Spuren in der Seele von Zyra (One-Shot-Sammlung) ================================================================================ Kapitel 1: Die Dunkelheit in mir -------------------------------- Hallöchen! Wieder mal eine kleine Geschichte von mir! Ich bin auf die Idee gekommen, als ich den Titel bei einem Wettbewerb sah. Es ist ein kleiner One Shot zu meiner FF 'Ketten der Vergangenheit', der das Verhältnis zweier Personen verdeutlich. Es sind sozusagen Hintergrundinformationen. Um alles zu verstehen, ist die FF nicht wichtig. Nya, ich glaub ich hab jetzt genug gelabert: Viel Spaß beim Lesen! LG Kyra --- Die Dunkelheit in mir Ich war in diese Stadt gekommen, damit sich mein Leben änderte. Aber es hatte sich nicht geändert. Ich lebte immer noch tagein tagaus vor mich hin – ohne ein wirkliches Ziel. Nur mit dem winzigen Unterschied, dass ich jetzt selbst bestimmen konnte, was ich tagein tagaus tat. Mein Leben hatte keinen Sinn. Früher nicht und auch jetzt nicht. Vermutlich würde es nie einen haben. Für eine kurze Zeit hatte ich geglaubt, endlich jemanden gefunden zu haben, der meinem Leben einen Sinn gab. Ich hatte mir vorgenommen, ihn zu beschützen. Aber ich hatte diesen Menschen verloren. Eher gesagt, ich hatte mich auf der Reise hierher entschieden, mich von ihm zu trennen. Damals hatte ich es für sicherer für ihn gehalten. Heute zweifelte ich an der Entscheidung. Genauso wie ich an meinem Leben zweifelte. Das einzige, was mich davon abhielt, dem Ganzen ein Ende zu setzen, war das Versprechen, welches ich ihm gegeben hatte, als sich unsere Wege trennten. Ich hatte ihm versprochen, in diese Stadt zu kommen. Hier hatten wir uns eigentlich treffen wollen. Ich war nun schon vor einige Wochen angekommen – von ihm fehlte jede Spur. Sowie es aussah, hatte ich es geschafft, er nicht. Und das bedeutete, dass mein Leben wieder keinen Sinn hatte. Es bekam nur einen Sinn, wenn er bei mir war. Doch ich hatte mich von ihm getrennt und ihn verloren. Nun war ich allein. Wie zuvor. Ich verkrampfte mich, zog automatisch meine Beine noch näher zu mir und schlag meine Arme fester um sie. Ich fühlte mich unglaublich leer. Früher war das normal gewesen, aber seitdem ich ihn kennengelernt hatte, wusste ich, dass es auch anders sein konnte. Das Gefühl, zu nichts zu gebrauchen zu sein, kannte ich in dieser Form nicht. Früher war ich, indem, was ich tat, immer gut gewesen. Auch wenn ich inzwischen wusste, dass es nicht erstrebenswert gewesen war. Allein. Leer. Nutzlos. Das war ich. Ich meine, da hatte ich nach neun ganzen Jahren endlich jemanden gefunden, der sich um mich kümmerte, mich anscheinend mochte, und ich trennte mich so leichtfertig von ihm. Mit hätte klar sein müssen, dass ich ihn nicht wieder finden würde. Ich wollte zu ihm. Jetzt sofort. Ich wollte wieder seine Wärme spüren, wollte wieder in den Arm genommen werden, wollte mich wieder vorsichtig an ihn schmiegen und wollte mich wieder so sicher fühlen wie noch nie zuvor, auch wenn ich wusste, dass er eigentlich schwächer war als ich. Ich wollte wieder seinen ruhigen Herzschlag und Atem hören, nachdem er eingeschlafen war, wollte selbst wieder in seinen Armen einschlafen. Im Grunde wollte ich einfach nur bei ihm sein und sein Lachen hören. Doch statt seiner Wärme spürte ich nur die Kälte des Windes, der mir auf dem Dach eines heruntergekommenes Hauses, um die Ohren pfiff, während ich mit leeren Augen in die Nacht hinein starrte. „Makato“, flüsterte ich so leise, dass ich mich selbst kaum verstand. „Wo bist du?