Seeräuber von Terrormopf (Das Mädchen und die Piraten) ================================================================================ Kapitel 1: Winter ----------------- Hallo^^ Das ist zwar nicht die erste FF, die ich hier hochlade, aber die erste, die ich je geschrieben habe... mit 13 habe ich angefangen und mit 16 habe ich sie fertig gestellt. Dementsprechend verändert sich natürlich auch der Stil während der Geschichte (ins Positive ^^;) Dennoch habe ich natürlich die Kapitel überarbeitet, sonst wären die ersten paar nicht zumutbar xD Dazu muss ich auch noch sagen, dass ich ein paar Dinge des damaligen Lebens (18. Jahrhundert) übernommen habe, aber häufig mehr in der heutigen Zeit schrieb, das liegt daran, dass ich früher zu faul zum Recherchieren war; dass sich das geändert hat merkt man im Verlauf der Geschichte. Claimer: Mir gehören alle Personen und die meisten Orte (bis auf New Providence und die Insel Rum Cay (die ganzen Namen gab es wirklich; also Mamana, etc.), Cartagena und Puerto Bello) Außerdem entspringt die Geschichte meinem kranken Hirn uû Ich hoffe, ihr habt Spaß beim Lesen, auch wenn die Kapitel extrem lang sind ^^; Es wehte ein frischer Wind in die Segel, die Sonne schien, das Meer war ruhig. Ganz im Gegensatz zur vorausgegangenen Nacht. Es hatte gestürmt und geregnet und die Wellen hatten sich zu wahren Bergen aufgetürmt. Doch jetzt war es friedlich, es war, als erholte sich die See von den nächtlichen Strapazen. Nur ein kleines Schiff störte den Frieden, am höchsten Mast wehte eine kleine schwarze Flagge, darauf ein Totenkopf umrandet von drei Schwertern. Auf dem Schiff war es so ruhig wie das Meer um es herum. Die Männer lagen faul an Deck herum. Nur eine Person arbeitete. Ein Mädchen. „Ai, Sir!“, rief sie, als der Kapitän ihr befahl das Deck zu schrubben. „Und, Kim, vergiss diesen Fleck hier nicht!“ Der Kapitän spuckte auf den Boden und lachte. Kim schäumte vor Wut und begann nun den Boden zu schrubben. Sie war erst ein paar Wochen an Bord und heute war ihr 14. Geburtstag, aber keinen interessierte das. Was sollte man von Piraten auch anderes erwarten? Sie seufzte, ließ sich aber sonst nichts anmerken. Während sie eifrig schrubbte, überlegte Kim was wohl später aus ihr werden sollte. Wahrscheinlich würde sie ihr ganzes Leben lang Schiffsmädchen bleiben. Der Gedanke daran machte sie traurig. Das Mädchen legte eine kleine Pause ein, um sich etwas auszuruhen. Das Deck zu schrubben war schwerer als sie dachte. Endlich, nach einem endlos scheinenden Tag, hatte sie das Deck fertig und ging mit den anderen zum Abendessen. Es schmeckte nicht gerade umwerfend, aber Kim hatte sich daran gewöhnt. Die Piraten aßen auch nicht wirklich ansehnlich, ganz im Gegensatz zu Kim. Sie kam aus einer vornehmen Familie, dort hatte sie gelernt manierlich zu essen. Zwar brauchte sie fast doppelt so lange zum Essen wie die anderen, aber dafür konnte man ihr beim Essen zusehen und darauf war sie stolz. Als alle, einschließlich Kim, mit dem Essen fertig waren, räusperte sich der Kapitän und ergriff das Wort: „Also, ihr werdet wissen, was heute für ein Tag ist,…“ Kim dachte schon, dass er ihren Geburtstag meinte und sah auf. „Heute ist unser Jubiläum! Deshalb haben unsere Köche sich die Ehre nicht nehmen lassen und haben einen Kuchen gebacken!“ Als Kim das hörte, war sie sehr enttäuscht. Hatte sie sich doch für einen kurzen Moment der Illusion hingegeben, man hätte an sie gedacht. Die Köche kamen herein und zeigten jedem die Torte. Kim starrte, die Finger in die Oberschenkel gekrallt, zu Boden, aber als sie hörte, wie die Piraten das Lachen anfingen, konnte sie nicht widerstehen und sah die Torte doch an und ein Grinsen stahl sich auf ihre Lippen. Auf der vermeintlichen „Jubiläumstorte“, stand groß und breit ihr Name, Kim! Und ehe sie sich versah, standen auch schon zwei Piraten namens Garret und Terry neben ihr und hievten ihren Stuhl genau 14 Mal hoch. Der Kapitän musste schreien, um den Lärm, den die Piraten machten zu übertönen und so rief er schließlich: „Alles Gute zum Geburtstag, Kim!“ Da rief auch schon ein anderer Pirat: „Da haben wir dich ja schön an der Nase herumgeführt!“ „Was ist los, Kim?“, meldete sich der Kapitän wieder zu Wort, „Du sagst ja gar nichts!“ „Ich,… ich bin sprachlos!“, stotterte Kim. Sie konnte es nicht fassen. „Woher wisst Ihr das?“ „ Nun ja, ich habe da so meine Quellen.“, antwortete der Kapitän und schmunzelte. Sie feierten lange, Kim hatte schon aufgehört die Stunden zu zählen. Und als sie dachte, es könne nicht mehr schöner werden, kramte der Kapitän eine kleine Schatulle aus seiner Manteltasche und gab sie Kim. Rasch öffnete sie sie. Als sie sah, was sich darin befand, dachte sie, sie würde träumen. In der kleinen Kassette war ein Medaillon. Es war rund, vollkommen aus Gold und darauf war das Relief eines Totenkopfes zu erkennen. Es war schön, wunderschön, aber in dem faden Licht an Deck konnte sie es nicht richtig betrachten, so kletterte sie hinauf ins Krähennest, um es im Licht des Vollmondes besser ansehen zu können. Zu Kims Verwunderung befand sich niemand darin, ihr war das aber nur recht. Die Feier war zwar schön, aber sie war es nicht gewohnt, dass sich so viele Männer gleichzeitig betranken. Ohnehin war alles neu und fremd für Kim. Dennoch wusste sie aber, dass es leichtsinnig war, das Krähennest ohne Posten zu lassen, aber sie verübelte es den Piraten nicht, denn es war gemein, wenn alle feierten und ein oder zwei Mann hier oben nach fremden Schiffen Ausschau halten mussten. Sie sah sich um. Das Meer schien hier viel unendlicher als von der Küste aus. Das Mondlicht fiel auf das Meerwasser und schimmerte dort silbern wieder. Hier oben konnte man ungestört nachdenken. Spaßeshalber spähte sie durch das Fernrohr. Aber sie traute ihren Augen kaum. Was sie dort sah konnte nicht wahr sein. Sie sah eine große, spanische Galeone. Diese kam direkt auf sie zu. Kim legte das Medaillon in die Schatulle zurück, legte das Fernrohr auf seinen Platz und kletterte so schnell sie nur konnte hinab aufs Deck. Sie bahnte sich einen Weg durch die betrunkenen Piraten und fragte immer wieder nach dem Kapitän. Alle beteuerten, er sei in seiner Kajüte. Als Kim sich im Innern des Schiffes befand, rannte sie den Flur entlang, zum Ende, wo sich das Zimmer des Kapitäns befand. Sie riss die Tür auf und stürmte in das Zimmer. Der Kapitän war erst 20, doch er führte sich auf, wie ein Piratenkapitän aus Bilderbüchern. Er saß über seinem Schreibtisch gebeugt, hatte den Kopf in die Hände gestützt und schnarchte leise. Kim ging zu ihm hin und betrachtete ihn schweigend. Er sah so anders aus, wie er so dasaß und schlief, ganz und gar entspannt, friedlich. Kim hätte noch stundenlang dastehen und ihm beim Schlafen zusehen können, doch sie wusste, dass es eilte. Also riss das Mädchen sich zusammen und schüttelte ihn sanft, aber so, dass er aufwachte. „ Kapitän, Kapitän! Es kommt eine spanische Galeone direkt auf uns zu!“, rief sie. „Was für eine panische Melone?“, fragte der Kapitän verschlafen. „Eine spanische Galeone!!!“, antwortete Kim entnervt. „Ja? Eine spanische Galeone, sagst du? Na dann! Auf, auf in den Kampf!“, rief der Kapitän, offenbar hoch erfreut. Kim verstand nicht, wie man sich auf das Kämpfen freuen konnte. Sie könnte niemals einem anderen Menschen das Leben nehmen. Aber der Kapitän stand auf, überprüfte noch einmal seine Waffen und ging dann aus seiner Kajüte. Langsam folgte Kim ihm, darauf bedacht um keinen Preis aufzufallen. Nur wenige Minuten später waren alle Piraten schon bis zu den Zähnen bewaffnet und kampfbereit. Es schien, als hätten sie, zumindest an diesem Abend, Alkohol nicht einmal angesehen. Kim wollte sich auch schon einen Säbel schnappen, da fuhr der Kapitän sie an: „Was willst du denn hier? Los, verzieh dich in deine Kajüte, wo es sicher ist! Kleine Mädchen haben in einer Schlacht nichts verloren!“ Dieser Ausdruck ließ sie wütend werden; Kim war kein „kleines Mädchen“ mehr. Sie war jetzt immerhin schon 14 Jahre alt und damit eine Jugendliche. Aber Kim traute sich nicht, dem Kapitän zu widersprechen. Also zog sie sich schmollend in ihre Kajüte zurück. Sie warf sich sauer in ihr Bett und dachte über den Abend nach. Sie versuchte zu schlafen, doch sie glaubte, sie würde nie wieder schlafen, so aufgeregt wie sie war. Doch als sie dann grade eingenickt war, ließen Schreie sie aufschrecken. Sie wollte gerade hoch stürmen und fragen, was denn los sei, da fiel ihr alles wieder ein. Eine Weile blieb sie sitzen und überlegte, was sie tun sollte, dann hielt sie es nicht mehr aus. Sie öffnete leise die Tür und ging auf Zehenspitzen, was eigentlich nicht nötig war, denn die Kampfgeräusche wurden zunehmend lauter, in Richtung Treppe. Kim schlich sich hinauf und beobachtete das Geschehen. Sie sah, dass der Kampf ausgeglichen war. Zwar waren die Spanier in der Überzahl und kämpften zu zweit oder zu dritt gegen einen Piraten, doch die Piraten hielten sich gut. Kim hatte schreckliche Angst, wäre sie doch nur in ihrer Kajüte geblieben. Da! Ein Spanier hatte sie entdeckt. Er ging eiligen Schrittes auf sie zu, packte sie und wollte sie die Treppe hinunter stoßen, da biss Kim ihm mit aller Kraft in den Arm, aber er zuckte nicht einmal mit einer Wimper. Sie versuchte fester zuzubeißen, es fing schon an zu bluten, da warf der Mann sie mit aller Wucht zu Boden. Sie japste nach Luft und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, trat er sie so hart in die Seite, dass sie die Treppe hinunterfiel. Als sie endlich unten auf dem Boden aufschlug, blieb sie einige Sekunden benommen liegen. Dann versuchte sie aufzustehen, schaffte es aber nicht. Kim beschloss noch einen Moment so zu verweilen und es dann noch einmal zu versuchen. Sie hörte, wie die Spanier anfingen zu lachen. Daraus schloss sie, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Kim nahm all ihre Kraft zusammen und stand auf. Alles tat ihr weh, dennoch schleppte sie sich wieder die Treppe hinauf, um zu sehen, was passiert war. Als sie endlich oben ankam, sah sie etwas, dass sie nicht zu träumen gewagt hätte. Vor ihrem Kapitän, der mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden lag, stand einer der Spanier und trat immer wieder auf ihn ein. Das Mädchen konnte sich dieses Übel nicht länger ansehen, zwar mochte sie den Kapitän nicht besonders, aber das ging entschieden zu weit! Sie schnappte sich den Säbel eines toten Spaniers und rannte zum Kapitän. Als sie sich ihm näherte, sah sie, dass er auch blutete, was sie noch rasender machte. Sie hatte früher einmal Fechten gelernt, doch immer mit Übungswaffen. Damals war sie die Beste in ihrer Klasse gewesen, doch hier war das etwas ganz Anderes, allein schon wegen der Tatsache, dass sie hier gegen ausgewachsene Kerle und nicht gegen gleichaltrige Mädchen kämpfen musste, außerdem hatten diese keine hässlichen Tätowierungen gehabt und waren nicht schon jahrelang zur See gefahren. Langsam begann die Sonne aufzugehen. Was jetzt geschah, war äußerst seltsam. Als die Sonne die ersten Spanier mit ihren Strahlen berührte, lösten sie sich einfach so in Luft auf. Als die Sonne alle Spanier, und auch das Schiff, in Luft aufgelöst hatte, sah Kim die Verwunderung auch auf den Gesichtern der Piraten. Ihr fiel wieder der Kapitän ein. Offenbar waren die anderen noch zu sehr mit ihrer Verwunderung beschäftigt, sodass sie es gar nicht bemerkten, dass ihr Kapitän schwer verletzt am Boden lag. Kim eilte zu ihm hin und kniete neben ihm nieder. Ein anderer, alter Pirat kam herbei. „Wird er überleben?“, fragte Kim den Atem anhaltend. Der angesprochene Pirat senkte seinen Blick bedauernd und antwortete wahrheitsgemäß: „Es sieht schlecht aus, wahrscheinlich nicht. Wenn er nicht bald zu einem Arzt kommt, könnte er sterben.“ Er seufzte. Sie war dankbar dafür, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte und da fiel ihr noch etwas ein. Sie rannte in ihre Kajüte, nahm das Medaillon aus dem Kästchen und lief wieder zu dem Alten. Sie zeigte es ihm und fragte: „ Was hat dieses Medaillon zu bedeuten?“ „Woher hast du das?“, fuhr sie der Alte an. Kim antwortete etwas kleinlaut: „Der Kapitän hat es mir gestern Abend geschenkt.“ „Ach so.“, sagte er, nun anscheinend wieder freundlicher gesinnt. „Es bedeutet, dass du jetzt ein offizielles Mitglied unserer Crew bist, ich hoffe nur, er hat dich nicht unterzeichnen lassen. Was hat er sich nur dabei gedacht?“ Kim hörte den letzten Satz nicht mehr. Sie war schon hinauf in das Krähennest geklettert. Oben angekommen, schnappte sie sich das Fernrohr und hoffte am Horizont eine kleine Hafenstadt zu sehen, doch blieb ihr dieser Anblick verwehrt. Es war weit und breit nichts als der blaue Ozean zu sehen. Was wäre, wenn der Kapitän sterben würde? Kim würde sich das nie verzeihen können. Aber warum machte sie sich eigentlich so viele Gedanken darüber, ob der Kapitän starb, oder nicht? Ihr konnte das eigentlich egal sein. Was sie allerdings noch beschäftigte, war die Tatsache, dass die Spanier anscheinend Geister gewesen waren. Wie konnte das sein? Und warum konnte man sie anfassen und töten? Dem Mädchen schossen so viele Fragen durch den Kopf, dass sie schon dachte, er würde platzen. Da rief plötzlich Garret: „ Kim, Kim! Wo bist du?“ „ Hier, ich bin hier oben!“, antwortete sie. „Komm schnell runter! Der Kapitän will mit dir sprechen!“, fuhr er fort. Sie ließ das Fernglas fallen und kletterte eilig hinunter. Anscheinend aber zu hastig, denn sie verlor den Halt und rutschte ab. Wäre Garret nicht unten gestanden und wäre Kim nicht auf ihn gefallen, hätte sie sich ganz bestimmt das Genick gebrochen. Als sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, ging sie zum Kapitän. Die Piraten, die ihr im Weg standen, teilten sich und machten ihr den Weg frei. Als sie beim Captain angekommen war, sah sie, dass er die Augen aufgeschlagen hatte. Sie bückte sich zu ihm hinunter und hörte ihm angestrengt zu. Er keuchte: „Hör mir zu, wenn ich das hier… überlebe, … dann kannst du mich bei meinem Vornamen nennen und dir jeden Job aussuchen, der dir gefällt. Bis jetzt hast du mir das Leben gerettet.“ Als er sah, dass sie schon den Mund aufmachte um etwas zu erwidern, fuhr er fort: „Bitte,… unterbrich mich jetzt nicht. Also, es ist so, du hast die Sonne aufgehen lassen.“ „Liebeserklärungen können wir jetzt gar nicht gebrauchen, also wirklich!“, rief Kim aufgebracht. Die übrigen Piraten, die um sie herum standen fingen alle an zu lachen. Kim verstand das nicht. Erst machte ihr der Kapitän eine Liebeserklärung, als sie sie am wenigsten benötigte und dann lachten die anderen sie auch noch aus! Der Kapitän musste grinsen, als er das verdutzte Gesicht Kims sah. Dann berichtigte er sie: „ Nein, nein, es ist nicht so, wie du glaubst. Schau doch mal auf die Uhr!“ „ Aber ich habe doch gar keine Uhr.“, flüsterte Kim verlegen. „ Aber das macht… doch gar nichts. Jack, die Uhrzeit!“, entgegnete der Kapitän, der das Gesicht vor Schmerz wieder verzog und schwer atmete. Der angesprochene schrak auf. Es war der alte Pirat, mit dem Kim noch vor ein paar Minuten gesprochen hatte. „Jawohl! Es ist jetzt… kurz nach Mitternacht.“, antwortete der Angesprochene verwundert. „Aber,… aber, das kann doch gar nicht sein! Wie soll ich das denn gemacht haben?“ „Ganz einfach, du hast dir gewünscht, das etwas passiert, das uns rettet oder?“ Kim sah ihn erstaunt an. Sie hatte sich tatsächlich gewünscht, dass etwas passierte, das die Piraten retten würde. An ihrem Gesichtsausdruck sah der Kapitän, dass es stimmte. Er schmunzelte, musste aber sogleich fürchterlich husten. Sie wischte ihm mit ihrem Ärmel das Gesicht ab, welches blutverschmiert und schweißnass war. Sie wollte ihn gerade noch etwas fragen, da sah sie, dass er seine Augen geschlossen hatte. Sie streichelte ihm noch einmal durch die Haare und schlich zu der Leiter, die in die Takelage hinaufführte. Sie kletterte hinauf und nahm das Fernrohr, das sie vorhin fallen gelassen hatte. Sie konnte wieder nichts erkennen. So schaute sie hinunter auf Deck und beobachtete, wie sich die Piraten um ihren Kapitän drängten und ihn offenbar über Kim ausfragten. Sie sah, dass es ihm schwer fiel, Rede und Antwort zu stehen, doch sie sah auch, dass er sich bemühte alles so gut wie möglich zu beantworten. Kim wurde rot, wenn sie an das dachte, was eben vorgefallen war. Sie verstand nicht, warum sie sich so um ihn sorgte. Seit Wochen behandelte er sie wie Dreck. Doch sie riss sich zusammen, denn schließlich war sie menschlicher als ihr Kapitän. Das Mädchen schaute wieder auf die See hinaus. Aber wiederum sah sie nichts. Wenn sie nicht bald eine Stadt ereichten, in der es einen qualifizierten Arzt gab, würde der Kapitän letztlich sterben müssen. Kim ließ ihren Blick über das Schiff schweifen und sah, dass alle Leichen der Spanier, oder Geister, verschwunden waren. Von den Piraten war niemand umgekommen. Einige waren zwar leicht verletzt, aber es war niemand so schlimm dran wie der Kapitän. Das Mädchen ließ ihren Blick zum Dritten mal über den Ozean schweifen und endlich! Sie sah eine kleine Hafenstadt am Ende des Horizontes. Sofort rief sie aus Leibeskräften: „Land!“ Die Piraten schraken auf. Sie fingen an durcheinander zu laufen. Es sah lustig aus, wie sie da unten, wie Ameisen, herumwuselten. Sie wollten wohl eine andere Flagge, welche sie bestimmt auf einem ihrer Streifzüge erbeutet hatten, hissen. Das war schlau, denn wenn die Bewohner der Stadt gesehen hätten, dass sie Piraten waren, hätten sie ihnen bestimmt jegliche Hilfe verweigert. Die Stadt kam immer näher und Kim stieg die Leiter hinunter und drängte sich zum Kapitän durch, für den sich nun niemand mehr zu interessieren schien. Sie kniete sich zu ihm hinunter und meinte aufmunternd: „Du musst nicht sterben. Ich habe eine Hafenstadt entdeckt. Ach ja, wie heißt du eigentlich mit Vornamen? Und ich würde gerne in der Kombüse arbeiten!“ „Aha, in der Kombüse also? Kannst du denn überhaupt kochen?“, flüsterte er und lächelte angestrengt. Sie antwortete entrüstet: „Ob ich,… ob ICH kochen kann? Ha! Auf jeden Fall kann ich besser kochen, als die Pfeifen, die bis jetzt in der Kombüse standen. Und du hast mir immer noch nicht…“ Weiter kam sie nicht, denn der Kapitän hatte schon die Augen geschlossen und lag einfach nur da. Voller Panik nahm sie sein Handgelenk, um seinen Puls zu überprüfen. Da, sie spürte ihn. Jetzt sah sie auch, wie er gleichmäßig tief ein- und ausatmete. Beruhigt ließ sie seinen Arm sinken. Dann legte sie sich neben ihn, sah ihn noch einen Moment an und schlief dann ebenfalls ein. Sie wachte in einem ihr fremden Zimmer neben dem Kapitän auf, der senkrecht im Bett saß und auf sie herab sah. Sie hatte den Kopf auf der Matratze liegen, in dem auch der Kapitän saß. Er hatte offenbar noch nicht bemerkt, dass sie aufgewacht war. Sie wollte hier für immer und ewig liegen bleiben, doch es lagen ihr sehr wichtige Fragen auf der Zunge. So richtete sie sich auf und sah dem blassen Kapitän direkt in die Augen. Er musterte sie verdutzt, dann erkundigte sie sich: „Also, du hast überlebt. Jetzt darf ich beim Vornamen nennen und ich darf in der Kombüse kochen, richtig?“ „Ja, ja. Ich heiße Jon und ich hoffe, du kannst wirklich besser kochen, als unsere Köche.“, bejahte er ihre Frage. Dann forschte sie weiter: „Und wo sind wir hier?“ „Wir sind hier in einem Hotelzimmer aus der Stadt, die du entdeckt hast.“, antwortete er brav. Aber das war nicht alles, was Kim wissen wollte: „Also, Jon, warum sind diese ‚Geister’ verschwunden, als die Sonnenstrahlen sie berührten? Denn töten und verletzen konnte man sie ja.“ „ Nun, darauf, liebe Kim, weiß ich auch keine Antwort.“, entgegnete der Kapitän. Sie sah aus dem Fenster. Es schneite. Sie hatte bis jetzt noch nie Schnee gesehen, deshalb lief sie neugierig zum Fenster und betrachtete die dicken, weißen Schneeflocken. Das Mädchen riss das Fenster auf und schreckte zurück. „Warum ist das so kalt?“, fragte sie mehr zu sich selbst. Sie streckte die Hand aus dem Fenster und wunderte sich noch mehr. Dieses merkwürdige Zeug verwandelte sich auf ihrer Hand einfach so in Wasser! Nun erkundigte sie sich bei Jon: „Kapitän, äh, Jon, was ist das denn?“ Jon schnaubte lachend: „Du weißt nicht, was das ist?“ Kim musterte ihn beleidigt und tadelnd, als ihn dieser Blick traf, wurde er ganz still. „Ach ja! Du kommst ja aus Brasilien. Nun, das ist Schnee. Schnee ist Regen, der vereist ist, weil es zu kalt ist. Wenn es noch kälter wird, dann wird der Regen härter und tut weh, wenn er auf die Haut trifft.“, meinte Jon verlegen. „Wollen wir nachher mit den Anderen eine Schneeballschlacht machen?“ „Schneeballschlacht?“, fragte Kim ratlos. Jon antwortete: „Da formt man den Schnee mit den Händen zu Bällen und macht damit eine Schlacht.“ „Au ja! Das wird bestimmt toll!“, rief Kim begeistert, doch dann fügte sie noch hinzu: „Sag mal, Jon, kannst du denn überhaupt nach draußen mit deinen Verletzungen?“ „Mach dir um mich mal keine Sorgen. Ich bin zäh, so schnell kriegt mich nichts unter.“, erwiderte er schmunzelnd. Sie wollte schon hinausstürmen, da kam der alte Pirat Jack herein und hatte ein Päckchen dabei. Kim sah es neugierig an. Als der alte das merkte, sagte er lächelnd: „Das ist für dich Kim! Du kannst es ruhig auspacken.“ Sie freute sich wahnsinnig und nahm ihm das Paket ab. Das Mädchen öffnete es vorsichtig und es kamen eine lange Hose, ein Wintermantel, eine Wollmütze, Handschuhe, ein Schal, ein Pullover und warme Socken zum Vorschein. Zuerst wusste Kim nicht, was sie damit anfangen sollte. Doch dann zeigte ihr Jack wie sie ihre neuen Sachen gebrauchen konnte. Sie ging ins Nebenzimmer, um sich umzuziehen. Da die Wände sehr dünn waren, konnte man dort alles mithören, was im anderen Zimmer gesprochen wurde. Zuerst bemerkte Kim diese Tatsache gar nicht, denn sie war viel zu beschäftigt mit ihren neuen Sachen, doch als sie endlich herausgefunden hatte, wie man die Handschuhe richtig anzog, hörte sie jemanden im anderen Zimmer auf und ab gehen. Kim legte ihr Ohr an die Wand, um besser hören zu können. „Aber du musst es ihr sagen, Jon! Es ist deine Pflicht, als ihr jetziger Vormund, ihr alles zu sagen.“ „ Ich weiß, ich weiß. Aber es fällt mir doch so schwer.“ „ Später wird es dir noch schwerer fallen, wenn du sie erst einmal angelogen hast. Sie wird dir das immer vorhalten!“ „Du hast ja Recht, aber wie soll ich denn anfangen? Soll ich einfach zu ihr hingehen und sagen: Kim ich muss mit dir reden…“ „Ja, das solltest du“, sagte Kim eiskalt. Sie hatte sich nun vollkommen angezogen und lehnte mit verschränkten Armen im Türrahmen. „Was enthältst du mir vor? Wenn es um mich geht, habe ich ein Recht darauf, es zu erfahren.“ „Aber… ich… also…“, stotterte Jon. „Nein, Jon, keine Ausreden. Ich will die Wahrheit hören.“ In Kims Stimme war die Kindlichkeit völlig verschwunden. Sie wirkte nun hart und erwachsen. Jon war sichtlich eingeschüchtert, doch Kim hatte keinerlei Mitleid mit ihm. Sie sah ihn mit ihren durchdringenden kalten Augen an und erwartete seine Antwort. Sie erwartete, dass er eine dieser typischen Ausreden verwendete, wie zum Beispiel: Dazu bist du noch zu klein, oder wie: Davon verstehst du noch nichts. Aber sie hatte sich getäuscht. Jon war nicht wie die anderen Erwachsenen, vielleicht lag es einfach daran, dass er noch nicht erwachsen war, oder dass er nur sechs Jahre älter war als Kim. Doch dann fing er an zu erklären: „Nun ja Kim, wo soll ich anfangen zu erklären? Am besten da… Es gab mal eine berühmte Hexe, in der Zeit der Hexenverbrennung. Sie wurde als einzige Hexe geschätzt und geachtet. Sie hatte damals einen Sohn, der aber nicht zaubern konnte. Sie versuchte immer wieder es ihm beizubringen, doch er schaffte es nicht. Dafür lernte er schnell und gut. Als er heiratete und ein Kind bekam, war es wieder ein Junge. Die Generationen setzten sich fort und es wurden nur Jungen geboren. Du bist das erste Mädchen, seit dieser Hexe. Und, nun ja, wie soll ich sagen, du hast nun mal diese Fähigkeiten geerbt. Als ich herausfand, dass in Brasilien dieses Mädchen geboren war, wollte ich dir helfen. Also gab ich meinem Steuermann Befehl, Kurs auf die brasilianische Küste zu nehmen. Doch dann kam das Problem auf, dass ich gar nicht wusste, wo du warst. Ich war am Ende mit meinem Latein, als wir anlegten. Dann haben die Menschen dort bemerkt, dass wir Piraten sind. Wir mussten uns irgendwie retten. Also überlegte ich mir, dass ich jemanden als Geisel nehmen könnte. Doch es musste jemand sein, der wichtig in der Gesellschaft war. Da kamst du mir gerade gelegen und ich nahm dich mit. Für einen Moment habe ich gedacht, dass du dieses Mädchen sein könntest, doch das fand ich ein bisschen zu weit hergeholt. Ich nahm dich also mit und beobachtete dich. Als ich auf dem Piratenschiff angefangen habe, brauchte ich immer länger als du, um das Deck zu schrubben. Außerdem haben mich die anderen Piraten immer geärgert. Doch du wurdest nie geärgert. Zuerst dachte ich daran, dass sie es nicht taten, weil du ein Mädchen bist. Doch dann ist mir eingefallen, dass wir schon einmal ein Mädchen an Bord hatten und es nach einigen Tagen wieder laufen gelassen haben, weil es die ganze Zeit geheult hat, denn die Crew hatte immer auf ihm rumgehackt. Doch dich hatten sie anscheinend akzeptiert. Da schnappte ich meine alte Vermutung wieder auf. Ich habe dir deshalb das Medaillon geschenkt. Du weißt sicher, dass es das Siegel unserer Mannschaft ist. Und als du dann die Sonne hast aufgehen lassen, da wusste ich dann, dass du die Nachkommin der Hexe bist.“ Kim hatte sich alles angehört. Sie sah ihn an und die Kälte in ihrem Blick war verschwunden. Sie hatte ihn nicht unterbrochen, obwohl es ihr an manchen Stellen äußerst schwer gefallen war. Kim wusste, dass es sich nicht gehörte, Erwachsene zu unterbrechen. Sie sah Jon an und meinte: „Gehen wir raus und machen einen Schneeballkrieg?