

Und bei dem Gedanken an Dark Moon erinnerte Kyōko sich nun auch an die Szene in seiner Küche, als er versucht hatte, in seine Rolle zurückzufinden. Das Gefühl, wie er sanft mit seinen Fingern über ihre Lippen gestrichen hatte, würde sie wohl nie vergessen; auch sein fast schon besitzergreifender Gesichtsausdruck von damals hatte sich in ihre Erinnerung eingebrannt.

Als sie an diesen Tag zurückdachte, wusste Kyōko, dass sie genau dort nach der Antwort suchen musste, die sie suchte. Was hatte sie damals gefühlt, als sie auf den kalten Küchenfliesen gelegen hatte, Ren über sich, seinen Arm um ihre Hüfte geschlungen?

Sie musste sich eingestehen, dass es alles andere als unangenehm gewesen war. Auch wenn sein Gesichtsausdruck ihr ein wenig Angst gemacht hatte, hatte sich seine Berührung warm und sanft angefühlt.

Kyōko schluckte. Dann stellte sie sich die große Frage: Konnte sie tatsächlich ihre Gefühle wiedergefunden und sich in Ren verliebt haben?

Und als sie darauf noch immer keine Antwort finden konnte, fragte sie sich, ob sie einen Mann, der dem Tode geweiht war, überhaupt abweisen und ihm seinen letzten Wunsch verwehren konnte.

Niemals wäre sie auf die Idee gekommen, diese Frage mit „Nein“ zu beantworten.

Fehler

„Guten Morgen, Kyōko-san.“

Rens Manager und die Angesprochene selbst sahen den Schauspieler überrascht an, wobei zweitere wahrscheinlich noch überrumpelter war, auch wenn sie eigentlich damit hätte rechnen können. Yashiro hatte wahrscheinlich sowieso schon lange darauf gewartet, dass Ren das Mädchen mit ihrem Vornamen anredete, wo er ihr seine Gefühle schon so offensichtlich zeigte.

„Gu- guten Morgen!“, brachte Kyōko stotternd hervor und verbeugte sich tief, um ihr knallrot angelaufenes Gesicht wenigstens für einen kurzen Moment verstecken zu können.

„Ich mach mich vom Acker, wenn es euch recht ist“, verkündete Yashiro mit einem kindlich strahlenden Lächeln, das all seine Hoffnungen in das junge Paar widerspiegelte. Nachdem er Ren noch einmal aufmunternd auf den Rücken geklopft hatte, gesellte er sich zum Regisseur, der den Dreh der ersten Szene beaufsichtigte.

Kyōko sah verlegen zu dem Älteren auf, wobei sie sich zwingen musste, den Kopf beim Anblick seines heiligen Lächelns, das heute noch strahlender schien als je zuvor, nicht abzuwenden.

Eine peinliche Stille entstand, denn auch wenn beide eigentlich nichts anderes im Kopf hatten als das eine Thema, wusste keiner, wie er es anschneiden sollte.

„Du siehst müde aus“, stellte Ren fest und ein besorgter Ausdruck trat an die Stelle des Lächelns.

„Ich war gestern Abend noch lange wach“, murmelte Kyōko. „So etwas wie... Gefühle... braucht Zeit, um darüber nachzudenken.“

„Ah“, sagte Ren. „Tut mir leid, dass ich dich so unter Druck gesetzt habe.“

„Ach was, ach was“, wehrte Kyōko sofort ab. „Das ist schon in Ordnung.“

Einen Moment lang sah Ren sie verwirrt an, dann fragte er so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte: „Hast du eine Antwort gefunden?“

Kyōko konnte nicht anders, als ihren Blick abzuwenden. Seine dunklen, ehrlichen Augen verwirrten sie zu sehr, sie hätte kein anständiges Wort herausgebracht.

„Tsuruga-san...“, begann sie und machte sich dafür bereit, den Satz hervorzubringen, den sie sich in der Nacht so genau überlegt hatte.

„Ren“, sagte er. „Bitte, wir sind uns doch nah genug, meinst du nicht?“

„Ren“, wiederholte Kyōko. Ihr Kopf begann sich zu drehen. Was hatte sie noch sagen wollen? Sie hatte die Worte in der vorigen Nacht so oft für sich wiederholt, doch auf einmal waren sie weg. Es war alles so wohl überlegt gewesen...

„Ich bin auch in Sie- ach nein! – in dich... verliebt.“

Innerlich verfluchte sie sich. War da nicht eigentlich etwas anderes gewesen? Etwas von wegen „langsam heranreifenden Gefühlen“? Der Erwähnung, dass sie ja im Grunde immer noch ein Mitglied der Love-Me-Section war und er deshalb nicht auf Liebe hoffen sollte? Doch nun war es zu spät.

Rens große, warme Hand legte sich auf ihre Wange und sie fühlte sich gezwungen, ihn wieder anzusehen. Sie kannte zwar schon eine ganze Palette verschiedener Gesichtsausdrucke von ihm, doch diesen hatte sie noch nie gesehen... Das Glänzen in seinen braunen Augen sah aus, als wäre er kurz davor, in Tränen auszubrechen. Natürlich würde dies nie geschehen – schließlich waren sie immer noch am Set und er war immerhin Ren Tsuruga – aber allein die Vorstellung ließ Kyōkos Knie weich werden.

Erst, als sie ihn so sah und die Wärme seiner Hände spürte, die nun ihre beiden Wangen bedeckten, wurde ihr bewusst, wie viel ihm das wirklich bedeutete. Ihr war klar gewesen, dass er sich über solch ein Geständnis des Mädchens, das er liebte, freuen wurde, doch die Gefühle, die sich nun so eindeutig in seinem Gesicht widerspiegelten, waren weitaus mehr.

„Kyōko“, sagte er nach einem Schweigen, das den beiden wie eine Ewigkeit vorgekommen war. Dass er sie auf einmal ohne jedes Höflichkeitssuffix ansprach, schien er nicht einmal zu bemerken; selbst Kyōko spürte nur an einem unbestimmten Gefühl in ihrer Magengegend, dass etwas anders war als vorher.

Für einen Moment flackerte ein Ausdruck in Rens Augen auf, der an den Eroberer der Nacht erinnerte, der bei ihrer Übungsstunde in Rens Küche schon aufgetaucht war, doch er verschwand so schnell wieder, dass Kyōko nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob sie sich nicht geirrt hatte.

Mit einem leisen Seufzen nahm er die Hände von ihren Wangen. „Ich glaube, wir sollten das nach dem Dreh klären. Anscheinend warten schon alle auf uns.“

Kyōko, die schon fast vergessen hatte, dass sie sich noch immer am Set befanden und überall um sie herum Mitarbeiter und Angestellte herumliefen, spürte, wie die Röte ihr ins Gesicht schoss. Daran, was all die anderen dazu sagen würden, wenn sie eine Beziehung mit Ren einging, hatte sie gar nicht gedacht. Doch die stechenden Blicke, die sie von den Darstellerinnen, insbesondere von Rens Schauspielpartnerin Itsumi Momose, zugeworfen kam, beförderten sie mit einem Mal auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein Neuling, der Ren so nahe war, konnte nichts anderes als die Eifersucht und das Misstrauen aller anderen auf sich zu ziehen. Hatte sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen?

„Mach dir nichts draus“, flüsterte Ren ihr ins Ohr und griff nach ihrer Hand.

Ein Schauer, von dem sie nicht genau sagen konnte, ob er angenehm war oder nicht, lief ihr den Rücken herab und die beiden machten sich auf den Weg zum Regisseur und der Gruppe um ihn herum, die keinen Hehl daraus machten, dass sie alles gesehen hatten.

Yashiro kam freudig auf Ren zu und schüttelte ihm überschwänglich die Hand. „Herzlichen Glückwunsch!“, sagte er.

„Yashiro-san“, ermahnte Ren seinen Manager. „Du weißt, was ich zu diesem Thema gesagt habe.“ Der drohende Blick des Schauspielers brachte den anderen sofort zum Schweigen, doch er grinste noch immer wie ein Honigkuchenpferd.

Regisseur Ogata, der sich bei persönlichen Fragen immer zurückhielt, wagte es nicht, einen Kommentar zu dem gerade Gesehenen abzugeben, aber er erhob trotzdem leise und vorsichtig die Stimme: „Könnten wir vielleicht mit dem Dreh anfangen?“

Einen Moment lang wurden ihm erstaunte Blicke zugeworfen, da ihrer aller Gedanken noch um die Beziehung Rens kreisten. Itsumi war es, die zuerst in das Zimmer trat, in dem gedreht werden würde. Sie warf Kyōko einen hasserfüllten Blick zu, doch diese war im Moment gedanklich mit anderen Dingen beschäftigt, sodass sie es gar nicht bewusst wahrnahm.

Doch genau aus diesem Grund wollte ihr auch das Schauspielern heute nicht so recht gelingen. Immer wieder ließ Ogata sie die eine Szenen wiederholen, doch sobald ihr Rens sanfte Stimme in den Sinn kam oder der zutiefst gerührte Ausdruck in seinen Augen oder die Wärme seiner Hände an ihren Wangen... Dann war es um sie geschehen. Nicht einmal ihren Text, der nun wirklich weder besonders schwierig noch besonders lang war, bekam sie mehr richtig auf die Reihe.
 

„Es tut mir leid!“, rief sie aus und verbeugte sich tief vor dem Regisseur, der die Szene gerade erneut wegen eines Fehlers von Kyōko abgebrochen hatte.

„Ach was, das ist doch kein Problem“, versicherte Ogata ihr schnell. „Das kann doch jedem mal passieren, das macht überhaupt nichts!“

Itsumis Blick hingegen schien etwas ganz anderes zu sagen und langsam wurde sich Kyōko auch dessen bewusst, dass ihre Schauspielpartnerin nicht das einzige weibliche Wesen im Raum war, das ihr auf einmal nicht mehr wohlgesinnt war. Diese Erkenntnis ließ Unbehagen in ihr aufsteigen und erneut fragte sie sich, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenn sie das richtig sah, war sie nun die offizielle Freundin von Ren, und das, obwohl sie sich eigentlich noch immer nicht sicher war, ob ihre Gefühle für ihn über Respekt, Bewunderung und vielleicht noch Freundschaft hinausgingen.

Ein Blick auf den am Rand stehenden Schauspieler, der mit melancholischem Blick seine Hände betrachtete, reichte aus, um sie daran zu erinnern, weshalb sie diesen Schritt gewagt hatte: Wenn sie jetzt noch weiter zögerte, würde es vielleicht zu spät sein.

„Kyōko-san, mach dir nichts draus!“, riss Ogata sie aus ihren Gedanken. „Versuchen wir es noch einmal?“ Innerlich zweifelte sie daran, dass diese Szene heute noch abgedreht werden könnte, dennoch ließ sie eine halbherzige Zustimmung verlauten. Sie wollte sich gerade wieder an ihre Position begeben, als sie aus dem Augenwinkel sah, wie Ren unauffällig den Daumen seiner Hand nach oben streckte. Sie drehte den Kopf in seine Richtung und nahm ein aufmunterndes Lächeln auf seinen Lippen wahr. Unwillkürlich musste sie ebenso lächeln. Eine weitere Erkenntnis reihte sich an die anderen, die ihr im Laufe dieses Morgens schon gekommen waren: Ren würde sie nicht mehr weder jeder Kleinigkeit piesacken, er würde keine stichelnden Bemerkungen mehr machen. Auch Kyōko musste lächeln. Ren glaubte an sie, und sie konnte sein Vertrauen doch nicht einfach so enttäuschen!

Mit sicheren Schritten ging sie auf die Tür zu, vor der sie bei Beginn der Szene stehen würde. Als das Geräusch der Klappe ertönte, war ihr Kopf wie durch ein Wunder frei von allen Gedanken, mit Ausnahme des Textes der Szene, den sie deutlich vor sich sah.
 

Und tatsächlich gelang es ihr diesmal, genau so zu handeln, wie der Regisseur es sich wünschte. Dennoch zog er sie, als die Szene fertig war, kurz zur Seite, wo keiner der anderen ihnen zuhören konnte.

„Ich möchte wirklich nicht in deine Privatsphäre eindringen...“, begann er zögerlich. Kyōko ahnte zwar schon, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde, ließ ihn aber gewähren. „Vielleicht treten ja solche Probleme bei dir in Zukunft häufiger auf... Ich meine, heute hast du es letzten Endes hinbekommen, aber...“

Kyōko schüttelte lächelnd den Kopf. „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Regisseur. Ich war ein wenig durcheinander, aber das wird sich nicht wiederholen. Ich bin in der Lage, Privates von Beruflichem zu trennen.“

Ogata seufzte erleichtert auf. „Das ist gut zu hören.“ Er drehte sich weg, um sich wieder zum Rest des Teams zu gesellen, der schon den Dreh der nächsten Szene vorbereitete. Kyōko hörte noch, wie er leise murmelte: „Es wird ihm sicher gut tun“, bevor er dem Kameramann die nächsten Aufträge erteilte.

Kyōko starrte ihm gedankenverloren hinterher. Langsam löste sie sich von ihrer Rolle, ihr eigenes Bewusstsein drängte das von Mio in eine kleine Ecke zurück. Sie war sich fast sicher, dass Ogata gerade von Ren gesprochen hatte. Der Gedanke daran, was er sich vorstellte, verursachte einen Schmerz irgendwo in ihr drin. Er glaubte sicher, sie würden zusammen ein glückliches Leben führen können. Er wusste nichts von Rens Erkrankung, niemand wusste davon... Es war wirklich eine Zumutung, dass Ren von ihr verlangte, so etwas einfach für sich zu behalten. Natürlich würde sie seinem Wunsch nachkommen, doch sie wünschte sich jemanden, mit dem sie darüber reden konnte, der ihr sagen konnte, wie sie handeln sollte...

Das war etwas, worüber sie noch mit Ren sprechen musste. Vielleicht würde er ja zustimmen, es wenigstens Yashiro zu sagen, vertrauenswürdig war er ja auf jeden Fall. Oder jemand anderem, der ihm in irgendeine Weise nahe stand... An dieser Stelle kam Kyōko Rens Familie in den Sinn. War es möglich, dass er nicht einmal ihnen erzählt hatte, dass er an dieser schweren Krankheit litt? Wie viel Kontakt hatte er überhaupt noch zu ihnen? Würde er sie ihr vorstellen? Eine geheime Beziehung würde er als berühmtester Schauspieler Japans ja wohl kaum führen können, und dann würde seine Familie sicher verlangen, seine Freundin kennen zu lernen.

Allein die Vorstellung, Rens Eltern zu begegnen, verursachte bei Kyōko ein angenehmes Kribbeln im Bauch. Doch einher ging auch die unbestimmte Ahnung, wie unbehaglich sie sich dabei fühlen würde, ein unverfängliches Gespräch mit ihnen zu führen, wo sich doch wusste, dass ihr Sohn nicht mehr lange zu leben hatte...
 

Mit einem leisen Aufschrei kehrte Kyōko geistig in die Realität zurück, als sich eine warme Hand an ihre Taille legte.

„Ren!“, rief sie überrascht, als sie den Mann vor sich sah. Innerlich erschauderte sie darüber, dass sie ihn jetzt schon so selbstverständlich mit seinem Vornamen anredete, als hätte es nie einen Tsuruga-san gegeben.

Er lächelte zu ihr herab. „Was grübelst du hier so vor dich hin?“

„Ach, nichts, nichts“, wehrte sie schnell ab. Sie hatte zwar mit ihm reden wollen, aber solche Sachen sollte sie wohl lieber klären, wenn niemand anderes in der Nähe war.

„Sag mir ruhig, was dich beschäftigt“, murmelte er und beugte sich herab, um auf ihrer Augenhöhe zu sein.

Kyōko blickte in eine andere Richtung, da seine braunen Augen sie schon wieder durcheinander zu bringen drohten. Doch die Tatsache, dass seine Hand immer noch an ihrer Taille lag und von dort regelrechte Kribbelwellen durch ihren ganzen Körper ausströmten, machte ihr das Sprechen auch nicht gerade einfacher.

„Ich erzähle es dir später“, krächzte sie. „Es ist... nicht unbedingt für die Ohren der anderen bestimmt.“

Rens Miene hellte sich auf. „Wunderbar“, sagte er. „Wie wäre es mit heute Abend? Ab neun Uhr habe ich frei.“

„Ich nicht“, sagte Kyōko sofort und war irgendwie ganz froh darüber. Sie wusste nicht, ob sie unbedingt mit Ren alleine sein wollte.

Er hob die Augenbrauen. „Warum nicht?“

„Heute Abend gibt es eine Spezialsendung von Rock Bizarr, und die soll live gesendet werden“, erklärte sie.

Er lächelte. „Ich könnte zuschauen kommen, und danach könnten wir uns noch einen schönen Abend machen.“

Kyōko schluckte. Gab er denn nie auf?

„Ich weiß nicht, ob der Chef und die Okami-san es begrüßen würden, wenn ich so spät nach Hause käme.“

Die beiden waren zwar im Grunde nur die Besitzer des Restaurants in dem sie arbeitete und über dem sich ihr Zimmer befand, doch kümmerten sie sich so gut um Kyōko, dass sie ihnen nicht gerne Sorgen bereitete.

„Du könntest bei mir übernachten“, schlug Ren sofort vor.

Wo bis eben in Kyōkos Kopf noch Unsicherheit geherrscht hatte, war jetzt nur noch Empörung vorzufinden. Sie stieß seine Hand von sich weg und verschränkte die Arme. Das hoffnungsvolle Leuchten in seinen Augen ließ ihre Wut noch größer werden.

