XXY von Khyre ================================================================================ Kapitel 1: Part One - Stay Lonely --------------------------------- “ICH LIEBE DICH!!!” Nein, wie penetrant. Doch, ehrlich. Jetzt kam ich ganz unschuldig aus der Schule, die Schultasche locker um die Schultern geschwungen und nichts ahnend aus dem Schulgebäude - und dann das. Ich meine; es ist ja nicht so, dass meine Existenz an sich schon schwer genug wäre. Aber das ist doch echt die Höhe. Mir blieb die Sprache weg, als ich diesen kleinen, dürren, vielleicht 15-jährigen Jungen vor mir stehen sah, die Hände zu Fäusten geballt, deren Arme er verkrampft an den Körper gepresst hielt und der mich durch seinen, über die Augen hängenden, gold-braunen Pony hindurch fixierte. Seine Augen schimmerten türkis und nahmen mich durch ihren herzzerreissenden Ausdruck für einen Augenblick gefangen. Doch der Zauber verschwand, als sich der Blick des Jungen senkte und sämtliche Spannung, die der Kleine aufgebaut hatte mit einem Mal zusammen sackte. Dann, kaum vernehmbar, fing er in einem leisen, schweren, Ton an, zu sprechen: “Aber...du mich nicht.” Auch wenn ich ihn nicht kannte, so wurde mir kurzzeitig schwer ums Herz. Die Enttäuschung über meine Reaktion war mehr als deutlich zu spüren und dennoch entscheid ich mich motorisch, diesen seltsamen Versuch des Jungen, Kontakt mit mir aufzunehmen, abzublocken. Mit einer lässigen, ja fast sogar herablassenden Haltung blickte ich zu ihm herab und entspannte jeden meiner Gesichtsmuskeln, bis meine Erscheinung letzen Endes wohl eher einem Henker gleich kam, der kalt das Seil der Guillotine durch trennte, nicht inbegriffen, was er dem Verurteilten an Kostbarem nehmen würde. “Naja...”, meinte ich dann mit einer mir fern erscheineden, strengen Stimme, “Ich kenne dich ja nicht. Und du mich auch nicht. Deshalb - “ Doch weiter kam ich nicht, denn plötzlich packte mich der kleine Junge an dem Hemd meiner Uniform und schrie mir entgegen: “DOCH, ICH KENNE DICH!!! Ich habe dich drei Wochen lang jeden Tag beobachtet, bin dir überall hin gefolgt und hab alles fotografiert und notiert!! Ich kenne dich jetzt in und auswendig!” “Ach?”, erwiderte ich und meine Augenbrauen zuckten auf. Diese Unverschämtheit, die dieser Frechdachs hier betrieb war nichts anderes als Stalking Und das war mir mehr als unangenehm. Ich arbeitete hart, mein Geheimnis für mich zu behalten und hielt mir, so gut es nur ging, mir andere Menschen vom Leib, damit es verdeckt blieb und da konnte ich es mir nicht leisten, dass so ein penetranter Starker dieses Geheimnis lüftete. Giftig entgegnete ich ihm, dass er gefälligst verschwinden solle und ich ihm bei nächster Gelegenheit zur Sau machen würde, falls ich ihn noch einmal in meiner Nähe erwischen sollte. In meiner Lage musste ich ja wohl nicht besonders freundlich klingen. Es war mein volles Recht, diesen Störenfried aus meinem fein kaschierten Leben zu verbannen. Und trotzdem. Unerklärlicherweise traf es mich, wie er mit Tränen in den Augen davon rannte. Dieser letzte Blick, den ich erhaschte; die von Verzweiflung zusammen getriebenen Augenbrauen und der in sich zusammengefahrene, zierliche Körper, der unter der Stärke meiner Worte in sich schützend verkrümmt hatte. Das alles erst machte mich meiner egoistischen Kaltherzigkeit bewusst. Ich hatte mich noch nie ernsthaft mit einem Menschen auseinander gesetzt, doch dieser kurze Augenblick hatte gereicht, um meine Seele sozusagen aus meiner Reserve zu locken. In mir quoll ein Gefühl auf, das sich durch mein innerstes zu fressen schien und meinen ganzen Körper lähmte. Schuld. So klar wie nie zuvor stand mir vor Augen, dass ich einen Menschen verletzt hatte. Nun, natürlich war es ein Fremder gewesen. Aber es schien mir, nur für