“ Ich saß noch eine ganze Weile bewegungslos da und dachte an den Jungen, in dessen Nähe ich mich so wohl gefühlt hatte und der mir auch jetzt ein kleines bisschen Hoffnung gab, so dass ich meinem Leben kein Ende setzte. Irgendwann, spät in der Nacht erhob ich mich nach stundenlangem Sitzen dann doch, um ins Waisenhaus zurückzukehren und noch etwas zu schlafen. Meine Beine schmerzten, als ich aufstand, doch das interessiert mich nicht. Schmerzen war ich schon gewohnt. Außerdem war es mir egal, was mit mir passierte, Hauptsache Makato ging es gut. Mit diesem Gedanken machte ich mich auf den Weg zurück. In dem Viertel durch das ich lief, traf ich noch viele Leute auf den Straßen an. In allen anderen Viertel der Stadt war das anders. Dort war so gut wie niemand mehr unterwegs. Das lag daran, dass in diesem Viertel die ganzen Bars und Clubs waren. Ai, eine der Frauen aus dem Waisenhaus, sagte immer wieder zu mir, ich solle nicht hierher kommen. Es sei zu gefährlich. Es war mir egal. Mir war noch nie was passiert und außerdem, wo sollte ich sonst hingehen. In die anderen Viertel passte ich noch weniger. Hier fühlte ich mich ungefähr so, wie dort, wo ich herkam. Nur dass, die meisten Leute nicht auf mich achteten. Das gefiel mir, so machten sie mir auch keinen Ärger. Ich hatte das Viertel schon fast verlassen, als sich mir jemand, der fürchterlich nach Alkohol und Rauch stank, in den Weg stellte. „Hey Kleiner“, sagte er. Ich blickte zu ihm auf und sah ganz deutlich, wie er kurz zusammenzuckte. Diese Wirkung hatte meine Augen auf die meisten Leute. Nur Makato hatten sie nicht gestört. „Was willst du?“, fragte ich emotionslos. „Deine Kette“, grunzte er, der Geruch von Alkohol stieg mir noch deutlicher in die Nase. Meine Hand tastete automatisch nach dem gläsernen roten Phönix an meinem Hals. Ich würde ihn niemals hergeben. Noch einmal blickte ich den Typen an und ging dann an ihm vorbei. Er war keine Gefahr. Wie die meisten dieser Leute war er im ersten Moment irritiert, griff danach nach einem Messer und holte aus. Ich sah den Schlag aus dem Augenwinkel kommen und fing ihn ab. Meine Hand schloss sich um sein Handgelenk und drückte ihm das Blut ab. „Was?“, entfuhr es ihm und er versuchte sich loszureißen, aber ich ließ nicht locker. Über die Schulter blickte ich ihn an und konnte ganz deutlich das Entsetzen in seinem Gesicht sehen. „Diese Augen“, stammelte er vor sich hin, „diese schrecklichen, leere Augen!“ Als das Messer fiel, gab ich seine Hand wieder frei und ging weiter. Diese schrecklichen, leeren Augen hatte er gesagt. Alle nannten meine Augen leer. Waren meine Augen denn wirklich so schlimm? Im Waisenhaus ging ich als erstes ins Badezimmer. Dort blickte ich in den Spiegel. Meine Augen waren grün. Ein seltenes Dunkelgrün, hatte Makato gesagt. Konnte es daran liegen? Hm. Eher nicht, ich hatte niemanden gesehen, der solche Augen hatte wie Makato und die hatte keiner als schrecklich bezeichnet. Makatos Augen waren dunkelblau und sie sahen aus wie ein Stein an einem Ring von Ai. Nur, dass der Stein nicht so toll strahlte wie Makatos Augen. Sie hatten so einen schönen Glanz gehabt. Dieser Glanz fehlte meinen Augen – sie sahen eher trüb aus, wie das Wasser eines schlammigen Sees. Vielleicht lag es an dem Glänzen? Ich schüttelte den Kopf. Das war unlogisch. Ich hatte kaum jemanden gesehen, dessen Augen so ähnlich glänzten, wie die von Makato. Komisch. Ich fand keine Antwort auf meine Frage. Da ich inzwischen richtig müde war, beschloss ich mich hinzulegen. Am nächsten Morgen schreckte ich aus dem Schlaf auf. Jemand hatte seine Hand auf meine Stirn gelegt. Ich schlug die Hand weg und setzte mich ruckartig auf. Kurz verschwamm alles vor meinen Augen. Seltsam. Ich schaute in das Gesicht von Ai. „Ganz ruhig!