“ Jon sah sie erleichtert an. Sie hatte begriffen, um was es ging. Er stand auf, zog sich an und ging zu Kim, welche sich solange vor der Tür zu seinem Zimmer vergnügt hatte. Kim lief los und Jon trottete langsam hinter ihr her. Plötzlich blieb sie stehen, ging auf Jon zu, stellte sich hinter ihn und schob ihn an. Sie freute sich schon darauf, endlich nach draußen zu kommen. Jetzt waren sie endlich draußen. Das Mädchen und ihr Kapitän holten tief Luft und ehe sie sich versah, traf sie auch schon ein harter Schneeball an der Wange. Kim sah sich um und sah die ganze Piratenbande um sie beide versammelt. Ihr war nie bewusst, wie wenig sie doch waren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie geglaubt, dass an Bord des Schiffes sehr viele Männer waren. Doch sie hatte sich getäuscht. Nun bemerkte sie auch, dass alle sie freundlich anlächelten. Kim formte einen neuen Schneeball und warf ihn in Richtung Garret. Und es kam, wie es kommen musste: Garret duckte sich blitzartig und der Ball traf einen muskulös aussehenden Kerl hinter ihm. Er, der Mann, sah sie finster an und schritt auf sie zu. Er machte den Mund auf und fuhr sie an: „Was machst du denn Kind?“ Kim war eingeschüchtert und meinte kleinlaut: „Entschuldige bitte. Das war keine Absicht.“ „Natürlich nicht! Deswegen ja! Du musst schneller zuschlagen, schau, so." Er erstellte in Windeseile einen Schneeball und warf ihn auf Terry, der sich noch ducken wollte, es aber nicht schaffte, weil der Schneeball so schnell war, dass man ihn kaum erkennen konnte. Kim war beeindruckt. So schnell würde sie das niemals können. Doch kaum hatte sie das gedacht, entdeckte sie, wie ein Schneeball auf den guten Schützen flog. Er duckte sich mit Leichtigkeit und der Schneeball traf Jon direkt ins Gesicht. Er fiel rücklings zu Boden. Kim rannte zu ihm hin, um zu sehen, ob er sich etwas getan hatte, doch kaum hatte sie sich zu ihm hinuntergebeugt, schleuderte er ihr eine Hand voll Schnee ins Gesicht. Sie stand schnaufend auf und rollte ihn zu einem nahe gelegenem Abhang. Dort schubste sie ihn an und er rollte den Berg hinunter. Die Piraten grölten vor Lachen. Manche scherzten: „Wir sollten uns einen neuen Kapitän zulegen. Der hier lässt sich ja sogar von einem Mädchen kleinkriegen.“ Jon stand unten, am Ende des Hügels auf und erklomm diesen. Er ergriff Kims Fuß und zog sie hinunter. Doch ehe sie ganz den Halt verlor, packt sie Jon am Arm und riss ihn mit sich den Hügel hinab. Nun lachten die Piraten noch lauter. Jon und sie steckten sich an und mussten bald genauso lachen wie der Rest der Bande. So gesehen war Jon menschlicher, als sie vermutet hatte. Als sie endlich oben ankamen, war schon die schönste Schneeballschlacht im Gange. Später am Abend, als sie geduscht und ihr Nachthemd angezogen hatte, fühlte sie sich einsam. Sie beschloss, einfach noch mal zu Jon zu gehen und ihm gute Nacht zu sagen. Wären sie auf dem Schiff gewesen, wäre dies nicht möglich gewesen. Doch da sie ja im Moment in einem Hotel übernachteten, konnte sie einfach so zwischen den Zimmern hin- und herpendeln, ohne Angst zu haben, jemanden aufzuwecken. So schlich sie leise zu Jons Zimmer. Sie legte ein Ohr an die Tür und lauschte angestrengt. Doch als sie nach ein paar Minuten immer noch nichts hörte, öffnete sie leise die Tür und erblickte Jon, der friedlich in seinem Bett la und schlief. Sie setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett und sah ihn schweigend an. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief. Kim lauschte den gleichmäßigen Atemzügen und schlief schließlich auch ein. Als sie am nächsten Morgen erwachte, lag sie in Jons Bett. Sie hatte schon wieder vergessen, dass sie in der Nacht in Jons Zimmer gegangen war und stand auf. Da die Zimmer alle gleich aussahen, dachte sie, sie wäre in ihrem Bett aufgewacht. Erst als sie den Kleiderschrank aufmachte, sah sie, dass sie im falschen Zimmer war. Sie rannte hinaus, stürmte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Kim merkte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und sie rot anlief. Langsam ging sie zu ihrem Kleiderschrank und zog sich an. Das Mädchen schritt mit einem seltsamen Gefühl in ihrer Magengegend in die Gaststube hinunter. Dort waren nur der Kapitän und die Wirtin. Er winkte sie zu sich hinüber. Sie setzte sich ihm gegenüber und sah verlegen zu Boden. Ihm in die Augen zu sehen traute sie sich nicht. Als er bemerkte was los war, meinte er: „Guten Morgen Kim. Gut geschlafen?“ Das hätte er lieber nicht fragen sollen, denn jetzt errötete Kim erneut. Jon lachte auf, dann fragte er: „Na, worüber wolltest du denn gestern noch mit mir reden? Du warst wohl sehr müde, in meinem Zimmer einzuschlafen. Ich hätte nicht gedacht, dass du die Schneeballschlacht so anstrengend fandest.“ Kim war erleichtert zu hören, wie er es aufgefasst hatte. Aber es war nicht der richtige Zeitpunkt für Erleichterung. Sie musste sich schnell eine gute Ausrede einfallen lassen. Da fiel ihr das Gespräch vom Vorabend ein und sie erinnerte sich daran, dass Jon gesagt hatte, er wolle ihr helfen. Also antwortete sie schnell: „Ich wollte wissen, wobei du mir helfen willst, erinnerst du dich? Das Gespräch von Gestern.“ Er sah sie an. Dann flüsterte er so leise, dass sie ihn fast nicht verstehen konnte: „Na, das Hexenbuch zu finden. Du würdest es alleine niemals finden. Also beschloss ich, dir zu helfen.“ Kim stockte der Atem. Es gab ein Hexenbuch! Sie konnte lernen, wie man zaubert. „Steht da nur schwarze Magie drin, oder auch weiße?“, platzte sie heraus. Jon seufzte und erwiderte: „Ich habe das Buch noch nie gesehen, daher weiß ich auch nicht, was darin geschrieben steht. Ich weiß nur von seiner Existenz und…“ weiter kam er nicht, denn ein äußerst junger Pirat kam zu ihnen an den Tisch und setzte sich. Er sah verschlafen und zerzaust aus. Kim musterte ihn verstohlen. Er war anscheinend Franzose, denn er hatte einen deutlich französischen Akzent: „Morgen Kapitän! Morgen Kim! Gut geschlafen?“ „Sehr gut, Laffite, danke.“, erwiderte Jon freundlich. „Ich habe auch gut geschlafen.“, meinte Kim leise. „Wir müssen wahrscheinlich hier überwintern, das Schiff ist vollkommen eingeeist, damit kommen wir keinen Meter weit.“, sagte der Franzose betrübt. Aber Jon schien das kalt zu lassen: „Um so besser! Kim und ich haben nämlich noch viel zu besprechen.“ Er zwinkerte ihr zu und sie lächelte ihn an. Kim ging zum Buffet und holte sich Cornflakes mit Milch und eine Tasse heißen Kakao. Dann setzte sie sich wieder zu den beiden, zu denen sich noch andere Piraten dazugesellt hatten. Sie zwängte sich neben Jon und hörte den anderen aufmerksam zu. Sie diskutierten über vergangene Schlachten, erzählten von ihren früheren Familien und über das bevorstehende Weihnachten. Kim hatte bis jetzt noch gar nicht über Weihnachten nachgedacht, doch sie hörte jetzt von den anderen Piraten, dass es schon in einer Woche soweit war. Sie überlegte fieberhaft, was sie Jon schenken könnte, denn nach und nach wurde er ihr immer sympathischer. Es fiel ihr allerdings nichts ein. So beschloss sie später einfach mal durch die Geschäfte zu bummeln und sich inspirieren zu lassen. Das Mädchen aß schnell auf und ging dann auf ihr Zimmer. Sie holte ein zerschlissenes Haargummi aus der Tasche und band sich die Haare zu einem Zopf zusammen. Als sie damit fertig war ging sie hinaus in die Kälte und lief ins Zentrum des Städtchens. Sie sah sich um. Kim fand es unbeschreiblich schön. Sie hatte noch nie weiße Weihnachten erlebt. Sie schaute sich alles ganz genau an. Und als sie so durch die Gassen lief, da entdeckte sie hier und da Schaufenster, in denen sie etwas Brauchbares ausmachte. Zum Beispiel einen Kompass, oder Landkarten. Doch ihr gefiel das alles einfach nicht. Kim wollte etwas Besonderes. Sie wollte etwas, was nicht alltäglich war. Doch was könnte das sein? Sie wusste es nicht. Also musste sie wohl oder übel ziellos durch die Gassen streifen. Doch was war das eben in dem schön verzierten Schaufenster? Kim fand es toll. Sie blieb eine Weile lang stehen und starrte es unschlüssig an. Schließlich ging sie dann doch in den Laden hinein und kaufte es. Das Geld war sozusagen ihr „Taschengeld“. Da sie ja nicht wie die anderen an den Beuten beteiligt wurde, fand sie es nur gerecht. Außerdem konnte man es auch Bezahlung für die Arbeit auf dem Schiff nennen. Kim lief zurück und ging als erstes in ihr Zimmer, um das Geschenk unter ihrer Matratze zu verstecken, dann beeilte sie sich nach unten zu kommen, denn sie wollte das Mittagessen nicht vollends verpassen; zu spät war sie ohnehin schon. Als sie sich zu Jon gesetzt hatte, sah der ihr prüfend in die Augen und fragte, wo sie den Vormittag über gewesen sei. Sie hoffte, dass er nicht bemerken würde, dass sie log und antwortete, sie sei sich die Stadt ansehen gegangen. Eigentlich war es ja nicht gelogen, sie hatte ihm nur nicht alles erzählt. Mit dieser Antwort gab Jon sich zufrieden und widmete sich wieder seinem Teller. Das Mittagessen war ein reiner Gaumenschmaus. Es gab Linsen mit Wienern. Kim hatte so etwas noch nie zuvor in ihrem Leben gegessen. Es schmeckte vertraut und doch fremd. Den Nachmittag verbrachte sie damit Jon alles nachzumachen. Ihn schien das zu verärgern, aber ihr machte es unwahrscheinlichen Spaß. Kim ging mit ihm auf einen Spaziergang, sprach ihm das, was er den anderen erzählte nach und sang mit ihm zusammen. Wenn sie es so betrachtete, war er gar nicht um so viele Jahre älter als sie. Jon war nur sechs Jahre älter. Das spornte sie erneut an. Kim fühlte sich ihm ebenbürtig, schließlich waren sechs Jahre kein großer Unterschied. Doch beim Abendessen übernahm sie sich dann doch etwas, sie hatte sich das Selbe auf den Teller getan wie Jon. Sie hatte vollkommen vergessen, dass sie völlig verschiedene Geschmäcker hatten. Aber nun war es zu spät. Kim würgte alles hinunter. Später am Abend war ihr übel, sie hatte sich schon einmal übergeben müssen und fror schrecklich. Die Piraten spielten Karten, tranken Bier und amüsierten sich prächtig, aber sie lag im Bett und Jon saß schweigend neben ihr. Er fühlte ihr hin und wieder mal über die Stirn, wusch einen Waschlappen in einer Schale kaltem Wasser aus und legte ihn ihr auf die Stirn. Kim war dankbar, dass er bei ihr war und ihr nichts vorhielt, ihr nicht böse war. Auch wenn sie kein Wort wechselten, fühlte sie sich wohl. Das Mädchen fühlte sich müde und schlapp. Es war fast so, als wäre aller Elan aus ihrem Körper entwichen. Schließlich schlief sie erschöpft ein und als sie dann am nächsten Morgen wieder aufwachte und sich aufrichtete, sah Kim, dass der Kopf Jons in ihrem Schoß ruhte. Sie sah ihn an und erkannte, dass seine Wangen ganz rot waren. Das Mädchen hielt ihre Hand an seine Stirn und fühlte, wie heiß sie war. Dann fühlte sie an ihrer Stirn und merkte, dass sie dieselbe hohe Temperatur hatte. Kim legte sich wieder hin und versuchte weiterzuschlafen. Es dauerte gar nicht lange, da war sie auch schon wieder im Land der Träume. „Nein!“, schrie sie, als sie sah, dass die Untoten wieder da waren. Es war ein erbitterter Kampf. Kim sah, dass die Piraten unterliegen würden. Sie schnappte sich einen Säbel und ritzte damit einen Untoten auf. Er fiel zu Boden und verwandelte sich zu Asche. Kim kämpfte und kämpfte. Sie hatte den Eindruck, es wurden immer mehr. Was sollte sie nur tun? Die Piraten konnten ihr dieses Mal nicht helfen. Sie waren selbst zu beschäftigt. Und Jon… „Jon!“, keuchte sie. Er lag am Boden. War… war er tot? Kim rannte zu ihm hin. Er würde überleben, er musste überleben! Doch eine Stimme tief in ihrem Herzen sagte ihr: „Er wird es nicht schaffen und das weißt du! Sag es ihm, jetzt oder nie! Er überlebt das einfach nicht. Du wusstest es die ganze Zeit. Sag es ihm!“ Kim stolperte auf Jon zu, umarmte ihn, küsste ihn zärtlich auf den Mund und sagte verzweifelt und gezwungen lächelnd: „Jon, du darfst nicht sterben! Wir müssen doch noch das Hexenbuch finden und alleine kann ich das nicht und außerdem,… außerdem, liebe ich dich doch!“ Gegen Ende des letzten Satzes zitterte ihre Stimme. Tränen kullerten über ihre Wangen und fielen auf Jons schwer verletzten Körper. Mit letzter Kraft nahm er ihre Hand und flüsterte: „Meine kleine Kim! Du musst alleine weiterziehen. Das Hexenbuch befindet sich in…“ „Kim, Kim! Wach auf! Das alles war nur ein Traum! Nur ein Traum! Hörst du?“, rief eine Stimme. Es war dieselbe Stimme, die sie eben noch gehört hatte. Sie schlug die Augen auf und erkannte den leichenblassen Jon neben sich. Kim setzte sich blitzartig auf und umarmte ihn. Sie sah, wie er rot wurde. Doch das war ihr egal. Er lebte, er war nicht tot! Allein diese Tatsache machte sie glücklich. „Jon! Du lebst ja doch noch! Du lebst ja noch!“, wiederholte sie immer wieder entzückt. „Natürlich lebe ich noch.“, sagte Jon verdutzt. Kim beschloss, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, da sah sie, wie sich die Piraten um ihr Bett tummelten. Kim sah Jon zornig an und er sah demütig weg. Dann machte er eine seltsame Handbewegung und die Piraten verließen murrend den Raum. Nun begann Kim zu erzählen: „Jon, du warst tot und, es kam alles so plötzlich! Diese seltsamen Geister waren wieder da und haben uns angegriffen! Wir hatten verloren und du wolltest mir sagen, wo sich das Hexenbuch befindet!“ Dicke, heiße Tränen liefen ihr über die Wangen und Jon nahm sie väterlich in den Arm. Als Kim ihm wieder in die Augen sehen konnte, war er nachdenklich. Dass sie ihm gesagt hatte, ich liebe dich, erzählte Kim ihm nicht. Niemand sollte es jemals erfahren. Es war ihr Geheimnis. Schließlich sagte er: „Es war ja nur ein Traum.“ Und schritt nachdenklich von dannen. Er sah immer noch krank aus, doch das war im Moment zweitrangig. Hauptsache, er lebte. Und jetzt, da sie darüber nachdachte, merkte sie, dass sie selber anders ausgesehen hatte. Sie hatte älter und reifer ausgesehen. Was war, wenn das die Zukunft war? Kim wollte nicht mehr darüber nachdenken, also zog sie sich an und ging frühstücken. Während des Frühstücks, sahen sie alle neugierig an. Kim wechselte mit niemandem ein Wort. Mit wem auch? Sie kannte von den Piraten die hier waren ohnehin niemanden. So schlang sie ihre Cornflakes hinunter und ging hinaus. Das Mädchen holte tief Luft und ging in Richtung Wald. Als sie an dessen Rand ankam ging sie einen breiten Weg entlang. Diesem folgte sie lange Zeit, wie lange genau konnte sie nicht sagen, aber sie ging lange. Jedoch taten ihre Beine nach einiger Zeit weh, deswegen ließ sie sich am Rande des Weges nieder, um eine Pause zu machen und ihre Beine zu erholen. Da aber noch immer Schnee lag, konnte sie sich nicht richtig hinsetzen und hockte lediglich, was ihren Beinen, insbesondere ihren Füßen, keine wirkliche Erholung brachte. Der Mittag war schon vorüber und bald musste sie zurück, damit die Piraten sich keine Sorgen um sie machten, da sah sie ihr gegenüber einen Trampelpfad. Er war kaum mehr zu erkennen, da Sträucher, Gras und eine dicke Schneeschicht darauf lagen. Sie überlegte kurz, dann erhob sie sich wieder und betrat den Pfad. Sie glaubte anfangs die einzige zu sein, die diesen Pfad kannte und verwendete, da sah sie andere Fußspuren im Schnee. Sie bückte sich und betrachtete sie. Wahrscheinlich war gestern jemand diesen Pfad entlanggegangen, denn eine dünne Schneeschicht lag darüber. Und als sie genauer hinsah, konnte sie auch andere Spuren erkennen. Verwirrt richtete sie sich wieder auf und wollte gerade weitergehen, da sauste ein Messer haarscharf an ihrem Gesicht vorbei und blieb in dem Baum neben ihr stecken. Erschrocken starrte sie das Messer an und stieß die Luft aus, die sie für einen Moment angehalten hatte. Ängstlich sah sie sich um, da hörte sie jemanden rufen: „Einen Schritt weiter und ich ziele scharf!“ Kim drehte sich ein paar Mal im Kreis herum, in der Hoffnung den Angreifer ausfindig zu machen, doch sie sah nichts und sie hörte auch niemanden mehr. Es war vollkommen still um sie herum und sie spürte die nackte Angst in sich aufsteigen. „Wer ist da?“, rief sie, ihre Umgebung genau beobachtend. „Komm raus und stell dich, oder hast du etwa vor einem 14-Jährigen Mädchen Angst?“ „Man soll seine Gegner nie unterschätzen.“ Hörte sie jemanden flüstern; direkt hinter ihr. Im selben Moment hielt ihr eine Hand den Mund zu. Sie fühlte sich nicht rau an, wie die eines Mannes, eher so zart wie die einer Frau. Sie schluckte und spürte eine eiskalte Klinge an ihrer Kehle. Nun machte sich Panik in ihr breit und ihr Atem ging schneller. „Lass sie los!“, brüllte eine Männerstimme hinter ihnen. Die Frau drehte sich schlagartig um und riss Kim mit sich. Dort vor ihr stand Jon, gänzlich außer Atem, die Hände auf die Knie gestützt. Als er wieder einigermaßen zu Atem gekommen war, richtete er sich auf und lächelte Kim zu. Sofort hatte sie ein sichereres Gefühl, er würde sie retten, darauf vertraute sie. Aber da drückte die Frau die Klinge fester gegen Kims Hals. Zähneknirschend stand Jon ihnen gegenüber und musste zusehen, wie sie Kims Haut aufritzte. Nicht tief, aber gerade so, dass diese begann zu bluten und unterdrückt aufstöhnte. „Lass sie gehen!“, knurrte Jon. Das bringt nichts, dachte Kim. Diese Frau würde sie niemals gehen lassen, aber was war das? Die Frau stieß Kim von sich und ging nun auf Jon los! Das Mädchen wollte sie aufhalten, da blaffte Jon sie an: „Lauf weg, Kim! Das hier regle ich schon!“ Jetzt zückte er seinen Säbel und parierte den Hieb der Angreiferin. Kim blieb wie angewurzelt stehen. Sie dachte gar nicht erst daran davonzulaufen, zu tief saß ihr der Schock in den Knochen. Als Jon einen Hieb platzierte sprang die Frau elegant zur Seite und ging gleich wieder ein paar Schritte auf ihn zu. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Kim auf die beiden, die sich jetzt umkreisten, wie Raubtiere. Jon hatte ein siegessicheres Grinsen auf den Lippen; den Gesichtsausdruck der Frau konnte Kim nicht deuten, sie hatte ein Halstuch bis über ihre Nase gezogen und ihre Stirn war von einem Kopftuch bedeckt. Kim fröstelte, die Spannung war kaum auszuhalten, sie schlichen lediglich im Kreis herum und beobachteten den Anderen in der Erwartung, dass dieser Angriff. Es war ein Kampf darum, wer die besseren Nerven besaß. Und anscheinend war das die Fremde, denn nun stürzte Jon laut brüllend auf sie zu und versuchte sie zu verwunden, aber sie wich ihm aus. Er rannte ins Leere und ruderte wie wild mit dem Armen, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen, aber sie trat von hinten an ihn heran und trat ihm hart in den Rücken, sodass er auf den Boden aufschlug. Er stützte die Hände in den Schnee und stemmte seinen Oberkörper hoch. Kim stutze, der Schnee, in dem sein Gesicht gelegen hatte, war rot gefärbt. Jon spuckte aus und wandte das Gesicht seiner Widersacherin zu. Sein Gesichtsausdruck hatte sich gewandelt, kein Grinsen umspielte mehr seine Mundwinkel, seine Wangen waren gerötet, Kim konnte nicht sagen ob vor Anstrengung in dieser Kälte oder vor Wut, und seine Augenbrauen waren zusammengezogen. Das Mädchen wich erschrocken zurück, ebenso wie die fremde Frau, deren Augen nun Furcht widerspiegelten. Fast schon ängstlich umklammerte sie ihr Entermesser und fixierte Jon, der wieder aufgestanden war und langsam auf sie zukam. Dann begann er zu rennen. Kim kniff ängstlich die Augen zusammen und konnte hören, wie ihre Waffen gegeneinander schlugen. Jon stöhnte auf. Schlagartig riss sie die Augen auf und gewahrte Jon, der sich den Arm hielt. An diesem lief Blut hinunter und dicke Tropfen fielen in den Schnee. Die Fremde wich zurück und starrte gebannt auf das Blut, dann fasste sie sich wieder und stürzte auf Jon zu, das Entermesser fallen lassend. Nun fasste Kim sich ein Herz und rannte auf die Frau zu. Sie stieß sie unsanft beiseite, sodass sie im Schnee landete. Fragend sah Kim zu Jon, aber der schien genauso verdutzt wie sie. Dann schaute sie wieder die Fremde an. Sie hatte sich sofort wieder gefasst und schob jetzt das Halstuch hinunter. Im ersten Moment sah Jon aus, als hätte er einen Geist gesehen, dann jedoch huschte ein Lächeln über Jons Züge. Das Mädchen fragte: „Jon, kennst du diese seltsame Frau etwa?“ Nun begann Jon zu spotten: „Du hörst dich schon an, wie eine verheiratete Ehefrau, die eifersüchtig ist.“ Kim und die Fremde riefen gleichzeitig: „Das ist überhaupt nicht lustig!“ Dann blaffte ihn die Frau alleine weiter an: „Betrügst du mich hinter meinem Rücken jetzt schon mit Kindern? Du bist und bleibst doch immer der Gleiche! Hast du sie auch mit dieser Hexennummer an dich ran gelockt? Komm Mädchen, wir gehen!“ Sie packte Kim unsanft am Arm und zog sie hinter sich her. Kim blickte noch einmal zurück und erblickte den immer noch blutenden Jon völlig von der Rolle auf dem plattgetretenen Schnee stehen. Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie brach zusammen. Als Kim die Augen wieder aufschlug, konnte sie Menschen reden hören. Es hörte sich wie aus weiter Ferne an. Langsam konnte sie ihre Umgebung wieder besser wahrnehmen. Kim sah sich um. Doch sie konnte nicht viel erkennen; es war schon dunkel. Ihr wurde kalt und sie fühlte ihre nähere Umgebung ab. Kim fühlte etwas Kaltes. Sie versuchte aufzustehen und merkte, dass sie unter einer Decke lag. Aufstehen konnte sie anscheinend noch nicht, also versuchte sie angestrengt den Stimmen im Hintergrund zu lauschen. „…bist doch ein… ein… ach was! Das was du bist, lässt sich nicht in Worte fassen!“, wetterte die Frau und Jon versuchte sie zu besänftigen: „So hör mir doch mal zu! Ich…“ „Hör du mir auf mit deinen Erklärungen!“, keifte die Frau. „Die sind doch sowieso nur erstunken und erlogen! Wie oft willst du mich denn noch anlügen? Außerdem, was ist denn mit der Kleinen? Du kannst sie nicht ewig anlügen! Diese Nummer wird allmählich langweilig!“ „Nun hör mir endlich zu! Sie ist es wirklich! Sogar die Untoten waren hinter ihr her! Und sie hat die Sonne aufgehen lassen. Ist das nichts? Und außerdem musst du mich nicht so anschreien, ich bin schließlich nicht taub. Und du willst Kim doch nicht aufwecken, oder?“ „Was? Die Untoten? Das kann doch nicht,… das ist doch nicht,… aber doch wohl nicht die Untoten, oder?“ „Doch, genau die Untoten. Glaubst du mir jetzt?“ „Nun ja, ich weiß ja nicht, ob ich dir trauen kann.“ „Natürlich kannst du mir trauen! Können diese Augen lügen?“ „Ja, können sie. Das habe ich in meiner Jugend oft genug erlebt!“ „Ach, jetzt sei doch nicht gleich eingeschnappt, Alice. Das war nur zu deinem Besten.“ „Ja, ja. Nur zu meinem Besten. Wer’s glaubt, wird selig.“ Alice lachte und Jon stimmte mit ein. Kim fragte sich, was daran so komisch war. „Aber nun zu dem Mädchen. Was hast du mit ihr vor?“ „Ich werfe sie den Haien zum Fraß vor, dann bin ich aus dem Schneider.“ Jon lachte. „Das finde ich überhaupt nicht lustig! Was ist jetzt mit dem Mädchen? Warum ist sie einfach so zusammengebrochen? Was hast du mit ihr angestellt?“ „Gar nichts. Sie kommt aus Brasilien, dieses Klima ist sie nicht gewohnt. Außerdem hatte sie einen schweißtreibenden Traum.“ „Um was ging es in dem Traum?“ „Es ging wahrscheinlich um die Zukunft. Sie hat geträumt, dass die Untoten uns wieder angegriffen hätten. Dann wäre ich gestorben und mit meinen letzten Atemzügen wollte ich ihr dann sagen, wo sich das Hexenbuch befindet. Doch gerade als es soweit war, weckte ich sie auf.“ „Oh man, Jon! Immer wenn’s am Besten wird, verdirbst du alles.“ Kim versuchte erneut aufzustehen und diesmal schaffte sie es wenigstens, sich aufrecht hinzusetzen. Sie sah zwei Silhouetten. Die eine war die einer Frau, die andere erkannte sie als die Jons. Plötzlich kletterte jemand aus dem Gebüsch hinter ihnen. Kim versuchte „Vorsicht!“ zu schreien, doch es kam nichts aus ihrer Kehle, außer einem Krächzen. Dann schrie sie sich die Kehle aus dem Leib, doch ihre Stimmbänder wollten einfach nicht. Sie hatte die beiden schon abgehakt, da schaffte sie es doch noch zu schreien. Es war zwar nicht sehr laut und hörte sich auch nicht nach ihr an, doch sie schaffte es, dass sich die Beiden umdrehten und ihren Angreifer rechtzeitig erkannten. Der Jon blieb starr vor Schreck stehen. Die Frau hingegen schaltete schneller und stürzte sich auf den Angreifer. Sie zückte schon ihr Entermesser, das im Mondlicht gespenstig funkelte, da rief Jon schon: „Halt! Auszeit! Alice das ist doch nur Jack und Jack, das hier ist Alice!“ „Jack? Bist du’s wirklich?“, fragte die Frau verdutzt. Der Angreifer antwortete mürrisch: „Du kannst mich auch gerne Alter, Kanaille, oder Mister Murdock nennen.“ „Na da bleibe ich doch lieber bei Jack.“, lachte die Frau namens Alice. Die beiden Männer lachten ebenfalls. Hatten sie Kim etwa schon vergessen? Was sollte das denn werden? Eine Runde, in der man sich den neusten Klatsch und Tratsch erzählte? Nein, zum Glück nicht. denn nun schritt Jon direkt auf sie zu, beugte er sich zu ihr herunter und fragte: „Kannst du aufstehen, Kim?“ „Ja, kann ich.“, raunte Kim. Er nahm ihren Arm und legte ihn sich um die Schultern, dann zog er sie zu sich hinauf. Alice kam auf die Beiden zugelaufen und nahm hilfsbereit Kims anderen Arm, danach gingen sie gemeinsam zum Hotel zurück. Dort angekommen stürzten auch gleich ein paar Piraten herbei und begrüßten sie herzlich. Von Alice jedoch hielten sie sich fern. Alice und Jon brachten Kim auf ihr Zimmer zurück. Daraufhin sagte Jon: „Da wir nun Alice auch ein Zimmer anbieten müssen, alle Zimmer belegt sind und alle anderen Männer sind, muss Alice bei dir schlafen, Kim, schließlich hast du ja noch ein Bett im Zimmer. Bist du damit einverstanden?“ Kim nickte stumm. Nun fragte Jon auch Alice: „Und du, Alice? Bist du damit einverstanden?“ „Aber natürlich du kleiner Feigling.“, antwortete Alice schnippisch. Bei diesen Worten Jon errötete Jon verlegen. Er verabschiedete sich und ging aus dem Raum. Das Mädchen und die Frau sahen sich eine Zeit lang an. Kim fasste sich nach einer Weile dann doch ein Herz und fragte: „Woher kennst du Jon denn?“ Alice musterte sie erstaunt, doch sie fasste sich sofort wieder und antwortete: „Das geht kleine Kinder wie dich nichts an.“ Jetzt reichte es Kim und sie sagte langsam: „Was fällt dir ein? Sehe ich etwa aus wie ein Kind? Warum denken das denn alle? Ich bin doch 14 Jahre alt und damit kein Kind mehr, sondern jugendlich! Damit das ein für alle mal klar ist: ich bin eine JUGENDLICHE!“ Alice sah sie verdutzt an, dann fing sie an zu lachen. Das regte Kim noch mehr auf und sie brüllte: „Was ist daran bitte so lustig?“ Doch Alice konnte nicht antworten, denn sie hielt sich schon den Bauch vor Lachen. Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, wischte sie sich die Lachtränen von den Wangen und keuchte: „Okay, okay, ich habe Jon auf dem Schiff kennen gelernt. Genau wie dich hat er mich einfach mitgenommen. Ich musste zuerst als Schiffsmädchen arbeiten, doch ich hab mich hochgearbeitet. Dann bin ich ausgestiegen und hab meine eigene Mannschaft gegründet. Jon verübelt mir das noch heute, aber ich bin stolz auf mich.“ Kim war erstaunt. Alice hatte ihre eigene Mannschaft. Dann fragte Kim: „Wie viel Uhr ist es?“ „Zehn nach elf. Wieso?“, kam die Gegenfrage von Alice. Kim zuckte die Achseln. Plötzlich fing Alice an zu grinsen und fragte dann: „Hast du Jon schon mal einen Streich gespielt?“ „Nein.“ „Dann wird das mal höchste Zeit. Also, hör zu:“ Sie flüsterte Kim etwas ins Ohr. Und Kim erklärte sich nach langer Überredungszeit damit einverstanden. Die beiden rieben sich verschwörerisch die Hände und grinsten hämisch. „Wie lang bist du eigentlich schon bei Jon, oder in der Piraterie?“, fragte Alice. „Ein Jahr, anderthalb?“ „Drei Wochen.“, antwortete Kim. Alice schien erstaunt. Dann stammelte sie: „Was? Erst drei Wochen? Und er hat dich schon so in sein Herz geschlossen? Das muss ein Wunder sein!“ Kim sah sie verwundert an und fragte dann: „Wie alt war Jon eigentlich, als du in die Mannschaft kamst?“ Alice sah Kim überrascht an. Doch schließlich meinte sie: „Das ist eine gute Frage. Ich glaube, er war so alt wie ich, 16. Er war auf dem besten Wege eine Meuterei einzuleiten, da kam ich in sein Leben. Anfangs war es für die Mannschaft und mich sehr schwer auf einen 16-jährigen zu hören, doch wir konnten uns dazu durchringen ihm eine Chance zu geben. Er hat mich immer wie ein Stück Dreck behandelt. Aber nach ein paar Wochen hat er es zu weit getrieben.“ Nach diesem Satz trat eine Pause ein. Kim wollte schon nachfragen, warum Jon es zu weit getrieben hatte, doch sie sah die Wut und das Feuer in Alice Augen, also ließ sie es lieber bleiben. Dann erzählte Alice weiter: „Ich hab ihm eine Reingehauen. Und ehe ich mich versah, waren wir schon in die wildeste Prügelei verwickelt. Natürlich habe ich gewonnen. Er hatte ein blaues Auge, eine blutige Nase und viele Blutergüsse und blaue Flecken. Aber mich hat’s auch erwischt.“ Sie knöpfte ihre Bluse ein wenig auf und entblößte ihren rechten Oberarm. Es war kein schöner Anblick. Es fehlte ein kleines Stück und darum herum sah man die Bissspuren eines jungen Mannes. „Das war Jon, da hat er zugebissen. Hübsch, nicht? Ein schönes Andenken. Aber Jon war bewusstlos. Und da wir keinen Arzt an Bord hatten, habe ich meine Wunden selbst versorgt und mich dann Jon zugewandt. Ich habe mich um ihn gekümmert, Tag und Nacht. Als er wieder wach geworden ist und mich neben sich gesehen hat, ist er erst mal hochgeschreckt und hat geschrieen wie am Spieß. Er hat so was von geschrieen, die ganze Mannschaft hat gedacht, er würde skalpiert und ist in seine Kajüte gestürmt. Ich hab mich verdrückt. War mir zu doof, mich um ein schreiendes Kleinkind zu kümmern. Jon hat Tagelang nicht mit mir gesprochen, dann hat er vorsichtige Annäherungsversuche gemacht und hat immer mehr mit mir geredet. Später sind wir dann Freunde geworden. Doch kurz nachdem wir die Meuterei durchgezogen haben, bin ich losgezogen um meine eigene Mannschaft zu gründen. Er hat mir das schon immer übel genommen und tut es heute noch.“ Es trat Stille ein. Eine sehr bedrückende Stille. Dann fügte Alice noch hinzu: „Gehen wir noch runter was essen?“ Kim war dankbar über den Themawechsel. Das Mädchen nickte und die beiden gingen hinunter, um etwas zu essen. Für die Uhrzeit war viel los. Kim ging hinter Alice her und tat sich dasselbe auf den Teller wie sie. Dann gingen sie zu einem freien Tisch und setzten sich. Kim sollte Alice alles über das Treffen mit den Geistern erzählen, sie tat wie ihr geheißen und ging dabei bis in das kleinste Detail. Alice war wirklich fasziniert. Kim musste die Geschichte noch drei Mal erzählen. Ganz besonders der Teil mit der Sonne hatte es ihr angetan, denn Kim musste ihn, abgesehen von den dreimal, noch fünfmal erzählen, erst dann gab sich Alice zufrieden. Kims Essen war schon fast kalt. Es schmeckte nicht besonders, dennoch aß sie es auf. Später, als Alice und Kim auf dem Weg nach oben waren, fragte Alice: „Sag mal, wusstest du schon, dass es hier heiße Quellen gibt? Die sollen anscheinend sehr entspannend sein. Wollen wir beide morgen mal hingehen?“ Kim war begeistert von dieser Idee und rief aufgeregt: „Au, Ja, das müssen wir unbedingt machen!“ Den Rest des Weges gingen die zwei schweigend nebeneinander her. Kim wollte als erste ins Bad, doch auch Alice wollte sich so schnell wie möglich fertig machen, um dann schlafen gehen. Also knobelten sie aus, wer als erster ins Bad durfte. Kim hatte Stein und Alice Schere. Kim sollte ja nun eigentlich als erste ins Bad, doch Alice war eine schlechte Verliererin und huschte ins Bad, als Kim gerade ihre Sachen zusammensuchte. Nun musste sie doch warten. Als Alice endlich wieder raus kam, stapfte Kim beleidigt an ihr vorbei und schloss die Tür ärgerlich hinter sich zu. Sie musste dringend duschen und während sie das tat, dachte sie noch einmal über das nach, was in letzter Zeit passiert war. Wie Jon sie mitgenommen hatte, wie gemein er zu ihr gewesen war, wie er ihr das Medaillon geschenkt hatte, er fast gestorben war, wegen diesen seltsamen Untoten, wie sie die Sonne hatte aufgehen lassen und ihm damit schon fast das Leben gerettet hatte, als sie auf die Insel gekommen waren und sie bei ihm im Zimmer übernachtet hatte, wie sie das Weihnachtsgeschenk für Jon gekauft hatte. Sie dachte auch über den Traum, Alice und den heutigen Abend nach. Es war so viel passiert, dass es ihr gut tat ihre Gedanken wieder zu ordnen. Dann, nach einer ausgiebigen Dusche, verließ sie das Bad und sah, dass Alice es sich in ihrem Bett bequem gemacht hatte. Jetzt hatte Alice es geschafft Kim gänzlich aus der Fassung zu bringen. Das ging entschieden zu weit! Was dachte sich diese Person eigentlich? Es sich einfach in ihrem Bett gemütlich zu machen. Es blieb Kim also nichts übrig, als sich in das unbequeme Ersatzbett zu legen und zu versuchen einzuschlafen. Das war allerdings sehr schwer, denn dieses vermaledeite Bett quietschte und war hart. Letztlich schaffte sie es doch noch einzuschlummern. „JON!“, schrie sie mit Tränen in den Augen. Er war tot und Kim konnte nichts mehr für ihn tun. Alle Piraten, auch die, die bis zu ihrem schrei gekämpft hatten, drehten sich um und sahen sie an. Kim hörte, wie die Untoten hämisch lachten. Sie konnte nicht mehr, warum er? Warum von allen Piraten auf dieser gottverdammten Welt ausgerechnet Jon? Nein, das durfte nicht sein! Das Mädchen griff wie in Trance zu Jons Säbel und ging auf die Untoten los. Sie spürte nichts. Nur der Hass füllte sie. Kim dachte an nichts. Ihr Kopf war wie leer gefegt. Die anderen Piraten wichen erschrocken vor ihr zurück und das war auch gut so. Sie hätte jeden, der ihr in den Weg kam, niedergestochen. Auch die Untoten wichen vor ihr zurück. Doch es nützte ihnen nicht sonderlich viel, denn Kim ging immer wieder von neuem auf sie los, aber plötzlich umschloss ein Untoter seinen Säbel fester und schlich sich von hinten an Kim an. Er hob den Säbel und ließ ihn tief in ihren Rücken fahren. Kim schrie laut auf und fand sich in dem Ersatzbett wieder. Sie sah sich um. Alice saß senkrecht im Bett und rannte im nächsten Augenblick auch schon zu ihr. Sie kniete sich neben Kim und fragte: „Was ist los? Ist dir was passiert?“ Kim fühlte sich grauenhaft. Sie machte den Mund auf und wollte antworten, doch es gelang ihr nicht. Ihr gesamtes Vokabular schien wie weggeblasen. Plötzlich stand Jon in der Tür und sah Kim und Alice entgeistert an. Dann fragte auch er: „Was ist denn hier los? ...Kim?“ Das Mädchen war bewusstlos zurückgesunken. Als sie wieder erwachte, schien die Sonne durch das Fenster ins Zimmer. Jon und Alice saßen neben ihr und sahen sie besorgt an. „Na? Bist du wieder wach?“, fragte Jon leise und lächelte milde. Kim sah ihn an und er sah sie an. So ging das eine ganze Weile weiter, bis Alice genervt rief: „Wie lange wollt ihr euch eigentlich noch anstarren?“ Jon sah verlegen weg und Kim stierte Alice finster an. Immer musste sie sich einmischen. Sie wollte schon etwas sagen, doch es kam nichts als ein Krächzen dabei heraus. Jon sah Kim wieder an. Diesmal aber ernst. Dann fragte er: „Was hast du diesmal geträumt?“ Beide sahen sie Kim neugierig an. Sie wollte aufstehen doch Jon hielt sie zurück. „Was willst du machen?“, fragte er väterlich. Kim formte lautlos die Worte: Ich brauche etwas zum schreiben. „Könntest du das noch einmal etwas langsamer wiederholen?“ Jon hatte offenbar bemerkt, dass sie nicht sprechen konnte. Sie formte immer wieder langsam dieselben Worte, bis Jon es endlich begriffen hatte und er Alice losschickte einen Block Papier und einen Stift zu holen, diese verließ daraufhin murrend das Zimmer. Jon wollte anscheinend sichergehen, dass niemand sie hören konnte, denn er ging zur Tür, öffnete sie und sah auf den Flur hinaus. Dann schloss er die Tür wieder, ging ins Bad und kam mit einem Becher in dem eine leicht bläulich schimmernde Flüssigkeit war. Er setzte sich an das Kopfende des Bettes. Dann sagte er ruhig: „Trink das, es wird helfen. Vertrau mir einfach und wir müssen nicht auf Alice warten.“ Skeptisch begutachtete Kim die Flüssigkeit, schwenkte den Bescher ein wenig hin und her und trank es schließlich in einem Zug. Es schmeckte grauenhaft, so süß, als tränke sie puren Süßstoff, doch es schien zu wirken und sie begann zu erzählen. Sie erzählte Jon diesmal alles und ließ nichts aus. Als sie geendet hatte, sah Jon sie erwartungsvoll an. Sie dachte schon, er wolle mehr hören, da ging er zum Fenster und blickte nach draußen in die Schneelandschaft. Dann sagte er: „Du bist schwer erkältet. Du solltest lieber im Bett bleiben. Wenn es dir lieber ist, …“ Doch weiter kam er nicht, denn Alice kam mit hochrotem Kopf hereingestürmt. Sie sah aus, als ob sie gleich explodieren würde. „Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Jon verdutzt. „Ich musste… durch die halbe… Stadt rennen,… weil die an der… Rezeption keine… solchen Sachen… rausrücken. Und dann… hab ich… vergessen,… dass heute… Sonntag… ist und sonntags … alle Läden… geschlossen haben.“ Sie musste nach jedem zweiten Wort Luft holen, so verausgabt hatte sie sich. Hatte sie das alles wirklich nur für Kim getan? Da sagte Jon auch schon: „Jetzt ist es sicher, dass ich sterben werde. Kim, weißt du vielleicht, wann der Traum war?“ „Nein, tut mir leid, das weiß ich… nicht“ Bei ihrem letztem Wort kullerten ihr schon wieder heiße Tränen die Wangen hinunter. Doch trotz allem lächelte sie noch. Sie wusste selbst nicht, warum sie lächelte. Wenn sie ehrlich zu sich war, wusste sie überhaupt nichts mehr. Alice hatte sich inzwischen wieder beruhigt und kam zu ihr herüber. Sie nahm Kim in den Arm. Jetzt war Kim richtig froh, dass Alice da war. Aber, warum war Alice eigentlich da? Und wo war ihre Mannschaft? Aber vor allem: Was wollte Alice hier? Die Fragen häuften sich. Kim beschloss später mal Jon zu fragen und ließ die Umarmung, jetzt mehr gezwungen, über sich ergehen. Jon ergriff wieder das Wort: „Ehm, Kim, Alice und ich gehen mal runter und holen dir etwas zu essen.“ Kim formte hastig die Worte: Wenn du ihr ein Wort sagst, bist du ein toter Mann! Jon lachte kurz auf und nickte ihr zu. Dann wandte er sich zur Tür, ging durch das Zimmer und schritt erhobenen Hauptes hindurch. Hinter sich schloss er sie wieder. Jetzt war Kim allein. Sie wollte nicht allein sein. Das Mädchen fühlte sich wie eine Verräterin, doch sie bemerkte nicht, dass sie nicht ganz allein war. Sie bemerkte auch nicht, dass sie, seit Jon die Tür geschlossen hatte weinte. Kim weinte bitterlich heiße, dicke Tränen. Doch sie spürte es nicht, weil ihr Gesicht mindestens genauso heiß war. Sie griff zum Nachttisch und nahm ihr Taschentuch. Sie putzte sich ausgiebig die Nase, da schlug sie jemand von hinten nieder. Als sie erwachte, lag sie nicht mehr im Bett unter der kuschelig, warmen Decke, sondern sie lag zwischen zwei Fellen. Sie war im Wald und bewegte sich vorwärts, oder eher rückwärts. Sie wollte aufstehen, doch sie war gefesselt. Sie wollte um Hilfe rufen, doch sie war geknebelt. Also ließ sie alles bleiben und versuchte, sich ein bisschen bequemer hinzulegen, da spürte sie ein leichtes Stechen in ihrem Hals. Es wurde immer stärker und stärker. Kim ignorierte den Schmerz, was verdammt schwer war, und versuchte unter sich zu schauen. Sie lag auf einem Schlitten. Gerade wollte sie probieren die Person, die sie zog, zu erkennen, da rief jemand: „He! Sie ist aufgewacht! Was sollen wir jetzt tun?“ „Lass sie doch! Warum sollten wir uns um sie kümmern? Der Boss hat nur gesagt, wir sollen sie zum Schiff bringen!“ Zum Schiff? Kim verstand nichts mehr, sie hatte nur Angst, dass sie Jon nie mehr sehen würde. Jon würde sie suchen gehen. Aber wie sollte er sie finden? Sie wusste ja selbst nicht, wo sie sich befand. Sie legte den Kopf wieder auf den Schlitten und wollte wieder schlafen, da kam ihr eine Idee. Sie könnte doch eine Spur legen. Ja! Das war eine gute Idee. Sie würde eine Spur legen; aber mit was? Mit dem Fell! Genau! Kim begann kleine Büschel aus dem Fell zu rupfen und weil es an den Seiten offen war, ließ sie sie hin und wieder einen fallen. Kim fühlte sich schon viel sicherer, da begann es auf einmal zu schneien. Das durfte doch nicht wahr sein! Wenn Schnee lag, sah man das Fell nicht mehr. Doch sie machte trotzdem weiter. Egal wie hoffnungslos es auch zu sein schien. Und siehe da, es hörte schlagartig auf zu schneien. Kim dachte, es hätte was mit ihren Zauberkräften zu tun, denn immer, wenn sie in Not war, oder dringend Hilfe benötigte, geschah etwas, dass ihr half. Das Mädchen war heilfroh. Jon würde sie finden, da war sie sich sicher. Die ganze Fahrt über warf sie die Büschel. Auf einmal war es ein anderes Gefühl mit dem Schlitten zu fahren und schon kam eine Gestalt auf sie zu. Kim kannte die Person nicht und bekam es mit der Angst zu tun. Was würde jetzt mit ihr geschehen? Waren das eigentlich Piraten, die sie da entführten? Jetzt überfielen Kim wieder Fragen, wie schon bei Alice zuvor. Sie hatte Angst, große Angst. Aber sie riss sich zusammen und ließ es über sich ergehen, nur den Himmel zu sehen und zu spüren, von zwei fremden Personen getragen zu werden. Sicher suchten Alice und Jon schon nach ihr und fanden bald ihre „Fell-Spur“. Dann würde alles bald vorbei sein. Sie wurde abgelegt und die beiden, die sie getragen hatten entfernten sich rasch. Kim lauschte angestrengt, ob sie jemanden hören konnte und tatsächlich: zwei Piraten unterhielten sich: „Was meinst du, hat der Boss mit ihr vor?“ „Ich weiß es nicht, aber ich glaube, er will sie zu den Untoten bringen.“ „Warum denn das?“ „Es gehen Gerüchte um, dass sie die Hexe der Prophezeiung ist.“ „Echt? Ich habe immer geglaubt, das wäre nur ein Mythos!“ „Anscheinend nicht…“ „Glaubst du, sie hat Hunger?“ „Na ja, sie hat den ganzen Tag noch nichts gegessen.“ „Ach so? Ich geh mal zu ihr hin.“ Aus der Richtung, von der die Stimme kam, kamen nun rasche Schritte immer näher, bis letztlich jemand vor ihr stand, das Tuch entfernte, ihren Mund unsanft öffnete und etwas hinein schob. Kim wollte es schon wieder ausspucken, da fing es an in ihrem Mund zu schmelzen. Es war Schokolade. Genüsslich ließ sie sich die Schokolade auf der zunge vergehen und als sie ganz verflossen war, sagte sie zu dem Piraten, der ihr die Schokolade gegeben hatte: „Danke sehr.“ „Bitte, bitte, keine Ursache, Kleine. Ich habe noch mehr davon“, grinste der, brach die Schokolade und aß selbst ein Stück. Bei diesem Anblick lief ihr das Wasser im Munde zusammen und sie fragte zögerlich: „könnte ich wohl noch so ein Stückchen bekommen? Ich hab schon so lange nichts mehr gegessen…“ Daraufhin schob ihr der Piratdas letzte, große Stück zwischen die Lippen und lachte: „Na dann wünsche ich dir einen gute Appetit… Oh, wie unhöflich von mir, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt… ich bin Larry. Und wem habe ich das Vergnügen meine Schokolade zu teilen?“ „Ich bin Kim, angenehm. Aber, was habt ihr mit mir vor? Und wer ist euer Kapitän? Wollt ihr mich wirklich zu den Untoten bringen?“ „Halt, halt, halt! Immer langsam mit den jungen Pferden. Ich kann dir das leider nicht sagen. Der Captain hat uns ausdrücklich verboten, Fragen zu beantworten. Ich würde dir nur zu gern alles erzählen, weil ich es nicht fair finde, dass wir ein Kind so behandeln. Aber ich darf nicht, leider.“ Schon wieder hatte sie jemand Kind genannt, aber diesmal beherrschte sie sich. „Komm, ich führ dich ein bisschen rum.“, sagte Larry. Er band sie los und half ihr auf die Beine. Und sie bemerkte, dass sie noch immer ihr Nachthemd anhatte, daher fragte sie ihn: „Sag mal, Larry, habt ihr hier irgendwelche Wintersachen, die mir passen?“ „Nein“, erwiderte er. „Aber wir haben deine Winterkleidung mitgenommen. Du kannst dich gern in meiner Kajüte umziehen.“ Kim rief erleichtert aus: „Danke, das wäre wirklich toll!“ Dann fügte sie rasch hinzu: „Natürlich nur, wenn es dir nichts ausmacht.“ Larry lachte und schüttelte den Kopf: „Natürlich macht es mir nichts aus! Komm mit, ich zeige dir meine Kajüte.“ Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung ihm zu folgen und sie gehorchte folgsam. Die beiden gingen durch eine Tür, eine Treppe hinunter und einen langen Korridor entlang. Dann blieben sie vor einer Tür stehen, die, genau wie die Anderen, braun war und an der auch ein Namensschild hing. Auf dem Schild stand in krakeliger Schrift Larry. Dieser öffnete die Tür und sagte feierlich: „Willkommen in meinem kleinen Reich! Deine Kleidung liegt auf dem Bett. Ich lasse dich jetzt allein, komm dann raus, wenn du fertig bist.“ „Ja, mach ich, danke!“, erwiderte sie. Larry ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Kim ging als erstes zum Fenster, um zu checken, ob ihr irgendetwas bekannt vorkam. Aber sie erkannte nichts, als Wasser, soweit das Auge reichte. Sie vermutete, dass sie sich auf der Seite des Schiffes befand, die zum Meer hin lag. Enttäuscht ging sie zum Bett und setzte sich. Kim nahm ihre Sachen und zog sich um. Sie hoffte, dass Alice und Jon sie bald befreiten, doch glaubte sie selbst kaum mehr daran, dass Jon und Alice sie finden würden. Als sie sich fertig umgezogen hatte, trat sie aus der Tür und sah sich um. Larry war nirgendwo zu sehen. Einen Moment lang blieb sie unentschlossen stehen, aber plötzlich hörte sie jemanden hinter ihr rufen: „BUH!“ Kim zuckte zusammen und wirbelte herum. Larry stand hinter ihr. Als Kim ihn erblickte, rief sie verärgert: „Was sollte das denn eben? Ich habe mich fast zu Tode erschrocken!“ Larry hingegen konnte nicht antworten, denn er kugelte sich schier vor Lachen. Kim jedoch fand das gar nicht lustig. Sie fand es geschmacklos und kindisch. Das Mädchen reckte ihre Nase hoch in die Luft und stolzierte in Richtung Treppe. Larry stakste hinter ihr her und fing langsam an, sich zu beruhigen. Er lief vor sie und versuchte sich zu entschuldigen, doch es kam nichts Richtiges dabei heraus. Als sie die Treppe erreichten, kam ein anderer Pirat auf sie zu und sagte: „Da seid ihr ja! Du sollst das Deck schrubben, Schätzchen. Und du sollst wieder auf deinen Posten in der Kombüse zurück, Larry!“ Kim, die immer noch sauer war, ließ ihren Frust an dem Piraten aus: „Hey, jetzt hör mir mal zu, okay? Erstens bin ich weder dein, noch irgendjemand sonstigem Schätzchen und ich wünsche verdammt noch mal nicht so genannt werden, schließlich haben mir meine Eltern nicht umsonst einen Namen gegeben! Und zweitens: Ich arbeite in der Kombüse, dass das mal klar ist! Ich kann nämlich viel besser kochen, als putzen! Und euren Fraß esse ich mit Sicherheit nicht! Außerdem bekommt ihr heute mal Nachhilfe in Sachen Benehmen! Und drittens: Nur weil du etwas älter bist als ich, heißt das noch lange nicht, dass man mich behandeln kann wie Dreck! Ist dir das klar? Na dann bist du jetzt aufgeklärt und kannst gehen, Schätzchen!“ Und das tat er dann auch. Kim hatte sogar den Eindruck, er wäre während ihrer Rede etwas eingegangen. Es tat ihr richtig gut, ihren Frust an jemanden auszulassen. Sie sah sich nach Larry um und sah, dass der sie mit großen Augen anstarrte. Kim ärgerte das und sie fuhr ihn an: „Was glotzt du so doof?“ „Weißt du, wer das war?“ „Nein, und es ist mir auch ziemlich egal!“ „Das war so ziemlich der härteste Kerl hier an Bord!“ „Na dann seid ihr eben alles Memmen! Und jetzt zeigst du mir gleich mal, wo die Kombüse ist!“ „Ai ai!“, rief Larry und ging die Treppe hinauf. Dann gingen sie zum Bug des Schiffes und stiegen dort wieder eine Treppe hinunter. Jetzt befanden sie sich im Essraum. Dort standen zwei große Tische und am anderen Ende des Raumes befand sich eine Tür. Larry steuerte direkt auf diese Tür zu und ging hindurch. Als Kim durch die Tür sah, traf sie nahezu der Schlag. Das war keine Küche mehr, das war ein Schlachtfeld! Alle redeten durcheinander, bis Kim eintrat und „RUHE!“ rief. Im Nu wurde es still und alle sahen sie neugierig an. Dann sprach sie weiter: „Ab sofort bin ich der Chef in der Kombüse!“ Unruhiges Gemurmel machte sich breit. „Falls jemand was dagegen hat, soll er es gleich sagen.“ Stille überkam die Menge wieder. „Erst einmal muss die Menge der Köche um die Hälfte reduziert werden. Dann müssen wir die Küche aufräumen. Denn das hier ist keine Küche, sondern ein Schlachtfeld! Also, jeder der freiwillig gehen will, der geht jetzt!“ Ein paar Piraten verließen gleich die Kombüse und sahen heilfroh darüber aus. Kim ging durch die Reihen der Köche und sonderte manche aus. Am Schluss waren nur noch drei Piraten da. Die teilte Kim auch noch ein, die Kombüse sauber zu machen. Und als dann alles glänzte, ging sie zum Vorratslager und sah hinein. Hier sah es gut aus. Sie ging hinein und stellte rasch ein Menü zusammen. Sie teilte das den anderen mit und sagte jedem, was er genau zu tun und zu lassen hatte. Am Schluss hatte jeder etwas zu tun und rührte in einem Topf, schnitt Gemüse oder erstellte einen Plan für das spülen, decken und abräumen. Den wollten sie dann später draußen im Essraum aufhängen. In der Küche hing zum Glück eine Uhr und so konnte Kim sehen, ob sie sich beeilen mussten, oder sich Zeit lassen konnten. Sie waren genau im Zeitplan. Um sechs Uhr abends sollte es Essen geben. Und sie wurden schon etwas früher als geplant fertig, daraufhin schickte Kim Larry los, die Mannschaft zusammen zu trommeln. Kurze Zeit später saßen alle am Tisch. Kim stellte sich auf einen Stuhl, nahm ein Glas und eine Gabel und stieß mit der Gabel gegen das Glas. Anschließend wartete sie bis Ruhe herrschte. Dann sagte sie: „Hört zu Piraten! Heute werdet ihr lernen manierlich zu essen! Und glaubt mir, in jedem von euch steckt ein Gentleman. Also: Wir werden den Mund beim Kauen zumachen, wir werden mit Messer und Gabel essen und nicht mit den Fingern. Die Suppe essen wir auch mit dem Löffel und schlürfen dabei nicht! Und man spricht nicht mit vollem Mund. Zur Haltung: Wir sitzen gerade auf unserem Stuhl und legen die Hand, die wir nicht gebrauchen neben den Teller, außerdem führen wir das Besteck zum Mund und nicht das Gesicht zum Besteck. Nun, ich denke, das war’s für’s Erste. Ich wünsche euch allen einen guten Appetit!“ Sie setzte sich und klatschte dreimal in die Hände. Kaum hatte sie das getan, kamen auch schon die drei Köche mit dem Essen herein und stellten alles auf den Tisch. „Ach ja!“, rief Kim „Bevor ich es vergesse: jeder, der die Regeln nicht einhält, bekommt morgen nichts zu essen!“ Die Rede hatte gewirkt. Die Piraten konnten sich benehmen, wenn sie nur wollten. Keiner benahm sich daneben, aber alle lobten die Köche und die meisten sagten: „Das Mädchen in der Küche war eine gute Idee. Wir hatten schon lange nichts mehr, das so gut geschmeckt hat!