24h von Imogen ================================================================================ Kapitel 1: 24 Stunden --------------------- General Abel war dafür bekannt, niemals irgendeine Art von Emotionen zu zeigen. Schon als Rekrut war er verschlossen und undurchschaubar gewesen, Eigenschaften, die er über die Jahre hinweg perfektioniert hatte, und inzwischen war er ein vorbildlicher, verschwiegener Offizier geworden, die blonden Haare im militärischen Bürstenschnitt, breitschultrig, durchtrainiert und mit einem stechenden Blick, der fast jeden in die Knie zwang, ohne etwas von sich selbst preiszugeben. Hinter seinem Rücken nannte man ihn den Eisberg, ein Spitzname, der in vielerlei Hinsicht wie die Faust aufs Auge passte. Es war eben diese Fähigkeit, seine Gefühle völlig zu unterdrücken, die ihn in seine jetzige Position im Geheimdienst gebracht hatten. Umso Furcht einflößender und Ehrfurcht gebietender wirkte sein jetziger Wutanfall auf die leitenden Forscher des „Projekt Genesis“. „Wie konnte das passieren?!“, brüllte der General. „Wofür bezahlt dieses Land Sie Versager eigentlich? Ist Ihnen überhaupt klar, was passiert, wenn die Öffentlichkeit davon erfährt?! Ganz zu schweigen davon, dass wir den Prototypen verloren haben – wie wollen Sie das bitte wieder in Ordnung bringen?!“ „Hören Sie, wir konnten unmöglich damit rechnen, dass er der Sache auf die Spur kommt!“, versuchte Professor Fischer sich zu verteidigen – ein nicht gerade leichtes Vorhaben, wenn man bedachte, dass er mitten in der Nacht durch den Alarm aus dem Tiefschlaf gerissen worden war und immer noch etwas unter Schock stand. „Wir waren nicht auf sein Eindringen vorbereitet…“ „Mir ist egal, worauf sie vorbereitet waren!“, fuhr Abel ihn an. „Tatsache ist, dass wir unseren Prototypen verloren haben wegen Ihrer Unfähigkeit! Das ist eine Katastrophe! Eine Katastrophe!“ Bei den letzten Worten hämmerte er beide Fäuste auf den Konferenztisch, an dem die Wissenschaftler saßen, bevor er auf den Bildschirm sah, der das Labor zeigte – oder besser dessen Überreste. Ein Spurensicherungsteam war gerade damit beschäftigt, das Chaos irgendwie einzudämmen. Besonders auffällig waren von ihrem Blickwinkel aus fünf ehemals fast zwei Meter hohe Glaszylinder, aus denen Teile des vorderen Glases herausgeschlagen waren. In jedem von ihnen lag eine Leiche. „Das ist das Ende von Genesis! Verdammt, das könnte das Ende für alles bedeuten, wofür wir je gearbeitet haben! Das… Was wird das, wenn es fertig ist, Evans?!“ Die letzten Worte waren an den Leiter des „Projekt Genesis“ gerichtet, Professor Adam Evans, der soeben aufgestanden war. Er war eine recht gepflegte Erscheinung Mitte vierzig, mit kurzen, dunklen Haaren, der für fast jeden ein freundliches Lächeln übrig hatte – ein für viele Menschen gruseliger Anblick, denn Evans’ Blick war dabei kaum von dem Abels zu unterscheiden. Über Evans sprach niemand hinter seinem Rücken. Während Abel sämtliche Gefühle normalerweise unterdrückte, dachten die meisten, die Evans kannten, dass er keine besaß. „Die Lage könnte schlimmer sein.“, sagte Evans ungerührt. „Die Klone sind tot – was soll’s? In den Kühlkammern haben wir noch genug Material, um neue zu erschaffen. Außer uns und Ihren Leuten da draußen weiß keiner, was hier passiert ist. Ich sehe nicht Ihr Problem.“ „Mein Problem? Mein Problem ist, dass Ihr Prototyp irgendwo da draußen rumläuft und wir keine Ahnung haben, wo!“, schrie Abel. „Bitte, Alexander, beruhigen Sie sich doch – oder reden Sie zumindest in einer normalen Lautstärke. Sie zerstören Ihren Ruf und unsere Trommelfelle.“, erwiderte Evans pikiert. Es war nur seinem Genie zu verdanken, dass er nicht schon vor langer Zeit entlassen worden war. „Während Sie einen Aufstand gemacht haben, habe ich bereits die nötigen Schritte eingelenkt.“ „Nötige Schritte? Was soll das heißen?“, fragte Fischer verwirrt. Evans seufzte theatralisch. „Wissen Sie, Alexander, in einem Punkt muss ich Ihnen zustimmen – ich weiß wirklich nicht, wofür diese Leute bezahlt werden.“ „Für Sie immer noch General Abel. Und jetzt spucken Sie endlich aus, von was für Schritten Sie reden!“ „Wie Sie wünschen. Der Prototyp wurde von uns mit mehreren Implantaten versehen. Eines davon kann als Peilsender verwendet werden. Ein anderes… nun, ein anderes könnte man als Notfallplan bezeichnen.“, erklärte Evans. „Es wird eine Weile dauern, bis wir ihn aufspüren können, aber der Notfallplan wird verhindern, dass irgendwelche Geheimnisse den Weg an die Öffentlichkeit finden.“ „Wie lange wird es dauern, bis Sie ihn aufspüren können?“, fragte Abel wohl in dem Versuch, sich wirklich etwas zu beruhigen. „Bis wir ihn aufspüren? Das hängt davon ab, wie schnell die Computer wieder funktionstüchtig sind, die er bei seinem Eindringen zerstört hat.“, antwortete Evans Schulter zuckend. „Das kann noch Tage dauern!“, protestierte Abel. „Jajaja, ich weiß. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Alexander. Der Notfallplan wird die Sache bis dahin längst für uns geregelt haben.“ Evans sah auf seine Digital-Uhr. „Morgen, 02:23 Uhr, um genau zu sein.“ Er blickte wieder auf, und Abel spürte wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, als ihm klar wurde, dass er vielleicht zum ersten Mal ein ehrliches Lächeln von Evans sah. Es war voller Bosheit. Ein weiteres Mal fluchte Kain. Seit dem Beginn dieser Fahrt hatte er schon so oft geflucht, dass ihm inzwischen die Verwünschungen ausgegangen waren, was ihn jedoch nicht davon abhielt, weiterzumachen. Lichter kamen ihm entgegen – ein anderes, vermutlich. Die Scheinwerfer wurden mehrmals kurz heller, als sie sich näherten. Kain blickte starr nach rechts, orientierte sich an den Begrenzungspfeilern, bis der Wagen vorbei war. Er fuhr gerade durch einen Wald. Kurz überlegte er, was für Bäume das waren, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Straße vor sich richtete. Das Zittern in seinen Händen wurde wieder stärker, als er die rechte vom Lenkrad nahm, um den Gang zu wechseln. Es war kühl – vermutlich eine Nachwirkung des Adrenalins, genau wie das verdammte Zittern. Es war auch in seinen Beinen. Er fragte sich, wie lange er wohl noch weiterfahren konnte. Allerdings hatte er ja kaum eine Wahl. Erst als er die rechte Hand wieder zurück ans Lenkrad legte, bemerkte er, wie klebrig es war. Natürlich, von dem Blut an seinen Händen. Warum hatte er es nicht abgewaschen? War es wichtig? Was tat er hier überhaupt? Kain hätte nicht sagen können, wie lange er bereits in dem gestohlenen Mercedes über die Landstraßen fuhr. Es hätten Tage sein können, wäre es nicht immer noch finstere Nacht. Inzwischen hatte er völlig die Orientierung verloren, er wusste weder, wo er war, noch was sein Ziel war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was er tun wollte – und er versuchte krampfhaft nicht daran zu denken, was er getan hatte. Alles, was er wusste, war, dass er weiter Gas geben musste, dass er weg musste… alles andere war inzwischen egal. Zum Glück war die Straße wenig befahren. Langsam schlichen sich die Ereignisse der Nacht wieder in sein Bewusstsein, und er verdankte es vermutlich nur seiner ungewöhnlichen Konzentrationsfähigkeit, dass er immer noch weiterfuhr. Ungewöhnlich… unmenschlich traf es besser. Wie lange war das schon her? Zum ersten Mal blickte er bewusst auf die Uhrzeit. 