“, sagte sie sanft. Ich sah erst sie an, dann wanderte mein Blick zum Fenster. Die Vorhänge waren noch zu gezogen, dennoch war es ziemlich hell im Zimmer. „Wie viel Uhr ist es?“, fragte ich. „Viertel nach neun“, antwortete sie und legte schon wieder ihre Hand auf meine Stirn. „Die Schule“, murmelte ich entsetzt. Ich kam zu spät. Ich wollte die Decke zurückschlagen und aus dem Hochbett springen, um mich so schnell wie möglich fertig zu machen und dann zur Schule zu gehen, aber Ai hielt mich zurück. „Du musst heute nicht in die Schule“, sagte Ai einfühlsam. „Du hast Fieber!“ „Fie-ber“, wiederholte ich jede einzelne Silbe betonend. Ich hatte dieses Wort noch nie gehört. Aber ich mochte es nicht, wenn es mich daran hinderte, in die Schule zu gehen. „Ich will zur Schule“, sagte ich nur und krabbelte zur Leiter. Irgendwie fühlte ich mich komisch. Mir war total warm und ich spürte eine seltsame Schwäche. Dennoch musste ich unbedingt in die Schule. „Ich weiß ja, dass dir die Schule wichtig ist, aber du bist krank und musst im Bett bleiben!“, sagte Ai ernst, schob mich mit sanfter Gewalt wieder zurück und deckte mich zu. „Der Arzt kommt gleich!“ „Aber…“ „Nein, keine Widerrede. Heute bleibst du hier. Vielleicht kannst du in deinem Bett etwas lernen, wenn es dir so wichtig ist.“ Sie verstand mich nicht. Ich wollte nicht in die Schule, weil ich dort etwas lernte. Ich ging nur, weil sie mir gesagt hatte, dass alle Kinder in meinem Alter dorthin gingen. Makato war in meinem Alter, das hieß, wenn er hier war, würde er auch irgendwann kommen. Genau deswegen musste ich auch heute unbedingt hin. Daran würde mich niemand hindern können. Ich würde einfach solange warten, bis dieser Arzt wieder weg war und mich dann, wie sooft davon schleichen. Bis jetzt hatte mich noch niemand erwischt. Und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie es jemals tun würden. Es war einige Zeit vergangen, als der Arzt endlich ging. Ich hatte kaum ein Wort, von dem was er redete, verstanden. Auf Ais Frage hin, hatte er mir erlaubt, etwas zu lernen, solange ich mich nicht überanstrengte. Was er damit meinte, war mir unklar. Ich hatte Lernen nie, als anstrengend empfunden. Ich saß nur da und hörte dem zu, was die Lehrer redeten. Es war mehr langweilig, als irgendetwas anderes. Aber eigentlich war es mir auch egal. Hauptsache, der Kerl verschwand wieder. Danach war ich alleine. Mal wieder. Aber im Moment wollte ich es so. Ich brauchte mehr Kraft, als ich erwartet hatte, um aus dem Bett zu kommen und mich anzuziehen. Aber es war egal. Ich wollte zur Schule, weil ich hoffte, Makato dort zu treffen. Deswegen würde ich auch hingehen. Da konnte ich mich noch so schwach fühlen. Mit meiner Schultasche in der Hand trat ich auf den Flur hinaus. Ich hatte gerade drei Schritte gemacht, da hörte ich Ais Stimme: „Ich finde es nett, dass du Taro besuchen kommst. Ihm geht es gerade nicht so gut.“ Ich wollte mich schon wundern, wer mich denn besuchen wollte, doch dann hörte ich die Stimme des Menschen, nach dem ich mich in den letzten Wochen so gesehnt hatte. „Was ist denn mit ihm?