“ Kim fühlte sich dadurch geschmeichelt und aß zufrieden zu Ende. Nach dem Essen trug sie mit den anderen, die zum Spüldienst eingeteilt waren ab und half ihnen. Zusammen dauerte es nicht lange und die Kombüse sah wieder blitzblank aus. So konnte sie sich wieder ihrem Hauptproblem zuwenden, ihrer Flucht. Sie wollte Larry nach ihrem Quartier für die Nacht fragen, doch er war verschwunden. Kim fragte jeden Piraten, der ihr in die Arme lief, ob er wüsste, wo Larry denn sei. Keiner wusste es. Das Mädchen suchte das ganze Deck ab, fand ihn aber nicht. Sie schaute sogar in seiner Kajüte nach. Doch auch dort war er nicht. Schließlich gab sie es auf und fragte jemanden anderes. Der Pirat, den sie gefragt hatte, führte sie missmutig zu einem kleinen Raum unter Deck, in dem es ein Klappbett, einen Kleiderschrank und einen Schreibtisch mit vielen Schubladen gab. Kim bedeutete dem Piraten, sie allein zu lassen. Als er draußen war, warf sie sich aufs Bett und dachte an die anderen. Ob sie wohl schon nach ihr suchten, oder einfach nur dachten, sie hätte sich irgendwo versteckt und wollte allein über ihren Traum nachdenken. Ihr Traum! Würde das wirklich passieren? Sie wollte nicht, dass Jon starb, sie wollte auch selbst nicht sterben, doch was empfand sie wirklich für Jon? Okay, er war freundlich und sah gut aus, aber verliebt? Nein, das war sie nicht. Er war eher wie ein großer Bruder, der sich um sie kümmerte. Aber mehr auch nicht. Hoffentlich kam er bald, um sie zu holen. Aber so lange konnte Kim nicht warten, das wusste sie. Sie schloss die Augen. Ihr war langweilig und nichts war da, mit dem sie sich beschäftigen könnte. Wobei? Vielleicht war ja etwas in dem Schreibtisch. So stand sie auf und ging zu dem Schreibtisch hinüber. Sie machte die erste Schublade auf, nichts. Sie machte die zweite Schublade auf, wieder nichts. Nun gab es nur noch eine Schublade auf der Seite. Die öffnete sie auch noch, doch auch diese war leer. Sie begab sich jetzt an die andere Seite des Schreibtisches. Sogleich öffnete sie hier auch die erste- und die zweite Schublade. Auch hier fand sie nichts. Das Mädchen starrte einen Moment auf diese eine, letzte Schublade. Es kam ihr vor, als ob dieser Moment eine halbe Ewigkeit verweilte. Irgendetwas hielt sie davon ab, die Schublade zu öffnen. Die Luft schien plötzlich zum schneiden dick. Kim stockte der Atem. Sollte sie stur bleiben und die unheilvolle Schublade öffnen, oder sollte sie ihrem Gefühl vertrauen und lieber die Finger davon lassen? Sie war hin und her gerissen. Auf der einen Seite war sie furchtbar neugierig und wollte unbedingt sehen, was sich in dieser geheimnisvollen Schublade befand. Auf der anderen Seite hatte sie auch Angst vor dem Unbekanten, vor dem sie alles in ihrem Körper warnte, bis auf ihren Willen. Und der siegte letzten Endes doch über ihren Verstand. So öffnete sie auch noch die letzte Schublade. Sie war auf alles gefasst, auf Monster, auf Gespenster und sonstige Gruselgestalten, aber nicht auf das! In dieser einen, letzten, geheimnisvollen Schublade, lag nur ein etwas verstaubtes Armband, weiter nichts! Warum hatte ihr Körper sie nur vor so etwas gewarnt? Kim verstand sich selbst nicht mehr. Wurde sie jetzt verrückt? Sie nahm das Armband aus der Schublade, legte sich auf das Bett und betrachtete das Schmuckstück näher. Man konnte fast nichts mehr darauf erkennen, also beschloss sie los zu ziehen, um das Armband abzuwaschen. Kim ging an Deck, auf die Brücke zum Land, konnte dies aber nur in Begleitung zwei stämmiger Piraten tun, weil diese Angst hatten, sie könne fliehen. Sie wusch das außergewöhnliche Schmuckstück. Als sie es wieder aus dem Wasser nahm, glänzte es verdächtig hell. Ehe es auch die zwei Piraten, die sie begleiteten, sehen konnten, nahm sie es schnell unter ihre Jacke und ging schnurstracks in ihre Kajüte zurück. Kim war fasziniert. Sie konnte ihre Augen nicht mehr von dem Symbol in der Mitte von dem Armband richten. Irgendwo hatte sie dieses Zeichen schon mal gesehen, aber wo nur? Nun dachte Kim darüber nach, das Armband anzuprobieren. Jetzt spielten ihre Alarmglöckchen verrückt. Doch sie achtete nicht darauf. Nicht noch einmal würde sie diesen Kampf mit sich selbst eingehen. Kim war wie in Trance, als sie sich das Armband über die Hand und dann über ihren Arm streifte. Sie wartete auf irgendetwas besonderes, das nun passieren müsste. Doch es geschah nichts. Sie wollte das Armband wieder abnehmen. Doch was sollte das? Es musste doch gehen! Kim bekam dieses dumme Ding einfach nicht mehr ab. War das Zufall? Wenigstens wusste sie jetzt, dass sie nicht verrückt war. Eigentlich hätte sie es ganz leicht abbekommen sollen, denn es hing sehr lose an ihrem Arm. Was sollte sie jetzt nur tun? Schon wieder hatte sie ein Problem mehr am Hals! Wie sollte sie das alles nur bewältigen? Weinend, vor Überlastung, Trauer und Zorn auf sich selbst, warf sie sich auf das Bett. Kim bemerkte nicht, wie der Schlaf schon eine Hand über sie gelegt hatte und nun mit der Zweiten nach ihr Griff, um ihr Trost zu spenden, aber auch, um sie zu den Träumen zu schicken, die sie in den letzten Nächten heimsuchten. „Wo könnte sie nur sein?“, fragte eine Männerstimme. Kim erkannte sie sofort. Es war Jons Stimme. „ Ich weiß es auch nicht.“, antwortete ihm Alice Stimme. Kim wollte sich umsehen, doch sie konnte beim besten Willen nichts erkennen. Es war stockfinster um sie herum. „Wir haben schon die ganze Insel abgesucht.“, seufzte Alice. „Nun ja, nicht alles. Wir haben noch nicht an der ’Devil’s Creek’ gesucht.“ „Ach, bleib doch realistisch, Jon. Sie wird niemals dort sein. Und wenn wir doch dort suchten, kämen wir wahrscheinlich um, oder fänden nur ihren armen kleinen leblosen Körper.“ „Vielleicht hast du Recht, aber versuchen sollten wir es einmal.“ „Du riskierst dein eigenes Leben für dieses hochnäsige, trotzige und eingebildete Gör? Du spinnst doch! Für mich würdest du das niemals tun! Was hat sie, was ich nicht habe? Sag nichts! Ich kann es mir schon denken! Sie hat diese, diese Fähigkeit und hat dir schon einmal das Leben gerettet! Aber in ihren Träumen stirbst du nicht einfach so! Oh nein! Sie murmelt immer wieder im Schlaf die Worte: Ich liebe dich Jon! Nur dich! Warum musstest du nur sterben?“ Diese paar Sätze säuselte sie ihm mit gespielter Unschuld vor. Kim schäumte vor Wut. Woher wusste sie das nur? „Jetzt mach aber mal halblang! Kim ist für mich wie ein Familienmitglied! Und du musst das akzeptieren!“ „Aber, … aber was meinst du damit?“ „Denkst du etwa, du bist die Einzige die mich seit damals interessiert? Du hast mich verlassen und bist nicht umgekehrt! Wieso bist du eigentlich wieder da?“ „Jon, so beruhige dich doch!“ „Ich soll mich beruhigen? Mich beruhigen? Wer macht denn hier immer Ärger? Wegen wem war Kim so schlecht gelaunt? Und wer erzählt hier immer Versprechen in der Gegend herum, die er sowieso nicht halten wird?“ „Jon, …Jon bitte“ Alice war nun den Tränen nahe und Jons Stimme wurde wieder sanfter: „Alice, … wein doch nicht. Ich … ehm,…ehm…“ Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte. Kim hatte das schon oft beobachtet, als sie an Land waren: Er konnte nicht wirklich mit Frauen umgehen. Für eine Weile konnte sie nur Alices Schluchzen hören. Kim dachte bei sich: „So eine verlogene Zicke! Oh, ja, natürlich, sie weint ja. Wow, das kann ich auch. Aber warum fällt Jon eigentlich darauf rein? Und was heißt, sie hat ihn verlassen? Waren die Beiden etwa,… nein ausgeschlossen! Niemals, oder doch? Oh je, ich weiß gar nicht mehr, was ich denken soll! Ist Alice jetzt meine Freundin, oder meine Feindin? Und was soll ich jetzt von Jon halten?“ „Kim! Kim, was hast du denn?“ Langsam kam Kim wieder zu Besinnung und öffnete die Augen. Sie stand mitten im Raum und starrte zum Fenster hinaus. Sie wirbelte herum und erkannte, dass Larry im Zimmer stand und sie erstaunt musterte. Er dachte wohl, sie sei die ganze Zeit wach gewesen. Da fragte sie ihn: „Wo warst du die ganze Zeit?“ Er antwortete nicht, also fragte sie ihn noch einmal. Larry sah zu Boden. Dann sah er sie erst zögerlich an, wurde aber immer entschlossener. Schließlich sagte er: „Das geht dich nichts an.“ Normalerweise hätte Kim sich jetzt fürchterlich aufgeregt, aber jetzt war sie viel zu müde und durch den Wind, um so etwas Anstrengendes zu tun. Also beschloss sie, gar nichts dazu zu sagen und fragte lieber, warum er sie denn so überrumpelt hätte. Daraufhin antwortete er: „Du musst das Frühstück machen! Die Männer bestehen darauf. Also zieh dich an und dann ab in die Kombüse!“ Er ging rasch hinaus. Kim wusch sich und zog sich sehr gemächlich an. Als sie fertig war, ging sie noch einmal zum Bett, um sich das Armband, welches sie gestern gefunden hatte, noch mal genauer anzuschauen. Doch es war verschwunden. Kim dachte, es könnte vielleicht hinunter gefallen sein, also suchte sie den ganzen Boden ab, auch unter dem Bett. Dann dachte sie, sie könnte es doch auch in eine der Schubladen des Schreibtisches gelegt haben und tatsächlich; in der Schublade war es. Da sie es eilig hatte, ließ sie es achtlos darinnen liegen und ging hinaus zu Larry auf den Flur. Dann gingen sie gleich weiter in die Kombüse. Dort angekommen machte sich Kim sofort ans Werk, das Frühstück vorzubereiten. Es bestand aus Saft, den die Piraten wahrscheinlich in der Stadt besorgt hatten, und belegten Broten. Als sie mit den anderen am Esstisch saß, sah sie ein neues Gesicht, soweit sie es beurteilen konnte. Es war das Gesicht eines Jungen, nicht eines von den erwachsenen Männern. Kim schätzte ihn ungefähr auf 15 oder 16 Jahre. Er sah gar nicht mal so schlecht aus. Sie beschloss, ihn später einmal anzusprechen, doch erst wollte sie in Ruhe fertig essen. Ihre Rede vom gestrigen Abend schien immer noch seine Wirkung auf die Piraten zu haben, denn sie benahmen sich bemerkenswert. Als alle mit dem Essen fertig waren, half sie dem Küchendienst zu spülen und machte sich anschließend daran, den Jungen zu suchen. Sie fand ihn auf Deck, als er über die Reling schaute. Sie stellte sich neben ihn und fragte: „Hallo, ich bin Kim, darf ich fragen, wer du bist?“ Der Junge antwortete nicht. Kim sah ihm ins Gesicht und stellte fest, dass er einen ganz glasigen Blick hatte. Jetzt stupste sie ihn leicht mit der Schulter an. Als er auch darauf nicht reagierte, stupste sie ihn erneut. Diesmal aber so fest, dass er fast drohte umzukippen. Endlich reagierte er und sah sie entgeistert an. „Hä? Was?“, fragte der Junge und gähnte herzhaft. Kim fand das recht lustig und begann zu kichern, doch als sie der Junge noch verwirrter musterte, fragte sie noch einmal: „Erst einmal hallo. Ich bin Kim. Es freut mich, dich kennen zu lernen. Wie auch immer du heißt.“ Der Junge schien sich wieder gefangen zu haben, denn er verbeugte sich und antwortete: „Ich heiße Leonard, aber für dich auch Leo und die Freude ist ganz meinerseits.“ Kim war entzückt, wie wohlerzogen der fremde Junge doch warund reichte ihm die Hand. Er ergriff diese und küsste sie, wie es sich für einen Edelmann gebührte. Als er sich wieder aufrichtete sah sie ihm tief in die Augen und sah das schönste Blau, das sie je gesehen hatte. Sie waren so blau und tief wie das Meer; und so klar. Ihr Blick wanderte hinauf zu seinen blonden, zerzausten Haaren. Kims Blick streifte noch einmal Leos blaue Augen und blieb dann an seinen Lippen hängen. Er lächelte und sie konnte seine strahlend weißen Zähne hinter seinen einmaligen Lippen sehen, die einfach perfekt waren. Kim war wie gebannt, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich hörte, welche eindeutig Larry gehörte, der sehr laut und durchdringend sagte: „Soso, Kim, hast dich also schon mit unserem Schiffsmacho bekannt gemacht, was? Hat er wieder die alte Nummer mit dem „aber für dich auch Leo“ abgezogen?“ Kim spürte wie ihr das Blut in den Kopf schoss und sie lachte verlegen: „Er hat’s versucht.“ „Und du bist voll drauf reingefallen!“, kicherte Leo. „Bin ich nicht!“, fauchte Kim. „Und wie alt bist du überhaupt?“, fragte sie beleidigt. Er antwortete ihr mit fiesem Unterton: “Ich bin 16, meine kleine Leichtmatrosin.“ „Nun ja, das mit uns beiden hätte sowieso nie geklappt, ich bin ja schließlich nur 2 Jahre jünger als du.“, meinte Kim schnippisch. „Und warum nicht, wenn ich fragen darf? Also ich hätte mir da schon was vorstellen können, bei deinen süßen Erdbeerlippen, den paar Sommersprossen, deiner Stupsnase, mit deinen wundervollen grünen Augen und deinen langen, lockigen, braunen Haaren…“, fragte der 16-jährige mit seiner Stimme, die der eines jungen Mannes glich, gekonnt. Zuerst wurde Kim verlegen, noch nie zuvor hatte sie jemand so „angehimmelt“. Doch sie fasste sich gleich darauf wieder und fuhr fort: „Darfst du, Süßer. Und jetzt pass gut auf und spitz die Ohren! Es ist wissenschaftlich bewiesen, dass Mädchen den Jungen um 2 oder 3 Jahre voraus sind. Das bedeutet dann also im Klartext, dass ich dir mindestens 1 Jahr voraus bin.“, sagte Kim selbstsicher und als ob sie mit einem Kleinkind reden würde. Dann fügte sie noch sarkastisch hinzu: „Hast du alles verstanden, oder soll ich es dir noch einmal erklären, Honigbärchen?“ „Touché, aber hallo!“, lachte Larry. „Aber jetzt schrubbt ihr beiden Hübschen erstmal das Deck Da könnt ihr ja weiterflirten.“ Kim, die bis eben noch gelacht hatte, verstummte urplötzlich. Mit einem Mal wurde alles um sie herum dunkel und still. Sie spürte etwas Heißes auf ihrer Wange, doch sie wusste nicht, was es war. Selbst, wenn sie sie mit dem Handrücken über ihre Wangen strich, kam dieses warme Gefühl wieder. Kim konnte an nichts denken, außer…, ja, außer an Jon, ihren Kapitän. Erst jetzt bemerkte sie wirklich, wie sehr sie ihn vermisste. Vor genau 6 Tagen hatte er sie das letzte Mal das Deck schrubben lassen. Doch nun konnte sie den Ärger, den sie damals verspürt hatte nicht mehr nachempfinden. Sie vermisste Jon, obwohl sie erst seit ungefähr einem Tag getrennt von ihm war und sie ihm erst heute in ihrem Traum „begegnet“ war. Das Mädchen sah Jon noch einmal vor ihren Augen. Lachend, frei und glücklich. Im nächsten Moment sah sie ihn blutend am Boden liegen. Sie wusste, dass er tot war und sah an sich herab. Sie war größer. Durch ein schrilles Lachen wurde sie aus ihrer Verwunderung herausgerissen. Sie konnte dieses Lachen sofort zuordnen und blickte hinauf zu der Person, von der das Lachen stammte, zu der Person, der Jon jahrelang vertraut hatte und die ihn jetzt umgebracht hatte. Sie blickte hinauf zu der Person, die zweifellos sie selbst war. Kim blickte noch einmal an sich hinunter und sah Jons Blut an sich kleben… und an dem Säbel, den sie jetzt in der Hand hielt. Die Beine des Mädchens wollten sie nicht mehr tragen und so fiel sie auf den Boden und kauerte neben Jons Leichnam. Nun nahm sie es auch bewusst war, dass sie weinte. Doch sie wollte seinen Tod nicht ungerächt lassen, also stand sie auf und sah sich um. Sie stand im Mittelpunkt eines Kreises aus Piraten von Jons Schiff, doch dies störte sie nicht weiter, Kim nahm sie noch nicht einmal wahr. Schließlich umfasste sie den Griff des Säbels, den sie immer noch in der Hand hatte, mit beiden Händen und stieß zu. Sie rammte sich den Säbel, der noch mit Jons Blut benetzt war, direkt durchs Herz. Doch dieser Schmerz war nichts im Gegensatz dazu, was sie hätte erleiden müssen, wenn sie mit der Gewissheit, Jon umgebracht zu haben, hätte weiter leben müssen. Sie gab keinen Ton von sich, nicht ein Schrei des Schmerzes kam aus ihr heraus. Blut lief über ihre Lippen und sie brach zusammen. Mit letzter Kraft nahm sie Jons Hand, um auch im Tode nicht von ihm getrennt sein zu müssen. Sie vernahm noch leise Stimmen, bis alles um sie herum dunkel und warm wurde. Kim fühlte sich hier geborgen. Die Dunkelheit verwandelte sich in Farben, die sie tröstend einhüllten. Sie wollte nie wieder hier weg. Doch die Stimmen wurden lauter. Sie riefen immer wieder ihren Namen. Mit einemmal wurde es stechend kalt um sie herum. Nun war sie wieder bei Leo und Larry in der eisigen Kälte des Winters der herrschte. „Kim!“, rief Larry verzweifelt. Sie wandte ihren Kopf in die Richtung aus der sie die Stimme vernommen hatte und erkannte verschwommen Larrys Umrisse. Dann sah sie an sich herunter und sah eine kleine Lache rötlich schimmernden Wassers, außerdem erkannte sie, dass sie genauso klein war wie immer. Sie fuhr sich mit den Handrücken über ihre feuchten Wangen, doch sie musste den Versuch, sie trocken zu wischen, aufgeben, denn es flossen immer neue Tränen über ihre Wangen. Also wischte sich Kim mit den Fingern das Kinn ab und entdeckte Blut an ihnen. Zitternd tastete sie ihren Pullover ab, doch dieser war vollkommen trocken. Das Mädchen ließ sich auf ihre Knie fallen und schaute zuerst auf die Hand die auf ihrer Schulter ruhte, dann den Arm hinauf und letztlich in Larrys Gesicht, welches sehr besorgt aussah. „Ich habe ihn umgebracht! Einfach so…“, schluchzte Kim leise. Ihr Blick fiel auf die Pistole, die Larry trug. Kurzerhand fasste sie einen Entschluss und Larry hatte gerade noch genug Zeit zu fragen wen sie denn umgebracht hätte, da schnappte sich Kim auch schon die Pistole und stand auf. Alle die sich bis jetzt um das Mädchen geschart hatten wichen nun zurück, aus Angst sie könnte auf einen von ihnen schießen. Nur Larry blieb an ihrer Seite. Und versuchte sie zu beruhigen, doch Kim tat etwas, mit dem niemand gerechnet hatte, sie hielt sich selbst die Pistole an die Schläfe. Sie stand auf und sah jedem Piraten in die Augen. Bei zwei besonders schönen, die ganz zufällig die Farbe des Meeres hatten, blieb ihr Blick hängen, nun sah Kim alles noch verschwommener, denn ein Schwall Tränen lief ihr über die heißen Backen. Doch auch die Hand auf ihrer Schulter, die sie nun immer stärker wahrnahm, trug zu diesen Tränen bei. Kim mochte Larry und Leo und hatte Angst auch sie in der Zukunft umzubringen. Für sie war das nur ein weiterer Grund zu sterben. Das Mädchen mit der Waffe in der Hand rief schluchzend: „Kommt mir einen Schritt näher und ich bringe mich um!“ „Na und? Kann uns doch egal sein!“, erwiderte ein Pirat neben Kim. Doch sie fauchte ihn an: „Nein, kann es nicht, denn euer Captain will mich zu den Untoten bringen und die können ganz schön ungemütlich werden! Die wollen mich nämlich lebend, wegen meiner Zauberkräfte!“ Kim gelang es gerade noch diesen Satz zu beenden und einige Schritte nach hinten zu tun, da spürte sie eine zweite Hand auf ihrer anderen Schulter und ehe sie reagieren konnte, wurden ihr die Beine weggezogen. Sie landete unsanft, stieß sich den Kopf am Boden und blieb bewusstlos liegen. „Feuer!“, rief eine panische Männerstimme. Kim sah sich um, sie war in dem Dorf, in dem sie früher gelebt hatte. Alles stand in Flammen, es war entsetzlich! Sie erinnerte sich daran, was passiert war, als ihr geliebtes Dorf abgebrannt war. An diesem Tag war Jon in ihr Leben getreten. Sie rannte hinab zum Hafen und tatsächlich, da stand das Piratenschiff. Kim lief die Straßen entlang und sah Jons Mannschaft mit Waffen und Fackeln auf die Verstörten Dorfbewohner losgehen. Doch sie beachtete niemanden. Sie hatte ein Ziel. Und dieses Ziel wollte sie auf jeden Fall erreichen. Eigentlich hätte ihr auffallen müssen, dass nicht nur sie niemanden beachtete, sondern auch niemand sie beachtete. Und das war mehr als merkwürdig, denn normalerweise würde kein Pirat das Mädchen so einfach übersehen, sondern würde sie wahrscheinlich mit einem Schlag ins Genick zu Boden schicken, doch sie hatte anderes im Sinn und zwar Jon. Wenn sie mit ihrer Vermutung richtig lag, müsste er jetzt gerade in ihr Schlafzimmer einbrechen. Ein paar Minuten später stand sie vor ihrem früheren Haus und sah Jon hinauskommen, mit ihrem früheren Ich über der Schulter. Kims früheres Ich brüllte wie am Spieß und als ihr dann auch noch ein Pirat einen Schlag auf den Hinterkopf verpasste, biss sie Jon in die Schulter. Sie grub ihre Zähne tief in sein Fleisch. Die Kim, die bis jetzt nur zugesehen hatte, sah, wie Jon vor Schmerz das Gesicht verzog, doch seinen Griff lockerte er trotzdem nicht. Kim lief freudig auf Jon zu, stellte sich vor ihn und wollte versuchen ihn zu umarmen, doch sie griff durch ihn hindurch. Er achtete auch nicht auf sie, sondern ging einfach durch sie hindurch. Was hatte das zu bedeuten? Sie war doch nicht etwa… tot? Hatte sie etwa abgedrückt, als sie noch auf dem Schiff war und sich die Pistole gegen die Schläfe gedrückt hatte? Im ersten Moment dieser Überlegung war sie bestürzt gewesen, doch schon gleich darauf, dachte sie wieder positiv. Wenigstens konnte sie jetzt niemanden mehr Schaden zufügen. Und sie durfte Jon noch einmal sehen und das war Trost genug für Kim. Sie flüsterte noch einmal: „Jon…“ Und er drehte sich um und sah genau in ihre Richtung, sie dachte schon, er könne sie doch sehen, doch schon rief er: „Garret, kommst du jetzt endlich?“ Kim verspürte einen stechenden Schmerz in ihrem Herzen und wachte im nächsten Moment in dem Bett in ihrer Kajüte auf. Sie sah sich um und sah auf einem Stuhl neben sich einen laut schnarchenden Leo. Sie stand auf und ging zur Tür, sie war abgeschlossen. Als sie sich wieder ins Bett legen wollte, bemerkte sie, dass sie nicht mehr ihre Winterkleidung, sondern einen Schlafanzug, der ihr viel zu groß war, trug. Da sie vermutete, dass Leo sie umgezogen hatte, verlor sie jede Beherrschung und verpasste ihm eine saftige Ohrfeige. Er schrak auf, fasste sich an die Backe, auf der deutlich der Abdruck Kims Hand zu erkennen war und die nun rasch anschwoll, dann sah er das Mädchen verständnislos an und fragte: „Womit habe ich denn die verdient?“ Kim schäumte vor Wut und sie fuhr ihn an: „Trottel! Du hast mich umgezogen und mich dabei halbnackt gesehen!“ Im ersten Moment sah er beleidigt aus, doch dann grinste er sie breit an: „Ich wollte ja, aber die anderen haben mich nicht gelassen, aus Angst, ich könnte dir was antun.“ Kim setzte sich aufs Bett und sah verlegen zu Boden. Dann fasste sie wieder etwas Mut und fragte ihn: „Aber wer hat mich dann umgezogen?“ „Larry.“, kam sofort die Antwort von Leo. Kim sah ihn an und sagte verlegen: „Tut mir Leid wegen der Ohrfeige, aber ich habe einfach die Beherrschung verloren und dann…“ Weiter kam sie mit ihrer Entschuldigung nicht, denn Leo saß schon neben ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Schon gut, Kleines, ich verzeihe deiner süßen Hand.“ Für Kim war jetzt Schluss mit lustig und sie gab ihm auf die andere Backen auch noch eine Ohrfeige, doch für diese würde sie sich nicht entschuldigen, denn die hatte er verdient. Leo stand auf und sah sie an. Er sah sehr seltsam aus, mit den zwei roten Backen, dann meinte er achselzuckend: „Wenn ich dir jetzt noch erzählen würde, dass ich durchs Schlüsselloch geschaut habe, als Larry dich umgezogen hat, würde ich wahrscheinlich meine Zähne verlieren. Leider hat er sich so vor dich gestellt, dass ich überhaupt nichts sehen konnte und er selbst hält sich auch noch die Augen zu, so ein Frauenverachter!“ Das Mädchen hätte eigentlich wütend sein müssen, doch sie war einfach nur froh, dass sie wieder jemand beachtete und seufzte schwermütig. Als Leo das sah, setzte er sich zu ihr aufs Bett und legte seinen Arm um ihre Schulter. Kim umarmte ihn und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. Nun schluchzte sie ohne Hemmungen. Sie war am Ende ihrer Kraft angelangt. Schließlich konnte sie nicht mehr weinen, sondern hatte ihre Augen geschlossen und atmete Leos angenehmen Duft ein, sie umarmte ihn noch immer. Er streichelte ihr trostspendend über den Rücken und kraulte ihr durchs Haar. Kim tat es gut, jemanden zu haben, auf den sie sich stützen konnte. Als sie sich wieder etwas besser fühlte, entschuldigte sie sich: „Jetzt ist dein Shirt ganz nass, verzeih mir bitte.“ „Ach was! Macht doch nichts.“, winkte er ab. Nach einer Pause in der Kim auf ihre Füße sah und Leo anscheinend sehr an der Decke interessiert war, fragte Kim: „Wie lange war ich bewusstlos?“ „Du hast gestern den ganzen Tag und die ganze Nacht durchgepennt, aber sag mal, hast du immer so einen unruhigen Schlaf?“, endete Leo mit einer Gegenfrage. „Nein.“, entgegnete Kim, „Nur wenn ich ‚Visionen’ habe.“ Kim nannte diese Träume, in denen sie sah, was geschehen war, was gerade geschah, oder was geschehen könnte Visionen. Leo wusste das allerdings nicht und erkundigte sich: „Was meinst du denn mit Visionen?“ Kim antwortete ihm leise: „Das sind Träume, die ich seit kurzem habe und die die Vergangenheit, die Gegenwart, oder die Zukunft, wie sie sein könnte, zeigen.“ „Achso.“ „Sag mal, Leo, hast du eigentlich den Schlüssel zu diesem Zimmer bei dir?“ In ihrer Stimme konnte man deutlich die Mutlosigkeit, die Kim gepackt hatte hören. Leo dachte eine Weile darüber nach, was er ihr alles erzählen durfte und sagte dann: „Nein, nach deiner Aktion gestern haben sie uns hier eingesperrt und aus Angst, du könntest mich zum Beispiel im Schlaf überrumpeln, haben sie mir keinen Schlüssel gegeben und mir sämtliche Waffen abgenommen.“ Er lächelte sie an, doch sie konnte nicht zurücklächeln, zwar würde sie sicher ein Lächeln erzwingen können, aber sie wollte Leo nicht anlügen. Und ob dieses anlügen nun durch Worte, oder ein Lächeln gewesen wäre, so wäre es doch das gleiche geblieben. Kim war total niedergeschlagen. Sie legte sich aufs Bett und fragte: „Bleibst du die ganze Zeit bei mir?“ Leo antwortete wahrheitsgemäß: „Nein, wir wechseln uns ab.“ Mit „wir“ meinte er die gesamte Mannschaft. „Und wann kommt Larry dran?“, fragte sie. „Gar nicht mehr. Er war gestern schon dran.“, antwortete der Befragte. „Schade.“, meinte Kim nur. Leo sagte aufmunternd: „Immerhin hast du für den Rest des Tages ja noch mich! Und du kannst mit mir machen was du willst, ich bin dein williger Sklave!“ Er lächelte Kim an. Sie lächelte zurück und grinste: „Na, ob das so gut ist, weiß…“ Das lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Ihr war etwas eingefallen. Kim sprang auf, lief zu dem Schreibtisch, der in ihrem Zimmer stand und riss die unterste Schublade auf. Und da lag das Armband, das sie vorgestern entdeckt hatte. Das Mädchen nahm es vorsichtig heraus und gab es dem völlig verdutzten Leo. Der sah es an, sah hoch zu Kim und wieder zu dem Armband. Kim fragte ihn: „Weißt du, was das ist?“ „Ja, aber ich kann es ehrlich gesagt nicht glauben!“ „Was ist es denn? Es strahlt so eine merkwürdige Energie aus!“ „Nun ja, es gibt da so eine Legende: Es soll mal vor langer Zeit eine Hexe gegeben haben, die, als sie starb, ihre Zauberkräfte in dieses Armband gelegt haben soll, für ihre weiblichen nachkommen.“ Kim blieb stumm, sie wollte ihm nicht erzählen, dass sie womöglich die Nachkommin der Hexe war. Sie setzte sich neben Leo und starrte auf das Armband. Auf einmal fiel Sein Kopf in Kims Schoß. Sie wollte schon aufschreien, da bemerkte sie, wie ruhig und gleichmäßig er atmete. Er schlief. Wahrscheinlich war er die ganze Nacht hindurch aufgeblieben, um ihr Erwachen mitzubekommen. Das Mädchen hob vorsichtig seinen Kopf und legte ihn auf das Kissen. Als nächstes legte sie seine Füße aufs Bett und deckte ihn fürsorglich zu. Eigentlich hätte Kim hellwach sein müssen, aber sie war doch müde, also legte sie sich neben ihn und schlief sofort ein. Als Kim aufwachte, sah sie neben sich einen Leo, der sie breit angrinste. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie seinen Arm eng an ihren Oberkörper gedrückt umklammerte. Leo schien es zu genießen, doch ihr war es einfach nur peinlich, denn schließlich hatte sie ihm noch vorhin eine Ohrfeige gegeben, nur wegen eines Kusses auf die Backe und jetzt drückte sie seine Hand an ihren Busen! Für einen Moment war sie so erschrocken, dass sie Leos Arm nur noch fester umfasste, doch sie hatte sich schnell wieder gefasst und sprang auf. Kim stammelte: „Das tut mir leid, ich… ich wollte nicht,… ich dachte,… und dann, … verstehst du?“ „Macht doch nichts.“, grinste er. Es klopfte an der Tür und im nächsten Moment wurde sie aufgeschlossen. Ein Pirat kam mit einem Tablett auf dem ein paar Scheiben Brot, etwas Butter, Käse, ein Becher und eine Kanne mit Wasser standen herein. Er sagte: „Leo, du kannst gehen, ich übernehme sie jetzt.“ Der angesprochene murmelte etwas unverständliches, grinste Kim noch einmal an, warf ihr eine Kusshand zu und verließ schließlich den Raum. Der Pirat stellte das Tablett auf den Schreibtisch und rückte den Stuhl richtig hin. Kim starrte begierig auf das Essen, das da stand und förmlich danach rief von ihr verzehrt zu werden. Fragend sah sie den Piraten an. Als dieser nur an dem Schrank ihr gegenüber lehnte und ungerührt ihren Blick erwiderte, fragte sie: „Ist das für mich?