„Für wen halten Sie sich eigentlich?!“, beschwerte sie sich. „Dass Sie Ren Tsuruga sind, erlaubt Ihnen noch lange nicht, mit jedem Mädchen zu tun, wozu Sie gerade Lust haben! Ist Ihnen mal in den Sinn gekommen, dass Sie nicht jeden mit Ihrem Lächeln bezirzen können?“

Ren zuckte zusammen und Kyōko hatte das Gefühl, er würde schrumpfen.

„Aber...“, begann er. Kyōko schnappte empört nach Luft. Dieser Typ widersprach tatsächlich immer noch! Er richtete sich wieder zu voller Größe auf und sagte: „Du hast doch gesagt, du seist in mich verliebt. Hast du es dir plötzlich anders überlegt? Und warum siezt du mich überhaupt schon wieder?“

Kyōko schnaubte. „Glauben Sie – oder glaubst du, jemand, der verliebt ist, folgt dem anderen bedingungslos überall hin? Man wird ja wohl noch ein wenig unabhängig bleiben können, oder? Außerdem -“

Das traurige Gesicht Rens ließ sie stocken. Mit seinen tausend Gesichtsausdrücken gelang es ihm immer wieder, sie zu verwirren.

„Ich würde dir überall hin folgen.“

Es war eine simple Feststellung, ein einfacher Satz, doch er jagte Kyōko einen Schauder über den Rücken. Sie biss sich auf die Lippe, um keinen erschrockenen Schrei auszustoßen.

Braune Augen sahen in ebenso braune Augen hinab, dann wandten sie sich ab.

„Es tut mir leid“, sagte Ren und drehte Kyōko den Rücken zu.

Obwohl sie gerade eben noch furchtbar wütend auf ihn gewesen war, hatte sie jetzt fast schon ein schlechtes Gewissen. Angesichts seines reuevollen Gesichtsausdruckes war all ihr Zorn verpufft.

„Warte“, forderte sie ihn leise auf.

Überrascht blieb er stehen.

„Wir können gerne den Abend zusammen verbringen“, sagte sie. „Und ich könnte auch über Nacht bei dir bleiben, wenn es nicht anders möglich ist.“

Rens Körper versteifte sich. Langsam drehte er sich wieder zu ihr um. Der verbissene Ausdruck in seinem Gesicht verriet, dass er mit sich selber kämpfte. Letztendlich schüttelte er den Kopf. „Nein, du hattest recht. Wir sollten das Ganze etwas langsamer angehen lassen. Ein bisschen Zeit wird man uns ja wohl noch lassen.“

Ein trauriges Lächeln trat auf seine Lippen. Gelähmt starrte Kyōko Ren an, der sich nun wieder zum Dreh aufmachte. Noch nie hatte sie einen solchen Ausdruck in seinem Gesicht gesehen. Er schien noch viel mehr unter der gegenwärtigen Situation zu leiden als sie es zuvor angenommen hatte. Und trotzdem gelang es ihm, allen anderen weiterhin sein strahlendes Lächeln zu zeigen, so zu tun, als sei alles wie immer, auch wenn das Ticken der Uhr, die seine bleibende Zeit zählte, immer lauter wurde.

Kyōko verfluchte sich selbst, weil sie ihm abgesagt hatte. Er brauchte jemanden an seiner Seite, jemanden, mit dem er reden konnte, und da sie die einzige Mitwisserin war, konnte sie ihn nicht einfach allein lassen.

Er hatte gesagt, er würde ihr überall hin folgen und es hatte ganz und gar nicht so geklungen, als wäre es ein Scherz gewesen. Vielmehr kam es Kyōko vor, als wäre sie das Zentrum, um das Rens Welt kreiste und ohne das bei ihm alles aus den Fugen geraten würde.

Es war egoistisch von ihr gewesen, Ren aus irgendwelchen nicht einmal richtig durchdachten Gründen heraus die Chance zu nehmen, sein hartes Schicksal wenigstens für ein paar Stunden zu vergessen. Er war trotz allem ein Gentleman und würde wohl kaum bei der erstbesten Gelegenheit wie ein wildes Tier über sie herfallen.
 

Genau dasselbe versuchte sie sich auch immer wieder einzureden, als sie an diesem Abend vor der gläsernen Eingangstür des großen Hochhauses stand, in dem sich Rens Appartement befand. Doch ihren rasenden Herzschlag konnte sie damit nicht beruhigen, ebenso wenig wie das mulmige Gefühl in ihrer Magengegend.

Sie schluckte, dann drückte sie auf die Klingel.

Als nicht sofort Rens Stimme aus der Gegensprechanlage drang, kamen ihr erste Zweifel. Vielleicht hätte sie ihm sagen sollen, dass sie es sich anders überlegt hatte, es war immerhin schon halb elf. Sicher war er schon ins Bett gegangen, weil er so allein nichts mit sich anzufangen wusste. Oder er hatte es sich vor seinem Fernseher gemütlich gemacht und wollte gar keinen Besuch mehr empfangen. Hätte sie den Taxifahrer, der sie vom LME-Hauptgebäude hierher gebracht hatte, vielleicht doch lieber warten lassen sollen?

Gerade, als sie in ihre Umhängetasche greifen wollte, um ihr Handy herauszuziehen und sich ein neues Taxi zu rufen, hörte sie Rens Stimme, durch das beständige Summen des Lautsprechers kaum zu erkennen.

„Wer ist da?“, fragte er.

„Hier ist Mogami – äh, Kyōko. Guten Abend. Tut mir leid, dass ich dich störe, ich -“

„Komm rein“, unterbrach er sie. Die Freude, die in seiner Stimme mitschwang, war nicht zu überhören. Bevor Kyōko noch etwas sagen konnte, hatte er die Verbindung unterbrochen und der Türsummer ertönte. Zögernd stieß Kyōko die Tür auf, was ihr mit den großen Taschen unter ihren Armen gar nicht so leicht fiel. Auf einmal kam sie sich ein wenig blöd vor, all die Sachen mitgenommen zu haben. Wenn sie mit ihrem Schlafsack bei ihm aufkreuzte, würde sie sicherlich nicht mehr sagen können, sie müsse doch noch zurück fahren... Aber da musste sie jetzt durch. So schlimm würde es schon nicht werden, immerhin war sie immer gut mit Ren klargekommen.

Aber ist jetzt wie immer?, fragte sie sich und bemerkte im nächsten Augenblick, dass er ihr am Vortag die gleiche Frage gestellt hatte. War es tatsächlich erst zwei Tage her, seit ihre Welt sich durch Rens Anruf komplett umgekrempelt hatte? Es kam ihr so vor, als hätte sie schon viel länger mit all dieser Verwirrung zu kämpfen.

Kyōko bog um die Ecke, hinter der bald die Tür zu Rens Appartement lag. Überrascht blickte sie zurück. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie sie sich in Bewegung gesetzt hatte. Hatte sich der Weg zu Rens Wohnung schon so stark eingeprägt, dass sie ihn blind fand? Der Gedanke daran verstärkte noch das unangenehme Gefühl, das seit einigen Minuten wie ein Stein in ihrem Magen lag. Sie war doch erst ein paar Mal bei ihm gewesen, trotzdem kam es ihr ganz natürlich vor. Mitten im Schritt hielt sie inne. In all der Zeit war es für sie so normal geworden, dass Ren ständig in ihrer Nähe war, und es hatte sie auch nie gestört. Sie hatte sich gefragt, warum er sich in sie verliebt hatte, aber wie es aussah, lag es genau daran: an ihrem häufigen Kontakt. Ebenso hatte sie sich in der letzten Nacht die Frage gestellt, weshalb sie sich in ihn verliebt haben sollte, und auch das dämmerte ihr so langsam. Liebe brauchte keinen Grund, sie tauchte einfach auf, wo man am wenigsten mit ihr rechnete. Also war es durchaus möglich, dass sie tatsächlich in ihn verliebt war.

Sie ballte die Hand zur Faust und sagte sich: Und wenn dem nicht so ist, werde ich einfach meine Fähigkeiten einsetzen, um meine fehlenden Gefühle durch gespielte zu ersetzen und ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen!
 

„Kyōko!“, rief da Ren erstaunt aus und holte sie mit einem Schlag in die Gegenwart zurück. Sie blinzelte ein paar Mal und stellte fest, dass er gerade die Tür seines Appartements geöffnet hatte. Sie war schon wieder so sehr in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie ihn gar nicht bemerkt hatte...

Rens Blick wanderte über ihre zahlreichen Taschen. „Willst du bei mir einziehen?“, fragte er mit belustigter Stimme.

Kyōko errötete schlagartig. „N- Nein!“, rief sie. „Ich dachte mir nur -“

Er lachte. „Komm doch erstmal rein, dann kannst du mir ja immer noch erklären, was du mit dem ganzen Zeug vorhast.“

Sie nickte. Galant nahm er ihr einen Großteil der Taschen aus der Hand und schloss, nachdem sie den Flur betreten hatte, mit dem Ellbogen die Haustür. Dann führte er Kyōko, die nur noch ihre Umhängetasche zu tragen hatte, ins Wohnzimmer.

„Wo soll ich die Sachen abstellen?“, fragte er. Erst jetzt bemerkte er den in einer Plastiktüte verwahrten Schlafsack. Seine Augenbrauen hoben sich und er sah Kyōko fragend an.

Verlegen sah sie zu Boden und murmelte: „Ich dachte mir, ich könnte ja vielleicht doch noch mal vorbeikommen, und weil es jetzt schon so spät ist, habe ich sicherheitshalber... also, falls es so spät wird, dass ich nicht mehr nach Hause kann...“

Ren schmunzelte. „Ja, kein Problem. Du hättest nichts mitbringen müssen, ich hätte sicherlich noch eine Decke für dich gefunden. Und sonst -“ Er brach ab und versuchte den angefangen Satz durch ein Räuspern zu vertuschen.

Kyōko versuchte, lieber nicht darüber nachzudenken, was er eigentlich sagen wollte, und sagte stattdessen: „Ich hoffe, ich mache dir keine Umstände.“

„Ach was, mach dir keine Sorgen“, wehrte Ren sofort ab. „Es freut mich, dass du doch noch gekommen bist.“

Einen kurzen Augenblick schwiegen die beiden, dann hob Ren die Taschen hoch, die er noch immer in der Hand hielt. „Was hast du hier noch drin?“, fragte er.

„Ein paar Dinge, um ein anständiges Essen zubereiten.“ Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. „Nur so aus Gewohnheit.“

Ren lachte ebenfalls. „Ich habe tatsächlich noch nichts gegessen“, gab er zu.

Kyōko tippte ihm tadelnd mit dem Zeigefinger gegen die Brust und sah mit zusammengekniffenen Augen zu ihm auf. „Also ehrlich, so geht das doch nicht!“, beschwerte sie sich. „Wenn du so weitermachst, brauchst du nicht mal eine Krankheit, um dich umzubringen.“

Er legte seine Hand auf ihren Kopf und lächelte ihr sanft zu. „Vielleicht habe ich ja geahnt, dass du noch kommen würdest.“

Kyōko hätte nicht erwartet, dass sie es hinbekommen würde, doch tatsächlich gelang es ihr in diesem Augenblick, sich gegen den Drang, seine Hand wegzuschlagen, zu wehren.

„Also, soll ich uns etwas kochen?“, fragte sie.

Ren schenkte ihr erneut ein seliges Lächeln. „Ja, gerne.“

Seine Hand glitt herab zu der ihren, als ob er es nicht ertragen könnte, den Körperkontakt auch nur für eine Sekunde zu verlieren.

Der Gedanke daran ließ Kyōko erröten und sie zog Ren schnell in Richtung der Küche, um ihre Verlegenheit zu verbergen – den Weg kannte sie ja nun schon zu Genüge, schließlich führte jeder ihre Besuche sie früher oder später dorthin.

Voller Eifer krempelte Kyōko die Ärmel ihres Pullovers hoch und nahm Ren die Tüte mit ihren Einkäufen ab, die sie daraufhin sorgfältig auf der Arbeitsfläche ausbreitete. Sie wollte sich gerade auf die Suche nach einem scharfen Messer machen, mit dem sie den Lauch schneiden konnte, als Ren fragte: „Darf ich dir helfen?“

Erst wollte Kyōko, die von diesem Angebot völlig überrascht war, zustimmen, doch ein Blick auf all die scharfen und spitzen Geräte in der Schublade, die sie gerade aufgezogen hatte, ließ sie zögern.

„Willst du das wirklich? Du... könntest dich schneiden“, gab sie zu bedenken. Sie nahm eins der großen Küchenmesser heraus und zeigte damit in seine Richtung.

Ein belustigter Ausdruck trat in seine Augen. „Hältst du mich für so einen miesen Koch? Außerdem wird sich selbst in meinem Haushalt irgendwo ein Pflaster finden.“

Kyōko knallte das Messer auf die Arbeitsfläche und stemmte wütend die Hände in die Hüften. „Wie kannst du das so auf die leichte Schulter nehmen? Du bist krank! Hast du etwa vor, mich auch noch anzustecken?“

Komischerweise fühlte sie sich in diesem Moment an ihre Mutter erinnert, die sie mit strengem Gesicht daran erinnerte, dass sie nicht mit Shō spielen dürfe, da sie Fieber habe.

Ren zuckte zusammen. Dann wurde sein zuvor strahlendes Gesicht von einem betrübten Ausdruck bedeckt, ganz so, als wären auf einmal Regenwolken aufgezogen. „Tut mir leid. Ich hatte es für einen Augenblick... verdrängt.“

Er seufzte.

Kyōko tat es in der Seele weh, den großen Schauspieler so niedergeschlagen zu sehen, doch gleichzeitig hatte sie auf einmal auch Angst davor, sich bei ihm anzustecken, woran sie vorher noch gar nicht so richtig gedacht hatte.

Um sich von diesen Gedanken abzulenken, drehte sie sich von Ren weg und machte sich daran, das Gemüse in kleine Scheiben, Würfel oder Streifen zu zerschneiden. Je mehr sie seine Blicke in ihrem Rücken spürte, desto mehr versuchte sie sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch als ihre Hände zu zittern begannen, wandte sie sich ihm schließlich doch wieder zu. Er stand, die Arme vor der Brust verschränkt, an den Türrahmen gelehnt und starrte sie mit einem abwesenden Blick aus seinen halb geschlossenen Augen an.

Nun war es Kyōko, die seufzte. „Wenn du möchtest, kannst du ja schon ein bisschen Öl in der Pfanne erhitzen, dann kann ich gleich das Gemüse reingeben.“

Sein Blick erhellte sich, und wieder fühlte Kyōko sich an ihre Kindheit erinnert. Sie hatte so lange mit großen Augen in der Küchentür gestanden, bis Shōs Vater sie schließlich gefragt hatte, ob sie ihm nicht ein wenig zur Hand gehen wollte.

Der Gedanke daran beunruhigte sie ein wenig. War sie für Ren etwa keine Freundin, sondern viel eher eine Art... Mutterersatz? Und wenn ja, was musste diesem Mann widerfahren sein, dass er so empfand? Wie sie schon am Vormittag festgestellt hatte, wusste sie ja nicht das Geringste über seine Familienverhältnisse, möglicherweise hatte er ja Schwierigkeiten mit seiner Mutter gehabt... Ebenso wie sie selbst.

„Wie stehst du eigentlich zu deinen Eltern?“

Bevor sie überhaupt darüber nachgedacht hatte, hatte die Frage schon ihre Kehle verlassen. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und blickte Ren erschrocken an. Dieser schien ebenso überrascht zu sein, denn seine Hand, die gerade nach oben langte, um das Hängeregal herabzuziehen, hielt mitten in der Bewegung inne. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Langsam senkte er die Hand und sah zu ihr herab.

„Meine Eltern?“, fragte er nach, auch wenn es offensichtlich war, dass er ihre Frage verstanden hatte.

Kyōko nickte zögerlich. Unwillkürlich kauerte sie sich zusammen, aus Angst, er würde ihre Neugierde bestrafen. Sie hatte seinen Zorn zu oft erlebt, als dass sie ihn auf die leichte Schulter hätte nehmen können...

„Warum interessiert dich das?“, fragte Ren. Seine Stimme klang ganz normal und auch seine Gesichtszüge verrieten nicht das Geringste darüber, was er in diesem Augenblick dachte.

„Es... es ist mir nur gerade in den Sinn gekommen. Tu- tut mir leid, es geht mich wahrscheinlich nichts an, ich sollte nicht einfach so...“

Ren lächelte und tätschelte ihr den Kopf. „Du brauchst dich doch nicht für deine Neugierde zu entschuldigen. Ist doch nur natürlich, wenn du dich dafür interessierst.“

Kyōko sah ihn aus großen Augen an. „Du bist mir nicht böse?“

Er lachte und zog sie dicht an sich heran, ein sanftes Lächeln auf den Lippen. „Wie könnte ich dir jemals böse sein?“, flüsterte er und strich langsam über ihr kurzes Haar. „Und warum sollte es dich überhaupt nichts angehen? Du bist immerhin... meine Freundin.“

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich bei diesem letzten Wort in Kyōkos ganzem Körper aus. Sie war sich über diese Beziehung im Klaren gewesen, aber irgendwie war es doch etwas anderes, es so laut ausgesprochen zu hören. Ob das Gefühl angenehm war oder nicht, konnte sie allerdings in ihrer Verwirrung selbst nicht so genau sagen.

Kyōko spürte, wie Rens Brust sich einmal hob und dann senkte, so als wolle er sich beruhigen. Dann sagte er: „Ich werde es dir nachher erzählen, in Ordnung?“

Kyōko nickte zustimmend. Ohne dass sie es wollte, schlich sich ein schmales Lächeln der Vorfreude auf ihr Gesicht. Endlich würde sie etwas mehr über diesen mysteriösen Mann erfahren, der so viele seiner Geheimnisse hinter der perfekten Maskerade des Top-Schauspielers verbarg.