03:04 Er rechnete kurz. Kurz nach Mitternacht war er in die Anlage eingedrungen, das wusste er noch. Wie lange er gebraucht hatte, um das Labor zu erreichen? Vielleicht… vielleicht eine halbe Stunde? Nein, eher vierzig Minuten… Aber wie lange er dort gewesen war… wie lange er tatsächlich vor den Tanks gestanden hatte, wie lange er die Aufzeichnungen durchgelesen hatte, wie lange er tatsächlich versucht hatte, diese… all das zu verstehen, bevor diese Wissenschaftlerin das Labor betreten und die Katastrophe begonnen hatte? Er wusste es wirklich nicht. Schade, dass nicht Evans herein gekommen war… sein „Lebensretter“… Kain begann zu lachen. Eigentlich war es doch sehr amüsant – bestimmt war es das, auf irgendeine kranke, abartige Weise. Vielleicht sollte er irgendwann zurückkehren, um sich bei Evans dafür zu bedanken… Oder vielleicht sollte er fliehen, und all das weit hinter sich lassen. „Aber ich kann es nicht hinter mir lassen… es steckt in mir.“, sagte er laut, bevor ihm klar wurde, dass es keiner hören konnte. Begann er jetzt schon mit Selbstgesprächen? Und wen kümmerte es? Er war bereits ein Mörder, da würde etwas Wahnsinn vielleicht noch hilfreich sein. Ob ein Richter wohl mildernde Umstände geben würde? „Als ob sie mich vor einen Richter bringen würden. Vermutlich werden sie mich gleich töten.“, widersprach er sich selbst laut. Schon wieder! Diese Selbstgespräche sollte er wirklich langsam in den Griff bekommen… Er schüttelte den Kopf, als ob es ihm helfen könnte, diese Gedanken los zu werden, und trat weiter aufs Gas. Ein Warnschild stand neben der Straße. Kain sah nicht, wovor es warnte. Alles, was er sah, war die rote Farbe. Verdammt… Es war noch nicht einmal blutrot. Die Farbe sah völlig anders aus – warum sah er jetzt wieder alles vor sich? Die namenlose Wissenschaftlerin – zumindest für ihn war sie das – die mit weit aufgerissenen Augen und gebrochenem Genick auf dem Boden lag… Die mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllten Tanks, in jedem ein Jugendlicher oder junger Mann, die scheinbar leblos darin schwebten… Seinesgleichen… Den ersten zersplitterten Tank… das Glas hatte Kain die Haut aufgerissen… sein eigenes Blut, das sich mit der auslaufenden Flüssigkeit vermischte… die Schläuche, die in den Körper des… des Klons führten… und wie er sie herausriss, was dazu führte, dass auch das Blut des Klons der Mischung hinzugefügt wurde… Die anderen vier… die gleiche Prozedur. Nein, nicht die gleiche. Diesmal hatte Kain einen Stuhl benutzt. Der gleiche, mit dem er danach auf die Computer eingeschlagen hatte. Sinnlos, nur die Monitore waren zersprungen. Aber es war ihm egal gewesen, wie viel Zeit es kostete. Es musste zerstört werden – vollständig! Alarmsirenen… alles in rotem Licht… Weg hier! Wenigstens verstand er jetzt, warum er im Dunkeln so gut sehen konnte. Wenigstens verstand er jetzt, was diese Male in seinem Nacken bedeuteten. Keine Narben eines Unfalls, der nie stattgefunden hatte, eine Markierung. Er war der Erste… Eine Gestalt tauchte vor ihm auf. Mit übermenschlichen… nein, unmenschlichen Reflexen legte er eine Vollbremsung hin, aber es war zu spät. Ein heftiger Aufprall erfolgte, als das Tier getroffen wurde. Kain schloss die Augen, während das Auto endlich – viel zu spät – zum Stehen kam. Er atmete tief durch, bevor er sie wieder öffnete. Es lag auf seiner Kühlerhaube… vermutlich ein Reh. Ein Glück, dass es kein Hirsch war… Noch mehr Blut… als hätte er in dieser Nacht nicht schon genug gesehen. Warum hatte er es herausfinden müssen? Und nur, weil er versucht hatte, mehr über den „brillanten Chirurgen Evans“ zu erfahren, der ihm angeblich das Leben gerettet hatte… Es brachte nichts, weiter darüber nachzudenken. Im Moment gab es dringendere Angelegenheiten, die er regeln musste. Kain verließ den Mercedes und betrachtete das Reh. Er konnte auf keinen Fall irgendwelche Behörden informieren, aber er konnte auch nicht mehr mit diesem Auto weiterfahren. Die Motorhaube war eingebeult, und voller Blut. Aber vielleicht war das auch nicht so schlimm. Der Mercedes würde vermutlich bald als gestohlen gemeldet werden. Ohne Auto war er unauffälliger und außerdem war er jetzt weit genug von dem… Labor entfernt… „Also gut, dann schlage ich mich so durch.“, beschloss Kain. Erst mal würde er der Straße folgen – allerdings im Wald und mit sicherer Entfernung. Früher oder später würde jemand das Auto bemerken, und er hatte nicht vor, von der anrückenden Polizei entdeckt zu werden… „Ihr werdet mich ganz bestimmt nicht kriegen…“, murmelte er. „Und warum führe ich andauernd Selbstgespräche?“ Mit einem Schrei fuhr Johan aus dem Schlaf. Schon wieder dieser Traum… Eigentlich sollte es ihn nicht überraschen. In den Wochen nach Angelas Tod hatte er ihn fast jede Nacht gehabt. Jetzt, schon vier Monate nach dem schrecklichen Unfall, wurde er nur noch gelegentlich davon aus dem Schlaf gerissen, aber es hatte nichts von seinem Schrecken verloren. Es war schlimm genug, an den Tod seiner Frau zu denken – aber der Gedanke, auch noch seine Tochter zu verlieren… Lächerlich! Es war schließlich nur ein Traum! Lilith ging es gut – sie lag gerade friedlich schlafend in ihrem Zimmer, und hatte bestimmt angenehmere Träume als er selbst. Trotzdem war er irgendwie… besorgt. Er hatte ein mulmiges Gefühl, so sehr er es auch abzuschütteln versuchte. Nun, es konnte nicht schaden, einfach mal nach ihr zu sehen, oder? Seufzend schaltete Johan die Nachttischlampe an und setzte seine Brille auf. Er war einfach überbesorgt. Was sollte schon passiert sein? Ein Lächeln breitete sich auf seinem zerfurchten Gesicht aus, während er das Bett verließ und seine Pantoffeln anzog. Es war wirklich lächerlich. Hoffentlich würde er Lilith nicht aufwecken… So leise es ging öffnete er die Tür zu ihrem Zimmer und spähte hinein. Natürlich konnte er kaum etwas sehen, es war viel zu dunkel. Nur die Leuchtziffern ihres Weckers waren zu erkennen, die in hellem grün 03:55 verkündeten. Immer noch lächelnd ging er langsam zu ihrem Bett, nachdem er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Das Kissen war unberührt, die Decke war ordentlich zusammengelegt. Keine Spur von Lilith. Das durfte nicht wahr sein… Sie durfte nicht… sie konnte nicht… Dann erinnerte er sich wieder an ihren Streit. Er war immer noch besorgt, er hatte immer noch Angst – aber langsam mischte sich Wut zu diesen Gefühlen. Er hatte das Gefühl, dass er ganz genau wusste, wo er sie finden konnte… Endlich hatte der Wald ein Ende. Dennoch empfand Kain nicht nur Erleichterung. Wenigstens war er zwischen den Bäumen nicht zu sehen gewesen. Andererseits, es war immer noch mitten in der Nacht. Wenn er Glück hatte, würde er vielleicht noch vor Anbruch des Tages in eine Stadt kommen, und dann… Ja, was dann? Er hielt kurz inne und betrachtete die Landschaft. Noch waren nirgends Lichter zu sehen, aber es war eigentlich unwichtig. Was sollte er jetzt tun? Wurde er bereits gesucht? Damit konnte er fast sicher rechnen. Irgendwann würden sie ihn finden… sollte er das Land verlassen? Als ob das so einfach wäre… Erstmal in die nächste Stadt. Dann würde er entscheiden, was er tun sollte. „Irgendwas muss ich doch tun können.“ Inzwischen fielen ihm diese Selbstgespräche kaum noch auf. Im Moment empfand er es als viel störender, dass er im Dunkeln doch nicht so gut sehen konnte, wie er erwartet hatte – oder wie er es gewohnt war. Er spürte bereits leichte Anflüge von Müdigkeit. „Es war ein langer Tag.“, gab er selbst als Entschuldigung an. „Ich kann nicht glauben, dass es nur ein Tag war… Es kommt mir vor wie aus einem anderen Leben.“ Er schüttelte den Kopf. „Was mache ich überhaupt noch hier?“, fragte er sich selbst, bevor er anfing zu laufen. „Na, schon müde?