“ Ruppig antwortete er: „Siehst du noch jemanden anderen hier im Raum, der so begierig darauf starrt?“ Kim fasste diese Antwort einfach als „Ja“ auf und setzte sich an den Tisch. Erst begann sie zögerlich das Brot mit Butter zu bestreichen und biss hinein. Doch aus dem zögerlichen Essen wurde ein hastiges Schlingen. Der Pirat sah ihr schmunzelnd zu. Als sie nach nicht allzu langer Zeit fertig war, grinste er: „Soso, wenn die feine Dame hungrig ist, vergisst sie wohl ihre Manieren?“ Kim schluckte die letzten Bissen hinunter, trank einen Schluck Wasser und antwortete schnippisch: „Solange ich nur hastig esse und sonst auf die Regeln des vornehmen Verhaltens achte, ist das nicht weiter tragisch. Und außerdem ist mir langweilig! Gibt es hier nichts zu tun?“ „Du kannst gerne unsere Kleider flicken!“, entgegnete er hämisch grinsend. „Was? Ich verrichte doch nicht die Arbeit eines Bediensteten!“, rief Kim empört aus und ihr Gegenüber meinte verärgert: „Na du hast Probleme! Wenn jeder so wäre wie du, würde ja bald Anarchie herrschen!“ „Wieso bist du eigentlich so frech? Du sprichst schließlich mit einer Lady.“, gab Kim hochnäsig zurück. „Ha! Lady, dass ich nicht lache! Und von was träumst du nachts?“ „Glaube mir, das willst du gar nicht wissen.“ „Ach. Und wenn du doch eine so wohlerzogene Lady bist, warum duzt du mich dann? Schließlich bin ich doch älter als du und somit eine Respektsperson.“ Seine Stimme triefte geradezu vor Sarkasmus. „Wieso sollte ich vor dir oder deinesgleichen Respekt haben? Gesindel wie du haben keinerlei Anstand und, ach ja, bevor ich es noch vergesse, du willst mich tadeln, weil ich anscheinend nicht genug auf meine Manieren achte? Du besitzt noch nicht mal genug Höflichkeit, um dich vorzustellen!“ „Och je, verzeiht, mein Name ist Darryl Leadham werte Lady.“ Bei diesen Worten verbeugte er sich so tief, dass es die Grenze zum Spott überschritt. Bissig entgegnete sie: „Wenn du dich noch tiefer verbeugst, ertrinkst du noch in deinem eigenen Sarkasmus!“ Er erhob sich, setzte sich auf den Stuhl, von dem Kim gerade aufgestanden war und legte die Füße auf den Tisch. Mit einem gemeinen Unterton in seiner Stimme fragte er: „Wenn dir so langweilig ist, warum massierst du dann nicht meine Füße?“ „Wenn du meine Füße massierst, und den Rest von mir, dann überlege ich mir vielleicht, ob ich dir die Füße massiere.“ „Ha, da ruf ich dann doch lieber Larry, der soll dir dann ein paar Sachen bringen, die geflickt werden müssen.“ „Bitte, tu dir keinen Zwang an, das ist immer noch besser, als dir die Füße zu massieren!“ Das ließ sich Darryl nicht zweimal sagen und er rief nach Larry. Kim konnte schon hören, wie er die Treppe runterpolterte. Er klopfte und fragte durch die Tür: „Was ist denn, Leadham?“ Dieser antwortete prompt: „Unsere pikfeine Dame hier hat sich dazu durchringen können, sich nützlich zu machen. Hol mal ein paar Sachen, die geflickt werden müssen!“ Larry gab keine Antwort, sondern polterte wieder davon. Bis er wiederkam wechselten Darryl und Kim kein Wort. Larry fiel praktisch durch die Tür. Seine Arme waren mit haufenweise Wäsche beladen. Kim schnappte nach Luft. Diese ganzen Sachen sollte sie ausbessern? Bis sie damit fertig war, würde sie alt und grau sein! Aber ihr blieb nichts anderes übrig. Larry legte noch Nadeln und Garn auf den Schreibtisch und zischte Darryl zu: „Nimm deine Füße vom Tisch! So benimmt man sich nicht in Gegenwart einer Dame!“ Er sagte es gerade noch so laut, dass Kim es verstehen könnte und als er aus der Tür ging lächelte sie ihm dankbar zu. Sie sah ihm noch eine Weile nach, dann sah sie zu Darryl. Dieser nickte zur Wäsche. Sie seufzte, nahm sich das erste Hemd, fädelte das Garn durch das Nadelöhr und begann. Als es dunkel wurde, konnte Kim kaum noch etwas sehen, so dass sie sich in den Finger stach. Ein großer Tropfen Blut fiel auf die Hose, an der sie gerade arbeitete. Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Darryl, der bis eben nur mit dem Stuhl geschaukelt und aus dem Bullauge gestarrt hatte, blickte zu ihr. Schließlich fragte er: „Was ist?“ „Ich habe mich gestochen.“ „Ist wohl etwas zu dunkel, oder?“ Kim nickte. Da holte er aus dem Schrank eine Kerze und aus seiner Hosentasche eine Schachtel Streichhölzer. Er zündete die Kerze an und sie warf ein schwaches Licht auf Kims Arbeit. Darryl griff noch einmal in seine Tasche und zog ein Päckchen Tabak und ein Papierchen heraus. Langsam und sehr sorgfältig begann er sich eine Zigarette zu drehen. Den überschüssigen Tabak tat er zum Rest zurück und steckte den Tabak wieder in die Hosentasche zurück. Bevor er sich die Zigarette an der Kerze anstecken konnte, fragte Kim: „Kannst du bitte wenigstens das Fenster aufmachen?“ Noch mit der Zigarette im Mund, ging er an den Schrank, holte Kims Jacke, warf sie ihr zu und sagte: „Dann solltest du dir aber was überziehen.“ Kim war überrascht, dass er wirklich das Bullauge öffnete und sich auch noch um sie gesorgt hatte. Sie zog sich die Jacke an und begann wieder an der Hose zu arbeiten. So saßen sie nebeneinander. Er rauchte zum Fenster hinaus und sie bemühte sich, ihre Arbeit so sorgfältig wie möglich bei dem dürftigen Licht zu verrichten. Jemand rüttelte sie wach und flüsterte: „Kim! Kim wach auf!“ „Lass mich in Ruhe, Darryl! Ich habe keine Lust mehr irgendetwas zu flicken!“ „Wie jetzt? Seh ich etwa aus, wie dieser dreckige Leadham?“ Sie schlug die Augen auf. Vor ihr stand nicht, wie sie erwartet hatte, Darryl, sondern Leo. Auf einmal war sie hellwach. Sie setzte sich auf und starrte ihn mit großen Augen an. Dann fragte sie: „Aber, wo ist denn Darryl?“ „In seiner Kajüte.“, kam sofort die Antwort von Leo. „Und warum ist er nicht hier?“, bohrte Kim nach. „Na weil er denkt, es wäre nicht nötig, dich auch nachts zu bewachen und blöd, wie er ist, hat er den Schlüssel stecken lassen.“ Er zwinkerte ihr zu, dann setzte er sich neben sie. Eine Weile lang saßen sie nur nebeneinander und wechselten kein Wort, doch dann griff Leo sich an den Nacken, ließ seinen Kopf kreisen und stöhnte: „Mein Gott, bin ich verspannt!“ „Oh je, das kenn ich. Nachdem ich den ganzen Tag die Sachen geflickt habe und mich auch noch gestochen habe, kann ich mit dir mitfühlen.“ „Und wie wäre es dann mit einer Massage? Erst massierst du mich und dann ich dich?“ „Versprichst du, dass du mich auch massierst?“ Leo ergriff ihren kleinen Finger mit seinem, hob seine andere Hand dabei und sagte: „Das schwöre ich sogar!“ „Na gut, dann leg dich auf den Bauch.“ „Warte…“ Er zog sein T-Shirt aus und sie konnte seinen durchtrainierten Oberkörper sehen. Als sie sich wieder gesammelt hatte, fragte sie: „Und was wird das, wenn ich fragen darf?“ „Na mit dem Ding kannst du mich doch gar nicht richtig massieren!“ Er legte sich auf das Bett und sagte: „Na dann zeig mal, was du kannst!“ Kim setzte sich neben ihn und begann bei seinem Nacken. Als sie bei seinen Schultern angelangt war stöhnte er leise auf. Kim zuckte innerlich zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. Bei seinen Flanken begann er zu kichern. Als Kim innehielt sagte er: „Tut mir Leid, aber da bin ich extrem kitzelig.“ „Achso.“ Kim setzte wieder an und ihre Finger wanderten immer tiefer. Irgendwie war sie nicht richtig bei der Sache, denn plötzlich ergriff Leo ihr Handgelenk und fragte: „Wie tief willst du denn noch gehen?“ Erst jetzt bemerkte Kim, dass sie ihre Hände wirklich etwas zu weit unten hatte und zog sie wie von der Tarantel gestochen weg. Leo drehte sich um und grinste: „Also, ich hätte ja kein Problem damit, aber ich glaube, dann würde ich diese Nacht nicht überleben.“ Kim lächelte etwas verlegen. Eine peinliche Stille trat ein, dann sagte Leo: „Na los, zieh dein Oberteil aus.“ „Ich soll was?“, keuchte Kim entgeistert. „Soll ich dich denn nicht massieren?“, fragte Leo die Augenbrauen hochziehend. „Geht das nicht mit Oberteil?“ „Theoretisch schon, aber dann ist es nicht mal halb so entspannend.“ Kim seufzte und sagte schließlich: „Na gut, aber du musst dich umdrehen, bis ich es dir sage!“ Wie ihm geheißen drehte er sich, ohne zu murren, um. Kim knöpfte ihr Oberteil auf, legte es auf dem Schreibtisch zusammen und legte sich bäuchlings aufs Bett. Dann sagte sie zu Leo, dass er sich umdrehen könne. Dieser sah natürlich das aufgefaltete Oberteil und begann zu lachen: „Meine Güte, bist du penibel!“ „Lach nicht, sondern mach!“, zischte Kim. Leo setzte sich auf ihren Hintern und als würde er ahnen, was Kim dachte, sagte er: „So kann ich nicht mit meinen Fingern zu tief rutschen und ich verrenk mir nicht den Rücken.“ Mit diesen Worten begann auch er damit, ihren Nacken zu massieren. Kim genoss jede einzelne Sekunde. Nach so langer Zeit konnte sie sich endlich wieder richtig entspannen. Da fragte Leo im Flüsterton: „Darf ich deinen BH aufmachen?“ Kim drehte ihren Kopf soweit es ging zu ihm und fragte entgeistert: „Wie bitte?“ „Darf ich deinen BH aufmachen… bitte?“ „Nein!“, fauchte sie entrüstet. „Na gut.“, flüsterte er und massierte über den BH. Hierbei konnte sich Kim allerdings nicht entspannen, denn das tat ziemlich weh. Schließlich fauchte sie: „Na gut, mach ihn auf.“ Mit einem fast schon zu gekonnten Griff öffnete er den Verschluss und legte dann die beiden Enden sorgfältig zur Seite. Er begann wieder zu massieren und sagte nach einer Weile: „Weißt du eigentlich, dass du einen wunderschönen Rücken hast?“ Aber Kim raunte nur: „Halt die Klappe und mach weiter!“ Sie wusste, dass er schmunzelte, obgleich sie es nicht sah. Als nun auch er bei ihrer Taille angekommen war, rutschte er ein Stück nach hinten, so dass er nun mehr auf ihren Oberschenkeln saß. Und als er das tat, kribbelte etwas ganz schwach in ihrem Bauch. Eigentlich hätte sie sich dafür schelten sollen, aber das Gefühl war so angenehm. Als sie am nächsten Morgen aufwachte lag sie immer noch auf dem Bauch. Ihr BH jedoch war verschlossen und jemand hatte sie zugedeckt. Darryl war bereits wieder in ihrem Zimmer und fragte: „Na? Hat unsere Lady letzte Nacht Besuch bekommen, oder warum liegst du sonst ohne das hier im Bett?“ Er hob ihr Oberteil hoch und grinste. „Gib das her!“, fauchte sie. „Erst erzählst du mir mit wem und dann, was ihr gemacht habt. Dann überlege ich mir vielleicht, ob ich es dir zurückgebe.“ Er lachte auf. Kim wickelte die Decke um sich, stand auf und ging auf Darryl zu. „Gib mir das!“ Sie wollte es gerade schnappen, da hob er es höher. „Oh nein! Was hatten wir abgemacht?“ „Du dreckige Ratte! Mit Leuten wie dir, mache ich gar nichts ab!“ „Von mir aus könntest du dich auch gleich ganz ausziehen!“ Kim spuckte ihm verächtlich ins Gesicht und setzte sich mit angezogenen Beinen wieder auf ihr Bett. Angewidert wischte er sich ihren Speichel aus seinem Gesicht und ging drohend auf sie zu. „Na warte, du kleines Flittchen! Das wirst du büßen!“ Als er das gesagt hatte, schrie Kim aus Leibeskräften, bis Larry durch die Tür gerannt kam. Er sah von Kim, die Tränenüberströmt in eine Decke gehüllt, zusammengekauert auf dem Bett saß, zu Darryl, der Kims Oberteil in der Hand hielt und Kim bedrohlich nahe war. Kim war es, als könnte sie förmlich hören, wie es in Larrys Gehirn klick machte. Er ging zwischen die Beiden und stieß Darryl gegen die Wand. Dann verpasste er ihm einen Fausthieb und schrie: „Was denkst du dir eigentlich? Spinnst du? Sie ist doch nur ein wehrloses Mädchen! Nur, weil du keine abbekommst, musst du dich doch nicht an Kim ranmachen du perverses Schwein!“ Nun kam auch Leo hereingestürmt. Erst stand er etwas unschlüssig im Türrahmen, dann hob er Kims Oberteil auf und reichte es ihr, ohne ein Wort zu sagen. Er hob die Decke um sie herum, so dass sie sich ungesehen anziehen konnte. Als sie fertig war, kam sie unter der Decke hervor und warf sich gegen Leos Brust. Dieser umarmte sie und versuchte, so gut es ging, ihr Trost zu spenden. Unterdessen waren auch einige andere gekommen, angelockt von dem Lärm. Larry war immer noch nicht mit Darryl fertig, da ging ein anderer Pirat dazwischen und hielt ihn davon ab Darryl noch weiter zu schlagen. Der Pirat rief: „Hey! Wenn ihr euch unbedingt prügeln müsst, dann macht das an Land und nicht an Bord!“ „Das kann dieses miese Stück Dreck haben!“, rief Larry und stürmte hinaus. Gleich darauf folgte ihm Darryl. Jubelnd liefen die Piraten ihnen nach. Nur Leo blieb bei Kim. Nach einer Weile fragte er: „Was ist denn passiert?“ „Er,… er hatte mein Oberteil und wollte… es mir nur zurückgeben, wenn ich ihm sage, wer heute Nacht da war… und was wir gemacht haben! Ich wollte es mir holen und dann… und dann hat er es höher gehalten… und ich hab die Beherrschung verloren und ihm ins Gesicht gespuckt… dann hat… hat er mich als Flittchen beschimpft und gesagt…, dass ich das büßen würde…“ Immer wieder schluchzte sie auf. Sie schluckte schwer, als sie daran dachte, was gerade geschehen war. Leo fragte sie weder nach Details, noch hatte er sie unterbrochen. Er spürte, dass sie sich unwohl fühlte und Angst hatte. Nach kurzer Zeit hatte sich Kim wieder gefangen und Leo fragte: „Wollen wir einen Tee trinken?“ Kim nickte. „Warte, ich gehe kurz raus, dann kannst du dich solange umziehen.“ Er wollte gerade aufstehen, da packte sie seine Hand. Als er sich umdrehte, sah sie zu Boden und fragte schüchtern: „Kannst du nicht hier bei mir bleiben und dich solange umdrehen?“ Eine einzelne Träne fiel zu Boden. Leo half ihr auf, umarmte sie kurz und wartete mit dem Gesicht zur Tür gewandt, bis sie sich umgezogen hatte. Erneut ergriff sie seine Hand und sie gingen gemeinsam in die Kombüse. Eine Weile lang saßen sie sich gegenüber. Den Dampf von Kims Tee betrachtend schwiegen sie sich an, bis Kim schließlich das Wort ergriff: „Warum kann ich denn jetzt eigentlich aus dem Zimmer? Und wieso konnte Darryl letzte Nacht aus dem Zimmer? Ich dachte, ihm wurde auch der Schlüssel abgenommen?“ „Oje, du und deine ganzen Fragen!“, er kratzte sich am Kopf. „Also erstens, eine offizielle Erlaubnis hast du nicht, aber ganz offiziell bist du ja auch gar nicht hier,… aber naja, ich bin ja da und passe auf. Und der Schlüssel wurde Darryl gar nicht abgenommen, weil er sich verantwortungsbewusst schimpft, nur mir wurde der Schlüssel abgenommen, weil ich anscheinend zu ‚beeinflussbar’ sei.“ Kim musste bei diesen Worten kichern: „Beeinflussbar ist gar kein Ausdruck!“ „Was meinst du denn damit?“, erwiderte Leo entrüstet. Plötzlich kam ein Pirat hereingestürmt: „Hey, kommt schon raus! Das müsst ihr euch ansehen; endlich ist hier mal wieder was los!“ Fragend sah Leo Kim an. Dann seufzte sie: „Ist ja gut, gehen wir raus, aber hör bloß mit diesem Dackelblick auf!“ Wie vom Donner gerührt sprang Leo auf und zog Kim mit sich ins Freie. An der Planke, die das Schiff mit dem Festland verband hielt er inne, wandte sich ab und stellte sich mit Kim an die Reling, um von dort aus zuzusehen, schließlich bestand ja die Gefahr, dass Kim versuchte davonzulaufen. Weder Darryl, noch Larry sahen noch gesund aus. Darryl blutete stark aus der Nase und hatte ein blaues Auge und Larry hielt sich seinen linken Arm. Immer wieder spuckte er Blut aus. Um sie herum bildete der Rest der Mannschaft einen Kreis und feuerte die beiden Kämpfenden an. Nach kurzer Zeit stimmte auch Leo in die Rufe der Anfeuerung mit ein: „Komm schon, Larry! Mach diesen dreckigen Lump fertig!“ Schockiert sah Kim zu, wie sich die Beiden, wilden Tieren gleich, umkreisten. Immer wieder schlug einer zu. Nach zirka einer halben Minute wurde klar, dass Larry den Kampf dominierte. Beide waren vollkommen aus der Puste und Darryl begann zu schwanken. Er versuchte noch einen Treffer in Larrys Gesicht zu landen, verfehlte es aber um Längen. Dieser wiederum nutzte die Chance, da Darryl seine Deckung vernachlässigte, und schlug noch ein letztes Mal zu. Er traf Darryl mitten ins Gesicht, welcher somit zu Boden ging. Die Piraten jubelten und Larry streckte die geballten Fäuste gen Himmel. Der Kampf war bereits einige Tage her, doch redeten die Piraten immer noch davon, wie Larry Darryl besiegt hatte. Kim durfte nun wieder über das Deck streifen, weil sie sich ‚gut’ benommen hatte. Es kam ihr vor, als wäre sie frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden, wegen guter Führung. Allerdings durfte sie auch nur in Begleitung auf Deck. Immer öfter bot sich Leo freiwillig an, sie zu bewachen. Geschlafen hatte sie in letzter Zeit gut. Keine Visionen plagten sie und zum Glück wurde sie jetzt auch nachts nicht mehr bewacht. Wie so oft tigerte sie also mit Leo über Deck und versuchte etwas über seinen Befehlsgeber in Erfahrung zu bringen: „Ach komm schon, Leo! Wieso kannst du es mir denn nicht sagen? Ich hab dich doch so lieb!“ Mit einem kleinen Schmollmund sah sie zu ihm und blinzelte unschuldig. „Vergiss es, Kim. Ich kann es dir nicht sagen, sonst würde sie mich umbringen und außerdem…“ Plötzlich hielt er sich erschrocken die Hand vor den Mund. „Sie? Euer Captain ist eine Frau? Wieso ist sie nicht hier? Wer ist sie?“ Nun hielt Leo ihr die Hand vor den Mund. Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie ins innere des Schiffes. Dort begann er: „Kim, erzähl niemandem davon, dass mir das rausgerutscht ist, oder willst du noch ein paar Monate in der Kajüte eingeschlossen sein? Oder mit Darryl über Deck schlendern? Wenn die anderen das herausfinden, lassen sie mich ganz bestimmt nicht mehr auf dich aufpassen.“ „Ist ja gut, ich hab es verstanden!“ „Eins noch, Kim…“, setzte Leo gerade an, da kam ein recht übellauniger Pirat vorbei, der Leo, welcher in der Mitte des Ganges stand, in Richtung Kim zur Seite schubste. Leo konnte sich noch mit den Händen Abfangen, doch landeten seine Lippen auf den ihrigen. Natürlich nutzte Leo diesen Moment aus und gab Kim einen zärtlichen Kuss. Kim überlegte einen Moment, ob sie ihn erwidern sollte, entschied sich jedoch dagegen und schob Leo von sich weg. Eine peinliche Stille trat ein, bis Leo fragte: „Warum denn nicht? Du magst mich doch auch, dachte ich zumindest.“ „Ich mag dich ja auch, sehr sogar, aber daran liegt es gar nicht… es ist nur, dass es da noch jemanden gibt und wenn ich jetzt etwas mit dir anfange, wäre das unfair ihm gegenüber.“ Leo ließ nicht locker: „Wer? Ist es dieser Kerl, bei dem du bis jetzt auf dem Schiff warst? Dieser Jon?“ „Nein, der hat ja seine Alice. Es ist jemand, den du nicht kennst, von meiner Heimat aus Brasilien.“ „Aber Brasilien ist so weit weg! Vergiss ihn doch einfach! Lebe im Hier und Jetzt, mit mir! Bitte, Kim. Was soll ich denn machen? Auf Knien rutschen? Betteln, flehen?“ Er hatte ihre Hand ergriffen und starrte sie mit seinen tiefen unergründlichen Augen an. Wieso tat er das? Es fiel ihr ohnehin schon schwer genug, das Kribbeln in ihrem Bauch, das immer stärker wurde, zu unterdrücken. Sie riss sich los und lief in ihre Kajüte. Hinter sich schlug sie die Tür zu. Kim hatte Leos Blick im Nacken gespürt. Sie lehnte sich gegen die Tür. Was sollte sie bloß machen? Sie wollte ihn meiden, doch wusste sie genau, dass sie sich nach seiner Nähe sehnte. Sie wollte weglaufen und ihn vergessen, doch wusste sie, dass sie Gefangen war. Sie wollte die Gefühle für ihn unterdrücken, doch wusste sie, dass dies unmöglich war. Sie wollte sich nicht in ihn verlieben, doch wie sollte sie das anstellen? Eine Weile blieb sie noch so stehen, dann klopfte es an die Tür. Kim gab keine Antwort und Larry fragte: „Darf ich reinkommen?“ Kim entgegnete: „Tu dir keinen Zwang an!“ Sie setzte sich auf ihr Bett, die Tür öffnete sich und Larry trat ein. Er sah ein wenig besorgt aus: „Kim? Hast du dich mit Leo gestritten? Hat er dir etwas getan?“ „Nein, nein. Ich glaube eher, ich war etwas schroff ihm gegenüber, aber es ist momentan alles etwas schwer. Ich komme einfach mit der Situation nicht ganz klar.“ „Achso, na dann, ich habe mir schon Sorgen gemacht, als Leo so missmutig über Deck stiefelte, allein.“ „Wie geht es eigentlich deinem Arm?“, fragte sie beiläufig, um dem Thema aus dem Weg zu gehen. „Ach, nicht der Rede wert, nur ein bisschen angebrochen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Nur! Und ich habe mich noch nicht einmal bedankt. Es tut mir Leid, dass das alles nur wegen mir passiert ist.“ Etwas betreten sah sie auf ihre Füße. Larry seinerseits setzte sich neben sie, klopfte ihr kräftig auf den Rücken und lachte: „Wie schon erwähnt, das ist nicht weiter tragisch, wenn du wüsstest, was ich früher aushalten musste, weil Leo seine vorlaute Klappe nicht halten konnte, ich glaube, meine Gesundheit hätte mehr davon profitiert, hätte ich mich seiner nicht angenommen. Aber er ist halt einer von der Sorte, die man einmal ins Herz schließt und dann lässt er einen nie wieder los. Aber was rede ich? Wenn du Probleme hast, mit jemandem an Bord, komm lieber zu mir, als es eskalieren zu lassen, ein angebrochener Arm reicht mir nämlich.“ Er wollte gerade gehen, da sagte Kim leise: „Es ist schon wegen Leo, allerdings nicht, weil er nicht nett wäre, oder unverschämt, es ist eher, weil er zu nett ist und ich ihn zu sehr mag. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Zu Hause, in Brasilien, habe ich einen Freund, der mich über alles liebt und bis jetzt dachte ich auch, ich würde ihn lieben, aber dann ist da Leo und jetzt weiß ich nicht mehr, was ich machen soll.“ „Kim, sei ehrlich zu dir selbst. Fang jetzt bitte nicht an, irgendwelche Listen mit Vor- und Nachteilen zu erstellen, sondern höre einfach auf deine Gefühle. Und wenn das nichts hilft, dann versuch mit Leo einfach nur Freundschaft zu schließen. Schaffst du es nicht, hast du deine Antwort.“ „Und aus welcher Zeitschrift hast du den Spruch?“ „Hm, lass mich überlegen. Wie wäre es damit: Ein Junge, fünf Schwestern und jede Menge nicht freiwillig geführte Gespräche?“ Kim musste anfangen herzhaft zu lachen. Schließlich prustete sie: „Soso, du hattest also fünf Schwestern und alle haben dich mit ihren Problemen belästigt?“ Larry stand auf, ging zur Tür, drehte sich noch einmal um, zwinkerte ihr zu und sagte: „Woher weißt du denn, dass ausgerechnet ich dieser Junge war?“ Dann ging er hinaus. Die Tage der nächsten Woche schienen gar nicht zu Ende gehen zu wollen, mit Leo wechselte sie nicht viele Worte, Larry war oft weg und ansonsten redete fast keiner der Piraten mit ihr. Es war die Hölle, denn in jeder Minute, in der sie nichts zu tun hatte, versuchte sie krampfhaft einen Entschluss zu fassen, doch sie kam nicht weiter. Es war, als würde sie auf einem Laufband stehen. Sie konnte sich bewegen, gehen, laufen, rennen so viel sie wollte, sie kam einfach nicht vom Fleck. Wie so oft in letzter Zeit lag Kim auf ihrem Bett, starrte an die Decke und versuchte sich zu entscheiden, da öffnete sich plötzlich die Tür und Larry platzte strahlend herein. „Na, du Trauerkloß? Warum liegst du denn so allein in dieser dunklen Kajüte? Komm doch rauf zu uns!“ „Ha ha! Du weißt genau, dass ich nicht ohne Begleitung hoch darf, aber da du ja jetzt da bist, nimmst du mich sicher mit hoch, oder?“ Sie zwinkerte ihm zu und er erwiderte: „Seit wann hältst du kleine Rebellin dich an Regeln und Vorschriften?“ Kim streckte ihm die Zunge heraus, stand jedoch auf und ging mit ihm an Deck. Er roch stark nach Alkohol und schwankte auch etwas. Was war nur los? Von oben konnte sie das Grölen der Mannschaft hören, es wurde von einer Gitarre begleitet, doch den Text konnte sie nicht genau verstehen. Als sie dann an Deck standen – Larry wäre zwei mal fast die Treppe hinunter gefallen – konnte Kim die ganze Mannschaft mit Bierkrügen sehen, an der Reling standen einige Fässer, Kim tippte auf Rum. Ein bisschen erinnerte sie die ganze Situation an ihren Geburtstag, nur, dass da Jon da gewesen war. Sie drehte sich zu Larry um, um ihn zu fragen, doch der war schon wieder verschwunden, also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich ins Getümmel zu stürzen, aber weit kam sie nicht, denn ein Pirat hielt sie an und wollte ihr ein Glas Rum andrehen. Als sie verneinte begann er sie zu überreden. Irgendwann hatte er sie dann so weit und sie nahm das Glas und trank es in einem Zug leer. Es brannte in ihrer Kehle, aber so schlecht schmeckte das gar nicht. Sie wollte noch ein Glas. Nach einigen Gläsern mehr, wie vielen genau wusste Kim nicht mehr, begann auch sie zu schwanken und landete direkt in Leos Armen. Sie schaute zu ihm nach oben und kicherte: „Warum trinken eigentlich alle so viel?“ Er erwiderte: „Das könnte damit zusammenhängen, dass in ungefähr einer Stunde Neujahr ist…“ „Wuhu, das is cool! Wusstest du, dass ich s erste Mal in meim Leben Alkohol trink? Des is voll lustig!“ „Und wie ich sehe hast du ordentlich zugeschlagen. Du solltest aufpassen, dass du nicht dem Falschen in die Hände läufst!“ „Mach ich ja nich, nur dir und ich hab grad eben beschlossen, dass du der Richtige bist! Un meine Schwester sagt immer, Betrunkene sagen immer die Wahrheit. Also!“ Wieder begann sie dümmlich zu kichern und kuschelte sich an Leo. Schließlich fragte sie ihn: „Du? Ich mag mitsingen, willst du mir nicht den Text sagen?“ „Wenn du mich so lieb bittest, aber ich weiß nicht, ob den Text noch genau zusammenbekomme, also: Wir fahren über sieben Meere Wir kämpfen oft und plündern gerne Das Meer, unsre zweite Heimatstadt Doch wir haben es niemals satt Kaperbriefe Überfälle Wir sind nicht dumm, nein wir sind helle So springt für uns am meisten raus Mit den unsrigen ist’s niemals aus! Und verlier’n wir mal ein Körperglied Der Zimmermann kriegt’s wieder hin Die Beute vergrößert sich für uns Egal, ob Hinz, egal, ob Kunz Der Rum erheitert unser Gemüt Hier ist die Stimmung nie getrübt Und ist doch mal ein Problem in der Welt So erledigen wir’s Mann gegen Mann im Duell! Denn wir sind Piraten Der Teufel und eure Herrscher haben uns beraten In Zeiten des Friedens erlauben sie’s uns Zu holen euer Gut und auch euern Grund Die Drecksarbeit, die erledigen wir Doch wir tun’s gerne für Fässer voll Bier! Auch schöne Frauen machen uns heiter Sie spornen uns an und wir kämpfen weiter Eine Frau für’s Leben das wär schon schön Doch dürft man sie an Deck nie seh’n So fahr’n wir weiterhin zur See Rauben, plündern, morden geh’n! Denn wir sind Piraten Der Teufel und eure Herrscher haben uns beraten In Zeiten des Friedens erlauben sie’s uns Zu holen euer Gut und auch euern Grund Die Drecksarbeit, die erledigen wir Doch wir tun’s gerne für Fässer voll Bier!