„Machen wir weiter?“, fragte sie nun voller Tatendrang. Als er nicht sofort reagierte, entwand sie sich seinem Griff und langte nach einer kleinen Plastiktüte, in der sie zwei kleine Pakete mit klein geschnittenem Rindfleisch verstaut hatte. Ren stieß einen glücklichen Seufzer aus und hob erneut seine Hand, um den Hängeschrank zu öffnen und eine Pfanne herauszuholen.
 

„Schmeckt es dir?“, fragte Kyōko und sah Ren vorsichtig an.

Dieser lächelte ihr zu. „Wunderbar, wie immer.“ Kyōko blickte in sein glückliches Gesicht, das sich nun wieder seinem Teller zuwandte. Irgendwas regte sich in ihr bei diesem Anblick, doch ihr wurde erst nach einigen Augenblicken klar, was es war: Rens heiliges Lächeln machte ihr nichts mehr aus. All ihre zornigen Dämonen, die davon regelmäßig ausgetrocknet wurden, schienen verschwunden zu sein. Wie hatte das geschehen können? Hatte Rens Sanfmütigkeit und Liebe ihr gegenüber tatsächlich all den Hass vertreiben können, der sich seit Shō sie verlassen hatte in ihr angesammelt hatte? Selbst der Gedanke an ihren Erzfeind ließ in ihr nicht mehr dieselben Mordgedanken aufkommen, wie es sonst immer der Fall war.

„Kyōko?“, fragte Ren überrascht.

Sie stieß einen leisen Schrei aus und sah ihn verwirrt an. „Was ist?“

„Geht es dir gut? Du siehst so... bleich aus.“

Kyōko seufzte. „Ja. Ich habe nur ein wenig nachgedacht.“

Ren schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Na, dann ist ja gut.“

Halbherzig erwiderte sie sein Lächeln und fing an zu essen, auch wenn sie, bei so vielen Dingen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, gar nicht so wirklich Hunger hatte.

Mit einem leisen Klacken legte Ren seine Stäbchen auf dem Tisch ab und richtete seinen Blick auf einen unbestimmten Punkt über Kyōkos Kopf. Es schien fast so, als würde er etwas anderes vor Augen haben als die im Schein der Lampe matt glänzenden Fliesen seiner Kücheneinrichtung. Kyōko sah ihn verwundert an.

„Mein Vater“, begann er mit leiser Stimme zu erzählen, „war auch Schauspieler.“ Kyōko spitzte die Ohren und vergaß ganz die Stäbchen in ihrer Hand. Auch das Gedankenchaos in ihrem Kopf schien sich für einen Moment verflüchtigt zu haben. Sie saß stocksteif da und starrte Ren an, so als würde sie seine Stimme nicht mehr hören können, wenn sie die Augen von ihm nahm.

„Er war sehr bekannt und daher auch ständig unterwegs, um so viel spielen zu können wie möglich. So hatten wir zwar nie mit Armut zu kämpfen, aber er war eben nur sehr selten zu Hause. Und da ich nicht das Gefühl hatte, das er sich überhaupt für mich interessierte, gab ich mir auch in der Schule keine Mühe. Als er erfuhr, dass ich keine einzige Aufnahmeprüfung für eine Oberschule bestanden hatte, wurde er ziemlich wütend. Er hatte zwar auch keinen Oberschulabschluss, aber er wollte nicht, dass ich in seine Fußstapfen trat. Darum schickte er mich auf ein Internat in Amerika. Dort entdeckte ich allerdings das Theater für mich und verließ kurze Zeit später die Schule, um Schauspieler zu werden. Mein Vater forderte mich in einem Brief auf, diese Entscheidung rückgängig zu machen und bot mir einen Platz an einer japanischen Oberschule an, an den er durch seine Beziehungen gekommen war. Ich ging nicht darauf ein, und seitdem habe ich keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern.“

Ziemlich überrascht starrte Kyōko ihn an.

Du warst einmal so ein Rebell?“, fragte sie.

Ren lachte leise. „Sieht so aus.“

Kyōkos Blick verfinsterte sich. „Und obwohl du jetzt immer so tust, als wärst du der größte Gentleman, hast du seit vier Jahren kein Wort mehr mit deinen Eltern gewechselt. Macht dir das gar nichts aus?“

Das löste bei Ren einen überraschten Blick aus. „Wenn es mir etwas ausmachen würde, hätte ich mich doch schon längst bei ihnen gemeldet. Aber ich komme auch ganz gut alleine klar.“

Kyōko seufzte. „So geht das doch nicht. Du bist doch kein Teenager mehr!“

Dieser Satz schien Ren härter zu treffen als Kyōkos vorige Kritik, denn er zuckte unwillkürlich zusammen. „Ich habe meinen Vater enttäuscht, glaubst du, er würde überhaupt noch Kontakt mit mir haben wollen?“, fragte er leise.

„Natürlich!“, versicherte Kyōko. Als sie jedoch an ihre eigenen Familienverhältnisse dachte, fügte sie leise hinzu: „Und wenn dein Vater nicht will, kannst du ja wenigstens mit deiner Mutter sprechen. Mit ihr scheinst du ja eigentlich immer gut klargekommen zu sein.“

Ren seufzte. Dann fragte er: „Und was ist mit dir?“

Sie sah ihn fragend an, und er fuhr fort: „Du sagst die ganze Zeit, ich solle mich bloß nicht von meiner Familie abkapseln, und dabei hast du doch selber nicht gerade das, was man eine heile Familie nennt, oder irre ich mich da?“

Kyōko zuckte zusammen. Sie stand auf und legte ihren Teller neben die Spüle, um Ren nicht länger ins Gesicht sehen zu müssen. Doch sie wusste, dass er auf eine Erwiderung wartete, daher sagte sie nach einer Weile – noch immer, ohne sich umzudrehen: „Meinen Vater kenne ich nicht, auch meine Mutter hat eigentlich nie von ihm gesprochen. Und von ihr habe ich mich verabschiedet, bevor ich mit Shō nach Tokyo gegangen bin.“

„Meinst du nicht, dass du ihr erzählen solltest, was du gerade machst?“, fragte Ren sanft. Kyōkos Körper versteifte sich. Sie wusste, dass es ein Fehler gewesen war, sich in Rens Privatangelegenheiten einzumischen, selbst wenn er gesagt hatte, es sei in Ordnung.

„Es interessiert sie sowieso nicht.“

Ren musste schmunzeln. „Wäre es nicht gemein, wenn deine eigene Mutter von deiner Karriere erst durch das Fernsehen erfahren würde?“

„Sie sieht so wenig fern, dass sie es kaum bemerken wird.“

„Und die Oberschule? Willst du sie in dem Glauben lassen, dass ihre einzige Tochter – du hast doch keine Geschwister, oder? - die Schule nach der Mittelschule abgebrochen hat?“

Kyōko musste schlucken. Dieses Argument leuchtete ihr wider Willen ein. Woher wusste dieser Ren überhaupt so genau, wie ihre Mutter dachte? Das interessierte Kyōko brennend, doch sie hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als ihn danach zu fragen. Es hätte doch wieder in einer Niederlage für sie geendet.

„Ja, gut“, murmelte sie zerknirscht. „Das könnte sie eventuell doch interessieren.“

„Dann ruf sie an und erzähl es ihr“, schlug Ren vor. Kyōko schauderte. Der Gedanke, wieder mit ihrer Mutter sprechen zu müssen, behagte ihr ganz und gar nicht.

„Das sagt sich so einfach“, grummelte sie. „Ich hatte nie ein besonders gutes Verhältnis zu meiner Mutter. Ganz anders als du!“ Sie hoffte, mit dem letzten Satz endlich wieder auf das eigentlich Problem zurückzukommen, auch wenn sie sich gewiss war, dass Ren ihres nicht so einfach vergessen würde.

„Ich rufe meine Eltern an.“

Kyōko blickte ihn perplex an. Erst wehrte er sich so heftig dagegen und jetzt gab er auf einmal so einfach nach? Der ernste Ausdruck in seinen Augen ließ sie sich auf die Lippe beißen. Er war wirklich kein Teenager mehr, das hatte er gerade zum erneuten Mal eindrucksvoll bewiesen. Ja, manchmal konnte er richtig erwachsen sein.

In einem verzweifeltem Versuch, auch nicht mehr als kindisch dastehen zu müssen, sagte Kyōko: „Dann werde ich auch mit meiner Mutter sprechen.“

Ein Schmunzeln zierte Rens Gesicht. „Na bitte, geht doch.“

Das ließ Kyōko einen wütenden Blick auf ihn werfen. So wie er es jetzt darstellte, klang es fast so, als sei sein Versprechen nichts weiter als ein Mittel gewesen, um sie zu einem Versprechen ihrerseits zu bringen, fast wie ein Bonbon, das einem Kind versprochen wurde, wenn es tat, was ihm gesagt wurde. Dabei war Ren doch vorhin noch das Kind gewesen...

Kyōko gähnte. Sie hatte einen langen Tag hinter sich, und die Live-Aufzeichnung von Rock Bizarr war auch ziemlich anstrengend gewesen, besonders für sie, die die ganze Zeit in ihrem dicken Hahnenkostüm herumgelaufen war.

Auch Ren entging ihre Müdigkeit natürlich nicht, daher sagte er: „Du solltest ins Bett gehen.“

„Ach was, ich helfe dir noch beim Abwasch“, lehnte sie schnell ab, musste aber ein erneutes Gähnen unterdrücken.

Sie hörte, wie Rens Stuhl zurückrückte und spürte auf einmal seine Hände auf ihren Schultern. Sanft schob er sie in Richtung Tür. „Mach dir keine Sorgen, das werde ich auch noch alleine hinbekommen. Du gehst ins Bett.“ Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu.

Kyōko seufzte. „In Ordnung. Gute Nacht.“

„Schlaf schön.“
 

Ren schloss die Tür hinter ihr und lehnte sich mit dem Kopf dagegen. Er hörte, wie ihre Schritte sich in Richtung des Gästezimmers entfernten und atmete erleichtert aus. Natürlich war er gerne in ihrer Nähe – wie könnte es auch anders sein? – aber manchmal fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, wenn ihr betörender Duft ihm die Sinne vernebelte. Es tat gut, wieder frei atmen können, ohne Angst zu haben, im nächsten Augenblick die Kontrolle zu verlieren.

Es war ein Fehler gewesen, das wurde ihm nun schmerzhaft bewusst. Ihr diese Lügengeschichte zu erzählen, war vielleicht der größte Fehler gewesen, den er je begangen hatte – abgesehen davon, dass er sich niemals in sie hätte verlieben dürfen.

Mit schmerzendem Kopf taumelte er zum Tisch herüber und ließ sich auf einen der Stühle fallen. Das Mädchen, das er liebte, war in seiner Wohnung, schlief auf seinem Bett... Und er durfte sie nicht berühren, weil er so dumm gewesen war, sich diese Krankheit anzudichten.

Oh ja, dumm war er wirklich.

Was hatte sein krankes Hirn geritten, als er sich diesen Plan ausgedacht hatte? Kannte er denn überhaupt keinen Anstand mehr?

Er seufzte. Die Liebe zu Kyōko hatte ihn mehr verändert, als er es sich eingestehen mochte. Er hatte seine Ruhe und Geduld gegen Leidenschaft getauscht, und er wusste, dass sich das eines Tages rächen würde.

Er erinnerte sich an den vorigen Abend. Nachdem er ihr die Lüge aufgetischt hatte, war auf einmal alles so einfach gewesen, und er hatte gar nicht daran gedacht, dass es falsch gewesen sein könnte. Aber hätte er das alles nicht auch so hinbekommen können? Sie ganz einfach mit der Wahrheit konfrontieren können? Es hatte nicht den Anschein, als hegte sie einen Groll gegen ihn, also wäre es auch in diesem Fall sicher glimpflich verlaufen.

Aber er war eben ein elender Feigling. Er hätte sich niemals getraut, auch wenn es noch so einfach gewesen wäre. Und damit hatte er selbst alles zerstört, was er im Laufe der Zeit zwischen sich und Kyōko aufgebaut hatte.

Er war ein solcher Idiot, dass er am liebsten mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen hätte. Aber es hätte nichts geändert, daher ließ er es sein und stand lieber auf, um den Abwasch zu machen, wie er es versprochen hatte. Dann waren wenigstens seine Hände mit etwas anderem beschäftigt, während seine Gedanken unentwegt um Kyōko kreisten.

Als er gerade heißes Wasser in die Pfanne laufen ließ, um die Essensreste herauszuspülen, hörte er die Tür des Badezimmers klappen und Kyōkos Schritte sich in Richtung des Gästezimmers entfernen. Er atmete tief durch und versuchte, unliebsame Gedanken in die hintersten Ecken seines Kopfes zu verbannen.

Doch nachdem er die Pfanne fertig abgespült, abgetrocknet und in den Schrank zurückgestellt hatte, gelang ihm das nicht mehr. Alles strömte zurück in sein Bewusstsein, ihr wunderschönes Gesicht strahlte vor seinem inneren Auge auf und schwemmte jegliche Vernunft davon.

Mit einem lauten Knall schloss er die Schranktür und stürmte aus der Küche, den Flur entlang und stand schließlich vor der Tür an dessen Ende. Ohne darüber nachzudenken, was er da eigentlich tat, öffnete er sie geräuschlos und spähte hinein.

Kyōko lag auf dem niedrigen Bett in der Mitte des Raumes, die sandfarbene Bettdecke bedeckte sie nur bis zur Hüfte. Durch den halb geschlossenen Vorhang fiel ein Streifen silbernes Mondlicht herein, vermischt mit den Lichtern der Stadt, und beleuchtete ihre linke Gesichtshälfte. Sie schlief, oder hatte zumindest die Augen geschlossen und atmete ruhig ein und aus. Das friedliche Lächeln in ihrem Gesicht ließ Ren, der gerade den Raum betreten wollte, innehalten. Langsam schien sein Gehirn die Tätigkeit wieder aufzunehmen. War er eigentlich verrückt geworden?

Er betrachtete das schlafende Mädchen, das ihn in diesem Augenblick, getaucht in das sanfte Licht der Nacht, mehr denn je an eine Prinzessin erinnerte, wunderschön und zart, wie als wäre sie direkt einem Märchen entsprungen...

Auf leisen Sohlen schlich er sich in das Zimmer und setzte sich vorsichtig neben sie auf das Bett. Lächelnd sah er auf sie herab. Dieses wunderschöne Gesicht... Viel zu lange hatte er es nur aus der Ferne betrachten können, doch nun war sie endlich sein.

Er hob die Hand, um sie auf ihre Wange zu legen. Doch in dem Moment schienen sich ihre Gesichtszüge zu verhärten und er hielt inne. Er hatte schon zu viel falsch gemacht.

Schnell stand er auf und ging zur Tür.Ohne sie ein weiteres Mal anzusehen, flüsterte er leise: „Träum schön“ und schloss die Zimmertür hinter sich. Erleichtert seufzte er auf und ging in die Küche, um dort das Licht auszuschalten. Er war froh, dass er dieses eine Mal keinen Fehler begangen hatte, und das machte ihn so froh, dass er ein leises Lachen nicht unterdrücken konnte.

Es würde schon alles in Ordnung kommen. Ja, irgendwie würde er das alles richten können, auch wenn es sicherlich nicht leicht werden würde.

Wahrheit

Auch wenn Kyōko den Schlaf gut hätte gebrauchen können, war er ihr in dieser Nacht nicht vergönnt gewesen. Das schlechte Gewissen hatte sie lange wach gehalten und nun war sie schon nach wenigen Stunden eines unruhigen Schlafes wieder aufgewacht. Ein Blick auf ihre Uhr, die sie nach kurzem Wühlen in ihrer Umhängetasche neben dem Bett gefunden hatte, sagte ihr, dass es gerade mal vier Uhr morgens war. Schlafen konnte sie jetzt bestimmt sowieso nicht mehr. Es sei denn, sie bekämpfte die Ursache ihres schlechten Gewissens...

Am vorigen Abend, als Ren kurz nachdem sie sich hingelegt hatte über den Flur gestürmt und in ihr Zimmer gekommen war, hatte sie ihren Schlaf vorgetäuscht, weil sie – zugegebenermaßen – ein wenig Angst vor Ren gehabt hatte. Doch zur Sicherheit hatte sie ihre Augen ein kleines Stück offen gelassen – und das bereute sie nun. Sie hatte genau gesehen, wie er seine Hand auf ihre Wange legen wollte und auch der schmerzerfüllten Ausdruck, als er sich eines Besseren besonnen hatte, war ihr nicht entgangen. Und dieser war es auch gewesen, der ihr diese Nacht den Schlaf geraubt hatte.

Dieser Mann war in sie verliebt, er wollte auf dieser Welt niemand anderen als sie, so groß war seine Liebe. Kyōko war nicht einmal sicher, ob der Begriff „Liebe“ ausreichend war, um die Gefühle zu beschreiben, die in ihm brennen mussten. Denn das war es, was sie am Vorabend in Rens Gesicht erkannt hatte. Und das war es auch, was ihr so ein schlechtes Gewissen bereitete: Er liebte sie abgöttisch und sie hatte den ganzen Abend nichts getan, als mit ihm zu reden, auch wenn sie ihm selbst gesagt hatte, dass sie ihn auch liebte. Statt ihm die Zeit seines Lebens, die ihm noch blieb, zu erleichtern, machte sie es wahrscheinlich nur noch schwerer für ihn. Konnte sie das nicht irgendwie ändern?

Mit einem Schlag war sie hellwach. Was bis eben noch ein ungenaues Bild in ihrem Kopf gewesen war, schien nun die perfekte Möglichkeit zu sein, Ren doch noch ein wenig von dem zu geben, was er sich so sehnlich wünschte. Auch wenn ihr Unterbewusstsein noch immer zögerte, erinnerte sie sich noch genau an das, was sie sich vorgenommen hatte, bevor sie am Vorabend die Wohnung betreten hatte: Fehlendes echtes Gefühl würde sie durch gespieltes ersetzen, um Ren glücklich machen zu können. Sie war sich sicher, dass ihre Improvisationsfähigkeiten dazu ausreichen würden.