“ Lilith wusste nicht einmal, wer ihrer Freunde die Frage gestellt hatte. Es war auch unwichtig, da sie sowieso nur mit lautem Lachen antwortete. Das NiteLife war schon lange nicht mehr voll – kein Vergleich dazu, wie es hier vor nur zwei Stunden ausgesehen hatte – und die wenigen, die noch übrig waren, waren inzwischen zu müde zum Tanzen. Lilith selbst war irgendwo zwischen müde und aufgedreht, und sie liebte es. „Hätte nicht gedacht, dass unsere Heiligkeit so abgeht.“, bemerkte Michael. „Heiligkeit? Ich?“, fragte Lilith, immer noch lachend. „Mein Vater vielleicht – ich bin keine Priesterin!“ „Ich dachte nur bei den Katholiken heißt das Priester…“, begann Nadja. „Na und? Wen interessiert das? Ich frag mich, wann die Musik endlich weitergeht…“ Dabei drehte Lilith sich etwas zu einem Rhythmus in ihrem Kopf und summte etwas. „Äh… Lily, die hat vor einer halben Stunde aufgehört. Ernsthaft, ich glaube, der letzte Drink war zu viel.“ „Und? Mir doch egal!“, erwiderte die Blondine und begann wieder zu lachen. „Ich habe irgendwie das Gefühl, dem nicht…“ Bevor sie fragen konnte, wer gemeint war, lag bereits eine Hand auf ihrer Schulter und eine ihr nur allzu bekannte Stimme sagte: „Lilith – was tust du hier?“ Sie rollte mit den Augen. „Sieht so aus, als wäre die Party vorbei.“, meinte sie bedauernd, bevor sie sich zu ihrem Vater umdrehte. „Endlich bin ich das Blut los…“, murmelte Kain, während er den Fluss hinter sich ließ. Das kühle Wasser war eine Wohltat gewesen. Er ging jetzt viel gemächlicher. Seine Ausdauer war eigentlich beträchtlich, aber inzwischen konnte er nicht mehr. „Ich erwarte zu viel… nach dem, was ich allein heute Nach durchgemacht habe, ist es ein Wunder, dass ich noch nicht zusammen gebrochen bin oder den Verstand verloren habe.“, analysierte er die Situation. Vielleicht sollte er es wirklich etwas langsamer angehen lassen? “Langsamer? Es geht um mein Leben, verdammt!“, rief er wütend. Von sich selbst überrascht blieb er stehen. Er musste ruhig bleiben. Aber… „Ich bin müde.“, stellte er fest. „Müdigkeit sorgt für irrationales Verhalten. Ich brauche Schlaf. An einem sicheren Ort. Und vor allem darf ich nicht gefunden werden.“ Er atmete tief durch, dann nickte er und setzte seinen Weg mit neuer Energie fort. Noch während er sich der Straße näherte, hörte er, dass ein Auto in der Nähe war. Wie weit es wohl entfernt war? Wenn man bedachte, dass alle seine Sinne unmenschlich scharf waren, vermutlich noch ziemlich weit. Er würde die Straße vorher überquert haben… „Praktisch, wirklich praktisch. Ich bin Ihnen ja so unglaublich dankbar, Evans, sie gottverdammter Bastard.“, fluchte er, als er den Asphalt betrat – und stockte, als er von Scheinwerferlicht erfasst wurde. Er verschwendete einige kostbare Augenblicke damit, ungläubig das Auto anzustarren, bevor er endlich reagierte. Verzweifelt warf er sich zur Seite, er hörte ein kreischendes Geräusch, als der Fahrer verzweifelt bremste – bevor er wieder den Asphalt spürte, auf dem er sich sicher abrollte. Wieder verschwendete er seine Zeit, als er liegen blieb um zu Atem zu kommen. „Ich lebe noch…“, flüsterte er ungläubig. „Ich… lebe.“ „Was hast du dir dabei gedacht, Lilith?“, fragte Johan streng, als sie im Auto auf dem Weg nach Hause waren. „Ich hatte nur etwas Spaß.“, erwiderte Lilith, die schmollend auf dem Beifahrersitz saß. „Kann dir doch egal sein!“ „Ich bin dein Vater, es kann mir nicht egal sein, und das ist es auch nicht. Warum hast du das gemacht? Ich habe dir doch verboten, in diese Disco zu gehen. Warum hast du nicht gehorcht?“ Er versuchte, verständnisvoll zu klingen, hatte aber seine Schwierigkeiten damit. „Du verbietest doch alles! Immer! Kannst du nicht einsehen, dass ich mein eigenes Leben führe?“, fuhr Lilith ihren Vater an. „Das ist doch lächerlich. Natürlich darfst du dein eigenes Leben führen, aber ich bin immer noch dein Vater. Und es gibt einfach Regeln, an die du dich halten musst.“, versuchte Johan es noch einmal. „Die Regeln? Du meinst, alles, was du sagst! Du lässt doch gar nicht mit dir reden – du verbietest einfach alles und hörst mir nicht einmal zu! Ich wette, als du vierzehn warst, hast du auch nie auf deine Eltern gehört!“, warf sie ihm vor. „Das ist absolut lächerlich. Wenn ich so mit meinen Eltern geredet hätte, hätten sie mich längst übers Knie gelegt!“, protestierte Johan. „Und? Mama hätte mich verstanden!“, stieß Lilith aus. Es war ein schmutziger Zug, aber sie wusste, dass er treffen würde. Und sie behielt Recht, als ihr Vater sich blitzartig zu ihr umwandte. „Hausarrest.“, sagte er nach kurzem Zögern in einer unnatürlich ruhigen Stimme. „Und denk darüber nach, was du da gerade gesagt-“ „Pass auf, Dad!“, schrie Lilith plötzlich und deute auf die Straße vor ihnen. Johan trat auf die Bremse noch bevor er den Blick wieder auf die Straße gerichtet hatte. Er sah gerade noch eine menschliche Gestalt, bevor er die Augen in Erwartung des Aufpralls schloss – der nicht erfolgte. Er spürte, wie der Sicherheitsgurt ihn brutal zurückhielt, als der Wagen abrupt zum Stehen kam. Erst dann öffnete er die Augen. Eine Tür wurde zugeschlagen, und er bemerkte, dass seine Tochter das Auto verlassen hatte. Bevor er selbst ausstieg, um zu sehen, was genau passiert war, blickte er einer Eingebung folgend auf die Uhr. 04:47 „Alles in Ordnung?“ Damit hätte er rechnen müssen. Warum war er nicht gleich weiter gerannt, anstatt sinnloserweise festzustellen, dass er tatsächlich noch lebte? „Sind Sie verletzt?“ Kain blickte auf in das Gesicht eines hellhaarigen Mädchens, das ihn besorgt ansah. „Etwas jung für den Führerschein.“, merkte er an. „Ich bin nicht gefahren!“, protestierte sie, dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist völlig unwichtig. Sind Sie verletzt? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ „Es geht mir…“ Er schaffte es einfach nicht, das Wort „gut“ auszusprechen. „Ich bin nicht verletzt.“, antwortete er endlich. „Keine Sorge. Alles in Ordnung. Ihr könnt weiterfahren.“ Gerade, als er aufstand, bemerkte er, dass dem Mädchen jemand aus dem Auto gefolgt war – vermutlich der Fahrer des Wagens. Kain schwankte leicht und schloss daraufhin die Augen. „Sind Sie verletzt?“, fragte der Fahrer ängstlich. „Ich habe ein Déjà-vu.“, murmelte Kain und blickte dem Mann direkt ins Gesicht. „Nein, ich bin nicht verletzt. Sie können gerne weiterfahren.“ „Ist wirklich alles in Ordnung? Vielleicht sollten wir Sie in ein Krankenhaus…“ „Nein! Kein Krankenhaus!“, schnitt Kain dem Mädchen das Wort ab. „Auf keinen Fall!“ Das Schwanken hatte sich kaum gebessert… „Ist ja gut, ist ja gut.“, sagte sie und schüttelte entnervt den Kopf. „Wollte ja nur behilflich sein.“ Wenn sie ihn in ein Krankenhaus bringen würden… „…dann würden sie mich finden.“ „Wer würde Sie finden?“, fragte das Mädchen interessiert. „Sicher, dass alles in Ordnung ist?“, wollte der Fahrer sich vergewissern. Das Schuldbewusstsein stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Ich bin nicht verletzt.“, wiederholte Kain. „Ich will nur… weiter. Fahren Sie schon!“ „Ich kann sie nicht einfach hier zurücklassen.“, beharrte der Fahrer. „Kann ich Sie wenigstens irgendwohin mitnehmen?“ Natürlich, wenn er wüsste, wohin er eigentlich wollte. Oder wo zur Hölle er eigentlich war… „Vielleicht… vielleicht kann ich mich bei ihnen ausruhen…“ Zum Glück fiel ihnen nicht auf, dass diese Worte an Kain selbst gerichtet waren. „Das… das ist eine seltsame Bitte.“, sagte der Fahrer offensichtlich überrascht. „Du bist doch derjenige, der immer erzählt, dass die Tür eines Priesters immer offen sein muss.“, erwiderte das Mädchen bissig. „Die Tür der Kirche, Lilith.