Heute noch. von abgemeldet (An old man by a seashore, at the end of day) ================================================================================ Heute noch. ----------- Der Himmel war rot. Seewinde bliesen ihm ins Gesicht, durchkämmten seinen Bart und strichen über die Falten hinweg, die sich im Laufe der Zeit um seine Augen gebildet hatten und ihm, in Zusammenhang mit dem weißen Bart, mehr denn je wie einen altehrwürdigen Bären aussehen ließen. Er steckte sich in Ruhe eine Pfeife an. Ein Albatros flog der untergehenden Sonne entgegen. Er drohte, einem Tagtraum nachzugeben und mit seinen Gedanken abzuschweifen. Doch das durfte er nicht. Stetig wachsam. Auch wenn die Träume verlockend waren. Eine Prinzessin in einem Turm. Kinder auf Feldern. Nein, nein, nein. Stetig wachsam. Das Leben hatte ihm doch alles gegeben: eine Insel. Seine Insel. Oh, lasst die Leuchtfeuer brennen. Einen letzten Zug aus der Pfeife nehmend, stieg er die schmale Stiege hinab, die ins Innere des Turms führte. Der Himmel war rot. Mit der Präzision des Alters an seiner Seite brauchte er keine Uhr. Er hatte nie eine gehabt, nicht hier, nicht seit der Zeit, seit der er seine Insel hatte. Er wusste exakt, wann er welche Feuer zu entzünden hatte, so auch heute. Nachdem seine Arbeit getan war, stieg er wieder auf die Aussichtsplattform, schwerfällig und langsam. Das Alter forderte seinen Tribut. Ein Licht am Ende der Welt. Das war es. Das war das Licht, und das war das Ende der Welt. Und stetig, wieder und wieder, entzündete er sein Feuer, sobald die Nacht hereinbrach und die Möglichkeit bestand, dass sich ein Schiff in der Dunkelheit ans Ende der Welt verirren konnte. Ein alter Mann an der Küste. Das sagten sie, wenn sie bei dem Leuchtturm anlegten und er sie, mit einer Laterne in seiner alten, verrunzelten Hand, auf seiner Insel willkommen hieß. Es war weder kalt noch warm; er hatte sich schon längst an das Wetter angepasst. Die Laterne auf dem Geländer abstellend, setzte er sich auf eine abgenutzte Holzbank. Der Geruch von Moder und Salz stieg ihm in die Nase; er schloss die Augen und sog tief die Luft ein. Ja, das war seine Welt. Das Leben hatte ihm alles gegeben. Er war nicht immer hier gewesen. Nein, eigentlich war er durch einen Zufall an diesen Ort gekommen, den er jedoch schon längst vergessen hatte. Er dachte nicht über seine frühere Heimat nach. Doch jetzt versuchte er, sich zu erinnern. Kinder auf Feldern, Jungen und Mädchen. Eine war eine Prinzessin unter all den anderen. Ihr Lachen drang von weiter Ferne an sein Ohr, für einen kurzen Moment roch er ihr Haar, welches immer nach Honig geduftet hatte… Das Bild vor seinem inneren Auge veränderte sich, formte sich zu einem hoch aufragenden Turm inmitten von stürmischen Wellen… Die Prinzessin in einem Turm. Nein. Die Prinzessin wird niemals in einem Turm sein. Seufzend öffnete er die Augen und das Bild erlosch. Die Zeit, bevor er unbemerkt von der Welt verschwunden war, lag so lange zurück, war so lange von ihm unterdrückt worden und hatte in einer Ecke seines Gewissens verstaubt, bis sie zerbröselte – und nun war kaum noch etwas davon übrig. Jedoch konnte er noch immer das Gras frisch gemähter Kuhweiden unter seinen Füßen spüren. Wann hatte er das letzte Mal einen Fuß auf Festland gesetzt? Er wusste noch, dass es sich anders anfühlte als der Boden seiner Insel. Seine Insel schwankte und erzitterte manchmal unter seinen Tritten, und wenn ein besonders mächtiger Sturm sie ergriff, brodelte sie wie ein Deckeltopf, angepeitscht von kochender Suppe. Der Himmel war schwarz. Keine Sterne waren zu sehen, denn die Wolken – fest und grau waren sie – verdeckten alle Himmelskörper. Doch ihm war es nur recht – solange kein Nebel aufkam, der seinen Turm verdeckte. Ein Geist im Nebel. Er erinnerte sich. Wie lange war es her? Einige Jahre? Jedoch sah er es immer noch klar vor sich, so klar es in diesem tief hängenden, dichten Nebel eben möglich war – ein Schiff, dessen Namen er nicht wusste, auf dem Weg zu seiner Insel. Nebel. Sämtliche Leuchtfeuer waren entzündet gewesen. Nebel. Er, nass und triefend vom ständigen Regen, winkend und Fackeln schwenkend auf der Plattform. Doch noch immer war der Nebel da gewesen. Und die Klippen. Seit er denken konnte, hatte es die Klippen gegeben, doch niemand war ihnen jemals nahe gekommen. Nur das namenlose Schiff, dass – nein. Nicht deine Schuld. Langsam wurden seine Gliedmaßen taub. Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass sich seine Nachtschicht dem Ende neigte, und es nicht mehr lange dauern würde, bis die ersten Strahlen der Morgensonne sich zeigten. Gemächlich erhob er sich von der Bank und streckte sich ausgiebig, bevor er zurück in den Turm stieg. Sein Zimmer wirkte kalt und war spärlich eingerichtet. Ihm machte das nichts. Er besaß eine ganze Insel, warum sollte er sein Zimmer mit Habseligkeiten voll stopfen? Um Kerzenwachs zu sparen, zündete er die Kerze auf dem Tisch gar nicht erst an, sondern stellte einfach seine Laterne neben sie. Ein öliger Geruch breitete sich im Raum aus. Kurz bevor er sich schlafen legte, tötete er das Licht aus und kroch im Dunkeln zu seinem Bett und unter die Bettdecke. Wieder die Präzision des Alters. Er dachte daran, wie es wohl wäre, seine Erinnerungen lebendig werden zu lassen. Was, wenn er nur für einen Tag auf das Festland übersetzte? Nur um das Gefühl soliden Bodens noch einmal unter seinen Füßen spüren zu können... Und dann zurück auf die Insel, ein letztes Mal die Segel setzen, um seinen Lebensabend hier, am Ende der Welt, verbringen zu können. Er fragte sich, woher plötzlich der Geruch von wildem Honig kam – dann schlief er mit einem Lächeln ein, das durch seinen Bärenbart hindurchblitzte, und mit einer ihn jäh überkommenden Gewissheit wusste er, dass er weder jemals wieder Festland betreten noch in seinem Bett aufwachen würde. Draußen war der Himmel rot vom Licht der aufgehenden Sonne. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)