diesen kurzen Augenblick, dass sich die Mauern die sich zwischen mir und jedem Menschen automatisch aufbaute für einen Moment in Luft aufgelöst hatten und sämtliche Gefühle des anderen auf mich einströmten, als wären es meine eigenen. In großen Buchstaben gravierte sich das Bild dieses Leidenden Fremden in mein Gedächtnis und haftete noch die folgenden Tage darin. Man hätte meinen können, dass durch meine Worte nun diese Geschichte ihr sicheres Ende gefunden hatte. Doch wieder aller meiner Erwartungen sollte ich meine zweite Chance bekommen. Wie gewohnt lief ich, ein wenig genervt von der Frühlingssonne, die sich mir in den Nacken brannte, meinen Weg nach Hause. Vier Tage waren seit der Zusammentreffen mit dem fremden Jungen vergangen. Mir war, trotz der stechenden Sonnenstrahlen, kalt, da die Temperaturen, dafür, dass wir schon April hatten, sehr niedrig waren. Am Himmel zeichnete sich schon eine Gewitterwolke ab und so packte ich, um meine durch das schlechte Wetter verursachte schlechte Laune zu unterdrücken, meinen I-Pod aus. Ich suchte ein wenig herum. Meine Auswahl war rasch getroffen und ich wollte mir auch gerade die Stöpsel ins Ohr stecken, als ich plötzlich ein seltsames Geräusch vernahm. Ein seltsamen Glucksen und dann ein Schniefen. Weinte da jemand? Normalerweise hätte mich das nicht gekümmert, doch zum einen war das Schluchzen aus greifbarer Nähe zu vernehmen und zum zweiten plagte mich mein Gewissen noch immer mit der Vorstellung des Leidenden, dessen Bild ich - aus welchem Grund auch immer - sofort mit dem Schluchzen assoziierte. Mein Herz begann zu schlagen. Neugierde - oder ein Anflug von Hoffnung? - packte mich und ich horchte noch einmal genauer. Nachdem ich den Ursprung des Geräuschgemisches geortet hatte - der sich übrigens hinter der Hecke befand, an der ich gerade stand - erblickte ich ihn wieder. Die Hände dicht um die angezogenen Beine geschlungen und den Kopf in den Knien vergraben, hockte er auf dem staubigen Kiesbelag vor der Hecke. Er trug, wie auch schon bei unserer ersten Begegnung ein weißes T-Shirt, wobei mir aber erst jetzt auffiel, dass es wohl einige Nummern zu groß für ihn sein musste. Denn dieses reichte ihm noch lange über die Hüfte und der übrige Stoff lag noch lang auf dem Boden. Ich schluckte. In mir spielte sich ein unangenehmer Konflikt ab. Auf der einen Seite hatte ich im Kopf, dass man doch die Finger von diesem Freak lassen sollte. Und gerade weil er ein Freak war, sollte ich doch die Finger von ihm lassen. Einem Freak, der vielleicht sogar schon Informationen über mein kleines Geheimnis besaß die in sein Gedächtnis gerufen werden könnten und die er dann als Waffe gegen ihn hätte richten können. Aber auf der anderen Seite sah er gerade diesen weinenden, verletzen Körper, der da im Dreck saß. Höchst wahrscheinlich auch noch verzweifelt wegen mir. Und da tat ich etwas, das wider aller Lebensweise, die ich normalerweise pflegte - und zwar Menschen aus dem Weg zu gehen - war: Ich trat auf den Jungen zu. Mir war wirklich mulmig zu Mute. Was sollte ich denn sagen? Wo ich ihn doch noch vor wenigen Tagen so bösartig abgewiesen hatte? Sollte ich ihn gleich auf das, was vor vier Tagen war ansprechen und mich entschuldigen? Oder lieber alles verschweigen? Immerhin wusste ich ja nicht einmal, ob er wegen mir weinte. Und so liefen mir noch viele weitere Fragen durch den Kopf und letzen Endes entscheid ich mich für eine ganz neutrale Frage: “Hey, was ist los mit dir?”, sprudelte es aus meinem Mund und ich tippte den Kleinen sachte auf die Schulter. Ein leichtes Zucken fuhr durch den schmächtigen Körper und der Kleine verstummte. Unsicher hob er den Kopf und blickte mit weit aufgerissenen Augen auf seine Knie. Hatte er meine Stimme erkannt? Er wirkte so entsetzt...vielleicht