“, verbesserte der Mann sie. „Aber…“ „Wir haben ein Gästezimmer. Und du hast ihn fast über den Haufen gefahren – solltest du da nicht wenigstens irgendwas tun?“, fragte das Mädchen. Sie klang immer noch aggressiv. Der Fahrer sah kurz zwischen ihr und Kain hin und her und sah schließlich nach unten. Natürlich würde er nicht zustimmen. Niemand, der nur halbwegs vernünftig war, würde zustimmen. Trotzdem hoffte Kain, dass er wenigstens bald zu einer Entscheidung kommen würde – er hatte wirklich genug Zeit verschwendet, und er hatte keine Ahnung, wie weit es bis zur nächsten Stadt war… „Zur nächsten Stadt.“ „Was meinen Sie?“ In der Stimme des Fahrers war Hoffnung zu hören. Vermutlich sah er eine Möglichkeit, sich leicht aus der Affäre zu ziehen, und Kain konnte es ihm nicht verübeln. „Bringen Sie mich zur nächsten Stadt.“, sagte Kain mit fester Stimme. „Natürlich, das ist überhaupt kein Problem. Steigen Sie ein, es ist nicht weit.“, antwortete der Fahrer sofort. Ein Lächeln schlich sich auf Kains Gesicht. Das Ganze könnte schlimmer sein. „Alles in Ordnung?“ Warum sagte dieses Mädchen andauernd… „…alles in Ordnung?“, murmelte Kain, bevor er nach vorne umfiel. Halb amüsiert beobachtete Lilith, wie ihr Vater den Fremden in das Gästezimmer trug und dort auf dem Bett ablegte. „Ich dachte, du wolltest ihn nicht mit nach Hause nehmen.“, bemerkte sie spöttisch. „Es ist die einzige Möglichkeit.“, erwiderte ihr Vater ohne auf ihren Tonfall einzugehen. „Aus irgendeinem Grund will er auf keinen Fall in ein Krankenhaus. Ich denke, er ist nur erschöpft. Er kann sich hier ausruhen, und wenn er wieder aufwacht, kann er seiner Wege gehen.“ „Wie du meinst – ich habe nichts dagegen.“, meinte Lilith Schulter zuckend. Während ihr Vater die Schuhe des Fremden auszog, ging sie selbst in ihr Zimmer. es war spät und sie war doch nach allem recht müde. Eigentlich, so dachte sie, während sie die Tür hinter sich schloss, war sie noch mal ganz gut davon gekommen. Der Unfall – oder besser Beinahe-Unfall – hatte dafür gesorgt, dass ihr Vater vorerst mit anderen Dingen als ihrem Ungehorsam beschäftigt war. Wenn sie sich jetzt noch am Morgen gut um den Fremden kümmern würde, würde ihr Vater die Angelegenheit vielleicht sogar vergessen – oder ihr wenigstens keine Beachtung mehr schenken. Außerdem fand sie das Ganze irgendwie aufregend – auch wenn ihr selbst nicht ganz klar war, warum. Wer war dieser Fremde wohl? Was hatte er mitten in der Nacht auf der Straße zu suchen gehabt? Und warum war er in Ohnmacht gefallen? Er sah gut aus… Lilith kicherte. Auf jeden Fall würde das Wochenende nicht langweilig werden. Und morgen würde sie Antworten auf all diese Fragen erhalten. Obwohl… sie blickte auf die Uhr und grinste. 05:37 Vermutlich doch eher heute. Aber erstmal würde sie schlafen. Evans’ Augen lösten sich keine Sekunde vom Monitor, während er mit Maus und Tastatur beschäftigt war. „Gleich habe ich dich.“, murmelte er. Nur noch ein wenig… Er näherte sich unbemerkt dem Wachposten, das Schwert bereithaltend… fast da… „Evans, was tun Sie da?“ Ohne Abel auch nur im Geringsten zu beachten, führte Evans den Angriff durch und schlug mehrfach auf die Wache ein, bis diese zu Boden sank. Mit einer Tastenkombination speicherte er das Spiel, bevor er sich zu dem General umwandte. „Ja, Alexander? Kann ich irgendetwas für Sie tun?“ „Was ist das?“, fragte Abel. „Das, mein guter Freund, ist ein Computer. Und das, worauf sie mit ihrem Finger zeigen, nennt man im allgemeinen Sprachgebrauch einen Monitor. Ist das alles?“, erwiderte Evans. „Ich kann nicht glauben, dass sie in Ihrer Dienstzeit Computerspiele spielen.“, sagte Abel. Er wirkte inzwischen deutlich gefasster, allerdings auch etwas müde. „Deus Ex ist nicht irgendein Spiel, Abel, das ist meine Inspiration.“, verbesserte Evans ihn. „Auch Sie verdanken ihm eine ganze Menge.“ „Inwiefern verdanke ich diesem Spiel irgendwas?“, fragte Abel, nun doch etwas neugierig. „Ohne es wäre ich nicht hier.“, erklärte Evans. „Man schlüpft in die Rolle eines… nennen wir es mal Super-Agenten, dessen Spezial-Gebiet Anti-Terror-Einsätze sind. Ein kybernetisch verbesserter Agent, wenn sie verstehen.“ „Ich verstehe genug, aber ich bin nicht hier, um mit Ihnen über Ihre Freizeit zu diskutieren.“, sagte Abel. „Seit unserer… Besprechung habe ich versucht, herauszufinden, wie der Prototyp der Sache auf die Spur gekommen ist. Und dabei habe ich eine interessante Entdeckung gemacht.“ Evans gähnte. „Und die wäre?“ „Dass Sie sich schon mal nach einem neuen Job umsehen sollten – und erheben Sie besser erst gar keine Ansprüche, die würden nur enttäuscht werden.“, antwortete Abel. „Was soll das schon wieder heißen, Alexander?“, fragte Evans leicht verärgert. „Ganz einfach.“, erwiderte Abel. „Sie selbst haben den Anstoß zu seinem Misstrauen gegeben. Seine Geschichte war perfekt – Amnesie nach einem schweren Unfall, ein unbeschriebenes Blatt, der uns alles abkauft, auch, dass er einer unserer besten Agenten war. Aber nein, Sie mussten sich natürlich unbedingt in den Mittelpunkt stellen – mussten unbedingt als sein Lebensretter auftreten.“ „Ich habe ihn nur einmal getroffen, nachdem wir ihn aus dem Tank geholt haben!“, protestierte Evans. „Ich habe ihn erschaffen! Es ist nur angemessen, wenn er weiß, dass er mir alles zu verdanken hat!“ „Nur zu dumm, dass er danach versucht hat, mehr über seinen Lebensretter, den brillanten Chirurgen Evans, herauszufinden – nur um festzustellen, dass Sie überhaupt kein Chirurg sind sondern Experte für Genetik!“ Abel beobachtete den Professor mit Interesse. „Was haben Sie dazu zu sagen?“ Und tatsächlich war Evans ausnahmsweise sprachlos. „Wir haben es Ihrer Arroganz zu verdanken, dass er uns auf die Schliche gekommen ist, Evans. Wenn wir ihn nicht rechtzeitig finden, werden Sie als erstes fallen.“ „Das würde Ihnen so passen, Alexander.“, sagte Evans mit vor Bosheit triefender Stimme. „Aber keine Sorge, es dauert nicht mehr lange, bis sich all unsere Probleme mit dem Prototypen auflösen.“ Kain merkte sofort, dass er in einer fremden Umgebung war, als er aufwachte. Wo war er? Und vor allem… was war passiert? Er merkte, dass er voll bekleidet in einem Bett in einem hellen Zimmer lag. Die Sonne war schon aufgegangen, aber er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Er setzte sich auf und sah sich – erfolglos – nach einer Uhr um. Ein Blick auf sein Handgelenk erinnerte ihn daran, dass seine eigene stehen geblieben war, als er die Tanks zerstört hatte. Die Tanks… In ihnen die Klone… Genetisch manipulierte Klone… War manipuliert überhaupt das richtige Wort? Nicht wirklich… sie waren ja extra dafür geschaffen worden… „Evans.“ Diese Klone waren jünger gewesen als er selbst… Sie waren noch nicht fertig… noch nicht ausgewachsen… Und dank ihm würden sie das auch niemals. Genetisch… verbesserte Menschen. „Viel besser. Wirklich, viel besser.“ Bestens geeignet für die anspruchsvollsten Missionen. Lebt wohl, Menschenrechte, war nett euch gekannt zu haben. Oder nein, bleibt da, das sind ja Klone – Klone mit genetischen und kybernetischen „Verbesserungen“ – für die zählt das bestimmt nicht. Amnesie… er hatte ihnen tatsächlich geglaubt, dass er an Amnesie litt und die letzten 24 Jahre vergessen hatte. Wie sollte er Erinnerungen vergessen, die nie existiert hatten? „Wie naiv…“ Aber wie hätte er auch etwas so Ungeheuerliches erwarten können? „Professor Adam Evans, Genetiker.“ Der Chirurg, der ihm angeblich das Leben gerettet hatte. Kain spürte Schmerzen in seinen Fäusten. Erst als er hinsah, erkannte er, dass sie von seinen eigenen Fingernägeln kamen, die sich in die Handfläche bohrten. Er musste sich darauf konzentrieren, die Hand wieder zu strecken. „Ich muss hier weg.