Mit einer hastigen Bewegung schlug sie die Bettdecke zur Seite und sprang auf. Ihre eiligen Schritte führten sie aus dem Zimmer und vor die Tür zu Rens geräumigem Schlafzimmer. Die Hand schon an der Klinke, erinnerte sie sich an Rens ebenso plötzliche Tour zu ihrer Tür. Seine Gefühle mussten in dem Augenblick so stark gewesen sein, dass er sie nicht mehr hatte beherrschen können. Und trotzdem war er nicht einmal über die Türschwelle getreten... Trotz allem war er eben immer noch ein Gentleman. Er wusste, wo seine Grenzen lagen.

Diese Erkenntnis brachte auch Kyōkos letzte Zweifel die plötzliche Aktion betreffend zum Schmelzen. Selbstsicher öffnete sie die Tür.

Mitten auf dem gigantischen Bett in der Mitte des Raumes, auf dem mühelos eine ganze Familie Platz gefunden hätte, schlief Ren. Er lag auf der Seite, die großformatige Decke bedeckte seinen Körper bis zu den Schultern. Zögernd stand Kyōko im Türrahmen und sah auf ihn herab. Was sollte sie jetzt tun? Aufwecken wollte sie ihn nicht, denn der sanfte Ausdruck in seinem Gesicht ließ annehmen, dass er einen schönen Traum hatte. Sollte sie sich einfach zu ihm legen? Er würde sich sicher freuen, wenn er beim Aufwachen ihr Gesicht sehen würde. Andererseits wollte sie sich ihm auch nicht aufzwingen, vielleicht wollte er sie ja gar nicht in seinem Bett haben. Diesen Gedanken hielt Kyōko nach seinem Ausdruck letzte Nacht allerdings für absurd.

Immer noch mit sich hadernd griff sie nach der Türklinke und zog die Tür ein Stück weit hinter sich zu, um überhaupt irgendetwas zu tun. Vielleicht hörte Ren ihr leises Schleifen über den Teppich, oder aber er spürte den kühlen Luftzug aus dem Flur, jedenfalls schlug er in diesem Augenblick die Augen auf.

Als er nach wenigen Sekunden Kyōko entdeckte, lächelte sie ihm entschuldigend und gleichzeitig unschuldig zu. Die Überraschung in seinem Gesicht war nicht zu übersehen, als er sich auf seinen Unterarm stützte, um sich ein wenig aufzurichten.

Zögerlich betrat Kyōko das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

„Guten Morgen, Ren“, flüsterte sie.

„Kyōko“, sagte er und musste nun auch lächeln.

Er sprach ihren Namen so sanft aus, dass ihr ganzer Körper angenehm zu kribbeln begann. Und dann sein Lächeln, die auffordernd blitzenden Augen, das wirre Haar, das ihm locker ins Gesicht fiel... Erst jetzt wurde Kyōko wirklich bewusst, warum keine Frau dem natürlichen Charme dieses Mannes widerstehen konnte. Niemals zuvor hatte sie jemanden getroffen, dessen Ausstrahlung sie so gefangen genommen hatte.

„Ist etwas passiert?“, fragte er nach kurzem Schweigen ihrerseits und hob besorgt die Augenbrauen.

„Nein, nein“, beeilte Kyōko sich zu sagen. „Alles in Ordnung.“

Als sie aber noch immer keine Erklärung für ihr Auftauchen ablieferte, was wohl vor allem daran lag, dass sie selbst keine hatte, fragte er: „Kannst du nicht schlafen?“

Kyōko nickte und errötete ein wenig, weil sie feststellte, dass sie sich schon wieder wie ein kleines Kind fühlte. Nur, dass sie als Kind niemals zu ihrer Mutter gegangen war, wenn sie nicht schlafen konnte. Sie hätte sie ja doch nur ins Bett zurückgeschickt und sich darüber aufgeregt, dass sie sie mit einer solchen Belanglosigkeit belästigte. War sie etwa dabei, ausgerechnet in Ren so etwas wie eine Familie zu finden?

Er verhielt sich so, wie Kyōko es von einer richtigen Mutter erwartet hatte: Er lächelte ihr zu und klopfte mit der Hand neben sich auf die Matratze, um sie dazu aufzufordern, sich zu ihm zu gesellen.

Mit klopfendem Herzen – natürlich nur wegen der Kindheitserfahrung, die sie nun endlich machen durfte, nicht wegen Ren – näherte sie sich dem Bett und setzte sich darauf, den Rücken an das hohe Metallgestell am Kopfende gelehnt. Sie war Ren innerhalb der letzten Stunden zwar schon viel näher gekommen, aber so ganz traute sie sich auf einmal doch nicht, sich mit ihm auf eine Stufe zu stellen und sich einfach neben ihm ins Bett zu legen.

Er sah, noch immer auf seinen Arm gestützt, zu ihr auf – eine Perspektive, aus der sie ihn wohl zum ersten Mal sah. „Glaubst du, so kannst du besser schlafen?“

„Ähm -“, war Kyōkos äußerst geistreiche Antwort darauf. Sie merkte, wie sie schon wieder rot anlief.

Er lächelte, als wisse er genau, was in ihr vorging. „Leg dich doch hin. Keine Angst, ich tu dir schon nichts.“

Es widerstrebte ihr zwar in gewisser Weise, ihm so zu gehorchen, doch wehren konnte sie sich auch nicht. Außerdem war sie ja eigentlich extra aus diesem Grund hergekommen.

„Möchtest du mit unter die Decke?“, fragte er nach einem kurzen, unangenehmen Schweigen und hob den Stoff leicht an.

„N – nein, danke. Es ist warm genug hier drinnen...“

„Du hast recht...“

Wieder herrschte Schweigen. Keiner von den beiden wusste so recht, was er jetzt tun oder sagen sollte, während sie so nebeneinander lagen. Hin und wieder kam Kyōko nicht umhin, Ren in die Augen zu schauen, weil sie wissen wollte, mit was für einem Blick er sie wohl gerade bedachte. Doch er starrte sie so direkt an, dass sie sofort wieder wegschaute. Normalerweise machte es ihr nichts aus, anderen in die Augen zu schauen, doch jetzt und hier war sowieso nichts so, wie es sonst war. Der Blick seiner dunklen Augen, löste etwas in ihr aus, das sie weder deuten konnte noch wollte – und hatte er schon immer so lange Wimpern gehabt...?

Es wunderte sie fast schon, dass er sich nicht darüber lustig machte, wie sie seinem Blick immer wieder auswich. Vielleicht hatte die Intimität der Situation ihm ebenso die Sprache verschlagen wie ihr...?
 

Dem war nicht wirklich so; Ren fielen tausend Dinge ein, die er sagen konnte, von Komplimenten über ihre wunderhübschen Augen oder ihren verwirrten Ausdruck bis hin zu neckenden Kommentaren darüber, wie schüchtern das Mädchen, das sonst kein Blatt vor den Mund nahm, auf einmal geworden war. Doch er war sich nicht sicher, ob er es nicht einfach beim Schweigen belassen sollte. Er war es leid, ständig Fehler zu machen und sich alle Wege zu verbauen, daher hoffte er, dass schon alles in Ordnung wäre, wenn er dieses eine Mal nichts tat.

Doch je länger er Kyōko betrachtete – das seidige, schwarze Haar, die helle Haut, die treuen brauen Augen, den hübschen Mund... - desto mehr kribbelte es ihn in den Fingern, doch etwas zu tun. Es war eine Sache, etwas Falsches zu tun, doch es war eine andere, die Chance, das Richtige zu tun, einfach so verstreichen zu lassen. Besser man bereute, etwas getan zu haben, als zu bereuen, etwas nicht getan zu haben.

Er strich ihr eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr und fragte leise: „Wolltest du nicht schlafen? Oder störe ich dich so sehr, dass du immer noch nicht einschlafen kannst?“

Also die neckende Variante. Es war eine spontane Entscheidung gewesen, aber es hätte ihn selbst gewundert, wenn er sich für die Komplimente entschieden hätte. Kyōko war nicht wie alle anderen Mädchen, denen er etwas Nettes sagen konnte, ohne auch nur darüber nachzudenken. Diese Funktion schien in ihrer Nähe irgendwie lahmgelegt zu sein. Wahrscheinlich war es auch besser so, denn Kyōko war nicht so leicht um den Finger zu wickeln wie die anderen. Bei ihr musste er subtiler vorgehen. Es war wie ein Spiel: Wenn man einen Fehler beging, wurde man ein paar Felder zurückgeschickt und musste von vorne anfangen...

„Glaubst du, ich wäre hergekommen, wenn du mich stören würdest?“

Sie blickte ihn fast schon vorwurfsvoll an und er fragte sich, ob sie seine Frage etwa ernst genommen hatte. Es war ja schon einmal passiert, dass er sie mit einer ironischen Bemerkung völlig aus dem Konzept geworfen hatte.

Er lächelte, antwortete aber nicht. Stattdessen fragte er leise: „Soll ich dir ein Schlaflied singen?“

Sie hob die Augenbrauen und blickte ihn verwundert an, wobei sie ihm endlich wieder in die Augen sah. Vielleicht war das ein gutes Zeichen, vielleicht aber auch ein schlechtes, denn er hatte das Gefühl, dass die Situation sich normalisierte, ihren Zauber verlor. So wie sie ihn jetzt ansah, könnten sie sich auch an einem Tisch gegenübersitzen. Aber sie lagen noch immer in seinem Bett, und Rens Herz begann, ein wenig schneller zu schlagen, als ihm klar wurde, dass er diese Chance auf keinen Fall missachten sollte, denn er würde sie so schnell nicht wiederbekommen.

Lachend bemerkte er: „So wie du guckst, traust du mir nicht zu, dass ich singen kann.“

„Ich würd's gerne hören.“

„Ach jaaa?“

„Ja. Oder willst du etwa doch nicht?“

„Für einen Kuss.“

Am liebsten hätte Ren in diesem Moment laut aufgeschrien. Die Sätze waren ihm so leicht von der Zunge gegangen, dass er gar nicht mehr darauf geachtet hatte, was er da eigentlich sagte. Und da hatte er das Schlamassel.

Kyōkos Gesicht, in dem eben noch ein breites Grinsen zu sehen gewesen war, nahm einen überraschten, fast geschockten Ausdruck an, als seine Aussage ihr Gehirn erreicht hatte.

Von wegen man bereut lieber, etwas getan zu haben, dachte Ren. Von wem kommt überhaupt dieser Mist? Gerne hätte er einfach „Vergiss es“ gemurmelt, doch das hätte nur gezeigt, wie wenig Kontrolle er über das hatte, was er sagte. Er musste schon zu seinen Fehlern stehen.

„Ähm -“, machte Kyōko. Ihr Gehirn schien auf Hochtouren zu laufen. Und das ließ Rens Hoffnungen wieder zum Leben erwachen. Immerhin war sie noch nicht aufgesprungen und vor ihm geflohen. Sie hatte doch gesagt, dass sie ihn liebte...

Zögernd streckte er die Hand nach ihr aus und strich sanft durch ihre Haare. Sie wehrte sich nicht, blieb einfach regungslos liegen und starrte ihn mit weit geöffneten Augen an.

Sie hatte gesagt, dass sie ihn liebte.

Ren zog seine zweite Hand unter der Decke hervor und legte sie von hinten um ihre Schultern, um sie dann zu sich heranzuziehen.

Sie wehrte sich noch immer nicht gegen ihn.

Und sie hatte gesagt, dass sie in ihn verliebt war, ebenso wie er in sie verliebt war...

Also küsste er sie.

Und als sie sich noch immer nicht wehrte, fühlte er sich, als wäre er der glücklichste Mensch auf Erden. Er dachte nicht daran, dass dieser Moment vorbeigehen würde. Er dachte auch nicht daran, dass er ihr irgendwann würde sagen müssen, dass er nicht wirklich krank war und schon gar nicht daran, dass sie ihn dann möglicherweise hassen würde, denn wenigstens für diesen einen Augenblick wollte er frei sein von all den Sorgen, die ihn den ganzen vorigen Abend und die halbe Nacht über gequält hatten.
 

Es war kein langer Kuss, auch kein besonders leidenschaftlicher, dennoch sorgte er dafür, dass die beiden sich ein wenig leichter, unbesorgter fühlten. Selbst Kyōko, die sich bisher bei jeder seiner Berührungen irgendwie unsicher gefühlt hatte, musste lächeln. Es war, als hätte sein Kuss einen Schalter in ihrem Kopf umgelegt.

„Singst du jetzt?“, fragte sie und blickte ihn erwartungsvoll an.

Er lachte. „Wenn du unbedingt willst...“

Tatsächlich stimmte er leise ein Kinderlied an, die sanfte, tiefe Stimme Kyōkos Ohren umschmeichelnd. Sie drehte sich auf den Rücken und seufzte auf, so sehr genoss sie es, seine Stimme zu hören.
 

An diesem Morgen wäre Ren Tsurugas Rekord, noch nie zu spät gekommen zu sein, fast in die Brüche gegangen, was Kyōko auf der Fahrt zum LME-Hauptgebäude fast verrückt gemacht hatte. Immerhin war sie es gewesen, die, obwohl sie so ruhig nebeneinander gelegen hatten, auf einmal aufgesprungen war, da ihr in den Sinn kam, dass sie gerade erstens vom begehrtesten Mann Japans geküsst worden war und dass dieser zweitens an Aids erkrankt war. Also war sie unter dem Vorwand, das Bett sei ihr zu ungemütlich – was angesichts desselben eine absolut fadenscheinige Ausrede war – ins Wohnzimmer gestürmt. Ren war ihr gefolgt und sie waren schließlich übereingekommen, dass sie einfach ein wenig Fernsehen gucken sollten, um die Zeit bis zum Sonnenaufgang zu überbrücken. Und dort, letzten Endes doch im Halbschlaf (Kyōkos Kopf auf Rens Schulter), hatten sie natürlich auch den Wecker nicht gehört.

Zum Glück war ihnen irgendeine Glücksfee hold, denn auf ihrem Weg durch die Tokyoter Straßen kamen sie an keiner einzigen roten Ampel vorbei und die meisten Autos, die vor ihnen unterwegs waren, fuhren eher zu schnell als zu langsam.

Im LME-Parkhaus angekommen, war Ren dann losgesprintet, was bei ihm immer noch sehr anmutig aussah, und hatte eine etwas verwirrte Kyōko im Auto allein gelassen. Doch es war nicht sein Verhalten, das sie verwirrte, sondern die Frage, die sich seit heute Morgen stellte: Konnte Aids durch einen Kuss übertragen werden?

Allein der Gedanke daran ließ die Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie fragte sich, ob die Krankheit bei ihr vielleicht viel schneller ausbrechen würde als bei Ren, vielleicht würde sie sterben, bevor es bei ihm so weit war...

Ein Klopfen an der Autoscheibe ließ sie aufschrecken. Sie blickte hinaus und sah das bis über beide Ohren grinsende Gesicht von Yashiro, der ihr fröhlich zuwinkte. Fast hätte sie den Autoschlüssel, den Ren ihr anvertraut hatte, hervorgezogen und die Türen verriegelt, so unheimlich war ihr der Manager in diesem Augenblick. Doch sie wusste, dass das alles andere als höflich war und außerdem, dass er ihr niemals etwas antun würde. Also öffnete sie die Tür und verließ das Auto, während sie den hochgewachsenen Mann freundlich grüßte.

Er grüßte zurück und fragte dann sogleich: „Was tust du in Rens Auto?“

Es war keine böse gemeinte Frage, die darauf abzielte, ihr Ärger einzubringen, sondern viel eher eine „Was habt ihr heute Nacht Schmutziges getrieben?“-Frage. Wieder spielte sie in diesem Moment mit dem Gedanken, ihn einfach mit irgendeiner Lügengeschichte abblitzen zu lassen. Doch irgendwie war sie sich sicher, dass er sie sowieso durchschauen würde. Daher entschied sie sich für die Wahrheit – zumindest die halbe.

„Ich habe in seiner Wohnung übernachtet, weil ich gestern Abend noch für ihn gekocht habe, und dann hat er mich heute Morgen gleich mitgenommen.“

Yashiro hob anerkennend die Augenbrauen. Er sah so aus, als wolle er sie mit tausenden Fragen bombardieren, doch zum Glück ließ er dies sein, denn Kyōko war sich sicher, dass sie keine einzige davon beantworten wollte. Sie wusste sowieso, worauf alles hinauslaufen würde.

„Hast du noch irgendwelches Gepäck im Auto? Oder bist du gleich bei Ren eingezogen?“

„Nein!“, widersprach Kyōko schnell und konnte nicht verhindern, dass sie dabei errötete. „Im Kofferraum liegen noch ein paar Sachen.“

„Komm, ich helfe dir tragen“, bot Yashiro an und schritt zum hinteren Teil des Autos, um die große Klappe dort zu öffnen. „Musst du ins Love-Me-Büro?“

Kyōko bestätigte dies.

Nachdem sie und Yashiro ihre Besitztümer aus dem Auto gehoben und dieses abgeschlossen hatten (Yashiro versprach Kyōko, Ren den Schlüssel wiederzugeben), machten sie sich auf den Weg.

„Ach übrigens, ich habe noch was für dich“, erzählte Yashiro.

Kyōko sah ihn fragend an.

Yashiro grinste wieder. „Ich hab’s extra für dich auf DVD gebrannt“, erklärte er stolz.

„Was denn?“

„Das Interview, in dem Ren klar geworden ist, dass er dir endlich seine Liebe gestehen muss!“ Er stieß einen glücklichen Seufzer aus.