“, klang es voller Sorge in meinen Ohren. „Es ist doch nicht schlimm, oder?“ Was Ai darauf antwortete, hörte ich nicht. Es war auch nicht wichtig. Ich ließ meine Tasche fallen und filzte in Richtung des Ganges, aus dem die Stimmen kamen. An der Ecke blieb ich stehen. Ich konnte es kaum glauben. Es war tatsächlich. Da lief wirklich Makato. Seine braunen Haare wippten genau wie damals im Takt seiner Schritte, und seine Augen strahlten in demselben schönen Glanz. Sie schienen sogar noch mehr so leuchten, als er mich erblickten. „Taro“, rief er und rannte auf mich zu. Mit quietschenden Sohlen kam er direkt vor mir zum Stehen und schlang seine Arme um mich. „Ich hab dich vermisst!“, murmelte er. „Ich dich auch!“, flüsterte ich leise und konnte mein Glück kaum fassen. Endlich spürte ich wieder sein Wärme, wurde ich wieder von ihm in den Arm genommen, konnte ich mich wieder vorsichtig an ihn schmiegen und fühlte ich mich wieder so unglaublich sicher, obwohl ich wusste, dass ich körperlich stärker war als er. Endlich war wieder bei ihm und hörte sein schönes Lachen. Dieses Mal würde ich mich nicht wieder von ihm trennen. Nie wieder. Ich schwor mir, immer für ihn da zu sein und ihn zu beschützen. Plötzlich schien die Welt viel heller. Kapitel 2: Tränenregen ---------------------- Hallo! Hier ist endlich mal der nächste One-Shot. Es geht insbesondere um Taros Vergangenheit. LG Zyra --- Tränenregen Es regnete. Kalt schlugen ihm der Regen ins Gesicht. Aus den braunen, schulterlangen Haaren tropfte das Wasser. Sein blaues Gewand und die schwarze Hose klebten ihm am Körper. Aber es war egal. Nur weg! Er wollte nur weg. Bevor sie ihn erwischten. Denn dann würden sie ihn töten, genau wie seinen Vater … und wahrscheinlich auch seine Mutter. Plötzlich tauchte der Anblick der Wohnung wieder vor seinem geistigen Auge auf. Rot bestimmte die Szenerie. Kleine, rote Pfützen auf dem vor Schmutz braunen Teppich. Rote Spritzer an den kaputten Tapeten. Ein kleines, rotes Rinnsal floss unter dem dunklen Sofa hervor, hinter dem sein Vater in einer großen, roten Lache lag. Das Blut tropfte aus mehreren Wunden auf den Boden. Die braunen Augen waren vor Entsetzen weitaufgerissen. Es war schnell gegangen und es war noch nicht lange her, das hatte er sofort gesehen. In dem Moment war ihm klar gewesen, wie töricht es gewesen war, noch einmal nach Hause zu gehen, um seine Sachen zu holen. Viel hatte sicherlich nicht gefehlt, dass sie ihn dort erwischt hätten. Und wider die Vernunft – weit weg konnten sie schließlich noch nicht sein – hatte er doch seine wenigen Habseligkeiten gepackt. Aber er hatte Glück gehabt. Nun rannte er durch die Stadt und wusste nicht genau, wohin er gehen sollte. In der Stadt waren sie überall. Sie töteten überall. Und es war seine Schuld. Weil er sich ihnen widersetzt hatte. Weil er gehen wollte. Etwas, das ihm nicht gestattet war. Nicht, nachdem er von ihnen ausgebildet worden war. Sie duldeten nicht, dass jemand ihr Wissen besaß, der nicht zu ihnen gehörte. Er hatte gewusst, dass sie ihn jagen würden. Aber warum all die anderen? Die hatten doch nichts getan. Es kam ihm falsch vor, das Ableben dieser Leute zu organisieren. Er hatte Angst, auch wenn er das Gefühl verdrängte so gut es ging. Schließlich wusste er, dass Angst nur lähmte und einen nicht klar denken ließ. Aber er wollte nicht sterben. Er wollte doch nur zu Makato. Mit ihm die Welt erkunden. Er hoffte, es ging dem anderen gut. Am liebsten wäre er