“ „Ihnen auch einen guten Morgen.“, antwortete eine weibliche Stimme. Verwirrt blickte Kain auf und sah ein junges Mädchen in der Tür stehen. „Wer…“ „Wird aber auch langsam Zeit, dass sie aufwachen – wissen Sie überhaupt, wie spät es schon ist?“, fragte das Mädchen und schlenderte zu ihm. „Ich weiß nicht mal, wo ich hier bin.“, erwiderte Kain. Jetzt erinnerte er sich an das Mädchen. Natürlich, er wäre fast von ihnen überfahren worden. „Ich bin Lily.“, stellte sie sich vor. „Naja, eigentlich Lilith, aber… wie heißen Sie?“ „Kain.“, antwortete er automatisch. „Ungewöhnlicher Name. Warten Sie, ich bringe Ihnen Frühstück. Wobei Frühstück es natürlich nicht trifft. Eher Nachmittags-Snack.“, plapperte sie los. „Wie spät ist es?“, fragte Kain. „Schon kurz vor fünf – Sie haben wirklich ziemlich lange geschlafen. Würde wirklich gerne wissen, was Sie so erschöpft hat… Wie auch immer, ich bin gleich wieder da, mit Frühstück.“ Mit diesen Worten verließ das blonde Mädchen auch schon wieder das Zimmer und Kain konnte ihr nur leicht perplex hinterher sehen. „Fünf Uhr… Ich kann nicht glauben, dass ich so lange geschlafen habe…“, murmelte er. Wieder sank er auf das Bett zurück und schloss die Augen. „Da bin ich wieder!“ Mit fröhlicher und Energie geladener Stimme kündete das Mädchen Lilith seine Rückkehr an. „He, Kain, Sie schlafen doch nicht schon wieder, oder?“ Er setzte sich schnell auf. „Natürlich nicht.“ Seltsam… „Warum ist mir schwindelig?“, fragte er, während er sich auf der Matratze mit einem Arm abstützte. „Keine Ahnung, aber sie haben wirklich ewig geschlafen.“, antwortete Lilith sofort, während sie ein Tablett auf seinen Beinen abstellte. „Gehen Sie’s langsam an, okay?“ Er betrachtete, was sie ihm da gebracht hatte. Zwei Scheiben Toast, eine Tasse Kaffee, Salami und Käse. „Danke.“, sagte er nur, bevor er zu essen begann. „Kein Problem.“ Irgendwie war er nicht überrascht, dass ihre Reaktion ein weiterer Redeschwall war. „Sie müssen ja ziemlich erschöpft gewesen sein. Was ist nur passiert? Natürlich, Sie müssen es mir nicht sagen, aber… Egal, wo kommen Sie eigentlich her? Und was machen Sie hier in der Gegend?“ Sie unterbrach sich plötzlich und schlug sich mit der Handfläche gegen die Stirn. „Entschuldigung, ich sollte nicht so unhöflich sein – jetzt lasse ich Sie nicht einmal in Ruhe essen… Ignorieren Sie mich einfach.“ „Als ob das so einfach wäre…“ Eigentlich hatte er das nicht aussprechen wollen. Zu seinem Glück schien das Mädchen nicht beleidigt, sondern grinste ihn nur an. Seltsam… sowohl das Essen als auch der Kaffee schmeckten irgendwie sehr… fade. Er hatte Mühe, überhaupt etwas zu schmecken. Je mehr er darüber nachdachte… „Alle meine Sinne – sie lassen alle nach!“ „Äh… was?“, fragte Lilith verwirrt. „Entschuldigung, aber… wovon reden Sie da?“ „Meine Sinne!“, wiederholte Kain, ohne darauf zu achten, dass das Mädchen es sowieso nicht verstehen würde. „Erst waren sie viel zu gut – aber seit ich weiß, was dahinter steckt, sind sie immer schlechter geworden. Deswegen habe ich nicht gemerkt, dass das Auto schon so nahe ist, und deswegen kann ich kaum etwas schmecken. Und… und… warum passiert das?!“ Jetzt starrte Lilith ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Ungläubigkeit an. „Was… Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht – Kain?“, fragte sie. „Nein!“, fuhr er sie an, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. „Nein… entschuldige… Ich bin im Moment nur etwas… durcheinander.“ „Merkt man.“, kommentierte Lilith trocken. „Aber… was ist überhaupt los mit Ihnen? Sie sind irgendwie… merkwürdig.“ Kain lachte. „Ich weiß. Du verstehst gar nicht, wie merkwürdig. Ich entdecke immer mehr Merkwürdigkeiten über mich.“ „Zum Beispiel?“ Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und sah ihn neugierig an. Kain schüttelte den Kopf. „Du würdest es mir nicht glauben, wenn ich es dir erzähle.“ „Stellen Sie mich auf die Probe.“, erwiderte das Mädchen wie aus der Pistole geschossen. Statt einer Antwort lachte er nur – bis er plötzlich ernst wurde. „Das ist vielleicht das Einzige, was ich tun kann.“, sagte er. „Mich auf die Probe stellen?“, fragte Lilith. „Nein, es zu erzählen. Es allen erzählen – dann können sie nichts mehr tun! Dann bringt es ihnen auch nichts mehr, mich zu töten!“ Er selbst war begeistert von der Idee, das Mädchen runzelte nur die Stirn. „Wovon reden Sie überhaupt?“, fragte sie. „Hol deinen Vater. Ich werde euch alles erzählen.“, wies Kain sie an. „Äh… aber… ja!“ Sie sprang auf. „Ich hole ihn gleich.“ Sie war schon fast an der Tür, als sie sich wieder umdrehte und zurückkam. „Haben Sie fertig gegessen?“ Kain schmunzelte. „Ja, das habe ich.“ „Gut! Dann bringe ich das Tablett gleich runter.“ Sie nahm es ihm ab und ging wieder. „Und wie öffnet sie die Tür?“, fragte Kain sich. „Ähm… gute Frage.“, stimmte Lilith zu. Er lachte leise auf, bevor er aufstand um ihr zu helfen. Schon wieder dieses Schwindelgefühl… Sein Körper fühlte sich so schwer an… „Jetzt reiß dich mal zusammen!“, wies er sich selbst an. „Führen Sie oft Selbstgespräche?“, fragte das Mädchen, während er langsam auf sie zukam. „Erst seit heute.“, antwortete Kain. Der Weg kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Verdammt, warum musste er sich so auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren? Endlich hatte er das Mädchen erreicht und öffnete die Tür für sie. „Vielleicht sollten Sie sich wieder hinlegen – dann können Sie uns die Geschichte auch hier erzählen.“, schlug Lilith vor. „Nein, es geht schon.“, widersprach Kain. „Keine Sorge. Aber… aber sag deinem Vater, ich will, dass es aufgenommen wird… auf Video. Geht das?“ „Kein Problem, wir haben eine Digital-Kamera.“, antwortete Lilith. „Und danach… muss ich noch jemanden anrufen.“, fuhr Kain fort. Langsam entstand ein Plan. „Sag mal… gibt es so was wie Greenpeace für Menschen?“ „Äh…“ Sie betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn, als hätte er den Verstand verloren. „Naja… Amnesty International vielleicht?“ „Ah, richtig. Dann muss ich zu Amnesty International.“ Verwirrt zuckte Lilith die Schultern. „Wie Sie meinen. Ich hole Sie dann, wenn mein Vater so weit ist.“ „Ich weiß zwar immer noch nicht, was das soll – aber von mir aus.“ Mit diesen Worten schaltete Johan die Kamera ein und die Aufzeichnung begann. 17:54 „Mein Name ist Kain.“, begann der wieder im Bett liegende Mann. Trotz aller Anstrengung hatte er es nicht geschafft, den Raum zu verlassen. Jedes Mal hatten seine Beine irgendwann nachgegeben, bis Lilith einfach beschlossen hatte, das Ganze wirklich in das Gästezimmer zu verlegen. „Ich entschuldige mich jetzt schon mal, wenn mein Bericht irgendwie wirr klingen sollte. Ich werde einen Großteil meiner Gedanken einfach so aussprechen, das mag etwas verwirrend klingen… Was tue ich hier eigentlich? Da! Genau das meinte ich. Wie auch immer, ich muss diese Geschichte loswerden, denn langsam habe ich das Gefühl, dass ich den Verstand verliere.“ Lilith war fast enttäuscht, während er fortfuhr. Sie hatte sich darauf gefreut, seine Geschichte zu hören – aber jetzt erzählte er sie eher der Kamera als ihr. Diese leichte Verärgerung verschwand jedoch, als Kain weiter sprach. „Wie schon gesagt, mein Name ist Kain. Ich habe keine Eltern – jedenfalls nicht so weit ich weiß. Vor etwa einem Jahr bin ich ohne Gedächtnis aufgewacht. Mir wurde erzählt, dass ich einen schweren Autounfall hatte. Dass ich nicht eine einzige Erinnerung an mein Leben hatte, wurde auf eine schwere Amnesie geschoben. Seltsamerweise hatte ich keine Verletzungen. Man sagte, die seien geheilt, während ich im Koma lag. Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich dumm genug war, darauf reinzufallen. Ich meine… das ist so ein billiger Trick. Vielleicht wollte ich es glauben? Abel… Dieser gottverdammte Mistkerl-“ „Mäßigen Sie sich!“, unterbrach Johan, was ihm wütende Blicke von sowohl Kain als auch Lilith einbrachte. „Ich werde… ich kann…“ Kain schüttelte den Kopf. „Von mir aus, ich werde mich bemühen. Von Abel erfuhr ich, dass ich ein Mitglied des Geheimdienstes war – vor meinem Unfall. Sogar einer ihrer besten Agenten. Ich habe es geglaubt. War vermutlich das Einfachste. Vielleicht wollte ich das ja auch glauben. Vielleicht wollte ich einfach nicht mehr darüber wissen. Ich wette, es wäre viel einfacher, wenn ich jetzt immer noch keine Ahnung hätte. Ich habe alles ignoriert, ich habe das Training angefangen, um wieder im Geheimdienst anfangen zu können. Eigentlich genial – der Geheimdienst war das perfekte Argument um keine Fragen zu stellen. Wer ist meine Familie? Warum habe ich so einen seltsamen Namen? Ich bin Geheim-Agent, irgendwie wird das schon alles erklären.“ Wütend schlug er eine Faust auf die Matratze und wunderte sich, dass er kaum etwas spürte. „Ich war ein Naturtalent. Das war, wofür ich geboren wurde. Traurigerweise ist das die komplette Wahrheit. Nur bei dem geboren bin ich mir noch nicht so sicher. Ich habe alle Prüfungen bestanden und wurde in den aktiven Dienst zurück beordert. Totaler Schwachsinn, da ich ja vorher noch nie im aktiven Dienst gewesen bin! Aber gut, eins nach dem anderen. Nach ein paar Aufträgen – verdammt, ich war gut! Nach ein paar Aufträgen traf ich dann auf Evans. Adam Evans. Professor und ein gottverdammter Bastard – Entschuldigung, aber es entspricht einfach der Wahrheit.“, wandte er sich kurz an Johan, bevor er fortfuhr. „Evans, der sich unbedingt als mein Lebensretter aufspielen musste. Ein Chirurg, dessen überlegenen Fähigkeiten es zu verdanken ist, dass ich diesen Unfall überlebt habe.“ Kain schloss kurz die Augen. Hatten seine Hände wieder begonnen zu zittern? Warum? „Dafür gibt es doch überhaupt keinen Grund!“ Er sah wieder in die Kamera und schüttelte seufzend den Kopf. „Als ob ich die Fähigkeit, etwas nur zu denken verliere…“, murmelte er. „Sollen wir eine Pause machen?“, fragte Johan. „Nein, jetzt kommt der interessante Teil. Habt ihr gut zugehört, was ich erzählt habe? Vergesst alles, nichts davon ist wahr. Es gab keinen Autounfall. Ich habe keine Amnesie, ich habe einfach bis vor einem Jahr keine Erinnerungen gemacht. Ich bin Teil eines Experimentes. Was weiß ich, wie ich entstanden bin. Meine Gene wurden von Wissenschaftlern zusammengestellt, danach haben sie aus diesem Material mehrere Klone erstellt. Ich bin nur der Älteste von ihnen. Der Prototyp. Sehen Sie mich nicht so entsetzt an! Was kann ich denn dafür?!“ Er warf Johan einen Hass erfüllten Blick zu, bevor er den Blick wieder abwandte. „Es tut mir Leid… ich… ich weiß nicht. Bringen wir es hinter uns. Adam Evans ist der Leiter eines Projektes namens Genesis. Ich denke, es geht darum, Elite-Soldaten oder Elite-Agenten oder irgendetwas in dieser Art zu erstellen. Genetisch perfekt, mit einigen Verbesserungen. Implantate und Ähnliches. Ich weiß nicht einmal, was diese Implantate bewirken… vermutlich die schärferen Sinne… Ja, das wird es sein. Aber warum verliere ich sie dann? Was ist los mit mir? Ich meine… alles lässt nach. Meine Sinne werden immer schwächer… Ich bin mir sicher, dass es gar nicht so dunkel hier drin ist, wie es aussieht… Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich fürchte, wenn ich das nicht schnell jemandem mitteile, dann… dann ist es zu spät. Verdammt!“ Kain vergrub sein Gesicht in den Händen. „Schalten Sie es ab… ich habe genug gesagt.“, flüsterte er. Eine Weile lang wagte keiner die Stille zu brechen. Schließlich war es Lilith, die das Wort ergriff. „Wow…“, sagte sie ehrfürchtig. „Das ist… das ist… einfach wow!“ „Das ist ziemlich unglaublich.“, gab Johan zu bedenken. „Was Sie da behaupten… das ist… das ist ungeheuerlich.“ „Ich bin ein Ungeheuer, daher passt es doch auch.“, erwiderte Kain. „Wenn ich nur wüsste, was mit mir geschieht…“ „Vielleicht sollten wir Sie wirklich in ein Krankenhaus bringen… dort kann man ihnen bestimmt helfen.“, schlug Johan vor, der sich deutlich unwohl fühlte. „Vielleicht… vielleicht reicht auch eine Klapsmühle… und vielleicht sollte ich endlich wieder lernen den Mund zu halten.“ Kain seufzte. „Wie auch immer, schicken Sie dieses Video an Amnesty International. Schicken Sie dieses Video… an die Presse, ans Fernsehen, an die Regierung… Veröffentlichen Sie es im Internet, aber verbreiten Sie es. Verbreiten Sie es, so schnell und so weit Sie können.“ „Warum das?“, fragte Johan unsicher. Kain begann zu lachen. Es war ein beunruhigendes Lachen, das den Eindruck erweckte, dass er den Verstand verloren hatte. „Sie wissen es… Sie wissen meine Geschichte. Und wenn die herausfinden, dass Sie es wissen… dann sind Sie in Gefahr. Aber wenn es sowieso schon alle wissen – dann bringt es denen nichts mehr, Ihnen etwas zu tun. Dann ist es sinnlos. Dann haben die genug eigene Probleme.“ Er wurde wieder ernster und blickte Johan in die Augen. „Sie haben keine Wahl mehr, das ist vielleicht Ihre einzige Chance.“ „Sie haben uns reingelegt!“, rief Lilith. Kain zuckte mit den Schultern. „Ich bin Agent, Mädchen. Ich lebe davon, andere reinzulegen, wie du es nennst. Und es ist auch ein Teil meiner Lebensversicherung. Hast du einen Computer? Oder ein Laptop?“ „Ein Laptop.“, antwortete Lilith. „Bring es hierher, um das Video ins Internet zu bringen.“, wies Kain sie an. „Ich habe Sie in dieses Haus gebracht… Wenn ich gewusst hätte, dass Sie uns erpressen…“, begann Johan. „Ich höre Ihnen nicht zu, alter Mann. Geh, Lily. Geh und hol dein Laptop. Und dann verändern wir die Welt.“ Kain zwinkerte dem Mädchen zu. „Lilith, du bleibst hier!“, rief Johan. Lilith sah zwischen den beiden hin und her, dann zuckte sie mit den Schultern und ging. Die Welt verändern… wer könnte da schon widerstehen? „Sie haben also etwas herausgefunden über diesen Notfallplan, über den sich ihr geschätzter Kollege Evans so ausschweigt?“, fragte Abel, als er das Büro des Wissenschaftlers betrat. „Ja, Sir.“, antwortete Fischer, der nervös zu dem General blickte. Wie Evans saß auch er vor einem Computer, doch im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten war er nicht mit einem Spiel beschäftigt. „Es hat mich einiges an Mühe gekostet, aber ich habe es schließlich herausgefunden.“ „Dann spucken Sie es endlich aus.“, forderte Abel ihn auf. „Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“ „Nun, es lässt sich eigentlich recht einfach erklären, Sir. Kennen Sie das Spiel ‚Deus Ex’?“, fragte Fischer. „Werden Sie fürs Spielen bezahlt? Nein, ich kenne es nicht. Ist das nicht der Unsinn, mit dem Evans seine Zeit verschwendet?“, erwiderte Abel gereizt. „N-natürlich nicht. Ich meine… ja, ja, er spielt es. Sehr oft. Wissen Sie, ursprünglich wollte er den Prototyp sogar JC nennen, und…“, stotterte Fischer. „Strapazieren Sie nicht meine Geduld. Dieses Spiel interessiert mich nicht, ich kenne niemanden namens JC, und ich wäre Ihnen sehr dankbar wenn Sie endlich zum Punkt kommen würden.“, sagte Abel mit schneidender Stimme. „Jawohl, Sir!“, rief Fischer sofort aus. „Es ist so, unter den Implantaten befindet sich auch eine Art… Killswitch.