„Ein Interview?“ Das wunderte Kyōko nun, da sie gedacht hatte, seine Aids-Diagnose hätte ihn zum Geständnis gebracht. Außerdem war dieses ja irgendwie auch eher zufällig gewesen, vielleicht wäre bei ihrem Abendessen in dem teuren Restaurant überhaupt nichts passiert, wenn er nicht erkannt hätte, dass sie Bou war...

Yashiro nickte begeistert. „Wenn man ihn kennt, kann man seine Gedanken praktisch an seinem Gesicht ablesen! Ich dachte mir, du solltest es unbedingt kennen, schließlich markiert es den Anfang einer ewig dauernden Beziehung...“ Das Lächeln auf seinem Gesicht glich nun dem eines kleinen Kindes und es wunderte Kyōko nicht, dass sie von ein paar jungen Schauspielerinnen, die ihnen entgegenkamen, mit einem schrägen Blick bedacht wurden.

„Ewig...“, murmelte Kyōko. Sie wünschte sich, sie könnte Yashiro von Rens Krankheit erzählen, doch gleichzeitig wusste sie, dass sie dann sein Vertrauen in sie ausnutzen würde. Wenn er dachte, dass es an der Zeit war, würde er seinen Manager schon informieren...

Dieser ergriff nun Kyōkos Hand und blickte ihr tief in die Augen. „Ja, ewig! Ihr beide seid ja praktisch füreinander bestimmt, ihr passt so gut zusammen! Ich glaube nicht, dass irgendetwas euch trennen könnte!“

Außer dem Tod... Ob nun seiner oder meiner..., dachte Kyōko und bekam unwillkürlich eine Gänsehaut, trotz der warmen Temperaturen.
 

Bald hatten sie die mit dem Logo der Love-Me-Section verzierte Tür erreicht, die zu deren Umkleideraum führte.

„Ich stelle dein Zeug am besten hier ab“, sagte Yashiro und tat dies, ohne eine Antwort abzuwarten. Dann öffnete er seine Aktentasche, wühlte ein wenig darin herum und zog schließlich einen in eine Plastikhülle eingepackten DVD-Rohling hervor, auf den ein großes rotes Herz gemalt worden war.

„Bitteschön!“

Strahlend überreichte er ihn ihr und sie nahm ihn zögerlich an.

„Schau es dir so bald wie möglich an! Erst dann weißt du, wie sehr dieser Mann dich wirklich liebt, glaub mir!“

Mit diesen Worten ließ Yashiro den Metallverschluss seiner Aktentasche wieder zuschnappen und lief davon. Wahrscheinlich machte es ihm nicht einmal etwas aus, dass er mehr als eine halbe Stunde später als Ren am verabredeten Ort sein würde. Diese Sache war ihm außerdem ganz augenscheinlich sehr wichtig, daher beschloss Kyōko, sich die DVD tatsächlich noch heute anzusehen. Sie fragte sich, ob Yashiro wohl recht hatte oder ob es nur eine Ausgeburt seiner Fantasie war...
 

„Guten Morgen, Kyōko“, wurde sie auf einmal begrüßt.

Sie zuckte zusammen und sah ihre Mitpraktikantin in der Love-Me-Section, Kanae Kotonami, auf sie zukommen.

„Morgen“, sagte Kyōko.

Überrascht blickte Kanae auf das Gepäck, das ihre Freundin neben der Tür abgestellt hatte. „Was willst du denn damit?“, fragte sie überrascht.

„Ääääh“, sagte Kyōko und starrte die Taschen ebenfalls an. Sie wollte Kanae nicht anlügen, doch fühlte sie sich noch unbehaglicher bei dem Gedanken, ihr alles zu berichten. Ihre Kollegin wusste ja noch nicht einmal etwas von ihrer Beziehung zu Ren, und Kyōko war sich auch nicht so sicher, wie sie es hätte erklären sollen.

„Ich habe bei... jemandem übernachtet.“

Kanae hob die Augenbrauen, sagte aber nichts, wie Kyōko erleichtert feststellte. Um zu vermeiden, dass dieses Thema doch noch vertieft wurde, öffnete sie schnell die Tür des Love-Me-Büros und trat ein.

Ihre Freundin sah sie zwar noch immer mit einem schiefen Blick an, schwieg aber weiterhin und ging zu ihrem Spind, um ihre Love-Me-Uniform hervorzuholen.

Kyōko stellte ihre Taschen ab und machte sich gerade daran, sich ebenfalls umzuziehen, als ihr wieder die Begebenheit von heute morgen einfiel. Und da Kanae ihre engste Vertraute war, hatte sie eigentlich sie zu diesem Thema befragen wollen.

Unwillkürlich hielt sie in ihrer Bewegung inne. Sollte sie die Frage jetzt wirklich stellen? Oder sollte sie lieber jemand anderen fragen, der vielleicht nicht unbedingt nachhaken würde, worum es eigentlich ging?

„Was ist los?“, fragte Kanae und sah sie ein wenig besorgt an.

Ihre Sorge führte Kyōko zu der Entscheidung, ihr alles zu erzählen, denn immerhin ging es hier um ihre Freundin, die ihr auch schon so viel von sich erzählt hatte...

„Es gibt da etwas, was mich beschäftigt...“, murmelte Kyōko und drehte sich langsam um, den Blick zu Boden gewandt.

„Schieß los.“

„Also, es geht um Aids...“, begann sie. „Also, nur so rein theoretisch!“, beteuerte sie gleich, als sie Kanaes erschrockenen Blick sah. Sie hätte gerne die Wahrheit gesagt, doch Ren hatte ihr allein sein Geheimnis anvertraut und sie wollte sein Vertrauen nicht brechen.

„Es heißt ja, es wird über Körperflüssigkeiten übertragen... Und Speichel ist ja auch eine Körperflüssigkeit...“ Ihr Herz begann wie wild zu hämmern. „Kann man das... also, kann man auch Aids bekommen, wenn man jemanden küsst, der es hat?“

Sie wusste, dass ihr verzweifelter Blick und die Tränen in ihren Augen schon längst verraten hatten, dass es hier nicht mehr um die bloße Theorie ging, doch das war ihr in diesem Moment fast schon egal. Mit ängstlich zusammengepressten Lippen sah sie ihre Freundin an.

„Aids? Küssen?“, fragte diese mit vor Staunen geöffnetem Mund. „Moment... Kyōko, es gab diese Gerüchte über dich und Tsuruga-san... Er hat dich doch nicht...? Er wird doch nicht...?“

Ohne ihren Satz zu beenden, starrte sie Kyōko mit offenem Mund an. Dieser fiel erst jetzt auf, dass es ziemlich dumm gewesen war, zu glauben, Kanae wüsste nichts von ihrer Beziehung zu Ren. Er war immerhin der begehrteste Mann des ganzen Landes, selbstverständlich sprachen alle davon, dass er nun eine Freundin hatte. Am liebsten hätte sie ihren Kopf gegen die Wand geschlagen. Wie konnte sie nur so bescheuert sein? Sie hätte dieses Thema niemals anschneiden sollen...

„Kyōko?“, fragte Kanae, die sich ihr genähert hatte, und legte ihr vorsichtig den Arm um die Schultern. „Mach dir keine Sorgen, okay? Solange... solange es dabei geblieben ist, hast du dich bestimmt nicht angesteckt.“

„Wirklich?“ Inzwischen kullerten Kyōko die Tränen hemmungslos aus den Augen, aber die Berührung und die warmen Worte ihrer Freundin sorgten dafür, dass die Kälte in ihrem Inneren, die von der Unsicherheit hervorgerufen worden war, langsam verschwand.

Kanae nickte. „Ja, wirklich.“

Erst, als Kyōko sich wieder beruhigt hatte, wagte sie es zu fragen: „Wie ist das nun eigentlich mit Tsuruga-san? Ich habe gehört, ihr wärt zusammen, aber ich konnte mir das nicht so recht vorstellen. Du bist ja immerhin in der Love-Me-Section, außerdem hatte ich häufig das Gefühl, du würdest ihn hassen.“

Kyōko blickte schweigend zu Boden. Im Grunde lag Kanae ja völlig richtig, denn wenn jemand ihr vor einer Woche gesagt hätte, dass sie mit Ren zusammen kommen würde, hätte sie es eben wegen dieser Einwände nicht geglaubt. Aber nun war es doch passiert, es war die Wahrheit...

„Wir sind ein Paar“, krächzte Kyōko, so leise, dass Kanae neben ihr es kaum verstand. „Er hat mich schon lange geliebt und ich...“

Ich liebe ihn auch, hatte sie sagen wollen, doch irgendetwas in ihr weigerte sich, das zu sagen. Weshalb? Waren ihr nicht gerade heute morgen, als Ren sie geküsst hatte, ihre Reinherzigkeiten erschienen, hatten all ihren Hass in Ketten gelegt und ihr zur Rückkehr ihrer Gefühle gratuliert? Warum traute sie sich dann nicht, zu diesen Gefühlen zu stehen?

„Hat er dich zu irgendwas gezwungen?“, wollte Kanae wissen, die ihr Schweigen missdeutete.

Schnell schüttelte Kyōko den Kopf. „Er liebt mich so sehr, aber er hat sich zurückgehalten, weil er Angst hatte, mir weh zu tun. Niemals hätte er mich zu etwas gezwungen! Ich bin ja auch freiwillig zu ihm gefahren.“

Erleichterte seufzte ihre Love-Me-Genossin auf. „Da bin ich aber froh. Weißt du... Tsuruga-san wirkt immer so ein wenig distanziert. Ich glaube, keiner kann so richtig einschätzen, was er privat für ein Mensch ist.“

„Distanziert? Findest du?“, fragte Kyōko überrascht.

Kanae nickte. Dann sagte sie lächelnd: „Ich kann mir vorstellen, dass es bei dir schon immer etwas anderes war. Wahrscheinlich hat er sich in dich verliebt, weil du die erste warst, bei der er einfach er selbst sein konnte, du bist bei seinem Anblick ja nie vor Ehrfurcht erstarrt.“ Sie lachte.

„Hmm...“, machte Kyōko nachdenklich. „Jetzt, wo du es sagst... Anderen gegenüber hat er immer sein Gentlemanlächeln aufgesetzt, aber bei mir war er meistens ganz natürlich, zumindest, nachdem wir unser kleines Missverständnis geklärt hatten...“

„Siehst du“, sagte Kanae und klopfte ihr auf den Rücken.

Nach kurzem Schweigen fragte sie dann: „Und was war das mit dem Aids?“

„Eigentlich darf ich es niemandem sagen...“, murmelte Kyōko schuldbewusst.

Kanae überging dies einfach und hakte nach: „Tsuruga-san hat also... Aids?“

Kyōko nickte. Jetzt hatte sie es sowieso schon verraten, da brauchte sie es auch nicht weiter zu leugnen.

„Wie lange weißt du das schon?“

„Seit drei Tagen. Eines Abends rief er mich an und erzählt es mir.“

„Einfach so?“, fragte Kanae.

„Weiß ich nicht...“, überlegte Kyōko. „Yashiro-san sagte gerade, ein Interview hätte Ren dazu gebracht, mir seine Liebe zu gestehen. Er weiß zwar nichts von der Krankheit, aber... vielleicht war das ja trotzdem der Auslöser.“

Kanae zuckte mit den Schultern. „Das kann sein.“

Wieder schwiegen beide, in ihren eigenen Gedanken versunken.

„Und du bist die einzige, die davon weiß?“

„Ja, er versucht wohl, es so lange wie möglich geheim zu halten...“

Kanae seufzte. „Das ist ja echt keine schöne Nachricht...“

Niedergeschlagen blickte Kyōko zu Boden. „Ich weiß gar nicht, ob ich mir dieses Interview angucken soll...“

„Du hast es?“, fragte Kanae überrascht.

Kyōko nickte. „Yashiro-san hat es extra auf DVD gebrannt. Er hat es mir vorhin noch in die Hand gedrückt.“

„Wir können es uns zusammen ansehen. Ich habe jetzt noch keine Termine und du wahrscheinlich auch nicht. Komm, wir haben doch im Nebenraum extra einen Computer stehen.“

Sie bewegte sich in Richtung des besagten Raumes und Kyōko folgte ihr, nachdem sie die DVD aus ihrer Umhängetasche herausgesucht hatte.
 

„Hm...“, murmelte Kyōko und drückte auf den Pause-Knopf. Auf dem Bildschirm war Ren zu sehen, ein besonders strahlendes, aber irgendwie auch bedrohliches Gentlemanlächeln aufgesetzt. Mit diesem Gesicht konnte er viele überzeugen, doch der Ausdruck, der zuvor sein Gesicht verunstaltet hatte, war wohl von jedem als ein Ausrutscher seinerseits zu erkennen gewesen.

„Da ist ihm also klar geworden, dass er noch etwas tun muss, bevor er stirbt...“, murmelte sie, mehr zu sich selbst als zu ihrer Freundin, die sie nun mit offenem Mund anstarrte.

„Nach diesem Interview glaubst du tatsächlich immer noch an das, was er gesagt hat?“

Überrascht sah Kyōko sie an. „Warum nicht? Er war doch so schockiert, weil die Frau mit ihrer Frage genau seine Situation getroffen hat. Und dann ist ihm aufgefallen, dass er noch etwas Wichtiges sagen muss, bevor sein Leben zu Ende ist.“

Ungläubig schüttelte Kanae den Kopf. „Glaubst du nicht, da wäre er nicht von selbst drauf gekommen, wenn er positiv auf Aids getestet worden wäre? Außerdem: Kennst du denn nicht die wichtigste Regel eines Schauspielers in einer solchen Situation? Wenn jemand den Nagel auf den Kopf trifft, streitet man die Aussage mit einem strahlenden Lächeln ab. Und wenn man jemand als den König der Schauspieler bezeichnen kann, dann ist es wohl Ren Tsuruga.“

Schweigend ruhte Kyōkos Blick auf ihrer Freundin. Ren selbst hatte ihr das einmal beigebracht und in jeder sich ihm bietenden Gelegenheit wieder gezeigt, dass er diese Regel zutiefst verinnerlicht hatte. Niemals würde ausgerechnet er sich von einer Frage aus dem Konzept werfen lassen, auch wenn jemand ein noch so geheimes Geheimnis enthüllen wollte.

Langsam befreiten Kyōkos Rachegeister sich von ihren Ketten und krochen aus ihren Löchern hervor, voller neuer Energie. All die Reinherzigkeiten, die hinzugekommen waren, wurden hingegen in die tiefsten Abgründe von Kyōkos Seele gestoßen.

Eine der kleinen, schwarzen Gestalten umkreiste den Kopf seiner Herrin und flüsterte: „Merkst du es? Du wurdest schon wieder hintergangen.“

Eine andere schien sich kaum noch zurückhalten zu können vor lauter Mordlust. „Alle Männer gehören an den Galgen! Sie sind doch alle gleich! Alles arrogante, egoistische, selbstsüchtige Schweine!“

Vor Zorn zitternd stand Kyōko auf, die Hände zu Fäusten geballt und die Fingernägel so fest in die Handflächen gedrückt, dass es wehgetan hätte, wenn nicht ihr ganzer Körper mit einem anderen Gedanken beschäftigt gewesen wäre.

„Kyōko? Bist du in Ordnung?“, fragte Kanae, die Angst in ihrer Stimme deutlich herauszuhören, und fasste ihre Freundin vorsichtig am Handgelenk.

„Das wird er bereuen...“, knurrte diese, ohne es überhaupt zu bemerken. Sie drehte sich herum und stapfte in Richtung der Tür.

„Kyōko! Warte doch mal! Vielleicht -“, versuchte Kanae sie aufzuhalten.

Mit einem dämonischen Glitzern in den Augen wandte Kyōko sich noch einmal zu ihr um. „Vielleicht hat er mich nicht mit Absicht belogen, betrogen und ausgenutzt?!“

Kanae zuckte zurück, was Kyōko die Möglichkeit gab, sich aus ihrem Griff zu befreien und mit großen, schweren Schritten den Raum zu verlassen. Sie ließ die Tür so laut zuknallen, dass ein paar Umstehende erschrocken zusammenzuckten und ihr ängstliche Blicke zuwarfen.

Beleidigungen und Flüche, die jeden noch so hartgesottenen Menschen hätten erbleichen lassen, vor sich hin murmelnd streifte Kyōko durch das LME-Hauptgebäude. Es gab hier hunderte von Räumen, in denen Ren sich jetzt befinden konnte, doch ihre Rachegeister schienen ganz genau zu wissen, wohin sie sie lenken mussten. Sie spürten die Aura des Schauspielers, der den heutigen Tag wohl kaum überleben würde.

Ren war gerade mitten in einem Fotoshooting, umringt von einer Horde von Menschen, die sich an seinem Anblick ergötzten, als Kyōko die Tür aufstieß. Jeder im Raum spürte sofort, wie die Temperatur rapide abnahm und wie ein unheilschwangeres Feld ihn langsam ausfüllte.

Kyōkos Blick war mörderisch, ihr Gesicht zu einer höllischen Fratze verzerrt und nur Ren und Yashiro, die einzigen hier, die sie etwas besser kannten, erkannten überhaupt, mit wem sie es zu tun hatten.

Mit großen, aber langsamen Schritten stapfte Kyōko voran, den stierenden Blick direkt auf den Top-Schauspieler gerichtet. Angsterfüllt traten die Menschen zur Seite und ließen ihr eine Gasse, durch die sie auf ihn zutrat.

„Haben Sie ernsthaft geglaubt, Sie könnten mich ewig belügen, Tsuruga-san?“ Das letzte Wort kam wie ein Zischen aus ihrem Mund. Die Macht der Gewohnheit hatte sie dazu gebracht, wieder diesen Namen zu benutzen, und irgendetwas tief in ihrem Inneren sagte ihr, dass all ihre Wut verpufft wäre, wenn sie „Ren“ gesagt hätte.