bei ihm geblieben, aber seine Anwesenheit war für den Jungen, der zwar einen starken Willen zu besitzen schien, aber sichtlich nicht in der Lage war, diese Kraft bewusst zu nutzen, viel zu gefährlich gewesen. Getrennt, so glaubte er, würde sie es beide leichter haben, ihr gemeinsames Ziel zu erreichen. Als er die Schritte hinter sich hörte, war er schon am Rande der heruntergekommenen Vorstadt. Schmale, vom Regen fast schwarze Betonbauten säumten den Weg. Sie waren schon verlassen gewesen, als er das erste Mal hier gewesen war. Noch einmal steigerte er den Rhythmus seiner Schritte. Bald würde er so schnell sein, dass es aerodynamisch und energetisch günstiger wäre, die Arme an den Körper anzulegen. Aber je höher seine Geschwindigkeit war, desto mehr Energie verbrauchte er auch und durch die Spuren dieser würde er auf sich aufmerksam machen. Vielleicht würden noch mehr kommen. Er horchte. Hinter ihm war nur das Geräusch der Schritte einer Person zu vernehmen. Ansonsten hörte er nur das Schlagen seines Herzes, das Rauschen seines Blutes in den Ohren, das leise Platschen seiner Schritte auf dem schlammigen Weg und das Prasseln des Regens. Also definitiv nur eine Person. Vielleicht sollte er sich ihr stellen. Aber er wusste nicht, wie mächtig sie war und er scheute sich davor, mit seinen Sinnen zu erfühlen, wie stark sie war. Denn auch das würde nur Spuren hinterlassen. Aus der Stadt herauszulaufen und, wenn es dann noch nötig war, sich dort um die Organisation der Elimination des Verfolgers zu kümmern, erschien ihm sinnvoller. „Senekisu“, drang plötzlich an seine Ohren. Überrascht riss er die Augen auf und geriet – einen Moment unaufmerksam – ins Stolpern. Er kannte die Stimme. Im Fallen sah er, was er gehört hatte. Seine Mutter. Sie kam in dem rot-weißen Kimono, den sie immer bei der Arbeit trug, auf ihn zu gerannt. Sie war so schnell, dass ihr langes, schwarzes Haar hinter ihr im Wind flatterte. Abrupt kam sie vor ihm zu stehen. „Mama“, murmelte er und starrte sie aus großen Augen an. Er hatte gedacht, sie hatten auch ihr Ableben organisiert. Aber sie war hier … und etwas war anders. Er musterte sie. Der Kimono war mit Blutspritzern gesprenkelt und die unteren Kanten des weißen Stoffes waren braun vom Laufen auf dem matschigen Boden. Ebenso dreckig waren die Füße in den dunklen Sandalen. Sein Blick wanderte wieder nach oben. Ihr Brustkorb hob und senkte sich langsam, obwohl sie so schnell gelaufen war. Auf dem Rücken trug sie eine Tasche aus grobem Leder, die er nicht kannte. Im Ausschnitt ihres Kimonos verschwanden drei Ketten, die er sie zuvor auch noch nie hatte tragen sehen. Eine feingliedrige goldene, eine braune lederne und eine grobgliederige silberne. Jene an denen diejenigen, die ihren Willen beherrschten, ihre Talismane trugen. Beherrschte sie etwa auch die Fähigkeiten, die die Organisation ihn gelehrt hatte? Er wagte es, einen Blick auf ihre Aura zu werfen. Der sonst durchgängig blass violette Schein wurde jetzt von tiefroten Schlieren durchzogen. Er hatte nie bemerkt, dass sie ihre wahre Aura verbarg. Er hatte nie bemerkt, wie mächtig sie war. „Hab dich erschreckt, mein Schatz?“, fragte sie sanft und ging vor ihm in die Hocke. „Das tut mir leid!“ Er blickte ihr ins Gesicht. Der Pony klebte ihr regennass an der Stirn. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den er nicht kannte. Nicht von ihr. So warm und voller Gefühl. Ohne zu wissen warum, schossen ihm plötzlich Tränen in die Augen. „Was ist denn?