“ „Killswitch? Ein Tötungsschalter? Was soll das bitte sein?“, fragte Abel, obwohl er bereits eine Ahnung hatte, was er gleich zu hören bekommen würde. „Ein Killswitch… Wenn er aktiviert wird, beginnt er den Körper des Subjektes langsam zu zerstören. Wir wissen noch nicht, wie weit diese Zerstörung geht, allerdings tritt nach Evans’ Theorie nach 24 Stunden der Tod ein.“, erklärte Fischer. „24 Stunden? Gibt es eine Möglichkeit, das aufzuhalten?“ Fischer schüttelte den Kopf. „Ich kenne keine. Ich verstehe selbst nicht genau, wie der Killswitch funktioniert. Wenn es eine Möglichkeit gibt, dann weiß nur Evans davon.“ „Ich werde mich sofort mit ihm in Verbindung setzen. Kümmern Sie sich in der Zwischenzeit darum, den Peilsender aufzuspüren.“ Abel hielt inne, als er überlegte. „Er hat es gesagt… Evans hat uns gesagt, bis wann… Erinnern Sie sich?“ Fischer schüttelte den Kopf. „Ich… ich habe nicht darauf geachtet. Vermutlich irgendwann innerhalb der nächsten Nacht.“ „Wir werden höchstens seine Leiche zurückbekommen.“, prophezeite Abel, bevor er das Büro verließ. Johan sah schweigend zu, wie Lilith sich schließlich zurücklehnte. „Fertig – denke ich.“, verkündete sie strahlend. „Ich habe es an alle Adressen geschickt, die mir eingefallen sind. Fernsehsender, Zeitungen, verschiedene Video-Seiten, überall Links gepostet… Ich weiß nicht, ob ich noch viel mehr Aufsehen darum erregen kann, aber ich denke, es wird etwas Wirbel verursachen.“ „Natürlich haben Sie keine Beweise.“, stellte Johan nüchtern fest. „Deswegen bringen wir ihn doch in ein Krankenhaus.“, erwiderte Lilith. „Dort wird schon irgendwer die Implantate entdecken, und dann wird das Ganze öffentlich.“ Sie grinste. „So verändert man also die Welt?“ „So stellt man einen Staat auf den Kopf.“, stimmte Kain ihr mit leicht schleppender Stimme zu. „Ich bin zu müde um ins Krankenhaus zu fahren.“ „Sie fahren auch nicht, Kain. Mein Vater fährt – stimmt’s, Dad?“, fragte Lilith. „Nur um Sie loszuwerden, Kain – nur, um sie loszuwerden. Je früher, desto besser.“, stellte Johan klar. „Ich würde mich auch loswerden wollen, wenn ich Sie wäre.“, erwiderte dieser. „Aber ich bin so müde… warum kann ich nicht einfach schlafen?“ „Tja, vielleicht schlafen Sie ja ein und wachen nie wieder auf – soll vorgekommen sein.“, überlegte Lilith laut. „Ich kann kaum noch sehen… und warum habe ich das Gefühl, als ob hinter ihren Worten mehr Wahrheit steckt, als wir beide glauben wollen?“, fragte Kain. „Ein Grund mehr, Sie so schnell wie möglich ins nächste Krankenhaus zu bringen.“, forderte Johan. „Ich bringe Sie runter ins Auto. Es ist eine lange Fahrt, je früher wir das hinter uns bringen, desto besser. Kommen Sie endlich, Kain!“ Mit diesen Worten begann er, dem anderen Mann aus dem Bett zu helfen. „Als ob das so einfach wäre…“, murmelte Kain, während er versuchte, zu laufen. Auch mit Johan als Stütze war es schwierig. Er hatte Probleme, einen Fuß vor den anderen zu setzen… Lilith beobachtete das Trauerspiel eine Weile, bevor sie aufstand um den beiden zu helfen. Die Fahrt ins Krankenhaus würde lang werden? Allein der Weg ins Auto würde schon eine Ewigkeit dauern! Und dabei war es schon fast halb neun! „Killswitch? Warum haben Sie uns nicht davon in Kenntnis gesetzt?“, fragte Abel. „Es war nicht nötig, dass sie davon erfahren, Alexander.“, erwiderte Evans, ohne von dem Monitor aufzublicken. „Ich hielt es für ein praktisches Konzept. Und wie kommen Sie überhaupt auf die lächerliche Idee, dass man das Ganze aufhalten oder gar rückgängig machen könnte? Sehen Sie es ein, eine zerstörte Nervenzelle ist zerstört, und nichts wird sie wieder funktionstüchtig machen. Man sollte meinen, ein so einfaches Prinzip hat man selbst auf Ihrer Schule unterrichtet.“ „Hören Sie mit diesem verdammten Spiel auf!“, fuhr Abel ihn an. „Kümmern Sie sich um das Problem.“ „Es gibt kein Problem – der Killswitch wird es für uns beseitigen. Wir müssen uns nur zurücklehnen, und ihn die Arbeit machen lassen.“, erklärte Evans ungerührt. „Auch wenn der Prototyp tot ist, kann jemand herausfinden, um was es sich bei ihm handelt.“, wandte Abel ein. „Bis es so weit ist, haben wir ihn mit dem Peilsender aufgespürt. Was genau macht Ihnen noch Kummer, Alexander?“, fragte Evans. „General Abel, Sir!“ „Was ist denn?“, fragten beide Männer entnervt, als Fischer ihr Gespräch unterbrach. „General Abel, Sir – es scheint, wir haben etwas über den Prototypen herausgefunden.“, brachte der Wissenschaftler schwer atmend hervor. „Es sind… Videos aufgetaucht, im Internet. Der Prototyp hat alles, was er weiß, gestanden… und aufgenommen, es ist alles im Internet!“ „Was?!“, entfuhr es sowohl Abel als auch Evans. „Völlig unmöglich!“, rief Evans. „Zeigen Sie mir das Video, Fischer!“, orderte Abel. Zögernd näherte sich Fischer dem Computer. Ohne irgendeine Bemerkung beendete Evans sein Spiel und räumte den Platz. Wenig später hörten die drei Männer, wie der Prototyp – Kain – alles preisgab. „Das ist eine Katastrophe.“, stellte Abel mit ruhiger Stimme fest. „Unsinn, das ist eine Verschwörungstheorie wie all die anderen, die täglich entstehen – zumindest ohne Beweise.“, erwiderte Evans, der sich inzwischen wieder gefangen hatte. „Wir müssen ihn einfach so schnell wie möglich finden. Ohne Leiche keine Beweise, ohne Beweise keine Anklage – ganz einfach.“ „Fischer, können Sie herausfinden, woher dieses Video ins Internet geladen wurde?“, fragte Abel. „Wir sind gerade dabei, Sir.“, erwiderte Fischer. „Gut. Sobald Sie es herausgefunden haben, melden Sie es. Wir werden ein Sonderkommando dorthin schicken. Ach ja, und überwachen Sie, ob sich noch irgendwelche anderen Hinweise über seinen Aufenthaltsort finden lassen.“, befahl Abel. „Fahr schneller, Dad!“ „Es gibt so etwas wie Geschwindigkeitsbegrenzungen, Lilith.“, antwortete Johan gereizt. „Vergiss die Geschwindigkeitsbegrenzungen!“, fuhr seine Tochter ihn an. „Es geht ihm nicht gut – es geht ihm wirklich nicht gut!“ Lilith saß zusammen mit Kain, der inzwischen andauernd fast unverständliche Dinge murmelte, auf der Rückbank. Sie sah, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten und seine Hände immer stärker zitterten. Von Zeit zu Zeit konnte sie etwas von dem, was er da redete verstehen. Es machte ihr Angst. Johan warf kurz einen Blick nach hinten. Auch er machte sich Sorgen, aber es war bereits dunkel, und mit einem Unfall war niemandem geholfen. Trotzdem beschleunigte er. „…dürfen mich nicht kriegen… wo bin ich… alles schwarz… wo… wohin…“ Lilith schloss die Augen, aber das wirre Gemurmel wurde sie davon nicht los. Sie war sich ganz sicher, dass sie irgendwann mal Alpträume davon haben würde… Aber was konnte sie schon dagegen tun? „Wie lange dauert es denn noch?“, rief sie verzweifelt. „Wir sind fast da. Zwanzig Minuten, höchstens.“, antwortete ihr Vater. „Das hast du schon vor einer halben Stunde gesagt!“, schrie Lilith. „Ich kann keine Staus vorhersehen!“, protestierte der. „Sei still, Lilith, und lass mich fahren!“ Ängstlich sah Lilith auf ihre Uhr. 21:47 „Fahr schneller.“, flüsterte sie. „Lilith Andersen, vierzehn Jahre alt. Mutter verstorben, Vater ein Pfarrer namens Johan Andersen. Sämtliche Daten sind gespeichert.“, verkündete Fischer. „Es wurde bereits ein Team zu ihrem Haus geschickt.“ „Gute Arbeit – endlich einmal.“, lobte Abel. „Pah, als ob das so schwer gewesen wäre.“, meinte Evans, vermutlich verärgert darüber, nicht im Mittelpunkt zu stehen. „Der Prototyp dürfte inzwischen unfähig sein, irgendeine Form von Widerstand zu leisten. Ihre Leute werden leichtes Spiel haben.