„Wovon sprichst du?“, fragte er, sein heiliges Lächeln aufgesetzt, auch wenn in seinem Gesicht deutlich zu erkennen war, wie beunruhigt er war.

Sein Geglitzer versuchte, Kyōkos Schutzwall aus Rachegeistern zu durchbrechen, doch sie waren viel zu stark, als dass es ihnen wirklich etwas ausgemacht hätte.

„Und jetzt versuchen Sie auch noch, es zu leugnen? Ich hätte es wissen müssen – Sie sind nichts weiter als eine falsche Schlange, nur dass Sie auch noch glauben, Sie könnten jede haben!“

Während die beiden sprachen, sorgte Yashiro dafür, dass die anderen Anwesenden den Raum verließen – was diese auch bereitwillig taten, da ihr Leben ihnen wichtiger war als eine gute Story. Auch Yashiro traute sich nicht, in Kyōkos Nähe zu bleiben und ergriff die Flucht, nachdem er Ren noch einen besorgten Blick zugeworfen hatte.

Dieser versuchte noch immer, sich herauszuwinden: „Wirklich, Kyōko, ich weiß nicht, was du meinst. Ich liebe dich. Und ich bin dir wirklich dankbar, dass du in dieser schweren Zeit bei mir bist.“

„VON WEGEN SCHWERE ZEIT!!!“, brüllte Kyōko so laut, dass Ren zusammenzuckte und einen Schritt zurückwich. „Jetzt hören Sie doch auf zu lügen, ich weiß doch, dass das alles nichts als Lügen sind! Und was für welche! Wie verlogen ist das eigentlich, auf das Mitleid einer Frau zu setzen, nur um sie für sich zu gewinnen?! Miss Menno hatte recht, niemand weiß, was wirklich in Ihnen vorgeht, eigentlich haben Sie nichts – nicht das Geringste! – mit dem Menschen zu tun, der Sie zu sein vorgeben!“

Schweigend sah Ren sie an. Sein Lächeln war inzwischen verflogen und sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt – gespielt und falsch, so wie alles an ihm, denn sie war ihm niemals so wichtig, dass er echten Schmerz empfinden könnte. Dennoch ließ Kyōko die Hand sinken, die sie zur Unterstützung ihrer Worte drohend vor Rens Gesicht erhoben hatte.

„Entschuldige, Kyōko“, sagte Ren. Er sprach sehr leise, doch es war so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören.

Kyōko biss sich auf die Lippe und drehte sich um hundertachzig Grad herum. Bevor er noch irgendetwas sagen konnte, hatte sich ihr Körper in Bewegung gesetzt und sie hatte den Raum verlassen, in dem er nun wie versteinert stehen blieb.

Sie wusste selbst nicht, was mit ihr los war, aber etwas an ihm hatte ihre Rachegeister so weit zurückgetrieben, dass sie erstmals wieder sie selbst war. Ihr Herz stach so furchtbar in ihrer Brust, dass ihre Augen feucht wurden und sie wollte nichts weniger, als dass er sie weinen sah. Also hatte sie sich zurückgezogen, obwohl eine Million Beleidigungen noch immer in ihrem Kopf herumschwirrten. Die meisten von ihnen waren im Grunde genommen belanglos und drückten nur das aus, was sie ihm sowieso an den Kopf geworfen hatte, doch eins ärgerte sie: Sie hatte ihm nicht ins Gesicht sagen können, wie sehr sie ihn für das hasste, was er ihr angetan hatte.

Vergessen

Als Kyōko zu sich kam, fühlte sie sich, als hätte sie hundert Jahre geschlafen. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde sie weitere hundert brauchen, um sich von dem, was geschehen war, zu erholen, doch sie wusste, dass sie nicht mehr würde schlafen können. Ein kurzer Blick in Richtung des Fensters, durch dessen Vorhänge nur das schwache Licht der Straßenbeleuchtung drang, reichte um zu sehen, dass es mitten in der Nacht war.

Kyōko drehte sich zur Seite und starrte an die Wand, doch das trug nur dazu bei, dass sie wie durch einen Schlag ins Gesicht an den gestrigen Tag erinnert wurde, denn dort hingen noch immer die zwei Poster, die sie vor längerer Zeit dort aufgehängt hatte. Shō, von Anfang an das Ziel ihrer Rache, erstrahlte noch immer in riesiger Größe – denn das entsprach dem Ausmaß von Kyōkos Hass auf ihn. Rens Bild hingegen war im Laufe der Zeit auf die Größe einer Briefmarke geschrumpft. Mit einem bitteren Lachen riss Kyōko es ab und zerknüllte es. Selbst wenn sie alle Wände des Zimmers mit seinem Gesicht tapezierte, würde es ihrem Hass niemals gerecht werden können. Wütend schlug sie mit der Faust gegen die Wand, in der eine kleine Mulde zurückblieb.

Sie war sich selbst nicht sicher, ob nun Trauer, Enttäuschung oder Wut gesiegt hatte; am Tag zuvor waren es jedenfalls die ersten beiden gewesen, die sie unter Tränen in den Schlaf gewiegt hatten. Nach ihrem Streit mit Ren hatte sie sich viel zu leer und schwach gefühlt, um noch wütend sein zu können.

Und so ganz waren ihre Kräfte auch heute noch nicht zurückgekommen, obwohl sie mindestens zwölf Stunden geschlafen haben musste. Statt voller Wut auf Ren war sie eher zornig auf sich selbst und ihre Dummheit. Immerhin hatte sie schon einmal gedacht, von einem Mann wirklich geliebt zu werden und war dann von ihm fallen gelassen worden wie eine heiße Kartoffel. Andererseits hatte Shō ihr, wenn sie sich recht erinnerte, nicht ein einziges Mal direkt gesagt, dass er sie liebte. Natürlich hatte sie diesen Eindruck gehabt, aber bestätigt hatte er ihn nie. Und das machte ihn ihr, im Gegensatz zu Ren, schon fast sympathisch, denn dieser hatte all seine schauspielerischen Fähigkeiten genutzt, um sie mit einem falschen Liebesgeständnis und einer dicken Lüge um den Finger zu wickeln. Hatte er, als er sich entschuldigt hatte, tatsächlich geglaubt, damit wäre es getan? War er wirklich so naiv, dass er hoffte, sie könnte ihm verzeihen, was er getan hatte? Wenn ja, dann lag er ziemlich daneben. Sie würde sich an ihm rächen und sich dabei gewiss nicht damit abgeben, dass ihm vor Erstaunen die Kinnlade herunterfiel, wie bei Shō. Denn er hatte es verdient, in den Dreck geworfen und so lange zertreten zu werden, bis nichts mehr von ihm übrig blieb.

Kyōko rollte sich auf den Rücken und starrte in Richtung der Decke, die im Dunkeln nicht zu sehen war, doch ihr Blick schien ohnehin durch sie hindurchzugehen. Ihre Rachegeister erfreuten sich an diesen Vorstellungen, doch ihr Herz schien etwas anderes zu sagen. Es war zersprungen, schon wieder, doch jeder einzelne Teil wehrte sich so sehr gegen ihre fiesen Gedanken, dass es schmerzte.

Sie kniff die Augen zusammen und schlang die Arme um den Oberkörper. Warum musste es so wehtun? Es war nicht leicht für sie gewesen, als sie erfahren hatte, dass Shō sie nur als Dienstmädchen nach Tokyo mitgenommen hatte, doch dieser Schmerz war nicht ansatzweise so schlimm, so stechend, so unnachgiebig gewesen wie der, den sie jetzt empfand.

Und dabei war Shō doch derjenige gewesen, für den sie so viele Jahre gelebt hatte... Konnte Ren, den sie nun seit noch nicht einmal einem Jahr kannte, ihr wirklich mehr bedeuten als ihr Prinz?
 

Kyōko war so verwirrt von all ihren Gedanken, dass sie froh war, als Kanae sie besuchen kam, und das sogar am ersten Tag nach dem Streit.

Gegen drei Uhr nachmittags klopfte es an ihrer Zimmertür und die Schwarzhaarige trat ein, den äußerst besorgten Blick auf Kyōko gerichtet, die bis eben auf dem Bett gelegen hatte und sich jetzt gerade aufrichtete.

„Meine Liebe“, sagte sie und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.

Die Angesprochene schloss die Tür hinter sich und blieb etwas unentschlossen davor stehen. „Yashiro-san hat gesagt, dass du heute nicht zum Dreh gekommen bist und da -“

Kyōko schoss in die Höhe. „Die Okami-san wollte doch den Regisseur anrufen!“

„Das hat sie auch, keine Sorge“, versicherte Kanae schnell. Sie kam ein paar Schritte auf ihre Freundin zu und sagte: „Heute wurde sowieso nicht gedreht, weil Tsuruga-san auch nicht da war.“

Kyōko schnaubte laut. „Tut er jetzt etwa so, als würde es ihm etwas ausmachen?!“

Noch immer etwas unsicher setzte Kanae sich neben sie aufs Bett. „Laut Yashiro hat er sich gar nicht gemeldet, seit er gestern Morgen nach eurer... Begegnung direkt nach Hause gefahren ist. Aber er hatte wohl den Regisseur schon vorgewarnt, dass es Verzögerungen geben würde.“

Kyōko schüttelte verächtlich den Kopf. „Sogar sein strahlendes Image hat er aufgegeben, nur um mir vorzugaukeln, er würde tatsächlich darunter leiden? Ich bin auch Schauspielerin, so leicht legt er mich nicht rein.“

„Kyōko“, murmelte Kanae und ergriff vorsichtig ihre Hand. „Glaubst du nicht, dass es ihm wirklich leid tut? Nach dem was Yashiro-san gesagt hat -“

„Yashiro!“, rief Kyōko. „Dieser miese Sack hat sich doch mit Ren verbrüdert! Hat er nicht auch immer versucht, mir einzureden, Ren wäre in mich verliebt?!“

„Ich habe ein wenig darüber nachgedacht“, sagte Kanae, ihre Aussage einfach ignorierend, „und ich glaube nicht, dass Tsuruga-san nur aus einer Laune heraus gehandelt hat. Wenn er dich einfach nur ausnutzen wollte, hätte er doch nicht gesagt, er hätte Aids, oder? So war doch klar, dass du... gewissen Dingen... niemals zugestimmt hättest. Und es gibt sicher tausend Krankheiten, die ebenso tödlich sind, aber nicht übertragbar.“

Und wieder ließ Kyōko ein Schnauben vernehmen. „Wer sagt denn, dass er sich nicht einfach das genommen hätte, was er wollte? Oder vielleicht brauchte er auch einfach nur einen Zeitvertreib, während er darauf gewartet hat, dass ihm eine seiner bezaubernden Kolleginnen ins Netz geht.“

„Und wenn du für ihn eine bezaubernde Kollegin bist? Vielleicht -“

„Ich? Bezaubernd? Der Kerl ist alles mögliche, aber nicht völlig bekloppt!“

Schockiert sah Kanae sie an. Dann drückte sie ihre Hand noch ein wenig fester. „Erinnerst du dich an das, was ich dir gestern gesagt habe? Yashiro-san hat es bestätigt: Du bist die einzige, in deren Gegenwart Tsuruga-san sich so locker und natürlich verhält, während er bei allen anderen eine Art Schutzwall um sich aufgebaut zu haben scheint. Darum ist Yashiro-san ja auch auf die Idee gekommen, dass er in dich verliebt sein könnte. Ich wette, Tsuruga-san findet gerade dich bezaubernd, weil du nicht wie die anderen bist.“

Kyōko ließ den Kopf auf die Schulter ihrer Freundin sinken. „Wahrscheinlich bin ich für ihn so minderwertig, dass er es nicht für nötig hält, mir mit Respekt zu begegnen. Ist dir mal aufgefallen, dass ich die einzige bin, die er ständig triezt?“

„Aber was sich liebt das neckt sich! Und überhaupt: Warum willst du denn nicht einfach daran glauben, dass er dich liebt, dass es ihm leid tut und dass du ihn zurück haben kannst! Du liebst ihn doch, das sieht ein Blinder mit nem Krückstock!“

Vorsichtig befreite Kyōko sich aus der Umarmung und drehte ihren Oberkörper, um aus dem Fenster blicken zu können. Sie spürte, wie ihre Augen schon wieder feucht wurden und diesmal gab es wohl keinen Ort, an den sie sich flüchten konnte.

„Er hat mich auf die gemeinste und verachtenswerteste Weise vorgeführt und meine Gefühle – gerade als sie wieder aufgetaucht waren! – ausgenutzt, nur um seine eigenen Bedürfnisse erfüllen zu können. Wie könnte ich ihm da einfach so verzeihen?“

Das brachte Kanae zum Schweigen. Ohne ein Wort umarmte sie ihre Freundin noch einmal, ganz fest, dann stand sie auf und ging zur Tür. Kurz bevor sie hinausging sagte sie noch: „Egal, wie du dich entscheidest: Die Love-Me-Section braucht dich.“

Nun konnte Kyōko die Tränen nicht mehr zurückhalten, unaufhaltsam flossen sie über ihr Gesicht und tropften in das Kissen, das sie sich vors Gesicht hielt, um wenigstens irgendetwas festhalten zu können.

Die Love-Me-Section... All die Zeit hatte sie versucht, sich so zu verhalten, dass jedermann sie liebte, und jetzt war gerade das geschehen und hatte alles zerstört. Warum verlangten die Menschen auch so etwas von ihr? Warum ließen sie sie nicht einfach leben, wie sie wollte, ohne sie dazu zu zwingen, Liebe zu empfinden oder zu empfangen?

Kyōko seufzte, denn sie kannte die Antwort sehr gut: Es war ihre eigene Entscheidung gewesen, bei LME anzufangen, und dafür war es nötig gewesen, Mitglied der Love-Me-Section zu werden. Sie hatte den Präsidenten sogar angefleht, sie aufzunehmen, damit sie ihre Gefühle zurückgewinnen konnte. Außer ihr selbst gab es also niemandem, dem sie irgendetwas vorzuwerfen hatte; wenn sie sich anders entschieden hätte, müsste sie jetzt diesen Schmerz nicht ertragen.

Doch andererseits wäre ihr dann eine ganze Welt verborgen geblieben, und immerhin liebte sie ja die Schauspielerei! Vielleicht war es das wert gewesen...

Kyōko raufte sich die Haare. Das brachte doch alles nichts! Sie liebte die Love-Me-Section und sie liebte die Schauspielerei, aber sie liebte auch Ren – Kanae hatte recht gehabt, es war zu offensichtlich als dass sie es hätte abstreiten können – und er hatte sie verletzt. Ihr Herz schmerzte so sehr, dass es sicher noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie ganz rational sagen konnte, ob das eine gegen das andere aufzuwiegen war.
 

Dieses ganze Nachdenken machte sie verrückt und sie wollte sich wenigstens ein bisschen von dem konstanten Schmerz in ihrer Brust ablenken, daher stand sie auf und ging in die Küche, nachdem sie sich etwas anderes angezogen und ein paar Mal mit der Bürste durch ihr wirres Haar gegangen war.

Unten war gerade ihr Chef dabei, eine Flasche Sake zu öffnen. Er sah sie mit seinem üblichen, strengen Blick an, doch da Kyōko wusste, dass er sich Sorgen machte, lächelte sie ihm beruhigend zu. Ihr war klar, dass sie fürchterlich aussehen musste, nachdem sie so viel geweint hatte, aber sie wollte trotzdem zeigen, dass es ihr gut ging. Oder zumindest so tun als ob, sie war ja immerhin Schauspielerin...

„Hallo, Chef“, begrüßte sie den älteren Mann und verbeugte sich.

Er murmelte etwas, dann nickte er mit dem Kopf in Richtung des Küchentisches, auf dem eine Thermoskanne und ein Teebecher standen. „Danke“, sagte Kyōko. Sie war wirklich froh, dass er und seine Frau sich so gut um sie kümmerten, auch wenn sie manchmal das Gefühl hatte, etwas zu sehr bemuttert zu werden.

„Mach dir ein wenig Reis warm, sonst verhungerst du noch.“

„Ja“, sagte Kyōko mit einem dankbaren Lächeln und tat gleich wie ihr geheißen. Während der Reiskocher arbeitete, setzte sie sich an den Tisch und goss sich etwas Tee ein.

Als kurz darauf die Frau des Hauses den Raum betrat, wahrscheinlich um nach dem Sake zu schauen, auf den die Gäste ihres kleinen Restaurants warteten, kam sie sofort auf Kyōko zu, als sie diese erblickte.

„Wie geht es dir?“, fragte sie und legte ihr besorgt eine Hand auf die Stirn.

„Es geht mir gut, keine Sorge“, versicherte Kyōko.

Die Okami schüttelte den Kopf. „So siehst du aber nicht aus.“

Als Kyōko nichts mehr erwiderte, zog sie hinter ihrem Rücken eine Zeitung hervor, irgendein Klatschblatt, das sie unter normalen Umständen wohl nicht einmal eines Blickes gewürdigt hätte. Doch auf dem Titelblatt dieser Ausgabe prangten die Worte „Ist er ein Monster?“, dazu eine Großansicht von Rens Gesicht, das einen völlig kalten Ausdruck zeigte, neben ihrem eigenen.

Kyōko erschauderte. Sie hatte sich viele Gedanken gemacht, aber daran, dass die Klatschpresse diese ganze Geschichte unheimlich interessant finden würde, hatte sie natürlich nicht gedacht. Während sie im Kopf die in der Überschrift gestellte Frage ohne großes Nachdenken mit Ja beantwortete, flogen ihre Augen schon über die nächsten Zeilen. „Kyōko ... großer Streit nach eintägiger Beziehung ... Augenzeugen berichten von einem Dämonen ... Ren zum Glück ohne körperlichen Schaden...“, murmelte Kyōko die Schlüsselwörter des Artikels vor sich hin. „Zum Glück?!“, fragte sie verächtlich. „Ich hätte -“

Zu ihrem Glück wurde sie sich der Anwesenheit des Ehepaars bewusst, bevor sie aussprach, was er verdient hätte und was sie ihm gerne angetan hätte.