“, fragte sie und ihre Stimme war wieder so unglaublich sanft und einfühlsam. Sie legte ihm eine Hand an die Wange und strich behutsam die Tränen weg. Durch die Bewegung klapperten die Holzkugeln ihrer Armbänder aneinander und lenkten seinen Blick auf ihre Arme. Feine Blutrinnsale rannen ihren Unterarm hinab. Wahrscheinlich hatte sie ihm davon gerade etwas an die Wange geschmiert. Aber die Flüssigkeit in seinem Gesicht konnte ebenso gut der Regen sein. „Geht es dir gut?“, fragte er besorgt. Er hatte Angst, sie könnte schlimmer verletzt sein, als man auf den ersten Blick sah. „Ja, mir ist nichts passiert. Das ist nur ein kleiner Kratzer“, beruhigte sie ihn. „Das meiste Blut ist von anderen.“ Er nickte und fragte sich, ob sie wirklich stark genug war, jemanden aus der Organisation zu besiegen. Vielleicht hatte sie die Blutspritzer ja auch nur im Vorbeirennen abgekommen. Es schien im beinahe unmöglich, dass er ihre Kräfte nicht bemerkt haben sollte. Er war in allem immer so gut gewesen. „Komm, mein Schatz“, forderte ihn seine Mutter auf und stellte ihn wieder auf seine Beine, „wir müssen gehen, sonst erwischen sie uns doch noch.“ Er nickte abermals und gemeinsam rannten sie aus der Stadt hinaus. Ähnlich, wie es zu erwarten gewesen war, konnten sie sich nicht unbemerkt entfernen. Immer wieder trafen sie auf Mitglieder der Organisation. Keine Hochrangigen, aber dennoch stark genug, um sie für mehrere Minuten aufzuhalten. Bei den folgenden Kämpfen hielt er sich größtenteils im Hintergrund. Seine Mutter hatte ihn darum gebeten. So als ahnte sie, dass er der Grund war, der dieses Töten ausgelöst hatte. Für ihn gab es auch keinen Anlass sich hervorzutun. Seine Mutter meisterte die Situationen souverän. Er konnte immer noch nicht glauben, dass er diese Stärke nie bemerkt hatte. Mit jedem Kampf, in den er nicht eingreifen musste, stieg das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit. Es war so ähnlich, wie das, was er in Makatos Gegenwart gespürt hatte. Nur, dass diese Gefühle nicht so trügerisch waren. Im Gegensatz zu Makato konnte seine Mutter ihn beschützen … und sie tat es – immer und immer wieder. Die Nacht war schon lange angebrochen, als sie endlich rasteten. In der Nähe waren heißen Quellen, in denen sie badeten und ihre von Blut und Erde verschmutzten Kleider wuschen. Das Trocknen übernahm er. Schließlich hatte seine Mutter heute schon genug Energie aufgewendet und der Aufwand war so minimal, dass kaum Spuren zurück bleiben würden. Ein geringes Risiko also, seine Willenskraft – die, des Gejagten – dafür zu verwenden. Das Abendessen bestand aus Brot, das seine Mutter aus der Bäckerei mitgenommen hatte, in der sie arbeitete. Es würde nur für wenige Tage reichen. Sie mussten es also riskieren in einem Dorf zu rasten, um sich dort Reis und andere Grundnahrungsmittel zu organisieren. Als er seine Mutter darauf ansprach, tadelte sie leicht: „Kaufen, mein Schatz. Hier gelten nicht die Regeln der Organisation. In der restlichen Welt ist es verboten, sich einfach etwas zu nehmen, ohne zu bezahlen. Das ist Diebstahl, ein Verbrechen.“ Er sah sie aus großen Augen an. Bisher hatte er noch nie etwas mit Geld bezahlt. Er hatte nie Geld besessen – er hatte auch keins nötig gehabt. Nach den Regeln, die er kannte, konnte man sich nehmen, was man wollte, man durfte sich dabei nur nicht erwischen lassen. „Warum darf man es nicht?