“ „Vielen Dank für diese erleuchtende allerdings völlig irrelevante Information, Evans.“, sagte Abel. „Ich schlage vor, dass sie jetzt-“ „Sir? Da kommt gerade eine neue Meldung rein.“, unterbrach Fischer ihn, der immer noch am Computer saß. „Die da wären?“, fragte Abel. „Andersens Auto, Sir. Es wurde soeben ein Unfall gemeldet, in den es verwickelt wurde. Keine Verletzten – außer einem Mann, der auf die Beschreibung des Prototyps passt.“ Auf Evans Gesicht erschien zum zweiten Mal jenes ehrliche, böse Lächeln. „Das lässt sich wunderbar mit einem Wort beschreiben – Schach.“ Nach allem, was an diesem Tag geschehen war, konnte man es Lilith nicht verübeln, dass sie mit den Nerven am Ende war. Johan musste sogar zugeben, dass er fast froh darüber war. Nicht, weil er seine Tochter gerne weinen sah, sondern weil es viel zu lange her war, dass sie sich einfach in seine Arme geworfen hatte. Er verstand immer noch nicht, wie er überhaupt in diese Sache herein geraten war. Aber mit etwas Glück war das Ganze nun endlich beendet. Gut, er würde sich für den Unfall verantworten müssen, aber die Tatsache, dass er Kain ins Krankenhaus bringen wollte, würde vermutlich mildernde Umstände erwirken. Außerdem war niemand verletzt worden – er dankte dem Herrn dafür. „Was wird jetzt aus Kain?“, fragte Lilith schluchzend. „Er wird so gut es geht medizinisch versorgt.“, erklärte einer der Polizisten. „Er ist bereits auf dem Weg ins Krankenhaus.“ „Können wir mit?“, wollte Lilith wissen. „Und werden die auch nach den Implantaten suchen? Sie müssen die Implantate suchen!“ „Implantate?“, wiederholte der Polizist und sah das Mädchen verwirrt an. Johan schüttelte unauffällig den Kopf. Fragen Sie nicht, wollte er ausdrücken. Und glücklicherweise schien der Polizist den Hinweis zu verstehen. „Keine Sorge, man wird sich um alles kümmern.“, versicherte er noch einmal. „Wir müssen Ihnen allerdings noch einige Fragen stellen. Kain spürte nichts mehr. Der einzige seiner Sinne, der noch irgendwie zu funktionieren schien, war sein Gehör. Er hatte die Sirenen gehört, undeutliche Stimmen, die über ihm gesprochen hatte, ohne dass er ein Wort verstehen konnte, und nach einer Ewigkeit den Klang eines Helikopters. Wo war er? Was… was geschah? Natürlich kam es ihm ewig vor – er hatte keine Möglichkeit mehr, das Verstreichen der Zeit zu messen… oder zu bemerken… Die Rotoren verstummten, und wieder hörte er wirre Stimmen. Wohin würde man ihn jetzt bringen? Warum…? Dann – ein einziger Satz. Jedes einzelne Wort wurde laut und überdeutlich ausgesprochen. Er erkannte die Stimme und er wusste, dass er verloren hatte. „Willkommen zu Hause, Kain.“ Adam Evans beobachtete das letzte Zusammenzucken im Gesicht des Prototyps. Die Lebenszeichen hörten nicht auf. Vermutlich war gerade der letzte Funken Bewusstsein erloschen, oder etwas Ähnliches. Es war fast ärgerlich, wie lange es gedauert hatte, bis das örtliche Krankenhaus ihn überstellt hatte. Er hätte schon viel früher hier sein sollen… Evans blickte auf seine Uhr. 00:25 Der Unfall war bereits vor über zwei Stunden gewesen… die Narren im Krankenhaus hatten tatsächlich versucht, den Prototypen zu stabilisieren, bevor sie ihm den Flug zumuteten. Als ob es irgendeinen Unterschied machte. In knapp zwei Stunden würde der Tod eintreten, und niemand konnte etwas dagegen tun. „Du hast mir eine Menge Arbeit gemacht…“, sagte Evans mit seinem üblichen Lächeln. „Deinetwegen hätte ich beinahe ziemlich viel Ärger bekommen. Aber ich bin bereit dir zu vergeben – da du sowieso bald sterben wirst.“ „Manchmal frage ich mich wirklich, warum irgendjemand sich mit Ihnen abgibt, Evans.“ General Abel hatte die Krankenstation betreten und stand nun hinter Evans. „Das ist er also… der Prototyp.“ Evans nickte. „Unser Meisterstück. Nur wird er nicht mehr lange unter den Lebenden weilen, und seine Nachfolger hat er ja leider umgebracht. Bis die anderen Klone so weit sind… es wird Jahre dauern.“ Er seufzte. „Ich frage mich, ob ich das noch miterlebe.“ „Ich wäre froh, wenn ich so etwas nie wieder erleben müsste.“, entgegnete Abel. „Fangen Sie bloß nicht an, zu jammern, Alexander.“, sagte Evans verächtlich. „Dann werden Sie nicht sentimental – Adam.“, antwortete Abel. Schweigen kehrte ein. „Wie lange wird er noch leben?“, fragte Abel. „Haben Sie nicht zugehört? 02:23 Uhr.“, antwortete Evans. „Wie?“ Nun sah Evans ihn verwirrt an. „Was, wie? Wie ich den Killswitch aktiviert habe? Wie er den Prototypen zersetzt? Wie er funktioniert? Vergessen Sie es, Alexander, das übersteigt Ihren Intellekt bei weitem.“, meinte er herablassend. „Wie auch immer.“, sagte Abel deutlich kühler. „Wir haben jedenfalls eine größere Katastrophe verhindern können.“ „Man könnte meinen, das wäre etwas.“, erwiderte Evans. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, Alexander – aber ich brauche jetzt einen Kaffee.“ In ungewohnter Eintracht verließen die beiden Männer die Krankenstation, um den Automaten in der Kantine aufzusuchen. Keiner von ihnen bemerkte, wie Fischer unauffällig den Raum betrat. Um 02:15 betraten auch Abel und Evans als die letzten wichtigen Beteiligten von Genesis die Krankenstation. Auf einem Monitor wurden die Vitalfunktionen des Prototyps angezeigt. Sie waren bereits sehr schwach, eigentlich kaum noch vorhanden. „Ich denke, dies ist ein geschichtsträchtiger Moment für unser Projekt.“, verkündete Evans. „Wir alle haben hart gearbeitet, um es so weit zu bringen. Der heutige Tag – oder genauer gesagt der gestrige Tag und die heutigen Morgenstunden – stellen den bisher größten Rückschlag für uns dar. Auf den ersten Blick scheint alles zerstört. Die Klone tot, der Prototyp… in wenigen Minuten ebenfalls. Aber lassen Sie sich dadurch nicht entmutigen. Der wichtigste Teil ist getan – die Erkenntnisse wurden gewonnen. Wir haben genug Material, um von vorne anzufangen, und aus den Fehlern der gerade erlebten Tragödie zu lernen. Genesis wird weiter existieren – und ich freue mich darauf, weiter mit Ihnen allen zusammenzuarbeiten.“ „Hört, hört.“, sagte Fischer. „Ich hätte nicht erwartet, dass Sie gleich eine Ansprache halten, Adam.“, bemerkte Abel. „Und sicher nicht, dass Sie das tatsächlich schaffen, ohne sich selbst in den Himmel zu loben.“ „Meine Verdienste dürften jedem der Anwesenden bekannt sein.“, erwiderte Evans. „Da bedarf es gar keiner Aufzählung.“ Einige der Forscher lachten verhalten. Fischer senkte den Blick zu Boden. Genesis würde weiterhin existieren – als Buch der Bibel, aber nicht als dieses Forschungsprojekt. Er hatte die letzten fast zwei Stunden gut genutzt. Kain würde nicht als Verschwörungstheorie abgetan werden – nicht nachdem Fischer sämtliche Daten gesammelt und an verschiedene Pressestellen und Laboratorien verschickt hatte. Es würde Beweise geben, und einige Köpfe würden dafür rollen – bildlich gesprochen. Vor allem aber die Köpfe dieser beiden, die den Tod des Prototypen als Grund zum Feiern sahen. Das Lächeln auf Fischers Lippen war nicht boshaft wie das von Evans. Es war ein verstecktes, triumphierendes Lächeln, das keinem auffiel. Wie auch, wenn alle anderen zu sehr von den immer weiter abnehmenden Vital-Funktionen des Prototypen fasziniert waren? Endlich, nur noch ein lang gezogener Piepton. „Es ist vorbei.“, stellte Fischer fest, doch keiner erkannte die doppelte Bedeutung. „02:23 – wie Sie es vorher gesagt haben.“, sagte Abel. „Natürlich, haben Sie irgendetwas anderes erwartet?“, erwiderte Evans. Die Erleichterung im Raum war spürbar. Fischer wandte sich ab. Das Lachen würde ihnen noch früh genug vergehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)