“ Immer wieder stockte er und überlegte, wie es weiterging, doch ihm fiel es immer sehr schnell wieder ein. Er war kein guter Sänger, doch Kim hatte den Text verstanden und begann nun auch mitzugrölen. Leo sah auf die Uhr, es war kurz vor Mitternacht. Er stupste Kim an, die etwas erschöpft neben ihm eingeschlafen war, und sagte: „Hey, Kim! Wach auf, gleich ist es Mittenacht!“ Kichernd entgegnete diese nur: „Na dann lass uns irgendwohin gehen, wo wir allein sind!“ Schneller als Leo gucken konnte war sie aufgesprungen, packte ihn beim Handgelenk und zog ihn mit sich in die Kombüse. Sie lachte: „Komm, lass uns den Countdown zählen!“ Wieder sah er auf die Uhr, noch eine Minute. Als es nur noch zehn Sekunden waren begannen sie zu zählen und konnten draußen die ganze Mannschaft mitzählen hören. „-Zehn- -neun- -acht- -sieben- -sechs- -fünf- -vier-.“ Kim stellt sich auf die Zehenspitzen „-drei- -zwei-.“ Sie Schlang ihre Arme um Leo „-eins-.“ und gerade als draußen alle null riefen küsste sie Leo schon leidenschaftlich. Dieser schob sie immer weiter in Richtung Speisekammer, wo sie dann, gegen eine Wand gelehnt, stehen blieb, doch plötzlich fiel die Tür zu und die Beiden standen im Dunkeln. Leo ließ von Kim ab und sie kicherte: „Was ist denn? Ist doch romantisch.“ Er antwortete: „Nicht, dass ich es nicht romantisch fände, mit dir in einem dunklen Raum allein zu sein, doch das Problem ist,…“, er drehte sich von ihr weg und rüttelte an der Tür, „…dass die Tür manchmal klemmt.“ „Hm, heißt das, dass wir bis frühestens morgen früh hier sind? Keiner kann rein und keiner kann raus?“ „Exakt!“, er knipste das Licht an. „Wenigstens haben wir hier Licht.“ Er besah sich das Regal vor dem er stand, brach sich von dem Laib Brot ein Stückchen ab und setzte sich neben Kim, die sich inzwischen niedergelassen hatte, gegen die Wand gelehnt auf den Boden. Eine Weile lang schwiegen sie, dann fragte Kim: „Wie viel Uhr ist es?“ Leo antwortete ohne sich in irgendeiner Weise zu bewegen: „Keine Ahnung.“ Wieder schwiegen sie und die Minuten verstrichen, auch draußen war es still geworden, bis Kim wieder die Stille durchbrach: „Mir ist langweilig!“ „Toll, na und?“, entgegnete er ungerührt. „Was „na und“? Mir ist langweilig und du sollst was dagegen tun!“, empörte sie sich. „Und was?“, fragte er, nicht emotionaler als zuvor. „Zum Beispiel in Sätzen reden, die mehr als drei Wörter beinhalten!“, zeterte sie. „Und wozu?“ „Damit wir ein gescheites Gespräch zustande bringen können oder ist das zu viel verlangt?“ ,fragte sie aufgebracht. „Und was, wenn ich keine Lust habe?“, fragte er kühl. „Das ist mir egal! Mir ist langweilig!“, wiederholte sie ihren Standpunkt. „Herrgott noch mal, ich hab’s ja verstanden!“, brauste Leo nun auf und etwas beleidigt erwiderte Kim: „Du brauchst nicht gleich laut zu werden!“ „Du nervst aber!“, entrüstete sich Leo. „Ach? Ich nerve also? In der letzten Woche hätte ich mir wirklich gewünscht, dass mich mal einer nervt, dann wäre mir nämlich nicht immer so langweilig gewesen!“, warf ihm Kim gekränkt vor. „Ach, halt doch den Mund!“ „’Halt den Mund’? Du hast doch keine Ahnung, was ich im letzten Monat durchgemacht habe! Ich wurde auf ein Piratenschiff verschleppt, durfte drei Wochen lang das Deck schrubben, weiß seit ein paar Wochen, dass ich eine Hexe bin, habe Visionen, die mich fast umbringen, war über eine Woche in diesem verdammten Zimmer eingesperrt und bin jetzt schon wieder in einem bescheuertem Zimmer eingeschlossen, das sogar noch kleiner ist, als das Letzte, aber ich will dich ja nicht nerven!“ „Denkst du etwa, ich lebe gerne auf diesem vermaledeiten Schiff? Ich habe meine Eltern und meinen Bruder noch nicht mal richtig gekannt, durfte über drei Jahre das Deck schrubben und…“ Er hielt inne, sah sie verdutzt an und fragte zögerlich: „Du…, du bist eine… eine Hexe?“ Er schluckte. „Aber doch nicht etwa die Hexe?“ Kim nickte. Es trat eine peinliche Stille ein. Ein Mann, der Kims Namen wieder und wieder rief, unterbrach sie. Kim erkannte diese Stimme sofort, doch sie vermutete, dass es wieder nur eine Vision war, also sah sie zu Leo, doch an seinem Blick sah sie, dass er die Stimme auch gehört hatte. Sofort rief sie: „Jon! Jon, ich bin hier, aber die Tür…“ Jon brach die Tür auf und sah sich um. „… klemmt.“ Er sagte nichts, sondern packte sie nur unsanft am Arm und zog sie hinter sich her. Kim griff ihrerseits nach Leos Hand und zog ihn an sich. Sie wollte ihn nicht zurücklassen. Er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen und lächelte sie an. Jon hielt inne. Er sah Kim an und tadelte sie sofort: „Aha, das machst du also, während ich mir den Kopf zerbreche wo du bist und mir Sorgen mache!“ Sie sah zu Boden und entgegnete schüchtern: „Das ist nicht so wie du denkst, ich…“ „Ach, ist doch jetzt egal, wir müssen hier weg! Fürs Erste nehmen wir ihn mit aber wir sprechen später noch mal darüber.“ Er war neidisch. Er war eifersüchtig auf Leo! Irgendwie befriedigte Kim diese Tatsache, doch sie hatte nicht die Zeit länger darüber nachzudenken, denn kaum waren sie an Deck, sahen sie, dass es zu einem Schlachtfeld geworden war. Wegen ihres Streites hatten sie gar nicht mitbekommen, wie laut es geworden war. Mittendrin entdeckte Kim eine Frau, Alice. Sie kämpfte gegen einen Piraten aus Larrys Mannschaft. Plötzlich Schnitt sie mit ihrem Entermesser dem Piraten neben ihr die Kehle durch. Dies wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, wäre der Pirat neben ihr nicht aus Jons Mannschaft gewesen. Jon hielt inne und starrte sie an. Er sah sie einfach nur an, während sie munter weiter gegen Piraten seiner Crew antrat. Kim blickte in seine Augen, sie sahen so anders aus. Sie sahen zornig und zugleich traurig aus. Jon rief an seine Mannschaft gewandt: „Rückzug Leute! Wir haben, was wir gesucht haben.“ Kaum hatte er den Satz beendet, fing Alice an zu lachen. Es war ein gemeines Lachen, nicht das schöne, das sie zu der Zeit hatte, als sie mit Kim in einem Zimmer gewohnt hatte. Sie sagte gehässig: „Tja, Jon. Deine Mannschaft kannst du retten, aber kannst du auch sie retten?“ Mit diesen Worten zog sie die Pistole aus ihrem Colt und richtete sie direkt auf Kim. Diese erschrak und blieb wie angewurzelt stehen. Ein Knall ertönte. Jon stieß Kim zur Seite und die Kugel verfehlte sie knapp. Er rief: „Alice, hör auf, töte mich, aber lass Kim am Leben!“ Alice sah ihn mit funkelnden Augen an und rief letztendlich: „Interessanter Vorschlag, ich akzeptiere, aber ich werde dich nicht töten! Ich werde dich behalten und als erstes wirst du mich küssen. Wie sehr habe ich es doch vermisst von dir geküsst und geliebt zu werden!“ Kim sah zu Jon. Seine Lippen bebten, doch er tat wie ihm geheißen und ging auf Alice zu. Unter den Augen aller Piraten, die inzwischen aufgehört hatten zu kämpfen, legte er langsam seine Arme um Alice und küsste sie zärtlich. Zuerst hatte sie ihre Augen geschlossen, doch dann riss sie sie schlagartig auf und versuchte sich aus Jons Umarmung zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Schließlich ließ Jon sie los und sie fiel zu Boden. Jon murmelte: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ Er wandte sich von Alice ab und spuckte etwas Rötliches zu Boden. Es war Blut. Kim sah zu Alice und entdeckte ein Messer in ihrem Rücken. Ihre Bluse, die einstmals weiß gewesen war, hatte sich schon fast vollständig rot gefärbt. Jon sah noch einmal traurig auf Alice sterbenden Körper, dann sah er angewidert weg. Er ging auf Kim zu, nahm sie bei der Hand und ging vom Schiff in Richtung Stadt. Eine Weile lang lief Kim schweigend zwischen Leo und Jon, dann hielt sie es nicht mehr aus und sie fragte: „Und was machen wir jetzt? Gehen wir einfach wieder in unser Hotel zurück und tun so, als wäre Alice hier nie aufgetaucht und als wäre das alles nicht passiert?“ Bei Alice Namen zuckte Jon zusammen. Er sah sie an und sein Blick durchbohrte sie wie ein Messer. Kim wich zurück und rempelte Leo dabei so stark an, dass er zu Boden fiel. Er wollte schon aufstehen, da stoppte Jon, drehte sich um und reichte ihm seine Hand. Leo ergriff sie verwirrt und ließ sich von Jon aufhelfen. Was war denn jetzt los? Vorhin hatte sich Jon doch noch fürchterlich über ihn aufgeregt und jetzt half er ihm auf? Erst guckte Kim ihn verdutzt an, dann fragte sie: „Sag mal, Jon? Woher hattest du denn eigentlich den Dolch?“ „Sagen wir mal, ich hatte einfach ein Ass im Ärmel.“, beantwortete er ihre Frage kurz und monoton. Sie liefen noch eine Weile lang schweigend nebeneinander her, dann erblickte Kim die ersten Lichter der Stadt. „Und was machst du jetzt, Jon? Mit dem Hemd kannst du ja wohl kaum in die Stadt und die anderen auch nicht.“ Er sah an sich herunter. Sein Hemd war blutverschmiert und die der anderen Piraten auch. Jon lief weiter, als hätte sie gar nichts gesagt. Kim blieb stehen. Die Piraten trotteten an ihr vorbei. Was sollte sie denn zu Jon sagen? Er hatte gerade seine große Liebe verloren. „Kopf hoch“ oder „das Leben geht weiter“ waren hier nicht angebracht, aber andererseits, er hatte ihr gesamtes Dorf in Brand gesteckt und sich nie dafür entschuldigt, warum sollte sie jetzt wegen einem Menschen, den er geliebt hatte Mitleid mit ihm haben? Eigentlich hatte er das doch gar nicht verdient! Sie war noch ganz in Gedanken, da ging jemand an ihr vorbei. Kim dachte, es sei vielleicht ein Pirat, der zurückgeblieben war, da liefen auch schon viele andere an ihr vorbei. Auf einmal erkannte sie sie wieder, die Untoten! Sie rannte los und rief: „Die Untoten! Die Untoten sind da!“ Kim lief weiter, bis sie Jon und Leo an der Spitze der Gruppe erreichte. Leo sah sie mit dem Blick eines Todgeweihten an und Jon ging einfach weiter. „Jon, hast du mich nicht gehört?! Die Untoten sind da!“, rief sie, doch Jons Blick blieb genauso leer wie zuvor. „Jetzt reicht es!“, schrie sie ihn an und verpasste ihm eine Ohrfeige. Jon blieb endlich stehen und starrte sie an. „Na endlich! Jon, hör mir zu!“ Sie ergriff seine Hände und sprach weiter, während um sie herum ein Kampf entbrannte. „Ich weiß, dass du Alice geliebt hast und du denkst wahrscheinlich, dass ich keine Ahnung von dem Schmerz habe, den du gerade erleidest. Aber du irrst dich, ich habe an einem Tag meine Familie, meine Freunde und alle, die ich gekannt habe verloren. Zudem musste ich mich mit meinem Schicksal als Hexe abgeben und das war Weißgott nicht leicht für mich. Du kannst mit mir reden, bei mir weinen und du kannst bei mir Trost suchen, aber jetzt ist es nicht die Zeit dafür! Wenn du jetzt in deinem Selbstmitleid versinkst, werden sie alle sterben. Sieh dich doch um! Willst du wirklich für den Tod deiner ganzen Freunde verantwortlich sein? Ohne dich sind sie nichts, sie werden untergehen.“ Noch während Kim sprach entbrannte das Feuer in seinen Augen erneut. Er zückte sein Entermesser und ging erhobenen Hauptes in die Schlacht. Kim suchte nach einem geschlagenen Untoten, dessen Säbel sie benutzen konnte und als sie endlich einen hatte, begann auch sie zu kämpfen. Es war ein langer, Kräfte zehrender Kampf, doch schließlich schafften sie es die Untoten in die Flucht zu schlagen. Als sie ungefähr eine viertel Stunde später im Hotel ankamen, meinte Jon an Kim gewandt, dass sie sich umziehen und dann in sein Zimmer kommen solle. Leo stapfte unschlüssig hinter ihr her. Schließlich fasste Kim sich ein Herz und sagte: „OK, Leo. Warte hier, bis ich mich umgezogen habe. Dann kannst du von mir aus bei mir in meinem Zimmer schlafen, schließlich ist kein anderes frei und ich habe noch ein zweites Bett bei mir im Zimmer.“ Mit diesen Worten ging sie in das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie atmete tief durch und genoss die Stille um sich herum. Dann ging sie zum Schrank und nahm ihre normalen Kleider heraus. Langsam zog Kim sich an und ging aus der Tür. Sie würdigte Leo keines Blickes mehr und ging direkt auf Jons Tür zu, wovor sie unentschlossen stehen blieb. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte an. Als sie ein „Ja?“ von innen vernahm, öffnete sie die Tür und trat ein. Jon saß an einem Tisch in der Mitte des Raums. Es brannte kein Licht, nur das Mondlicht, das durch das geöffnete Fenster hinter ihm hereindrang warf einige Schatten. Ihr wehte ein eisiger Hauch entgegen, da ja das Fenster geöffnet war. Sie fröstelte, jedoch nicht nur der Kälte wegen, sondern auch wegen Jon. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, da es vollkommen im Schatten lag. Um das ungute Gefühl in ihrer Brust zu vertreiben schaltete sie das Licht an. „Setz dich.“, sagte er bedrohlich ruhig. Kim tat wie ihr geheißen. „Also, Kim, lass uns als erstes über den Jungen sprechen. Wie hieß er doch gleich?“ „Leo.“ „Bist du dir vollkommen sicher, dass wir ihm trauen können?“ „Hundertprozentig!“ „In welcher Beziehung stehst du zu ihm?“ „Nun… ich…“ Diese Frage traf Kim völlig unerwartet. Sie wusste ja selbst nicht so recht, in welcher Beziehung sie zueinander standen. „Gut, ich stelle meine Frage anders: Ist er dir so wichtig, dass wir ihn mitnehmen müssen?“ „Nun ja, also, ich weiß nicht, vielleicht sollte man…“ „Ich habe dir eine ganz einfache Frage gestellt, Kim. Ist er dir so wichtig, dass wir ihn mitnehmen müssen?“ „Sei doch nicht so kalt zu mir, du machst mir Angst! Was habe ich dir den getan? Nur weil ich ihn geküsst habe? Du hast Alice doch schließlich auch geküsst und außerdem…“ Jon stand auf, knallte die Handflächen auf den Tisch und donnerte: „Lass Alice gefälligst aus dem Spiel! Sie hat damit gar nichts zu tun! Außerdem habe ich sie nur geküsst um dich zu retten und dann hab ich sie…“ Er sackte in seinen Stuhl zurück und vergrub das Gesicht in seinen Händen. Kim stand auf, ging um den Tisch herum und nahm ihn in den Arm. Unsicher fragte er: „Warum, Kim? Warum von allen Frauen auf der Welt sie? Erklär es mir doch! Ich versteh es nicht! Ich habe sie doch geliebt, hat sie mich denn nicht geliebt? Warum musste ausgerechnet ich derjenige sein, der sie umbringen musste? Warum konnte sie nicht einfach aus meinem Leben fern bleiben? Warum verliebe ich mich denn immer in die falschen Frauen? Erklär es mir doch, Kim!“ „Jon. Du bist mir sehr wichtig und ich möchte nicht, dass du unglücklich bist. Ich verstehe, dass du sauer auf die Frauen bist. Du dachtest, ich hätte nur Augen für dich und dann küsse ich Leo. Und du warst so glücklich, dass Alice zurück war und sie eifersüchtig auf mich war, aber dann hintergeht sie dich. Doch du musst wissen, dass ich dich nicht vergessen habe, wie du vielleicht denkst. Ich habe schrecklich gelitten, als du nicht da warst, aber ich bin auch ein Lebewesen und habe die Freiheit zu gehen und zu lieben wen ich möchte.“ „Du willst gehen?“ Er sah sie verständnislos an und suchte nah Worten. „Sch. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werd’ schon nicht weggehen.“ „Kim?“ „Ja?“ „Bleibst du heute Nacht bei mir?“ „Wenn du dich dann besser fühlst. Aber jetzt solltest du vielleicht erstmal duschen.“ Jon hatte noch immer dasselbe an wie zuvor. Er stand auf und ging in Richtung Bad. Bevor er die Tür ganz geschlossen hatte, hörte sie noch ein „Danke.“ von ihm. Kim ging noch einmal ganz leise in ihr Zimmer, wo Leo schon auf sie wartete und sie mit einem fragenden Blick empfing. Sie sagte nur: „Ich übernachte heute bei Jon. Er fühlt sich nicht gut.“ Dann schnappte sie sich ihre Decke, gab Leo noch rasch einen Kuss und verschwand auch schon wieder. Sie kam noch in Jons Zimmer an, bevor er aufgehört hatte zu duschen und im Schlafanzug aus dem Bad tappte. Er wollte sich schon auf den Stuhl setzen, da sagte Kim: „Es ist schon spät, leg dich doch schlafen. Ich wollte sowieso noch duschen. Ich darf doch deine Dusche benutzen, oder?“ „Ja.“ Mit diesen Worten steuerte Kim auf das Bad zu und Jon auf sein Bett. Sie genoss es richtig das heiße Wasser über ihren Körper laufen zu lassen. Es war, als würde sie alles geschehene, alle Sorgen und Ängste wie den Schmutz wegwaschen und nur die schönen Sachen würden überbleiben, wie ihre Haut. Doch als sie aus der Dusche stieg, war es kalt, und alles Beklemmende kehrte zurück. Sie zog sich ihr Nachthemd an und ging aus dem Bad. Kim fand Jon vor dem Fenster stehend vor. Sie stellte sich neben ihn und sah den Mond an. Es war eine sternenklare Nacht. Jon sah immer noch versunken aus dem Fenster, als er begann zu erzählen: „Als Alice und ich uns kennen lernten waren wir beide 16. Ich mochte sie damals nicht besonders und war gemein zu ihr. Aber irgendwann hat sie dann eine Prügelei angefangen. Sie hat mich K.O. geschlagen und damit gewonnen. Ich war in meiner Ehre getroffen, mich von einem Mädchen besiegen zu lassen! Und dann hat sie auch noch neben meinem Bett gesessen und sich Sorgen gemacht. Ich hab nur gebrüllt und zwar so laut, dass die ganze Mannschaft angelaufen kam.“, er lächelte matt und machte eine Pause, doch das Lächeln verflog sofort wieder, als er weitererzählte. „Als ich mich wieder erholt hatte, bin ich immer wieder zu ihr hingegangen und hab versucht sie anzusprechen, doch ich habe nie auch nur einen Ton rausgekriegt, bis zu dem Tag, an dem sie mich angelächelt hat und mich fragte, ob von nun an wieder alles in Ordnung sei. Von dem Tag an redeten wir von uns, unserer Vergangenheit,… und von unserer Zukunft. Ich hab ihr alles anvertraut, ich hab mein Herz in ihre Hände gelegt; doch sie zerbrach es, als sie mich verließ. Ich habe nie verstanden warum, auch heute verstehe ich es nicht.“ „Jon, ich bin sicher Alice hat dich geliebt, ich weiß es, und sie wollte nicht, …“ „Nein, Kim, was ich nicht verstehe ist, warum ich mich nur ihr öffnen konnte, sie kannte alles von mir, meine guten und schlechten Seiten. Warum werde ich immer verletzt, wenn ich mich verliebe? Hat Gott vielleicht etwas gegen mein Glück? Warum muss mein Herz immer wieder aufs Neue zerbrechen? Ist es denn eine solche Sünde sich zu verlieben? Ist es denn Sünde zu lieben?“ Jons Worte hallten in ihrem Kopf wieder, doch wie sehr sie sich auch bemühte, darauf fand sie keine Antwort. Schließlich sagte Jon: „Ich leg mich hin.“ Und ließ Kim, entrüstet wie sie war, am Fenster stehen. Sie starrte lange zu Boden, dann schaute sie wieder zu den Sternen und hinab auf die dunkle Stadt, in der der Schnee glitzerte. Auf alles hatte sie eine Antwort gehabt, doch nicht darauf. War es eine Sünde zu lieben? Mit dieser Frage im Kopf setzte sie sich auf einen Sessel neben Jon, nahm seine Hand und schlief ein. Am nächsten Morgen fand sie sich, eng von Jon umschlungen, in seinem Bett wieder. Er schlief noch und da auch sie noch müde war, versuchte sie wieder einzuschlafen. Doch gerade, als sie fast wieder schlief, hörte sie die Tür aufgehen. Sie drehte sich um und sah Leo, völlig geschockt in der Tür stehen, er fragte sie: „Was machst du da?“ Kim antwortete ruppig: „Ich versuche zu schlafen?“ „Gut, formulieren wir die Frage anders: Was macht er da, mit dir, meiner Freundin, in einem Bett?“ „Schlafen?“ Plötzlich ging ihr ein Licht auf und sie stammelte: „Du denkst doch nicht etwa, dass er und ich …gestern Abend…? Nein! Nein, nein, nein! Halt! Was denkst du eigentlich von mir? Und von ihm? Er musste gestern Nacht noch Alice… und dann soll er mit mir…? Benutz doch mal deinen gesunden Menschenverstand! Das würde ich nie tun, besonders, weil wir beide zusammen sind!“ „Na schön, ich glaube dir, aber nur unter einer Bedingung: Heute Nacht schlafe ich bei dir, in deinem Bett!“ Kim verdrehte die Augen und kicherte: „Na gut. Komm, lass uns frühstücken gehen, ich muss mir nur noch schnell was überziehen, dann bin ich soweit.“ Kim ging ins Bad und zog sich an. Als sie mit Leo beim Frühstück saß und ihren Kaffee schlürfte, fragte sie ihn: „Sag mal, es ist doch keine Sünde zu lieben, ich meine Liebe ist so schön, dass es eigentlich Sünde sein müsste.“ „Wie kommst du denn auf den Quatsch? Wenn Liebe eine Sünde wäre, würde ich das doch nicht machen!“ Er beugte sich über den Tisch und küsste sie. „Hm, du hast wohl Recht, aber wenn Liebe eine Sünde wäre, würdest du mich erst recht küssen!“ „Sag mal, hattest du eigentlich schon mal einen Freund?“ „Ja, in meinem alten Dorf und der war nicht so ein Casanova wie du! Wieso?“ „Ach, ich dachte, wir machen so früh wie möglich Klarschiff. Hast du Geschwister?“ „Ja, einen älteren Bruder und eine ältere Schwester.“ „Ach, deshalb bist du so vorlaut?“ „Ich hab nur gelernt mich zu verteidigen! Und was ist mit Dir? Ex-Freundinnen und Geschwister über die ich informiert sein sollte?“ „Freundinnen hatte ich schon so einige.“, grinste er. „Und was ist mit Geschwistern?“ „Ich hatte nen Bruder, aber das ist doch egal. Meine Eltern sind gestorben als ich sechs war, ich kann mich an nicht wirklich viel erinnern.“ „Wirklich? Das muss doch schlimm für dich sein!“ „Nein, nach allem, was mir die anderen so erzählt haben, bin ich richtig froh, dass ich sie nicht richtig kennen lernen musste.“ „ Wieso das denn?“ „Sieh nur, es schneit schon wieder!“ Er wich ihr aus, aber wenn er nicht über seine Eltern reden wollte, würde sie eben mitspielen. Nach einer Weile fragte Leo sie: „Wollen wir spazieren gehen?“ „Von mir aus, ich muss mir nur noch etwas Wärmeres anziehen.“ Gesagt, getan, sie wollte schon hoch in ihr Zimmer stürmen, als ihr plötzlich auffiel, dass ihre Winterkleidung ja noch auf Alice Schiff war. Gestern Abend war ihr das überhaupt nicht aufgefallen, aber wahrscheinlich auch nur, weil so viel los gewesen war. Kim entschloss sich Leo um Rat zu bitten, also drehte sie um und fragte ihn, was sie machen sollte. Er lächelte sie nur an und sagte: „Nimm einfach meine Jacke.“ Kim fragte etwas verwirrt: „Und was ist mit dir? Du wirst doch nur krank.“ „Keine Angst, du bist so heiß, bei dir kann mir gar nicht kalt werden!“ „Ha, ha! Jetzt mal im Ernst!“ „Schon gut, ich bin abgehärtet. Und unter meine Jacke passen wir auch beide!“ Ein paar Minuten später waren die beiden in der Stadt beim Einkaufen. Sie gingen durch alle möglichen Läden und suchten etwas Passendes für Kim. Und das Ergebnis ließ sich sehen: Sie hatte eine dunkelblaue Jacke an, eine khakifarbene Hose und darüber warme Fellstiefel. Mit Leo auf Einkaufstour zu gehen machte ihr riesigen Spaß. Die ganze Zeit alberten sie herum. Schließlich wurde es Mittag und die beiden gingen zurück zum Hotel, weil Kim noch mal nach Jon sehen wollte. Als sie dann wieder im Hotel ankamen, ging Kim gleich zu Jon in sein Zimmer. Er sah sie an, als wäre sie ein Geist. Sie achtete gar nicht darauf und meinte nur: „Na, was sagst du zu meinem neuen Outfit? Ist doch hübsch, nicht? Ich war mit Leo einkaufen und jetzt wollen wir zu Mittag Essen. Kommst du mit?“ „Nein danke, ich hab keinen Hunger.“, murmelte er. „Oh doch, du kommst mit und zwar 100Prozentig!“ „Ich dachte, ich hätte dir grade eben schon gesagt, dass ich keinen Hunger habe!“ „Doch, den hast du, Mister!“ Jetzt verlor Jon die Beherrschung und blaffte sie an: „Nein, ich habe keinen Hunger, Lilay und jetzt lass mich in Ruhe!“ „Vergiss es! Du kommst jetzt mit mir runter und isst was. Außerdem habe ich doch eben deinen Magen sehr laut knurren hören, also komm jetzt endlich!“ Sie wollte schon gehen, da drehte sie sich noch einmal lächelnd zu ihm um und sagte: „Leo und ich warten dann unten im Speisesaal auf dich. Und wenn du nicht kommst, dann gibt’s Ärger!“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum und machte sich auf in Richtung Speisesaal. Dort angekommen sah sie auch schon Leo, der an einem Tisch auf sie wartete. Sie setzte sich zu ihm und zählte: „Drei, … Zwei, … Eins, …“ „Bist du jetzt endlich zufrieden?“, fragte sie Jon. Er setzte sich neben sie und Leo damit gegenüber. Das ganze Essen über warfen sich die Beiden finstere Blicke zu, bis Kim endgültig der Kragen platzte und sie entnervt zischte: „Wenn ihr beide schon nicht miteinander reden wollt, dann redet wenigstens mit mir! Mit eurem imaginären Streit habe ich nämlich nichts zu tun! … Ähm, Jon, ich hätte da mal ein paar Fragen: erstens, wann vermutest du, dass wir weiter können, zweitens, können wir dann vielleicht noch mal in meine Heimatstadt und drittens, nehmen wir Leo mit?“ Jon antwortete nicht sofort, aber schließlich entschloss er sich doch etwas zu sagen: „Wann genau wir weiterkönnen, kann ich dir nicht genau sagen, aber wenn es sein muss, besuchen wir dein Dorf halt noch mal und nehmen ihn mit.“ „Vielen Dank, Jon! Aber sag mal, was sollte denn dieses ‚Lilay’ eben bedeuten?“, fragte Kim etwas unsicher. Jon lachte: „Das ist eine Abkürzung für ‚Little Lady’. Jetzt sag nur, das wusstest du nicht!“ Trotzig entgegnete sie: „Nein! Woher auch? Bei mir zu Hause wurde ich doch sowieso nur Kimberly genannt.“ Jetzt meldete sich Leo endlich mal wieder zu Wort: „Nein! Du heißt wirklich Kimberly? Du Arme!“ „Hey! Hast du was gegen meinen Namen? Wenn du schon was gegen den hast, dann hör dir erstmal die zwei anderen an! Ich heiße nämlich mit vollem Namen Kimberly von Merrylson.“ Jetzt waren Leo und Jon sprachlos und Kim genoss es, das erste Mal in ihrem Leben ein ‚von’ in ihrem Namen zu haben. Schließlich sagte Jon: „Na gut, Ich gehe jetzt noch mal zum Schiff. Ob ihr mitkommt, oder nicht ist mir egal.“ Und noch bevor Kim den Mund aufmachen konnte, platzte Leo schon heraus: „Kim und ich gehen spazieren!“ Sie hatte gerade noch Zeit den Mund aufzumachen, da war Leo schon aufgesprungen und zerrte sie mit sich nach draußen. „Aha, spazieren gehen wir also?“, fragte sie. „Ja, komm, lass uns durch den Wald gehen!“, antwortete er und schob sie vor sich her in Richtung des Waldes. Schweigend gingen sie nebeneinander her. Kim hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, bis sie ein Schiff sah. Sie blieb stehen, doch Leo ging einfach weiter. „Hey, Leo! Was soll das? Warum hast du mir nicht gesagt, dass wir hierher gehen?“, rief sie aufgebracht und er antwortete ganz ruhig, aber ohne sich umzudrehen: „Wärst du denn mitgegangen, wenn ich dir gesagt hätte, dass wir auf Alice Schiff gehen?“ Kleinlaut entgegnete Kim: „Nein, tut mir Leid.