“, fragte er. „Weil es nicht richtig ist. Die Menschen haben für ihr Eigentum hart gearbeitet. Sie haben es sich verdient, in dem sie etwas dafür getan haben. Hier gilt nicht das Gesetz des Stärkeren, sondern ein Geben und Nehmen von Gleichwertigem. Du gibst Geld und bekommst dafür zum Beispiel Essen oder Kleidung“, erklärte sie sanft. Makato hatte etwas Ähnliches gesagt. Es sei moralisch nicht richtig. Aber was war moralisch? Vielleicht wusste es seine Mutter. Doch es gab noch so vieles anderes, das er sie fragen wollte. Dass er über die Welt wissen wollte. War es wichtig zu wissen, was „moralisch“ war? Letztendlich fragte er dann doch. Sie nickte lächelnd. „Ja, Moral ist wichtig“, antwortete sie ernst. „Sie ist das ungeschriebene Regelwerk einer Gesellschaft und eines jeden Menschen. Die Moral bestimmt, was richtig und falsch ist. Dabei muss die eigene Moral nicht immer mit der gesellschaftlichen übereinstimmen. Man kann sie nicht kurz und knapp zusammen fassen, weil sie so viel umfasst. Aber was wichtig ist, wirst du mit der Zeit lernen.“ „Was ist denn besonders wichtig?“, fragte er weiter, weil er zumindest eine konkrete Vorstellung haben wollte. „Es ist verboten, zu töten. Es ist einem nicht erlaubt, über das Leben oder den Tod eines anderen zu bestimmen. Man darf niemanden das Recht zu Leben abstreiten“, antwortete sie. Die Welt, die Makato und seine Mutter beschrieben, schien viel netter zu sein, als die, die er kannte. Man musste nicht so hart kämpfen, um zu überleben. „Du hast heute getötet“, stellte er fest und richtete seine Gedanken wieder auf das Thema. „Ja“, sagte seine Mutter und sie wirkte nicht besonders traurig. „Das nennen sie Notwehr. Schließlich hat man das Recht, sich und andere zu verteidigen. Wenn man keine andere Möglichkeit hat, darf man töten. Aber das bedeutet nicht, das es gut ist.“ Er nickte und musste wieder an Makato denken. Für Menschen, die man mag, ist man da und hilft ihnen, hatte er gesagt. Und er hatte getan, was er gesagt hatte. Deshalb hatte er mit ihm kommen wollen. Weil das, wovon er erzählte, so viel besser war, als alles, was er kannte. Er blickte seine Mutter an. Makato war viel netter gewesen als sie. Aber heute war sie auch nett. Sie beachtete ihn. Sie hatte ihm ihre Baumwolldecke gegen die Kälte gegeben. Es war so als würde sie ahnen, dass er mit seiner Energie besonders vorsichtig sein musste. Aber konnte das sein? Ihre Zehen waren schon ganz blau, bemerkte er. Sie selbst schien auch keine Energie darauf zu verwenden, sich zu wärmen, weil auch das zu auffällig war. Ebenso wie ein Feuer. Ihr musste kalt sein. Warum hatte sie ihm also die einzige Decke gegeben? „Dir ist kalt“, sagte er, ohne zu wissen warum. „Ja, aber das macht nichts, solange dir nur warm ist.“ Das verstand er nicht. Früher war sie nie so gewesen. Trotzdem wollte er nicht, dass sie fror. „Wir können doch teilen“, sagte er deshalb. „Die Decke ist groß genug.“ Sie blinzelte und lächelte dann. „Wenn das für dich in Ordnung ist, gern.“ Er nickte und kam das Stück, das er entfernt gesessen hatte, zu ihr. Gerade, als er sich neben ihr niederlassen wollte, hob sie ihn hoch und zog ihn auf ihren Schoss. Seine von der Erde schmutzigen Füße hinterließen braune Flecken auf ihrem Gewand, aber sie ignorierte es, schlag die Decke um sie beide und nahm ihn in den Arm. Er konnte sich nicht erinnern, dass sie das jemals getan hatte. Nur Makato hatte ihn in den Arm genommen. Es war ungewohnt, ihr so nah zu sein. Sie war warm und als er seinen Kopf – so wie er es bei Makato gemacht hatte – an ihre Brust legte, konnte er ihren Herzschlag hören. Es schlug langsamer und kräftiger, als das von Makato. „Mama“, sagte er, „warum bist du so anders?