wegen mir? Ich fühlte mich unwohl. Und so kam mir der Plan in den Sinn, dass ich mich einfach für meine grobe Art entschuldigen würde und dann zu verschwinden. Das wäre wohl das Beste für uns beide. “Ähm...Ich weiß nicht, warum du so traurig bist, aber...wenn das wegen mir sein sollte, dann...dann will mich hier und jetzt entschuldigen, dafür, dass ich so grob gewesen bin und ...ja.” Er blieb noch immer stumm, doch nun drehte er sich mit dem Kopf zu mir und blickte mir scheinbar erstaunt in die Augen. Mein Herz begann abermals zu schlagen. Ein Schauer lief mir über den Rücken.Diese Augen, diese tiefen, schimmernden türkisen Augen...dieser gefühlvolle Blick...Je länger ich ihn betrachtete, umso mehr wunderschöne Kleinigkeiten fielen mir an ihm auf: Die Wangen, deren Haut weich und ein wenig rund -, aber nur ein klein wenig rund - über die zarten Wangenknochen gespannt lag, sodass sie dem ganzen Gesicht eine Form einer Mischung aus Eleganz und zugleich Kindlichkeit verlieh. Die kleine Nase, die hin zu den langen, geschwungenen Wimpern führten, die die Farbe der Augen mit einem eleganten Schwarz untermalten. Und dann der kleine Mund, dessen Lippen leicht geöffnet waren und Blick frei warfen auf die Zähne. Mein Blick führte mich weiter nach unten, über den ebenfalls wohlgeformten Hals, der nicht zu dick und nicht zu dünn schien und eine hübsche Stütze für das Haupt war. Es folgte das viel zu große, weiße T-Shirt, dessen Kragen mit einem orange-braunen Rautenmuster besetzt war, welcher um seinen Hals lag wie eine Kette. “Nimmst du mich in den Arm?”, fragte er mich, was mich schlagartig aus meiner Schwärmerei riss. Ich runzelte kurz die Stirn, ob ich mich nicht geirrt hatte und mir meine Fantasie zugunsten dieses Bilder einen bösen Streich gespielt hatte. “Wie - bitte?”, stotterte ich und blickte den Kleinen verwirrt an. “Dann....dann nicht...”, antwortete er und vergrub sich wieder in seinen Knien. “Du kannst schon, wenn du willst...” Warum gestattete ich ihm so etwas? Das schien mir in diesem Moment noch unbegreiflich. Schließlich stand er mir eigentlich nur im Weg...warum dann also? Wie zu erwarten freute sich der Kleine riesig und kuschelte er sich an mich. Hoffentlich sieht uns hier keiner, sagte meine eine Seite; was für gebrechliche Finger er doch hat, dachte meine andere. Nachdem wir so eine Weile hier gesessen hatten, hob der Kleine ein weiteres Mal den Kopf. “Du?”, fragte er mit bittendem Blick, “Kann ich nicht für immer bei dir bleiben?” Wie bitte? Ich kannte ja nicht mal seinen Namen und er fragte, ob er für immer bei mir bleiben konnte?! So allmählich schien es mir zu dämmern: Er suchte nur jemanden, den er ausnutzen konnte, da war es wohl egal, wer derjenige war. Er suchte wahrscheinlich Schutz, weil er nicht auf eigenen Beinen stehen konnte...Ich meine - wer will denn schon bei einem Menschen bleiben, den er nur vom Sehen kennt? So einen Menschen brauche ich ja wohl kaum immer bei mir, Probleme hatte ich ja selbst schon zur Genüge. Da kann ich nicht auch noch die Stütze eine geistig labilen Menschen sein. Und noch dazu hatten meine Mutter und ich keinen Platz für noch eine Person in unserem Haushalt. “Tut mir Leid, aber das geht nicht. Ich kann dich unmöglich bei mir Zuhause unterkommen lassen geschweige denn immer bei dir bleiben.” Da schob er sich rasch zur Seite. “Wenn du mir nicht helfen kannst, dann lass mich in Frieden!!”, rief er mir gereizt entgegen und stand auf, um schnellen Schritts zu entschwinden. “So ein - “, grummelte ich. Nein, er hatte also nicht wirklich Gefühle für mich, sondern war nur hinter einem Dackel her, an den er sich heften konnte, wie ein Kloak! Mit einem leichten sticheln im Herz spuckte ich auf den Boden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)