“ Sie lief zu ihm und ergriff seine Hand. Langsam gingen sie weiter. Als die Beiden auf dem Schiff waren, war die Mannschaft damit beschäftigt, die Verwundeten zu verarzten und das Deck zu säubern. Leo räusperte sich und aller Blicke ruhten auf ihnen, jedoch nur für einen Moment, dann wandten sie sich wieder ihren Aufgaben zu. Nur einer kam freudig auf Kim und Leo zugelaufen und umarmte sie, Larry. Sofort begann er zu reden: „Oh mein Gott, Leo, bin ich froh, dass die dich nicht skalpiert haben! Diesem Jon würde ich ja alles zutrauen, bringt seine Flamme bei einem Kuss um, also nein!“ Kim warf ihm einen vernichtenden Blick zu woraufhin er prompt verstummte. Schließlich sagte Leo: „Ich wollte mich eigentlich nur noch von dir und Alice verabschieden.“ Mehr als ein „Oh!“, brachte Larry daraufhin nicht zustande. Leo umarmte ihn und erkundigte sich dann, wo Alice Leiche sei. Larry sagte, dass sie in ihrer Kabine sei und Leo bedeutete Kim an Deck zu bleiben und auf ihn zu warten. Nach einer Weile kam er wieder hoch. Er ging, ohne ein Wort zu sagen, an allen, einschließlich Kim und Larry, vorbei. Kim gab Larry noch kurz einen Abschiedskuss auf die Wange, flüsterte noch einmal „Danke.“ und lief dann Leo hinterher. Nach einer Weile fragte sie ihn: „Sag mal, was hast du eigentlich unten bei Alice gemacht?“ Abweisend antwortete er: „Das geht dich gar nichts an!“ Kim blieb stehen, bis sie sich einigermaßen gesammelt hatte, dann rief sie: „Na schön, wenn du nicht reden willst, wir können uns gerne anschweigen!“ Sie war sowohl wütend, als auch enttäuscht und wollte einfach an ihm vorbeilaufen, doch als sie gerade an ihm vorbeizog, packte er sie am Handgelenk, stoppte sie und zog sie zu sich. Er küsste sie zärtlich und als sie in seinen Armen lag und er sie sanft streichelte, flüsterte er: „Ich will nicht, dass wir uns anschweigen! Ich liebe es doch so mit dir zu sprechen und dir zuzuhören.“ Kim wünschte sich, dass dieser Moment ewig anhalten würde und sie für alle Zeit diesen angenehmen Duft einatmen dürfte, während sie in seinen starken Armen lag, die ihr festen Halt gaben. „Du riechst so gut. Ich liebe es in deinen armen zu liegen. Ich liebe es, dich anzusehen. Ich liebe es mit dir zusammen zu sein. Ich liebe es, in deine tiefen und klaren Augen zu sehen. Ich liebe dein weiches, blondes Haar. Ich liebe es, deine Lippen zu küssen. Ich liebe deinen Geschmack, deinen Charakter, und ich liebe es deine Hände zu halten. Doch das wichtigste ist: Ich liebe dich!“ Nach jedem Satz hatte sie ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen gegeben und Leo entgegnete: „Mein kleiner süßer Engel! Ich liebe dich auch!“ Und es begann wieder zu schneien Als sie in ihrem Hotelzimmer ankamen, war es schon dunkel geworden. Kim hängte ihre Jacke in den Schrank und ging dann mit Leo, Hand in Hand, hinunter zum Abendessen. Sie zog ihn zu dem Tisch an dem Jon saß und fragte: „Hast du was dagegen, wenn wir uns zu dir setzen?“ Er schüttelte den Kopf. Als sie bestellt hatten, erkundigte sich Kim: „Wie sieht’s aus? Wann können wir weiter segeln?“ Monoton antwortete er: „Sieht schlecht aus. Wenn es so weiter schneit, kommen wir vor März wahrscheinlich nicht hier weg.“ Die Wochen verflogen und irgendwann war es dann so weit, eines Abends sagte Jon, als er gerade mit den Beiden beim Essen saß: „Wir können los, sobald wir wollen. Das Schiff ist bereit. Wir müssen jetzt nur noch Wasser, Rum und Lebensmittel besorgen, dann können wir los.“ Verwirrt und etwas angewidert fragte sie: „Rum? Wozu das denn?“ Leo erwiderte: „Mit was sollten wir sonst feiern und uns die Zeit an Bord vertreiben?“ Kim schüttelte nur resignierend den Kopf und Leo grinste, als er daran dachte, was passiert war, als sich Kim das letzte Mal mit Rum betrunken hatte. Als sie fertig waren, sagten sie Jon gute Nacht und gingen hoch auf ihr Zimmer. Kim schnappte sich einen Schlafanzug aus dem Schrank und ging ins Bad, um sich umzuziehen. Sicherheitshalber hängte sie ein Handtuch über die Türklinke, sodass es das Schlüsselloch verdeckte. Sofort hörte sie Leo von draußen protestieren. Sie zog sich um und wusch sich. Als sie dann wieder raus kam, war Leo schon umgezogen und lag im Bett. Sie schlurfte schon in Richtung Ersatzbett, da grinste Leo: „Du kommst jetzt schön brav her und legst dich zu mir, schließlich hast du es mir ja vor einiger Zeit versprochen und es bis jetzt noch nicht gehalten, Engelchen.“ Richtig, jetzt fiel es ihr wieder ein. Also machte sie sich auf den beschwerlichen Weg quer durch das Zimmer zum Bett. Sie legte sich auf die Seite und Leo legte seinen Arm um sie. Kim ergriff seine Hand und schlummerte sanft ein. „Ob Kim wohl noch lebt?“, fragte Manuel. „Natürlich lebt die noch! Um mein Schwesterchen umzubringen, müsste man schon ihre Füße betonieren und sie im Ozean versenken.“, antwortet Sally. Kim musste lachen, na ja, dafür, dass sie am Anfang so Angst gehabt hatte, hatte sie sich jetzt doch schon ganz gut eingelebt. Natürlich wusste sie, dass dies nur eine Vision war, doch es war trotzdem nett, mal wieder ihre Geschwister zu sehen und zu hören. Sally redete munter weiter: „Vermutlich schleppt sie irgend so einen Piraten ab. Hoffentlich bringt sie mir einen mit!“ Entrüstet erwiderte Manuel: „Dass du auch immer nur an Männer denkst! Unsere Schwester wurde von Kriminellen entführt! Sie wird sich doch wohl eher andere Sorgen machen, als mit so einem auszugehen!“ „Wollen wir wetten? Um fünf Achterstücke?“ „Na gut, um fünf Achterstücke. Hand drauf!“ Armer Manu, dachte Kim, jetzt war er um fünf Achterstücke ärmer. „Aber weißt du, was mich wundert?“, fragte Sally. „Nein, was?“ „Warum hat der Kerl ausgerechnet Kim mitgenommen? Lösegeldforderungen haben wir ja bis jetzt noch nicht bekommen und der Kerl hätte genauso gut mich mitnehmen können. Der sah nämlich gar nicht so schlecht aus.“ „Ach, warst du nicht diejenige, die sich im Küchenschrank versteckt hat?“ „Na und? Wenigstens behaupte ich nicht, ich wäre ein Mann und lass den Kerl dann unsere kleine süße Kim abschleppen! Aber sag mal, fandest du es nicht auch übertrieben, dass wir an ihrem Geburtstag in die Kirche eine Kerze anzünden mussten?“ „Oh ja, so ein Schwachsinn. Aber du hast nicht recht damit, dass man sie so leicht ertränken könnte! Bei ihrem Dickkopf, könnte sie den Beton doch glatt zerschlagen und würde an Land schwimmen. Nein, um die klein zu kriegen, muss schon das Universum untergehen!“ „Aber jetzt mal im Ernst, meinst du, dass es ihr gut geht? Ich mache mir solche Sorgen.“ Tränen kullerten über Sallys Wangen und Manuel nahm sie in den Arm. „Ich glaube schon, dass sie noch lebt. Und irgendwann kommt sie dann reingeplatzt und nervt uns alle wieder.“ Sally musste lachen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Na, Engelchen, was hast du denn schönes geträumt?“, fragte Leo und gab ihr ein Gutenmorgenküsschen. Kim gähnte herzhaft und räkelte sich. „Ich hatte eine Vision. Ich habe meine Schwester und meinen Bruder gesehen.“ „Und? Über was haben sie geredet?“ „Sie haben um fünf Achterstücke gewettet, dass ich jetzt mit einem Piraten zusammen bin. Und sie haben beschlossen, dass mich nichts umbringt außer dem Untergang des Universums.“ „Wow, deine Geschwister machen sich ja echte Sorgen!“ „Na ja, ganz so ist es ja nun auch wieder nicht, Sally und meine Mum haben anscheinend viel geweint.“ „Nun ja, schließlich wurde ihre Tochter, beziehungsweise, ihre Schwester entführt.“ Kim seufzte. Sie hatte ihre Familie am aller meisten vermisst und sie freute sich schon auf die Gesichter ihrer Geschwister, wenn sie mit Leo im Gepäck auftauchte, sie konnte Sallys hämisches Grinsen und Manus beleidigte Miene schon vor sich sehen. „Sag mal, Leo, wie spät ist es eigentlich?“ Er sah auf die Uhr und meinte: „Kurz nach elf.“ Kim sprang aus dem Bett; schon kurz nach elf! Sie schnappte sich ihre Kleider, rannte ins Bad, wusch sich und zog sich rasch an. Währenddessen redete Leo durch die Tür mit ihr: „Ich habe schon mit Jon gesprochen. Wir nehmen noch heute Kurs auf deine Heimat. Ich hoffe, du freust dich.“ Er hatte kaum den Satz beendet, da sprang Kim schon fertig gewaschen und vollkommen angezogen aus dem Bad, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Sogleich begann sie, ihre Sachen zusammenzusuchen und einzupacken. Als sie fertig war, nahm sie Leo bei der einen und ihren Koffer in die andere Hand und ging los. Als sie auf dem Schiff ankamen, war schon alles bereit zur Abfahrt und Jon zeigte Leo seine Kajüte. Sie waren schon einige Zeit unterwegs, da fiel ihr plötzlich ein, was sie vergessen hatte. Sie hatte vergessen, Jon sein Weihnachtsgeschenk zu geben, die Wollmütze, aber dafür war es nun ohnehin schon zu spät. Nun denn, das war also das erste Kapitel ^__^ Es wird besser, glaubt mir ruhig. Also, ich freue mich über Kommentare, lG, Terrormopf^^ PS: Falls es interessiert, ich habe mit den Charakteren auch MSTings verfasst, schaut ruhig mal vorbei (und ich weiß, dass der Anfang auch schon fast ein eigenes MSTing verdient hätte uû wer bietet sich also an das zu tun? :D) Kapitel 2: Brasilien -------------------- Hallo, meine Lieben^^ In Absurdität übertrifft dieses Kapitel alle anderen mit Leichtigkeit. Die gute Nachricht kommt allerdings erst zum Schluss :P Viel Spaß^^ Nach einer endlos scheinenden Fahrt von vier oder fünf Wochen kamen sie endlich in der kleinen Hafenstadt an. Kim schnappte sich sofort Jon und Leo und marschierte schnurstracks die Straßen hinauf, bis zu ihrem Haus. Dort angekommen klingelte sie ungeduldig. Als ihr endlich ein Butler die Tür öffnete, rang sie sich ein „Hallo“ ab und ging an ihm vorbei ins Haus. Jetzt befand sie sich in der riesigen Eingangshalle mit den Marmorfliesen. Sie ging auf die zweite Tür rechts zu, Jon und Leo immer noch im Schlepptau, und betrat das leere Wohnzimmer. Laut rief sie: „Hallo! Euer Lieblingsfamilienmitglied Kimberley ist wieder im Lande!“ Nur kurze Zeit später hörte sie Fußgetrappel. Als erste waren ihre Eltern zur Stelle, die offensichtlich im Garten gewesen waren. Ihre Mutter weinte vor Freude endlich ihre Tochter wiederzuhaben. Und ihr Vater drückte sie so fest, dass sie fast erstickt wäre. Schließlich erbarmte sich ihre Schwester, die gerade angekommen war, und lachte mit Tränen in den Augen: „Lass sie doch los, Papa, sie läuft schon blau an!“ Das erste, was Kim zu ihrem Bruder sagte, der neben Sally im Türrahmen stand, war: „Tja, Manu, jetzt schuldest du Sally fünf Achterstücke; das ist Leo.“ Sein Gesicht sah genauso aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aber Sallys grinsen verschwand, als sie Jon erblickte, der in einer Zimmerecke stand, die Hände in den Taschen, und sich finster umschaute. Sofort wich sie einen Schritt zurück. Kim hatte das natürlich bemerkt und erklärte: „Das ist Jon. Zwar hat er mich entführt, aber er ist im Grunde kein schlechter Kerl. Ohne ihn wäre ich wahrscheinlich schon längst tot.“ „Ja, und ohne ihn wärst du erst gar nicht in Lebensgefahr gekommen.“, meinte Leo sarkastisch. „Mag sein, aber ohne ihn hätte ich dich dann wohl auch nicht kennen gelernt. Ach, ich bin ja so froh, endlich wieder hier zu sein.“, seufzte Kim. „Und wir erst!“, entgegnete ihre Mutter, „Aber wenigstens bist du pünktlich gekommen, es gibt gleich Essen. Da wir ja nicht wussten, dass du wieder da bist, gibt es nur eine Kleinigkeit. Die Mamsell hat Quiche gemacht.“ An Leo und Jon gewandt sagte sie: „Natürlich seid Ihr herzlich dazu eingeladen, wenn Ihr möchtet.“ Und als hätten die Beiden es einstudiert, sagten sie gleichzeitig: „Ja, sehr gerne, vielen Dank.“ Auf einmal schrie Sally auf: „Wow, sind das echte Pistolen?“ Etwas eingeschüchtert bejahte Jon ihre Frage. Sofort sprach Sally weiter: „Cool! Darf ich die mal anfassen? Ich hatte noch nie eine Waffe in der Hand! Sind die Dinger eigentlich sehr schwer? Und wie schießt man damit?“ Noch bevor sie weiterreden konnte, kam Kim eiligen Schrittes auf sie zu und zerrte sie ins Nebenzimmer. „Sally, bitte! Du bringst ihn in Verlegenheit. Mit Frauen kann er nicht so gut, außerdem ist vor kurzer Zeit die Frau gestorben in die er verliebt war.“ „Nein! Wer hat sie denn umgebracht?“, fragte Sally aufgeregt. „Er selbst hat sie getötet. Er wollte mich schützen und dann hat er sie umgebracht, also wirf dich nicht zu sehr an hin ran.“ „Aha!“ „Was, aha?“, fragte Kim skeptisch. „Na du hast nicht gesagt, wirf dich nicht an ihn ran, sondern, wirf dich nicht zu sehr an ihn ran! Also darf ich mich an ihn ranschmeißen?“ „Nun ja, mehr Umgang mit Frauen würde ihm bestimmt nicht schaden, aber halte dich bedeckt!“ „Ja ja, Kleine! Da sind wir wieder!“, trällerte sie, als sie wieder ins Wohnzimmer kamen. „Wie wäre es denn, wenn wir uns jetzt ans Mittagessen machen würden. Du kannst uns ja dann alles erzählen, Kimberley“, schlug Kims Mutter vor. Gesagt, getan. Nur kurze Zeit später saßen alle am Esstisch und Kim begann zu erzählen. Einige Teile ließ sie bewusst aus, doch sonst erzählte sie alles, an das sie sich eben noch erinnern konnte. An manchen Stellen sahen alle, außer Jon und Leo, die das alles ja schon wussten, sie erwartungsvoll an und ihrer Mutter entflohen manchmal erschrockene Ausrufe. Kim erzählte das ganze Essen und noch einige Zeit danach. Als sie dann fertig war, waren alle mucksmäuschenstill. Schließlich erhob sich ihre Mutter und meinte: „So, von mir aus könnten wir noch Ewigkeiten zusammensitzen, aber ich muss noch einkaufen.“ Kim schlug vor: „Das können Leo und ich doch erledigen! Ich wollte Leo sowieso noch die Stadt zeigen und…“ „…und Jon kann mir euer Schiff zeigen!“, beendete Sally ihren Satz. Jon sah Hilfe suchend zu Kim, doch diese meinte: „Das ist doch eine gute Idee, aber denk dran, was ich dir gesagt habe, Sally!“ Sie nickte, sprang auf, ergriff Jons Arm und war im nächsten Moment schon zur Tür hinaus. Leo warf Kim einen fragenden Blick zu, diese stand ebenfalls auf und sagte: „Wir sollten dann auch gehen, schließlich will ich Leo noch bei Tageslicht herumführen.“ Nun stand auch Leo auf und bedankte sich: „Vielen Dank für das gute Essen, Mrs. Merrylson. Auf Wiedersehen.“ „Auf Wiedersehen, Mutter, bis später!“ Und schon waren die Beiden im Freien. Den Satz: „Aber ihr wisst doch gar nicht, was ihr holen sollt.“ Von Kims Mutter hörten sie nicht mehr. „Wow, deine Schwester ist ja ganz schon bizarr!“, gestand Leo. „Nun ja, wenn es um einen Kerl geht, der ihr gefällt, dreht sie durch.“, pflichtete sie ihm bei. „Jon gefällt ihr also?“, fragte er erstaunt. „Jetzt tu bloß nicht so! Jon sieht nicht schlecht aus.“ Als sie jedoch Leos Blick bemerkte, fügte sie noch schnell hinzu: „Aber noch längst nicht so gut wie du!“ Doch das kam zu spät, jetzt schmollte er, und wenn Leo schmollte, brachte ihn nichts so schnell aus seiner miesen Laune. Bis Kim einfiel, dass sie ja gar nicht wussten, was sie einkaufen sollten. Sie seufzte und sagte an Leo gewandt: „Warte hier auf mich, ich lauf noch mal schnell nach Hause und frage, was wir denn überhaupt kaufen müssen.“ Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und lief los. Doch schon nachdem sie ungefähr drei Meter gelaufen war, rief sie eine Stimme, die ihr wohlbekannt war. Sie drehte sich um und schaute ihrem ehemaligen Freund ins Gesicht. Er fragte: „Kim? Du lebst? Man, bin ich froh! Ich dachte schon, die hätten dich umgebracht!“ Er wollte auf sie zulaufen, doch Leo stellte sich ihm in den Weg. Skeptisch fragte Leo sie: „Kim, wer ist das?“ Unsicher sagte sie: „Leo, das ist Neil. Neil, das ist...“ Mürrisch, den Blick starr auf Neil gerichtet unterbrach er sie: „Ich fragte nicht, wie er heißt, sondern wer er ist. Also?“ „Das würde mich auch mal interessieren!“, pflichtete Neil Leo bei. Kim schluckte. Die Situation war ich mehr als unangenehm, lieber würde sie gegen ein Dutzend Untote kämpfen, als sich in dieser Situation zu befinden. Schließlich sagte sie: „Nun ja, das ist mein …Ex-Freund.“ Empört fragte Neil: „Warum wusste ich denn nie was von ihm? Ich dachte, wir hätten uns alles erzählt!“ Belustigt zischte Leo: „Nicht ich, du Pfeife, du bist der Ex. Aber bei so einem wie dir kann ich schon verstehen, wieso sie sich für mich entschieden hat.“ Neil sah verwirrt zu Kim und sagte: „Kim, der redet doch Blödsinn, sag ihm, dass er uns in ruhe lassen soll!“ Leo ging auf Kim zu und küsste sie. Doch Kim wollte das nicht, das war ein Kuss aus falschem Grund. Leo wollte Neil eifersüchtig machen, so schob sie ihn weg. Doch kaum hatte sie das getan, ging Neil schon auf Leo los. Die erste Faust traf Leo direkt ins Gesicht, doch der hatte sich schnell gefasst, parierte die Schläge mit den Händen, als wären sie nichts und trat mit voller Wucht zu. Kim schrie entsetzt: „Leo, nein! Er kommt doch nicht gegen dich an!“ Aber der brüllte nur zurück: „Selbst schuld! Wenn mich einer angreift ist er so gut wie tot! Das ist und bleibt meine Ehre als Pirat!“ Leo ging jetzt in den Angriff über. Ein Schlag folgte dem anderen und jeder traf präzise ins Ziel. Neil blieb nichts anderes übrig, als die Arme schützend vors Gesicht zu halten und zu versuchen Leos Nahkampfkunst zu überstehen. Schließlich hatte Kim genug gesehen und griff ein. Mutig stellte sie sich vor Neil. Leo, der seinen nächsten Schlag nicht mehr abfangen konnte, traf voll in ihr zartes Gesicht. Im nächsten Moment brüllte er sie an: „Was machst du denn? Du kannst dich doch nicht einfach in die Schusslinie stellen, dumme Gans!“ Als Kim ihn dann allerdings ansah, wütend, mit einer rasch anschwellenden Backe, besann er sich wieder und entschuldigte sich etwas kleinlaut: „Kim, es tut mir Leid! Das war keine Absicht, ich konnte halt nicht mehr abbremsen. Und du kennst mich ja, wenn ich im Kampfrausch bin, dann ticke ich immer aus. Bitte verzeih mir!“ Wütend rief sie: „Was denkst du dir eigentlich? Was geht in deinem kranken Hirn bloß ab? Piratenehre? Dass ich nicht lache! Piratenehre ist, keine Jungs umzulegen, die von Anfang an keine Chance gegen dich haben! Du wusstest doch ganz genau, dass er keine Gefahr für dich darstellt. Weder bei mir noch für dich persönlich. Du bist verdammt noch mal Pirat und kämpfst schon seit was weiß ich wie lange gegen ausgewachsene Kerle! Und er? Du hast auch schon gegen Untote gekämpft und…“ „Die hatte ich ja wohl wegen dir am Hals! Also darauf hätte ich auch gut verzichten können! Und außerdem, was lässt du dich wegen dem da schlagen? Der ist es doch nicht wert, dass dein Gesicht verunstaltet wird!“ „Doch, er ist es wert! Mehr als du! Und du musstest ja nicht mitkommen! Du hättest auch auf deinem Schiff bei Larry versauern können!“ „Ja und wenn es deinen ach so tollen Jon nicht geben würde, würde mein Captain noch leben! Und von der darauf folgenden Nacht wollen wir gar nicht erst anfangen! Ich weiß echt nicht was da zwischen euch war, aber sicherlich nicht nichts!“ Es knallte. Kim hatte Leo geohrfeigt und war weggelaufen. Leo fasste sich an die Wange und dachte über das nach, was er gerade gesagt hatte. Als ihm klar wurde, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, sah er noch einmal auf den verdutzt dreinblickenden Neil und blaffte ihn an: „Na toll! Bist du jetzt zufrieden? Du machst immer nur Probleme, schon als ich Kim kennen gelernt habe, wollte sie nicht wirklich was von mir wissen, weil ja ihr toller Freund zu Hause auf sie wartet! Ach verdammt, jetzt kann man nicht mit ihr reden! Ich gehe aufs Schiff.“ Es klopfte an Kims Zimmertür. Sie sagte nichts und Neil trat ins Zimmer. Er musste sie für total bescheuert halten, sie saß auf ihrem Bett mit einer geschwollenen Backe, klammerte sich an ihr Kissen und schluchzte erbärmlig. Er setzte sich neben sie und starrte eine Weile auf den Boden. Dann sah er auf und sagte: „Geh zu ihm. Du liebst ihn und er liebt dich. Wegen so einem albernem Grund solltet ihr euch nicht streiten.“ Kim entgegnete milde lächelnd: „Das ist es nicht, es ist manchmal so schwer mit ihm. Er kann so verständnisvoll und liebevoll sein, aber dann ist er wieder so,… so,… so wie eben. Und immer muss ich kommen um mich zu versöhnen. Ich will nicht mehr.“ „Kim, jetzt hör mir mal zu, glaubst du, es fällt mir leicht, mich hier neben dich zu setzen und dir zu sagen, dass du zu einem anderen gehen sollst? Mit uns war es noch nicht einmal offiziell aus, die ganzen Monate habe ich gewartet und gehofft, dass du wiederkommst. Meine Gebete wurden zwar erhört, doch ich habe mir sicher nicht gewünscht, dass du jetzt einen anderen liebst. Eigentlich könnte ich mich jetzt freuen und die Situation ausnutzen, aber ich weiß, dass du dann nicht glücklich wärst und alles was ich will, ist, dass du glücklich bist. Also mach es mir nicht noch schwerer und geh zu ihm.“ Mit diesen Worten erhob er sich und verließ den Raum. Kim sah ihm nach, doch sie überlegte nicht lange, wischte sich die Tränen von der schmerzenden Wange und lief los. Raus aus dem Haus, durch die Stadt und in Richtung Schiff. Dort ließ sie Sally und Jon links liegen und stürmte in Leos Kajüte, wo sie ihm um den Hals fiel. Leo sah sie an und begann: „Kim, hör mir zu, es tut mir Leid, was ich alles gesagt habe. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Es tut mir alles furchtbar Leid und natürlich glaube ich dir, dass zwischen Jon und dir damals nichts gelaufen ist, aber versprich mir eins!“, Kim sah ihn gespannt an, „Sieh mich nie wieder so an! Als du mich geohrfeigt hast, hattest du nichts als Verachtung in deinem Blick und ich halte es nicht aus, wenn deine wunderschönen Augen mich so verachtend anfunkeln. Ich hatte Angst. Ich hatte wirklich Angst, dass du mich so verachtest, wie deine Augen mich angesehen haben. Ich bitte dich, bitte lass mich nie wieder solche Angst haben.“ Er schloss sie in seine Arme und atmete tief durch. Er wollte sie auf die Wange küssen, doch kaum hatten seine Lippen sie berührt, zuckte Kim zusammen. Leo nahm ihr Kinn und führte Kims Gesicht hin und her. Schließlich sagte er: „Da hab ich ja ganz schön zugelangt. Ich glaube, da hilft nur meine spezial Behandlung.“ Er ließ seine Finger knacken und meinte drohend: „Das könnte jetzt ein kleinwenig wehtun.“ Ehe Kim etwas sagen konnte, hob er sie hoch und legte sie aufs Bett. Dann kniete er sich über sie, senkte seinen Oberkörper und begann sie zu küssen. Doch er blieb nicht an ihren Lippen, sondern wanderte mit zärtlichen Küssen immer weiter zu ihrer Wange, die schon langsam blau geworden war. Dort blieben seine Lippen hängen und er liebkoste sie. Kim genoss jede Sekunde. Sie fühlte, wie ein wohliger Schauer über ihren Rücken lief, als er sich bewegte. Ihre Hände waren ineinander gelegt, sie spürte Leos heißen Atem auf ihrem Gesicht. Auf einmal hörten sie Stimmen und im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Leo schreckte auf und auch Kim sah zur Tür, durch die sie Jon und Sally sah, die anscheinend genauso perplex waren wie Kim und Leo. Und ohne, dass irgendjemand irgendetwas gesagt hatte, schlossen die beiden wieder die Tür. Plötzlich wurde Kim alles furchtbar peinlich und sie stand auf. Nachdenklich ging sie zum Fenster. Leo stellte sich neben sie und legte seinen Arm um sie, ohne etwas zu sagen. Gemeinsam sahen sie aufs Meer hinaus und genossen es, zu zweit zu sein. Nach einer Weile fragte Kim: „Willst du heute noch mit uns zu Abend essen?“ „Nein, danke. Ich glaube, ich esse heute lieber mit der Mannschaft und lasse dich mal mit deiner Familie allein. Aber sag mal, warum bist du eigentlich hergekommen? Du warst doch so sauer?“, kam die Gegenfrage von Leo. Er kraulte ihr durchs Haar und sie überlegte sich eine passende Antwort, die der Wahrheit entsprach, Leo aber nicht sauer oder eifersüchtig machte. Schließlich sagte sie: „Nun ja, ich hatte ein Bisschen Hilfe bei meiner Entscheidung.“ Mit dieser Antwort gab Leo sich zufrieden und ging mit Kim an Deck. Während sie die Blicke der Piraten im Nacken spürte, fühlte sie sich mehr und mehr unwohl in ihrer Haut, doch Leo schien das alles kalt zu lassen. Er führte sie noch von Deck. Vor dem Schiff verabschiedete er sich von ihr mit einer Umarmung und einem: „Schlaf gut, Engelchen.“ dann ging er zurück aufs Schiff. Als Kim beim Abendessen saß, sah sie genau, wie ihre Schwester sie neugierig musterte. Schließlich hatte Kim genug. Sie erhob sich und sagte: „Mutter, Vater, ich habe keinen Hunger mehr. Ich gehe hoch auf mein Zimmer.“ Sie war schon aus der Tür, da hörte sie die Reaktion ihrer Mutter: „Aber Kimberley!“ Kim schloss leise die Tür ihres Zimmers hinter sich. Vollkommen erschöpft ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Wie lange hatte sie nun schon nicht mehr in ihrem Bett geschlafen? Monatelang. Nach der langen Zeit, die sie auf dem Schiff verbracht hatte, kam ihr hier alles viel zu groß und überflüssig vor. Mindestens die Hälfte der Sachen, die hier in ihrem Zimmer als Staubfänger dienten, hatte sie nie benötigt. Das meiste war einfach im Trend gewesen und da ihre Eltern ja genug Geld hatten, hatte sie fast alles bekommen, was sie jemals gewollt hatte. Erst bei den Piraten war ihr bewusst geworden, wie verwöhnt sie eigentlich war. Bei den Piraten war es harte Arbeit Geld zu „verdienen“. Bei jedem Beutezug bestand das Risiko zu sterben, doch Piraten waren nicht sehr klug was Vermögensanlagen anging. Meistens versoffen sie das ganze Geld in einer Nacht und gaben den Rest für Huren aus. Wenn Kim etwas bei ihren Eltern gelernt hatte, dann war es, dass man Geld anlegte, damit es sich vervielfältigte. Natürlich gab es auf hoher See keine Bank, wo sie ihr Geld hätte anlegen können, aber sie konnte sparen, auf etwas, das wichtiger war, als Alkohol, oder sonstige Vergnügungen. Kim war noch ganz in Gedanken versunken, da klopfte es an der Tür. Ruppig rief sie: „Was?“ und Sally betrat den Raum. Breit grinsend erläuterte die: „Da ich nicht wusste, was du hier drinnen treibst, hab ich mal lieber angeklopft.“ Im selben Tonfall wie eben entgegnete Kim: „Falls das eine Anspielung auf Leo und mich sein sollte, dann muss ich dich enttäuschen. Wir haben nicht … na du weißt schon was! Und nur zu deiner Information: deine Seitenblicke vorhin am Tisch hab ich sehr wohl bemerkt!“ „Wow! Was ist denn mit dir los? So schlecht drauf warst du ja noch nie! Und seit wann bemerkst du es, wenn ich dich von der Seite anschaue?“ „Bei Piraten lernt man allerlei! Zum Beispiel, dass es totale Energieverschwendung ist, die ganze Zeit das liebe, nette Püppchen zu spielen. Und beim Kämpfen werden die Sinne geschärft. Entweder du bemerkst etwas und reagierst, oder du bemerkst nichts und bist tot.“ „Reg dich ab, Süße! Ich wollte dich eigentlich nur über Jon und deinen Herzenskerl, oh, pardon, über Leo ausfragen.