“ „Weil ich es kann, ohne dich in Gefahr zu bringen.“ Er blinzelte. Das verstand er nicht. „Was für Gefahr denn?“ „Es hätte dich angreifbar gemacht, wenn du eine enge Beziehung zu mir gehabt hättest“, erwiderte sie und Wehmut klang in ihrer Stimme mit. Anscheinend tat es ihr Leid, dass sie nicht für ihn hatte da sein können. Er konnte nicht ganz nach vollziehen, warum sie es nicht gekonnt hatte. Enge Bindungen waren zwar ein beliebtes Angriffsziel oder Druckmittel, aber das galt doch nur für schwache Menschen. „Aber du bist doch stark“, sagte er und blickte sie fragend. Seine Mutter lächelte ein wenig amüsiert. „Ja, das stimmt schon“, antwortete sie und drückte ihn fester an sich. „Ich wollte aber lieber unscheinbar wirken. Es kann schnell gefährlich werden, wenn ich meinen Willen einsetze.“ „Warum?“, fragte er weiter. Dass es für ihn gefährlich war, seinen Willen zu benutzen, war für ihn logisch. Aber welchen Grund konnte sie haben. „Und warum ist es das jetzt nicht mehr?“ „Es gibt da jemanden, der mich sucht.“ Ihr Blick wurde seltsam ausdruckslos. Sie schloss kurz die Augen, als sie sie wieder aufschlug, lag der Ausdruck leichter Besorgnis in ihnen. „Im Moment haben wir jedoch größere Probleme. Dafür gehe ich das Risiko ein.“ „Und warum wirst du gesucht?“, wollte er neugierig wissen. Gefühle, die er nicht kannte, krochen in ihm hoch. Irgendetwas, das entfernt Freude ähnelte und etwas, dass ihm leichtes Unwohlsein bereitete. Er sollte erst später erfahren, dass es Rührung und Beklemmung war. „Ich weiß es nicht, mein Schatz“, sagte sie seufzend, aber es klang ein wenig unaufrichtig. „Warum nennst du mich so?“ Sie nannte ihn schon so, seit sie die Stadt verlassen hatten. Früher hatte sie das nie getan. Er wusste nicht, was es zu bedeuten hatte. „Weil du das wertvollste für mich bist“, antworte seine Mutter. Ihre Stimme war weich. „Warum?“, fragte er wieder. Er hatte nie etwas davon gespürt. „Du bist mein Sohn. Ich liebe dich über alles.“ Sie sagte das, als wäre es absolut sinnvoll. Sie drückte ihn noch etwas fester an sich. Er verstand es nicht. Er wusste nicht, was Liebe war. Aber er wollte lieben, wenn es ihn so glücklich machte, wie seine Mutter. Und es fühlte sich gut an, geliebt zu werden. „Kann man das lernen?“, fragte er bang. „Ja, mein Schatz, das kann man“, sagte sie und als er zu ihr hochschielte, sah er, dass in ihren braunen Augen Tränen standen. „Du kannst es ganz bestimmt.“ „Was ist denn?“, fragte er besorgt. Er verstand nicht, was los war. Über ihnen setzte wieder leichter Regen ein. Ein leises Rauschen war auf dem Blätterdach zu hören. „Manchmal weint der Himmel mit uns – nur, ob er sich für uns freut oder uns betrauert, weiß niemand“, murmelte sie den Kopf in den Nacken gelegt. „Jetzt wird alles gut“, fuhr sie eindringlicher fort. „Ich werde für dich da sein.“ „Wirklich?“ Er wusste nicht, wie es war, wenn jemand für einen da war. Aber Makato hatte etwas Ähnliches gesagt. Und es klang nett. „Ja, solange ich es kann. Und jetzt schlaf. Wir haben eine anstrengende Zeit vor uns“, sagte sie ernst und begann ihm über sein Haar zu streichen. Er schlief bald und fühlte sich dabei so wohl, wie in Makatos Armen, und so sicher, wie noch nie zuvor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)