„Ist das wahr?“, fragte die Okami, und Kyōko bemerkte, dass auch der Chef immer wieder zu ihnen herübersah, während er vorgab, noch immer mit der Flasche beschäftigt zu sein.

„Das mag sein. Auch wenn die keine Ahnung haben, was er wirklich getan hat.“

Die Okami schnappte erschrocken nach Luft. „Hat dieser Tsuruga dir etwas angetan?“

Schnell schüttelte Kyōko den Kopf, dann sagte sie leise: „Zumindest nicht körperlich.“

Bestürzt sah die Frau sie an, wagte es aber nicht, sie zu umarmen, auch wenn ihr anzusehen war, dass sie es gern getan hätte.

„So ist das Leben“, sagte der Chef. Kyōko sah ihn überrascht an, da sie nicht damit gerechnet hatte, dass er sich noch an der Unterhaltung beteiligen würde, aber sie war ihm dankbar. All das Mitleid verursachte doch nur, dass sie noch mehr im Selbstmitleid versank, während er versuchte, sie aus diesem Sumpf herauszuziehen.

Seine Frau schien das jedoch anders zu sehen, denn sie warf ihm einen empörten Blick zu und stemmte die Hände in die Hüften. Kyōko stand auf, nahm ihren Teebecher in die Hand und legte die andere auf die Schulter der Älteren. „Danke“, sagte sie, dann schaufelte sie sich ein wenig Reis in eine kleine Schale, verbeugte sich noch einmal vor dem Chef und ging aus dem Raum.
 

Die nächsten Tage versuchte Kyōko sich, so gut es eben ging, von dem Schmerz abzuhalten, der nun ihr ständiger Begleiter war. Etwas leichter wurde es dadurch, dass die Sache mit Ren in so kurzer Zeit abgehandelt worden war – sie waren immerhin nur einen Tag offiziell ein Paar gewesen – dass es ihr fast wie ein Traum schien. Und Träume – selbst Albträume – waren eben nicht im geringsten so schmerzhaft wie wahre Begebenheiten. Auch hilfreich für sie war, dass sie sich in ihre Arbeit flüchten konnte, denn schon am zweiten Tag nach dem Streit war sie wieder bei LME aufgetaucht und hatte sich Hals über Kopf in die Arbeit gestürzt. Dabei kam es ihr zugute, dass Ren offenbar vorhatte, seine Rolle noch ein wenig weiterzuspielen, denn er ließ sich eine Woche lang kein einziges Mal blicken, nur Yashiro schien einmal mit ihm gesprochen zu haben, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht von einer Brücke gestürzt hatte – was alle außer Kyōko befürchteten, obwohl sie die einzige war, die sich daran erfreut hätte.

Normalerweise wäre sie ihm böse gewesen, weil er nicht einfach zugab, dass er gelogen hatte, doch sie war froh, wenigstens ein paar Tage nicht sein Gesicht sehen zu müssen, weil sie sich sicher war, dass es all die Gefühle wieder hochkommen lassen und ihr zeigen würde, dass es eben kein Traum war, dass Ren Tsuruga nicht bloß eine Ausgeburt ihrer kranken Fantasie war und dass es möglich war, dass Hass und Liebe in ihren Extremen völlig harmonisch nebeneinander existierten, ohne irgendwem zu verraten, wer von ihnen nun das wahre Gefühl war.

Kanae gab auch ihr Bestes, um die sarkastischen Kommentare sein zu lassen, die sie sicher nur allzu gerne über Ren verloren hätte und Kyōko hätte fast gesagt, dass es ihr gut ging, wenn nicht immer wieder Yashiro aufgetaucht wäre, um ihr einzureden, sie müsste Ren unbedingt besuchen, da sie die einzige wäre, die zu ihm durchdringen könnte. Doch dass der Manager noch immer auf der Seite seines Schützlings stand, machte sie so wütend, dass sie ihn entweder ignorierte oder ihre Rachegeister auf ihn hetzte, was ihn überraschenderweise beides nicht zu stören schien, da er trotzdem nicht aufhörte, sie um ihre Hilfe zu bitten.
 

Doch so schön die Tage waren, so hart waren die Nächte. Zwar beschützten Kyōkos Rachegeister, die nun nicht mehr von ihrer Seite wichen, sie vor jeglichen Albträumen, die sie möglicherweise heimgesucht hätten, doch da war immer noch der Schmerz, und der war so tief in ihr verwurzelt, dass nicht einmal sie selbst ihn erreichen konnte.

Aber deswegen aufzugeben hatte sie noch lange nicht vor. Wahrscheinlich gab es nur zwei, die etwas gegen das Ziehen und Stechen in ihrem Brustkorb tun konnten, und das waren zum einen Ren – der von vornherein ausschied – und die Zeit. Und auf letztere würde Kyōko sich jetzt wohl einfach verlassen müssen.

Überwindung

Kyōkos erster freier Tag war der neunte nach dem Streit – sie hatte gemerkt, dass sie tatsächlich so die Tage zählte, doch auch wenn sie versuchte, es abzustellen, passierte es ihr immer wieder. Die Zeit, sagte sie sich, die Zeit wird alles in Ordnung bringen.

An diesem Tag konnte sie sogar ein wenig länger schlafen als sonst, da sie ausnahmsweise nicht von irgendeinem Geräusch geweckt wurde und dann nicht mehr einschlafen konnte. Es war schon fast neun Uhr, als sie aufstand und voller Tatendrang nach unten in die Küche kam. Dort war niemand, da das Ehepaar wohl gerade die Gäste bediente. Kyōko huschte umher, um sich etwas zu essen zu machen und setzte sich dann an den Tisch.

Kanae hatte ihr gestern noch gesagt, dass sie ziemlich unruhig und fast schon hyperaktiv geworden war, doch sie konnte nichts dagegen tun. Denn wenn es still war, konnte sie förmlich hören, wie ihr zerbrochenes Herz knackte und knarzte, so als würde es in noch viel mehr Teile zerfallen.

Während Kyōko hastig den Reis hinunterschlang, hörte sie auf einmal erhobene Stimmen aus dem Schankraum nebenan. Erst die aufgeregte der Okami – sie hätte sie fast nicht wiedererkannt! – dann die zwar laute, aber immer noch ruhige des Chefs.

Schnell schlang Kyōko sich ihre Schürze um die Hüfte und öffnete die Tür, um in das Zimmer zu blicken. Was sie sah, ließ sie sie sofort wieder zuschlagen – natürlich so laut, dass jeder nebenan gemerkt haben musste, dass sie da war.

Was machte er hier?

Warum tauchte er einfach hier auf, ohne jede Vorwarnung, nachdem sie in der letzten Woche fast vergessen hatte, dass er überhaupt in der Realität existierte?

Bei seinem Anblick hatte ihr Herz einen Hüpfer gemacht – soweit es dazu noch in der Lage war, so zersplittert wie es war – und sie hätte ihm einen bösen Blick zugeworfen, wenn das nicht aus anatomischen Gründen unmöglich gewesen wäre.

Sie wusste, dass sie sich nicht ewig vor Ren verstecken konnte, außerdem wollte sie nicht wie ein Feigling erscheinen, daher stieß sie mit – wie sie feststellen musste – zitternder Hand die Tür auf und bemerkte, wie sich alle Augen auf sich richteten. Zum Glück waren an Gästen nur ein älterer Mann und seine Frau da, die aber trotzdem nicht minder an der Geschichte interessiert zu sein schienen.

„Guten Morgen, Mogami-san“, sagte Ren mit einer Stimme, die so ernst war wie sie es bei ihm noch nie außerhalb des Drehs gehört hatte.

Sie deutete eine Verbeugung in Richtung des Chefs und der Okami an, dann richtete sich ihr stechender Blick wieder auf Ren. Und sie konnte nicht anders, als sofort zu bemerken, wie fürchterlich er aussah. Natürlich war er adrett gekleidet, wie immer, und auch seine Haare waren gekämmt, doch etwas an seinem Gesicht sagte ihr, dass er entweder eine wirklich schlimme Woche verbracht oder einen ziemlich guten Maskenbildner haben musste. Ehrlich gesagt war die zweite Variante ihr lieber, weil sie keine unangenehmen Gedanken verursachte.

Als Kyōko keine Anstalten machte, auf seinen Gruß zu antworten, ergriff er erneut die Initiative: „Ich muss mit dir sprechen.“

„Wir haben Ihnen doch gesagt, dass sie nicht mit Ihnen sprechen möchte!“, raunzte die Okami ihn beinahe an. Doch er ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern sagte mit einem sanften Lächeln zu ihr: „Ich werde ihr nichts antun. Ich bin nur gekommen, um mich zu entschuldigen.“

Die Frau schnaubte verächtlich, während ihr Mann Kyōko abwartend ansah, ebenso wie Ren.

Einen Moment lang dachte sie darüber nach, einfach ihre Rachegeister, die schon wieder voller Mordlust waren, auf ihn zu hetzen, doch dann fielen ihr die anderen Anwesenden wieder ein. Das hier war allein ihre Sache und sie war nicht so feige, dass sie nicht mit ihm allein sein konnte. Im Grunde hatte sie sowieso noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, und dieses Mal würde sie nicht zu heulen anfangen, nur weil er einen Anflug von Reue zeigte.

„Kommen Sie“, sagte sie daher und die Kälte in ihrer Stimme ließ sie selbst erschaudern.

Ren schien selbst ein wenig überrascht zu sein, dass sie so leicht zu überzeugen gewesen war, dennoch beeilte er sich, den Tresen zu umrunden und ihr zu folgen, die voran eilte, damit er ihr nicht zu nahe kam. Sie wollte gar nicht wissen, was passieren würde, wenn sie wieder seinen Geruch in der Nase hätte. Er würde sie an Szenen erinnern, die ihr Kopf ihr rücksichtsvollerweise in den letzten Tagen nicht gezeigt hatte und die sie am liebsten für immer dort eingeschlossen hätte.

In ihrem Zimmer angekommen, stellte Kyōko sich vor das Fenster, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fensterbrett und sah Ren, der gerade die Tür schloss, mit verschränkten Armen an.

Einen Moment lang sah er sich schweigend um, wobei sein Blick einen Moment lang an ihrem Shō-Poster hängen blieb. Auf einmal war sie froh, dass sie sein Bild schon entfernt hatte, es hätte nur einen äußerst besessenen Eindruck gemacht – und sie mochte alles sein, aber nicht besessen.

Da Kyōko ihn abwartend ansah und schon ungeduldig mit den Fingern auf ihrem Arm herumtrommelte, beeilte er sich dann schnell, mit dem anzufangen, was er ihr zu sagen hatte – und zu ihrem Glück, kam er gleich auf den Punkt.

„Es tut mir leid. Was geschehen ist – was ich getan habe – tut mir unendlich leid und wenn es nicht so bescheuert klingen würde, könnte ich dir das tausendmal sagen.“

Er sah ihr direkt in die Augen, anders als bei ihrem letzten Gespräch, und seine Augen sahen so ehrlich aus, dass Kyōko das „Lüge!“ im Halse stecken blieb.

„Ich habe eine ganze Weile überlegt, was ich wohl tun muss, damit du mir glaubst, wie leid es mir tut... Ich habe darüber nachgedacht, ein Flugzeug mit dieser Botschaft auf einem großen Banner über die Stadt fliegen zu lassen. Ich wäre sogar bereit gewesen, mir das Kamel des Präsidenten auszuleihen, es mit meiner Botschaft zu bemalen und damit durch die Stadt zu reiten, aber dann habe ich mich darauf besonnen, mit wem ich es eigentlich zu tun habe. Und du bist niemand, der sich von solchen Dingen beeindrucken oder gar besänftigen lässt, dir ist es egal, wie viel Geld jemand hat oder wie viel Ansehen jemand genießt, weil du das Innere der Menschen anschaust.“

Er schwieg einen Moment und ein andächtiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Als er Kyōko so ansah, musste sie sich stark zusammennehmen, um nicht erneut seinem Charme zu verfallen. Er ist ein Lügner. Er ist ein Lügner, sagte sie sich in Gedanken immer wieder, um ihre Gefühle zurückzuhalten. Dabei war es nicht gerade hilfreich, dass ihre Rachegeister sich zurückgezogen hatten und die Reinherzigkeiten schon fast wieder aus ihrer Schlucht zurückgekehrt waren.

„Das mag dir jetzt komisch vorkommen, aber gerade das ist es, was ich an dir so liebe. Du bist nicht wie die anderen, du -“

Kyōko verdrehte die Augen und unterbrach ihn: „Ja, ich bin nicht wie die anderen, ich durchbreche die Mauer die Sie aus Angst vor was-auch-immer um sich herum aufgebaut haben und ich bin auf meine eigene Weise ganz bezaubernd.“

Er sah sie an, völlig aus dem Konzept gebracht.

„Das hat Miss Menno mir auch schon erzählt. Und sie meinte, Yashiro hätte es bestätigt. Ja, steckt ihr denn alle unter einer Decke?“

Ja, sehr gut, immerhin ein Rachegeist war wieder aufgewacht und schwirrte nun über ihrem Kopf umher.

Ren brauchte einen Moment, um diese Information zu verarbeiten, doch dann wagte er einen erneuten Vorstoß: „Wenn es denn alle sagen, warum kann es dann nicht einfach der Wahrheit entsprechen? Es ist doch so, dass du niemals jemanden anhimmeln würdest, nur weil er gut aussieht oder weil er reich oder berühmt oder von allen anderen geliebt ist. Und solche Menschen sucht man in der heutigen Zeit häufig vergebens.“

„Versuchen Sie nicht, sich bei mir einzuschleimen“, knurrte Kyōko. Sie gab ihr Bestes, sich dagegen zu wehren, dass ihr Herz schon wieder weich zu werden drohte. Es knackte nicht mehr, sondern gab viel eher schmatzende Geräusche von sich, so wie zwei Holzstücke, die mit einer Menge Kleber wieder zusammengefügt werden. Doch sie wollte kein Herz, das mit so schleimigen Worten geflickt war, da waren ihr die – vielleicht etwas unangenehmeren – Methoden der Zeit eindeutig lieber.

Ren seufzte. „Du willst mir nicht glauben, oder?“

Sie starrte ihn nur böse an, statt zu antworten.

Bevor er die nächste Frage stellte, schien er sich erst überwinden zu müssen, denn Kyōko hörte ihn laut schlucken und er legte nervös seine Hände ineinander.

„Du liebst mich gar nicht wirklich, oder? Auch wenn es vielleicht berechtigt war – du hast mich genauso angelogen wie ich dich.“

„Nein!“, zischte Kyōko. „Sie waren es doch, der mich mit seiner hinterhältigen Schauspielerei dazu gebracht hat, Ihre Freundin zu werden! Nennen Sie mich nicht eine Lügnerin!“

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück, als er bemerkte, dass sie nun unter dem Schutz von zwei Rachegeistern stand, die sie jederzeit auf ihn hetzen konnte.

„Also hast du nicht gelogen?“

Kyōko wusste genau, worauf er hinauswollte, aber sie würde ihm nicht den Gefallen tun, es ihm zu sagen. Denn egal was sie sagte, es würde sie nur in Schwierigkeiten bringen: Wenn sie sagte, sie wäre nicht in ihn verliebt, wäre das eine Lüge, und dann wäre sie keinen Deut besser als er. Doch wenn sie gestand, dass sie tatsächlich in ihn verliebt war, würde er nur wieder versuchen, diese Gefühle auszunutzen und sie ein zweites Mal für sich zu gewinnen.

„Verschwinden Sie. Sie haben sich entschuldigt, mehr wollten Sie nicht, also verschwinden Sie jetzt.“

Als er sie nur mit erhobenen Augenbrauen anblickte, knurrte sie: „Sofort!“ und ging drohend ein paar Schritte auf ihn zu. Er lächelte, was die Rachegeister, die schon auf ihn zustürmten, für einen Moment paralysierte, und drehte sich dann schnell um, um die Gefahrenzone zu verlassen.

„Ich bin dumm“, sagte Kyōko, als die Tür sich wieder geschlossen hatte. Erst jetzt wurde ihr klar, dass die Tatsache, dass sie ihn nach so einer Frage hinaus scheuchte, noch eindeutiger war als jede Antwort. Und irgendwo, tief in ihrem Inneren, freute sie sich darüber, auch wenn sie es niemals zugegeben hätte, nicht einmal sich selbst gegenüber.

Einsicht

Auf der Arbeit normalisierte sich langsam alles wieder. Da nun auch Ren wieder da war, verbrachte Kyōko erneut viel Zeit beim Dreh von Dark Moon, aber sie war froh darüber, dass sie ihn nicht allzu oft sehen musste. Anscheinend hatte irgendjemand – ob nun Yashiro, der Regisseur oder Ren selbst – dafür gesorgt, dass die Szenen, die sie zusammen drehen mussten, ein wenig nach hinten verschoben wurden. Zwar lief sie ihm trotzdem ab und zu über den Weg, doch dann grüßte sie ihn nur kurz und beschleunigte ihren Schritt – keine Lust, sich mit den nervigen Gefühlen herumzuschlagen, die sie jedes Mal wieder zu überfluten drohten, wenn sie sein milde lächelndes Gesicht sah.

Ein paar Tage vergingen und Kyōko begann langsam zu hoffen, dass das Problem sich bald verflüchtigen würde. Sie war froh, dass sie sich ihrer Gefühle zu Ren gar nicht so richtig bewusst gewesen war, denn sonst wäre ihre Enttäuschung sicher noch größer gewesen und das alles hätte ihr viel mehr ausgemacht. So aber war sie sich ziemlich sicher, dass sie sich schon in ein paar Wochen kaum noch daran erinnern würde, denn ihre Rachegeister waren munter dabei, beständig an ihren Gefühlen zu nagen, und damit auch am Schmerz.

Kyōko hatte gerade wieder eine Szene beendet und sich verlegen das Lob des Regisseurs für ihren Einsatz und die Verbesserung ihres Spiels angehört, als ein lautes Trommeln und dann die Töne einer E-Gitarre zu vernehmen waren. Sie sah in die Richtung, aus der die Geräusche kamen, auch wenn sie – wie alle anderen Anwesenden auch – sich schon fast denken konnte, wer da im Anmarsch war. Und tatsächlich: eine Tür wurde aufgestoßen und der Präsident trat ein, begleitet von mindestens einem Dutzend Männer in schwarzen Anzügen, jeder von ihnen eine Gitarre in den Händen. Er selbst strahlte ihnen in einem weißen Outfit mit goldenen Ornamenten entgegen. An der Schlaghose und der unverwechselbaren Frisur war schnell zu erkennen, dass er heute als Elvis auftrat.

„Mogami-kun!“, rief er begeistert, als er sie erblickte. „Dich habe ich gesucht!“

Sie sah ihn einen Moment überrascht an, doch als sie darüber nachdachte, fiel ihr nur ein Grund ein, weswegen der Präsident sie sprechen wollen könnte. Sie versuchte, zu lächeln, was ihr sichtlich schwer fiel, da ihre Laune gerade in den Keller gesunken war. Die Leute vom Team hatten verstanden, dass sie sie nicht danach fragen sollten, wenn ihnen ihr Leben lieb war, doch dem Präsidenten hatte das wohl noch keiner mitgeteilt.

„Komm mit“, sagte Rory und streckte ihr freudestrahlend die Hand entgegen. Zögerlich ergriff sie diese und ließ sich von ihm hinausführen. Draußen wartete seine Limousine, auf deren Flanke in goldener Farbe das Logo von LME prangte. Galant hielt der Präsident Kyōko die Tür auf und wartete darauf, dass sie einstieg, bevor er ihr folgte und die Tür zuschlug.

Nachdem die beiden es sich auf der ledernen, sofaähnlichen Rückbank gemütlich gemacht hatten und er ihr ein Glas Wasser aus der Minibar eingeschenkt hatte, sagte er: „Ich habe so viel von dir gehört in letzter Zeit, aber bisher bin ich noch nicht dazu gekommen, dir persönlich zu gratulieren.“

„Gratulieren?“, fragte Kyōko. „Wofür?“ Etwa dafür, dass sie einen ganzen Tag lang mit Ren zusammen gewesen war? Oder dafür, dass sie ihm endlich mal gezeigt hatte, dass er nicht alles haben konnte?

Der Präsident strahlte wie ein kleines Kind an Weihnachten. „Na, zur Rückkehr deiner Gefühle! Oder willst du etwa behaupten, du wärest nur aus Eigennutz mit Ren zusammengekommen, oder um irgendjemandem etwas zu beweisen?“

Sie war sich zwar nicht sicher, wie geheim er das halten würde, was sie jetzt sagte, aber immerhin würde er es wohl kaum an die Presse weitergeben, daher sagte sie zerknirscht: „Es waren sicher Gefühle dabei, aber er hat mich reingelegt.“

„Inwiefern?“ Rory lehnte sich vor und sah sie neugierig an.

Er war ihr zwar zugegebenermaßen ein wenig unheimlich, doch fuhr sie trotzdem fort: „Er hat behauptet, er hätte Aids, um mein Mitleid zu erregen und mich dazu zu überreden, seine Freundin zu werden.“

Rory hob überrascht die Augenbrauen, musste dann aber schmunzeln. „Der Bursche muss ja ganz schön verzweifelt gewesen sein.“

Kyōko schnaubte verächtlich, wie immer, wenn jemand Ren in Schutz nahm. „Er wollte mich und meine Gefühle doch bloß ausnutzen. Nie wieder werde ich so auf jemanden reinfallen.“

„Glaubst du denn nicht, dass er es ernst gemeint hat?“

„Nein“, antwortete Kyōko prompt. „Ich glaube nicht, dass er in seiner Position tatsächlich irgendein Frau ernst nehmen könnte. Er weiß, dass keine ihn ablehnen würde, und spielt mit den Gefühlen der Frauen.“

„Meinst du nicht, dass du etwas Besonderes für ihn bist? Es ist das erste Mal, dass er -“

„Ja, verdammt!!“, stieß Kyōko zornig aus. Als sie sah, wie perplex der Präsident ansah, sah sie schnell zu Boden und sagte etwas ruhiger: „Das sagen alle. Von wegen, ich wäre die erste, die er wirklich zu sich durchlässt und so. Aber warum sollte das bedeuten, dass er mich ernst nimmt?“

Rory musterte sie einen Moment lang, dann versuchte er sich an einer Erklärung: „Ich denke, irgendwo verachtet er tatsächlich all die Frauen, die ihn nur vergöttern, weil er gut aussieht und berühmt ist. Vielleicht ärgert er sich auch darüber, dass, eben weil er Ren Tsuruga ist, kaum eine Frau ganz normal mit ihm umgeht, die meisten erstarren ja vor Ehrfurcht, wenn sie ihn sehen. Und du gehst eben ganz normal mit ihm um, vielleicht bist du da sogar die erste, und das bewundert er an dir.“

Das gab Kyōko kurz zu denken auf, doch dann konterte sie: „Und wenn er nur denkt, dass er mich lieben würde, nur weil er einfach keine andere kennt, die so ist? Wer sagt denn, dass er mich nicht wieder fallen lassen würde – gesetzt den Fall, ich würde ihn doch wieder akzeptieren – sobald es eine andere, schönere und nettere Frau gibt, die so handelt.“

Fast schon traurig sah Rory sie an. „Liebst du ihn?“

„Was?“, fragte Kyōko, durch seinen Themenwechsel aus der Bahn geworfen.

„Liebst du ihn?“, wiederholte er seine Frage, auch wenn sie ihn sehr gut verstanden hatte.

Eine Weile war es still im Auto, dann sagte sie leise: „Ja, das ist wohl so.“ Doch bevor der Präsident etwas dazu sagen konnte, hatte sie schon wieder den Kopf hochgerissen und die Hand zur Faust geballt. „Aber wenn ich ihm nur lang genug aus dem Weg gehe, dann wird das wieder verschwinden, da bin ich mir sicher!“

Schmunzelnd schüttelte Rory den Kopf. „Wenn du ihn wirklich liebst, warum vertraust du ihm dann nicht? Du könntest ihn ganz einfach davon überzeugen, dass es keine andere Frau gibt, die besser für ihn ist als du – ich glaube nicht, dass dir das allzu schwer fallen würde, du hast nämlich eine unglaubliche Überzeugungskraft.“

Kyōko ließ die Hand wieder sinken und ihr Blick verfinsterte sich. „Und wenn ich ihm gar nicht vertrauen will, weil er mir trotz seiner angeblichen Liebe etwas angetan hat, das unverzeihlich ist?“

Der Mann legte ihr seine Hand auf die Schulter und sah sie mit einem väterlichen Blick an. „Glaubst du nicht, dass verliebte Menschen manchmal Dinge tun, die falsch oder gemein erscheinen, um die Herzen ihrer Geliebten zu gewinnen?“

Als Kyōko schwieg, fragte er: „Du warst doch auch einmal verliebt, bevor du zu LME kamst, oder? Was hättest du getan, um diese Person für dich zu gewinnen?“

Kyōko schloss die Augen, um sich an diese unbeschwerte Zeit zu erinnern, die schon so lange zurückzuliegen schien. Wegen Shō hatte sie seit der Grundschule Neid in allen seinen Formen kennen gelernt, sie war beleidigt, geschlagen und geschnitten worden. Aber nichts davon hatte ihr wirklich etwas ausgemacht, weil er ihr wichtiger war als alles andere.

„Alles“, antwortete sie und war von ihrer eigenen Antwort überrascht.

„Siehst du?“ Der Präsident lächelte und langsam verstand sie, worauf er hinaus wollte.

„Warum hat er es mir denn nicht einfach gesagt?“, fragte sie leise.

Auch wenn sie die Antwort im Grunde selbst kannte, antwortete Rory für sie: „Er hatte Angst, von dir zurückgewiesen zu werden. Hättest du seinem Werben denn nachgegeben, wenn er dir nicht diese Lüge aufgetischt hätte?“

Erneut schwieg Kyōko. Er war ihr sehr vertraut gewesen, sie hatten sich im Laufe der Zeit immer besser verstanden, aber sie glaubte nicht, dass sie zugestimmt hätte, seine Freundin zu werden. Vielleicht, ganz vielleicht, hatte es für ihn in seiner Situation einfach keinen anderen Weg gegeben, den er hätte gehen können.

Ohne es zu bemerken, hatten Tränen begonnen Kyōkos Wangen hinabzulaufen. Sie war so unglaublich verwirrt durch all diese Gedanken, und auch ihre Gefühle schienen Achterbahn zu fahren.

Beherzt reichte Rory ihr ein Taschentuch, das sie dankbar annahm.

„Was soll ich denn jetzt tun?“, schniefte sie.

Er strich ihr beruhigend über den Kopf. „Schalte deinen Kopf aus und tu einfach das, was dein Herz dir sagt. Denn dein Kopf kann lügen, aber dein Herz spricht immer die Wahrheit.“

Rory sah aus dem Heckfenster und ein breites Grinsen legte sich über sein Gesicht. „Sieh nur, da kommt er.“

Kyōkos Kopf drehte sich blitzschnell herum. Tatsächlich, dort, nur noch zehn oder fünfzehn Meter von der Limousine entfernt, schlenderte Ren in ihre Richtung, Yashiro an seiner Seite.

„Was sag ich ihm denn?“, fragte Kyōko mit einer hohen Stimme, die sie gar nicht von sich kannte. Sie kam sich vor wie ein kleines, dummes Kind, aber andererseits war sie unendlich froh, jemanden zu haben, der ihr ihre Fragen beantworten konnte.

Rory schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass es irgendwelcher Worte bedarf.“

Zwar wusste sie immer noch nicht so recht, was sie tun sollte, aber sie wollte Ren auch nicht verpassen, daher stolperte sie zur Tür und stieß diese auf.

Atemlos und wahrscheinlich mit Tränen im Gesicht starrte sie zu Ren auf. Er blieb stehen, einen undefinierbaren Ausdruck im Gesicht, während Yashiro sich schnellstmöglich entfernte.

Einen Moment lang musterte Kyōko sein Gesicht – die dunklen braunen Augen, die perfekt geformte Nase, die geschwungenen Lippen – und spürte die Erinnerung zurückkommen, wie sie all das aus der Nähe betrachtet hatte, und gleichzeitig das Verlangen, es noch einmal zu tun. Wie in Trance schwankte sie auf ihn zu. Seine Augen schienen sie zu verzaubern, denn sie konnte ihren Blick nicht von ihnen lassen und die Kontrolle über ihren Körper hatte sie auch schon längst verloren.

Nur weniger Zentimeter von seinem Körper entfernt blieb sie stehen. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie sein Brustkorb sich hob und senkte, ebenso schnell wie ihrer. Sein Duft strömte in ihre Nase und sie atmete tief ein, um ihre ganze Lunge damit auszufüllen.

„Ren“, hauchte sie und wollte gerade ihre Hand heben und sie an seine Wange legen, als er sie fest in seine Arme schloss, so fest, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.

Sein Körper schien unkontrollierbar zu zittern – oder war es ihrer? – aber sie beide wussten, dass es die unglaubliche Erleichterung war, die in jede einzelne Zelle strömte.

„Mogami-kun!“

Sie brauchte eine Weile, bis das Gehörte von ihrem Ohr zu ihrem Gehirn vorgedrungen war, da sie so in Rens Aura versunken gewesen war, dass sie ihre Umgebung vollkommen vergessen hatte. Entschuldigend sah sie ihn an und er entließ sie, wenn auch äußerst unwillig, aus seiner Umarmung, stellte aber sicher, dass er ihre Hand fest in der seinen hielt.

Mit einem kleinen, zylinderförmigen Gegenstand in der Hand kam Rory auf die beiden zu. Kyōko fragte sich, warum er sie stören musste, obwohl er doch derjenige war, der diese Situation überhaupt veranlasst hatte.

„Gib mir bitte deine Hand“, verlangte er.

Sie tat es und wechselte dabei verwunderte Blicke mit Ren.

Rory drückte freudestrahlend den Gegenstand, den sie jetzt als einen der Stempel der Love-Me-Section erkannte, auf den Handrücken.

Alle 100 Punkte – Das hast du gut gemacht!, prangte dort nun in glänzender Tinte.

„Herzlichen Glückwunsch!“, rief der Präsident laut und streute eine Handvoll Rosenblätter über sie und Ren. „Euch beiden!“
 

~~
 

Ich sage schonmal vielen Dank für die ganzen lieben Kommentare, die ihr mir geschrieben habt! Es freut mich sehr, dass die Geschichte so gut ankommt, weil ich sehr viel Mühe hineingesteckt habe. Auch danke ich euch natürlich für die Kritik und Verbesserungshinweise!

Ich hoffe sehr, dass das Ende euch nicht zu kitschig ist. Ich habe mein bestes gegeben, das zu verhindern, aber ich scheine eine Art Happy-End-Syndrom zu haben, gepaart mit einem Romantiksyndrom, das einfach nichts anderes zulässt =D
 

Wir lesen uns bestimmt noch einmal ;)
 

Ditsch ☺



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Kommentare zu dieser Fanfic (38)
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Von: abgemeldet
2010-02-26T19:08:25+00:00 26.02.2010 20:08
Das letzte Kapitel hat einfach zu schnell auf gehört, und das Kyoko sich so schnell überzeugen ließ von ihm hat auch irgendwie nicht gepasst so wirklich.
Aber trotzdem schön gemacht. ^-^
Von:  DarkGaara
2010-02-25T18:16:23+00:00 25.02.2010 19:16
Also dieses Kapitel verlangt nach einer Fortsetzung. Die heimlichen Treffen von Kyoko und Ren und wie sie es am Besten der Öffentlichkeit beibringen können.
Doch wirklich gut gelungen und am Besten, wenn du da noch etwas hinbekommen würdest... Zur Not kann ich dir vllt ein paar Ideen beisteuern^^
Von:  Kyoko-Hizuri
2010-02-25T16:39:25+00:00 25.02.2010 17:39
schön^^
gefällt mir sehr gut das Kap
du kannst ruhig weitere ffs über skip Beat schreiben...*grins*
Kyo-Hizu
Von:  DarkEye
2010-02-24T21:59:41+00:00 24.02.2010 22:59
:)
Von:  Artanaro
2010-02-24T21:15:58+00:00 24.02.2010 22:15
wenigstens einer der mal zu ihr durch gedrungen ist...
och das war echt süß von ihm
und ich fand das ende so toll ^^
ich hoffe mal, ihre beziehung jetzt verläuft besser
Von: abgemeldet
2010-02-24T21:14:30+00:00 24.02.2010 22:14
schade bin nicht die erste.... ^.~
also ich muss sagen es war auf jedenfall kitschig....du konntest dich wohl nicht bremsen *fg*... das hat mich etwas an historische liebesschnulzen erinnert(hat davon einige xD) liebe auf den ersten oder zweiten blick, dann kommt streit und zum schluss die versöhnung....

ich fand den schluss ehrlich gesagt nicht so toll... ich liebe happy ends daher fänd ichs cool, wenn du noch einen epilog schreiben würdest mit z.B. hochzeit oder jahre später ren und kyoko mit kids oder wie sich kyoko mit ihrer mutter versöhnt und ren mit seinen papa (das hast ja aus den augen verloren *zwinker* das wollten sie doch eigentlich machen..)

ansonsten fand ich deine story idea supi... mach weiter so ^.~
gilly
p.s. falls du ne neue SB ff schreibst sag mir bescheid!!
Von:  SessyFuchs
2010-02-24T19:15:37+00:00 24.02.2010 20:15
Rory als Amor 0:)

Ich wette diese Rolle hat ihm gefallen ^^ Ich kann sein fröhlich grinsendes Gesicht richtig vor mir sehen

Auch wenn Ren und Kyoko es beide etwas falsch angegangen sind, so haben sie es doch verdient zusammen glücklich zu werden <3
Von: abgemeldet
2010-02-24T14:03:04+00:00 24.02.2010 15:03
Hallo,
ja juhu! Ein neues Chap!!
Die Kamelvariante hätte ICH auch großartig gefunden... *lol*

Gefällt mir jedenfalls sehr, freue mich auf alles, was da noch so kommt ^^
Von: abgemeldet
2010-02-22T20:50:44+00:00 22.02.2010 21:50
oho ren hatte den mumm zu ihr zu gehen *hehehe* na dann bin ich ja mal auf die nächsten chaps gespannt.... ich hoffe du lädst sie bald hoch (bittöööö) kannst mir ja ens schicken wenns nächste chap on is...

gilly
Von: abgemeldet
2010-02-22T20:29:54+00:00 22.02.2010 21:29
das chap is cool geschrieben..... der große ren schwänzt die arbeit ^.^ da denk ich sofort daran als er den katsuki nicht spielen konnte... wo er mit alk in seine wohnung sitzt mit zugehangen fenstern im dunkeln voll selbstvorwürfen... aber das mit der zeitung wahr derb... meinsten sie mit monster ren oder kyoko?? weil du ja was geschrieben hast kyoko=dämon= ren gott sei dank nicht verletzt...
gilly


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