“ „Was willst du denn wissen?“ „Naja, erzähl mir erstmal das mit seiner großen Liebe, die er umgebracht hat.“ „Umbringen musste!“, korrigierte Kim sie und fuhr trocken fort: „Naja, was gibt es da zu erzählen? Er war total in sie verliebt, aber sie hat ihn hintergangen, dann wollte sie mich erschießen und er hat sich für mich angeboten. Letztendlich hat er sie dann geküsst und während des Kusses hat er einen Dolch in ihrem Rücken versenkt.“ „Wow! … Das ist …“ „Krass? Abartig? Abnorm?“ „Schlimm! Erstens, hatte er die Wahl, zwischen dir und seiner Liebe und zweitens, ich muss meine Finger von ihm lassen.“ „Das verstehe ich jetzt nicht, wie meinst du das, du musst deine Finger von ihm lassen?“ „Na er ist so in dich verschossen, dass er sogar die Frau umgebracht hat, die er geliebt hat, und das nur, um dich zu retten.“ „Ehm, ich glaube, da könnte es noch einen andern Grund geben.“ „Ach ja? Und welchen, wenn ich fragen dürfte?“ „Nun ja, ich bin eine Hexe.“ Erst sah Sally sie mit offenem Mund an, aber nach einer Weile fing Sally herzhaft an zu lachen und prustete: „Ne, du hast das so ernst gesagt, ich dachte wirklich schon, du meinst das ernst! Aber jetzt mal ohne Scheiß, was sollte es denn noch für einen Grund dafür geben?“ „Sally, das war kein Witz! Ich bin die Nachkommin einer Hexe, die einzige weibliche! Du weißt ja, dass ich nur deine und Manus Halbschwester bin.“ „Das ist doch wohl nicht dein Ernst, oder doch?“ „Doch und Jon will mir helfen das Hexenbuch zu finden.“ „Und wie steht’s mit deinem Leo?“ „Erstens, er ist nicht mein Leo und zweitens, was soll mit ihm sein?“ „Naja, wie lange kanntet ihr euch schon, bis ihr zusammen wart, wann habt ihr euch das L-Wort gesagt, wenn ihr es euch schon gesagt habt, wie weit wart ihr schon, was ist mit seiner Familie und wie viele Freundinnen hatte er vor dir schon?“ „Wir kannten uns schon zirka eine Woche, dann haben wir uns punkt Neujahr geküsst und da er vorher schon des Öfteren versucht hat, sich mir zu nähern, sind wir dann zusammengekommen. Einen Tag danach hab ich ihm gesagt, dass ich ihn liebe, wir waren nie weiter, als bis vorhin, wenn du in einem Bett schlafen nicht mitzählst, über seine Familie weiß ich nur, dass ereinen Bruder hat und die genaue Anzahl der Freundinnen, die er vor mir hatte, hat er mir nicht gesagt.“ „Halt, Ihr habt euch nur geküsst und dann wart ihr schon zusammen? Und am nächsten Tag hast du ihm gesagt, dass du ihn liebst? Was hat er gesagt?“ Kim starrte träumerisch an die Decke und erzählte von dem Tag, als sie Leo gesagt hatte, dass sie ihn liebe. „Wie romantisch!“, seufzte Sally. „Ich möchte schlafen. Heute war ein anstrengender Tag“, sagte Kim und Sally verließ, zu Kims Verwunderung, schweigend den Raum. Doch Kim wollte gar nicht schlafen, sie wollte nur nicht reden, mit niemandem über nichts. Sie schritt zur Balkontür, öffnete sie und stieg hinaus in die frische Nachtluft. Von hier aus hatte man den schönsten Ausblick der ganzen Gegend. Kim konnte den Vollmond sehen, blütenweiß stand er am Himmel, umringt von Sternen, und das Meer, in dem sich der Mond spiegelte. Auch konnte sie die ganze Stadt stehen, die einzelnen Lichter der Straßenlaternen, und den Hafen, in dem Jons Schiff lag. Kim war nachdenklich gestimmt. Sie dachte über ihre Beziehung zu Leo nach. Bis jetzt hatte sie immer in den Tag hineingelebt, doch was sollte aus ihnen werden? Würde sie auf immer und ewig mit ihm zusammenbleiben? Aber was dachte sie da eigentlich? Sie liebte Leo und es würde sich schon alles so fügen, wie es gut war. Am anderen Ende der Stadt, zur selben Zeit, stand Leo über die Reling gebeugt auf die Sterne starrend, und murmelte: „Ich liebe sie.“ „Hi, Leo. Ich muss dringend mit Jon reden!“, begrüßte sie Leo am nächsten Morgen und gab ihm flüchtig einen Kuss auf den Mund. „Jon ist in seiner Kajüte. Was gibt es denn so wichtiges?“, fragte Leo verdutzt. „Erzähl ich dir später.“, erklärte sie kurz angebunden und murmelte im gehen: „Vielleicht.“ Sie stürmte in Jons Kajüte, ohne anzuklopfen. Und was fand sie vor? Einen Jon, dessen Decke neben dem Bett lag, und der in aller Seelenruhe, in Boxershorts, auf seinem Bett lag und schnarchte. Normalerweise hätte sie sich jetzt neben ihn gesetzt und ihm belustigt zugesehen, doch es eilte, also schritt sie zum Bett und schüttelte Jon so lange, bis er sie verschlafen ansah. Er fragte: „Was is denn los? Gibt’s irgendwas dringendes, oder warum weckst du mich zu so früher Morgenstunde?“ Kim entgegnete zynisch grinsend: „Morgenstund’…“ „ … ist ungesund!“, beendete er ihren Satz so wie er ihn sich vorstellte. Doch Kim war nicht zu Spaßen aufgelegt. Ernst sprach sie weiter: „Lass den Quatsch!“ „Aber du hast doch angefangen.“, unterbrach sie Jon und gähnte. Nicht auf ihn eingehend erklärte sie: „Es ist wirklich wichtig! Ich hatte wieder eine Vision.“ Auf einmal war Jon hellwach und setzte sich auf. Höflich wie er war, bedeutete er ihr sogleich sich ihm gegenüber auf einen Stuhl zu setzen. Im Sitzen erzählte Kim weiter: „Ich habe sie gesehen! Ich habe die Hexe gesehen! Und ich weiß, wo das Buch ist! Es ist auf einer Insel, ich glaube, sie heißt Coude de pluie.“ „Nein! Das kann nicht sein! Diese Insel ist ein Mythos! Sie existiert gar nicht!“ „Ein Mythos? Aber ich habe doch selbst gesehen, wie sie es dort aufbewahrt hat!“ „Du spinnst! Geh lieber noch mal schlafen, nicht jeder Traum ist gleich eine Vision.“ „Aber woher sollte ich denn sonst von der Insel wissen? Ich habe den Namen noch nie zuvor gehört, aber er kommt mir doch so bekannt vor!“ „Wahrscheinlich hast du den mal an Deck aufgeschnappt, du weißt doch, wie die Crew es liebt Seemannsgarn zu erzählen!“ „Warum hörst du mir eigentlich nicht zu und glaubst mir nicht?“, rief sie aufgebracht und stürmte gekränkt aus dem Zimmer. Vor der Tür stand Leo, der gerade anklopfen wollte. Er wollte etwas sagen, doch sie fuhr ihn an: „Ich will jetzt allein sein!“ Und sie stampfte weiter, bis sie die Bibliothek erreichte. Dort fragte sie den Bibliothekar nach Büchern über Piratenmythen. Dieser führte sie zu einem Regal mit sehr verstaubten Büchern und griff nach einem sehr alt aussehendem Buch, es war in Leder gebunden und in goldenen Lettern stand auf dem Buchdeckel geschrieben: Mythen der Piraten . Sie war wie gebannt, es war wie bei dem Armband damals. Sie sah an ihrem Arm entlang zu ihrem Handgelenk, wo das Armband baumelte und da viel ihr etwas auf: Auf dem Deckel des Buches war dasselbe Zeichen, das auch auf dem Armband eingraviert war. Es sah aus wie ein Wappen, Zwei Linien, die ineinander zu verlaufen schienen. Was hatte das wohl zu bedeuten? Kim setzte sich an einen der vielen Tische und schlug es auf. Die Seiten waren schon etwas vergilbt und rochen modrig. Sie blätterte es durch und überflog die Überschriften und die dazugehörigen Bilder. Bei einem blieb sie hängen. Auf dem Bild war eine junge Frau zu sehen die Kim zum verwechseln ähnlich sah. Auf der vorherigen Seite las sie Die Überschrift: Die Hexe Sibyl Eine Sagenumwobene Frau aus der Zeit der Hexenverbrennung. Sie war eine Hexe, womöglich die einzige, die nicht auf dem Scheiterhaufen endete. Sie war von bedeutender Schönheit, konnte aber niemandem ihre magischen Fähigkeiten vererben, da sie nur Söhne hatte. Auch in den folgenden Generationen sollten nur männliche Nachkommen geboren werden. Also bündelte sie am Sterbebett ihre Kräfte und legte sie in ihr geliebtes Armband, doch um die Kräfte vollkommen nutzen zu können, muss ihre Nachkommin auch das Hexenbuch besitzen, denn was nützen der mächtigsten Hexe ihre Zauberkräfte, wenn sie nicht weiß, wie man sie anwendet. Das Buch liegt auf einer Insel Namens Coude de pluie. Es heißt, in ihrem Portrait soll die Karte liegen, doch noch nie konnte jemand das Rätsel lösen. Kim las Die Seite so oft durch, bis ihre Augen schmerzten; sie war fasziniert. Sibyl. Sie sah sich das Portrait an, doch sie konnte keine Karte darin entdecken. Kim entschloss sich, das Buch auszuleihen und es Jon zu zeigen. Vielleicht würde er ihr dann glauben. Also ging sie nach vorne zum Bibliothekar zurück und fragte, ob sie es sich für eine Weile ausleihen dürfe. Zu ihrer Überraschung sagte dieser: „Mein Kind, ich möchte es dir schenken, es liest sowieso niemand mehr darin. Mythen und Legenden interessieren die Menschen nicht mehr und ich habe gesehen, wie gebannt du von dem Buch warst. Bitte nimm es an!“ „Auf keinen Fall! Wenn sie es loshaben wollen, kaufe ich es ehrlich! Ich komme dann morgen noch einmal vorbei, bis dann und vielen Dank!“ Mit diesen Worten verschwand sie auch schon aus der Tür. Es schlug gerade vier Uhr, da kam sie wieder am Schiff an. Sie ging, nun sichtlich besser gelaunt, über das Deck und fragte hie und da mal nach Jon. Doch von jedem wurde sie woanders hingeschickt. Und schließlich landete sie auf dem Festland in einer Kneipe, in der sie Jon sah, wie er mit Leo an einem Tisch in der Ecke saß. Beide hatten einen großen Pokal vor sich stehen und eine Flasche Rum stand auch auf dem Tisch. Sie unterhielten sich angeregt. Immer wieder schauten sie zur Theke, wo eine hübsche Barkeeperin Shakes mixte und den Tresen abwischte. Schließlich ging sie zu den Beiden hin, setzte sich auf Leos Schoß und fragte: „Die ist hübsch, nicht?“ Belustigt sah sie zu, wie die beiden rot anliefen. Zu Leo gewandt sagte sie: „Wenn ich dir nicht reiche, dann sag es ruhig!“ Der sarkastische Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Ach, soll das heißen, es stört dich nicht, wenn ich mit einer anderen rummache?“ „Übertreib’s nicht!“, erwidere Kim und hob drohen die Augenbrauen. „Aber hinterher schauen ist erlaubt?“ „Nur, wenn ich nicht dabei bin. Und lass dich nicht noch mal dabei erwischen!“ Jon lachte: „Zum Glück habe ich nichts zu befürchten und könnte jeder nachspannen.“ Breit grinsend fragte Kim: „Was heißt hier, du hast nichts zu befürchten? Und wieso könntest du nur?“ „Nun ja, ich bin nun mal nicht der Typ, der Mädchen unter die Röcke spannt, wie manch anderer hier im Raum.“, erwiderte er schnippisch, den Blick auf Leo gewandt, der so getan hatte, als wäre ihm etwas runter gefallen und er müsse es wieder aufheben, aber in Wirklichkeit wollte er natürlich nur eins: Kim unter ihren blauen Faltenrock spannen. Kim stand auf, gab Leo einen Kuss und sagte: „Das hast du doch gar nicht nötig, du hast doch den Vorteil mit mir zusammen zu sein.“ Und während sie ihn umarmte und ihre Wange seine berührte, flüsterte sie: „Wenn du das noch einmal tust, wirst du deinen 17. Geburtstag nicht mehr erleben!“ „Und? Warum bist du hier, Kim? Du hast uns doch gesucht, oder warum solltest du sonst in so eine Bar kommen?“, fragte Jon, um Leo aus der Affäre zu ziehen. Die Beiden waren inzwischen zu guten Freunden geworden und sie verschworen sich liebend gern gegen Kim. Doch zum Glück wurde das Ganze so gespielt, dass sich auch Kim immer wieder mit einem der Beiden verbündete. Kim überlegte eine Weile, ob sie ihnen von dem Buch erzählen sollte, doch sie entschied sich dazu, das ganze erstmal in aller Ruhe mit Jon allein zu besprechen und jetzt nicht die gute Stimmung zu verderben. Also sagte sie: „Ich wollte nur mal wissen, was ihr so macht, wenn ihr allein unterwegs seid. Nun ja, ich glaube, ich habe euch bei eurer Männerrunde gestört. Ich gehe dann mal wieder.“ „Warte doch, ich kann nicht dafür garantieren, dass ich meine Finger von ihr lasse, “ Leo nickte zur Barkeeperin „wenn ich nicht jemanden vor mir habe, der viel besser aussieht.“ Mit diesen Worten zog er sie wieder bei sich auf den Schoß. Kim war das nur recht. Sie liebte es, mit den Beiden rumzualbern. Nach einer Weile fragte Jon: „Sag mal, Kim, wie war das eigentlich mit deinem Verflossenen? Deine Backe ist ja noch ganz schön blau.“ Um dem Thema auszuweichen fiel Leo Kim ins Wort: „Ja, erst rot, dann blau, blad wird sie grün und dann gelb!“ „Iih! Das ist ja total ekelig! Du willst doch wohl nicht damit sagen, dass ich bald mit ner grünen Backe rumlaufen muss? Und das alles ist allein deine Schuld! Von wegen Piratenehre. Apropos: Sag mal, Jon, wie ist das eigentlich? Wenn ein Zivilist, der viel schwächer ist als du dich angreift, musst du ihn dann gleich bewusstlos schlagen? Ist das Piratenehre?“ „Schon, aber das kommt meistens auf die Situation an. Wenn ich ihn wütend gemacht habe, sollte ich die Schläge parieren. Wenn er vollkommen grundlos angreift, dann darf ich mich wehren, ihn aber nicht bewusstlos prügeln und wenn er besoffen ist, mich schon vorher beleidigt hat, und so weiter, dann darf ich ihn K.O. schlagen. Wieso fragst du?“, erklärte Jon. „Ach, nur so.“, erwiderte Kim freundlich lächelnd, durchbohrte aber sogleich Leo mit einem vernichtenden Blick. Schließlich gab Leo sich geschlagen: „Ist ja schon gut, ich hab mich doch schon entschuldigt!“ Übertrieben freundlich entgegnete Kim: „Ja, bei mir, aber nicht bei Neil. Ich möchte, dass du noch heute zu ihm gehst und dich entschuldigst.“ „Ach nein! Hab Erbarmen! Ich bin Pirat!“ „Das ist mir so was von egal, wenn er nicht wäre, würden wir immer noch nicht miteinander sprechen!“, brauste Kim auf. Das ganze Lokal schaute auf die Drei und man konnte mitansehen, wie Leo bei jedem Wort Kims mehr und mehr eingegangen war. Jon schaute die Beiden nur ziemlich verdutzt an, traute sich aber nicht, jetzt etwas zu sagen. Kim entging das natürlich nicht und sie sagte lächelnd: „Mach dir keine Sorgen, auf dich bin ich ja nicht sauer. Nur auf eine Gewisse andere Person hier im Raum.“ Sie stierte Leo weiter böse an. Schließlich begann Jon zu lachen: „Wie ein altes Ehepaar! Ihr seid echt gut! Kim, du kannst vielleicht zetern und Leo ist der perfekte Mann für dich!“ Doch als Kims Blick ihn traf, verstummte er abrupt. Hart sagte Kim: „Vergleich mich nicht immer mit einer giftenden Ehefrau! Ich bin 14, nicht 48! Ich bin nicht verheiratet, ich habe lediglich einen Freund, der die längste Zeit mein Freund gewesen ist, wenn er nicht sofort die Hand von meinem Hintern nimmt, und ich habe keine Bälger, die mir das Leben zur Hölle machen! Nein danke, ihr beide reicht mir vollkommen.“ Jon und Leo sahen sie schuldbewusst an, mit Dackelblicken, denen niemand widerstehen konnte. Letztlich lachte Kim: „Wenn man diese Blicke sieht möchte man euch nur noch knuddeln!“ Bei Leo setzte sie es auch gleich in die Tat um und er grinste Jon schadenfroh an. Da kam eine Kellnerin und fragte: „Was darf ich Ihnen bringen?“ „Einen Blueberry hätte ich gerne, danke.“, antwortete Kim. Als die Kellnerin davon gestöckelt war, sie trug mindestens sieben Zentimeter hohe Pfennigabsätze, fragte Jon: „Was ist denn bitte ein Blueberry?“ „Das ist ein Mischgetränk aus allen möglichen Früchten und Beeren, die blau sind. Ich finde, dass es gut schmeckt, aber aus meiner Familie gibt es sonst keinen, der das mag.“, erklärte sie, während sie Leo einen Schlag auf den Hinterkopf gab, da er eine junge Frau, die gerade hereingekommen war, zu genau musterte. „Hör auf zu sabbern und mach den Mund zu!“, tadelte sie ihn. Jon lachte und fragte: „Oh man, Kim, wie hältst du es nur mit ihm aus? Der schaut doch jeder zweiten Frau, die vorbeigeht auf den Hintern!“ „Manchmal frage ich mich das selber, aber ich glaube, das liegt an seiner lieben, süßen, einfühlsamen, verständnisvollen Seite. Und an seinem Aussehen… Vielen Dank.“, sagte Kim zu der Bedienung, als diese ihr Getränk auf den Tisch stellte. Diesmal war ein Mann gekommen, da die Kellnerin mit einem anderen Gast heftig kokettierte. Herausfordernd meinte Kim: „Der hat bestimmt auch eine liebe, süße, einfühlsame, verständnisvolle Seite! Und der Kerl sieht gut aus!“ Es war eine Genugtuung Leos eifersüchtige Blicke zu beobachten. Sie war wohl immer noch die Einzige für ihn. Schnell legte sie ihren Arm um seine Schultern, küsste ihn auf die Wange und flüsterte: „Hey, Süßer, bleib mal locker, das war doch nur ein Test, ob du noch genug Interesse an mir zeigst. Bei den ganzen Mädchen denen du hinterher schaust!“ Leo sah sie skeptisch an, begann aber dann laut zu lachen: „Nun ja, falls deine Wange so bleibt, muss ich doch schon mal ein paar in die nähere Auswahl stellen.“ „Ach? Hast du das bei mir auch so gemacht? Und dann kommt wieder die Masche mit dem ‚Aber für dich auch Leo’, oder was? Und hättest du nicht die Prügelei angefangen, hätte ich gar nicht dazwischen gehen müssen und müsste gar nicht erst mit diesem Gesicht rumlaufen. Du musst dich ja auch nicht mit mir blicken lassen! Such dir doch eine von den tollen Frauen aus, die hier so rumspazieren! Ich bin dir doch ohnehin zu gefährlich!“ Sie war aufgesprungen und setzte sich auf einen Stuhl, der noch am Tisch stand. Eine Weile lang kaute sie verärgert an ihrem Strohalm herum, schaute aber dann auf, in Leos und Jons verdutzte Gesichter und seufzte: „Ich hab überreagiert, oder?“ Andächtig nickten die beiden stumm. Kim blubberte mit ihrem Strohalm in ihrem Blueberry und dachte nach. Plötzlich wurde sie durch das Gelächter von Leo und Jon aus ihren Gedankengängen geworfen. Erschrocken sah sie auf. Die Beiden hielten sich schon die Bäuche vor lachen und als sie sie fragend musterte wurde es noch schlimmer. Schließlich brachte Jon als erster etwas heraus: „Du bist so süß, wenn du nachdenkst! Wie du so in deinem Getränk blubberst!“ Und Leo ergänzte: „Engelchen, wir müssen öfter mal weggehen!“ Kim spürte, wie ihr Kopf heiß anlief und ihr die Röte ins Gesicht schoss. Die Beiden, die sich schon fast wieder beruhigt hatten, begannen nun schon wieder. Kim konnte nicht anders, sie musste einfach mitlachen. Schon seit langem hatte sie nicht mehr so gelacht. Es tat ihr gut. Aber was ihr nicht aus dem Kopf wollte, war ihr Traum von letzter Nacht und das Buch, das sie in der Bibliothek entdeckt hatte. Sie musste unbedingt mit Jon noch einmal darüber reden. Schließlich entschloss sie sich doch etwas zu sagen: „Ehm, Jon, ich müsste noch mal mit dir reden... möglichst unter vier Augen.“ „Oh, ist es dringend?“ „Nein, nein, das hat Zeit bis heute Abend.“, lächelte sie gezwungen. Etwas beleidigt fragte Leo: „Und warum unter vier Augen?“ Unsicher antwortete Kim: „Weil ich das nur mit Jon besprechen kann.“ Leo forschte weiter: „Ach ja? Und über was kannst du nur mit Jon reden?“ Kim betete zum Himmel, dass Sally diesen Satz niemals erfahren würde: „Über meine Schwester.“ Leo winkte ab: „Ach so!“ Doch nun wurde Jon hellhörig: „Wieso denn über Sally?“ Für diesen Satz warf sie ihm in Gedanken tausend Flüche an den Kopf, doch sie musste sich zusammenreißen und sich zwingen, ein Lächeln aufzusetzen: „Das erzähle ich dir dann, OK?“ Bei dem Wort ‚OK’, sah sie ihn so durchdringend an, dass er schnell seinen Mund hielt. Man konnte sehen, wie unwohl ihm in seiner Haut war. Doch das hatte sie ja beabsichtigt, denn hätte er noch weiter Fragen gestellt, hätte sie sich wahrscheinlich um Kopf und Kragen geredet. „Lass mich mal probieren, Engelchen.“, forderte Leo. Doch er wartete nicht auf eine Erlaubnis, sondern schnappte sich einfach ihr Glas und schlürfte am Strohhalm. Nach einem großen Schluck verzog er das Gesicht und sah Kim fragend an. „Aha, du magst es wohl auch nicht? Hättest du gewartet, hätte ich dir sagen können, dass es nicht nur meiner Familie nicht schmeckt.“, erklärte Kim schadenfroh. Nachdem Leo einen noch größeren Schluck Run genommen hatte, nahm Jon sich das Getränk und begann zu trinken. Auch sein Gesichtsausdruck veränderte sich, doch eher von misstrauisch zu erstaunt. Kim musste ihn sogar daran hindern, alles auszutrinken. Als sie dann selber mit ihrem Getränk fertig war, und auch Leo und Jon die Rumfalsche geleert hatten, bezahlte Jon für alle drei und sie machten sich auf den Weg zum Schiff. Das Buch hatte Kim in Jons Kabine untergebracht, während sie ihn gesucht hatte. Als sie ankamen, gesellte sich Leo zu dem alten Jack und ein paar anderen Piraten und Jon ging mit Kim in seine Kabine. „Also, was ist mit deiner Schwester?“, fragte Jon gerade heraus. „Nun ja, eigentlich wollte ich gar nicht…“ „Kim, ich weiß, es ist lieb gemeint, aber bitte versuch nicht, mich mit ihr zu verkuppeln. Das geht mir alles noch ein Bisschen zu schnell. Und ich möchte, dass du das akzeptierst.“ „Jon, ich… es tut mir Leid, ich dachte, es würde dir dann vielleicht etwas besser gehen, ich … ich verstehe dich ja…“ „Ach ja? Verstehst du mich wirklich? Verstehst du den Schmerz? Verstehst du die Leere, oder das Gefühl allein zu sein?“ Kim schwieg und starrte zu Boden. Nein, sie verstand nicht. Sie hatte es noch nie fühlen müssen. Für sie war immer jemand da gewesen. Das Mädchen schaute auf, und blickte direkt in die Augen ihres Gegenübers. Verzweifelt versuchte sie, aus seinem Blick zu lesen, was sie jetzt sagen sollte, doch sie fand nichts, sie konnte seinen Blick nicht deuten. Eine Weile starrten sich die beiden einfach nur an, dann sah Jon weg. Kim hatte gesehen, wie feucht seine Augen gewesen waren. Was sollte sie jetzt tun? Was sollte sie sagen? Sie hatte keinen blassen Schimmer, doch Jon nahm es ihr ab und fragte: „Könntest du vielleicht mit deiner Schwester reden?“ „Jon, verzeih mir, du hast Recht, ich kann dich nicht verstehen, ich werde mit ihr reden, aber ich glaube, das hat sich gestern Abend ohnehin erledigt. Ich denke, ich geh jetzt besser. Du sollst nur wissen, dass ich dich unheimlich lieb habe.“ Mit diesen Worten ging sie aus der Tür und schloss sie leise hinter sich. Warum hatte sie gerade so unglaubliches Herzklopfen gehabt? Sie atmete erst einmal tief durch. Und was hatte sie dazu gebracht ihm das zu sagen? Oh nein! Jetzt hatte sie ihm doch nichts von dem Buch erzählt. Verwirrt ließ sie sich neben seiner Tür nieder. Kim stützte ihr Gesicht in die Hände und dachte nach. Sie wusste nicht, wie lange sie schon so dasaß, als sich plötzlich Jons Tür öffnete, er heraustrat und rief: „Kim? Kim, ich muss mit dir re…“ Da entdeckte er sie, wie sie da hockte. Die Mühe, den Kopf zu heben, machte sie sich nicht. Jon kniete sich vor ihr nieder, legte die Hand auf ihr Knie und fragte besorgt: „Kim? Ist alles in Ordnung? Weinst du?“ „Nein, ich habe nur nachgedacht, mach dir keine Sorgen.“ Lächelnd sah sie auf und direkt in Jons besorgte Augen. Kim errötete leicht. Schließlich lächelte Jon zurück und sagte: „Dann ist ja gut. Ich hab mir schon Sorgen gemacht. Ich wollte noch mal mit dir reden.“ Als er ihr aufgeholfen hatte und sie in seiner Kajüte waren, drehte er sich zu Kim um und sah sie ernst an, man könnte sogar sagen, gefühllos. Schließlich begann Jon zu sprechen: „Du wolltest gar nicht mit mir über deine Schwester reden, Sondern über dieses Buch.“, er hob das Buch, das Kim in seinem Zimmer deponiert hatte, „Was wolltest du damit? Hat das etwas mit dem Traum zu tun, den du heute Nacht hattest?“ „Ja, aber ich glaube, du hattest Recht. Es war nur ein Traum, keine Vision. Es kann ja nicht jeder Traum eine Vision sein.“ Gerade hatte sie ihn eiskalt angelogen. Sie wusste ganz genau, dass es eine Vision gewesen war, doch mit ihren Problemen wollte sie ihn nicht auch noch belasten. Jon aber fuhr sie an: „Jetzt sei doch nicht immer so verdammt stur! Manchmal…“ Verdutzt hielt er inne und starrte sie an, als könne er nicht fassen, was sie da gerade eben gesagt hatte. „Du gibst mir Recht?“, wiederholte er entgeistert. „Ganz genau. Du hast Recht und ich hatte Unrecht. Damit hätten wir ja dann auch alles geklärt. Ich gehe jetzt aber wirklich. Es ist ja schon spät, bye bye.“ Er wollte ihr noch etwas sagen, doch sie war schon aus der Tür gegangen. Schnurstracks marschierte sie nach Hause, dort zog sie sich ihr Sportzeug an. Kim verabschiedete sich noch von ihrer Mutter und ging aus dem Haus zum joggen. Immer, wenn sie wütend auf sich selbst war, trieb sie Sport. Sie lief direkt in den nahegelegenen Wald. Am Anfang folgte sie noch dem Pfad, doch schon bald peitschten ihr Äste ins Gesicht. Sie hatte kein bestimmtes Ziel; einfach weiter, sie wollte einfach nur weiter, immer wieder hörte sie das Gespräch zwischen Jon und ihr und jedes Mal sah sie wieder, wie Jon Alice umgebracht hatte. Sie beschleunigte ihr Tempo. Schon bald konnte sie nicht mehr, ihr Atem ging schwer und ihre Beine schmerzten, doch lief sie weiter. Plötzlich stürzte sie. Schmerz durchdrang ihren Körper, sie wollte aufstehen, um zu sehen, warum sie gestürzt war. Doch kaum trat sie mit dem linken Fuß auf, verspürte sie einen starken Schmerz. Aufzustehen konnte sie also vergessen. Kim drehte sich auf den Rücken. Sie blutete stark aus einer Wunde am rechten Knie. Sie schaute auf den Boden und sah eine hervortretende Wurzel. Hier liegen bleiben konnte sie nicht, also biss sie die Zähne zusammen und stand auf. Kim versuchte, das Gewicht auf den rechten Fuß zu legen, was jedoch auch nicht schmerzfrei ging. Kurz überlegte sie, wohin sie gehen sollte. In ihre Hafenstadt war zu weit, aber hier irgendwo müsste der Strand liegen. Im Süden. So humpelte Kim also los. Mit den Tränen kämpfend schleppte sie sich nach Süden. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt, als sie endlich am Strand angelangt war, sie setzte sich als erstes ans Wasser und spülte ihre Wunden aus. Laut schrie sie auf und entdeckte spätestens jetzt, wie schlecht diese Idee gewesen war und musste schmerzlich feststellen, dass das Sprichwort „Salz in die Wunde streuen“ nicht von ungefähr kam. Mühsam rappelte sie sich auf und ließ sich in den trockenen Sand fallen. Die Sonne war inzwischen ganz untergegangen und sie konnte die Sterne sehen. Irgendwie kam es ihr so vor, als schiene der Mond in dieser Nacht heller als sonst. Sei fror und zitterte am ganzen Körper. Sie rollte sich zusammen, machte sich so klein es ging und hoffte, dass ihr so etwas wärmer würde. Aber es half nicht, schließlich döste sie erschöpft ein. Sie hatte die Augen geschlossen und schmeckte etwas eisernes, es war Blut. Sie löste sich von seinen Lippen und sah direkt in seine dunklen Augen. Noch ein letztes Mal. Dann erlag er seinen schweren Verletzungen, aber Kim zeigte keine Reaktion. Sie hatte ihn geliebt, doch hatte es nicht sagen können. Sie konnte nicht weinen. Sie wusste, dass er tot war, doch wusste sie nicht, was das bedeutete. Es war in diesem Augenblick für sie nichts weiter als ein Wort: tot. Und er war noch warm, für sie nicht tot. Sie wollte es eigentlich auch gar nicht wissen. Seine Hand loszulassen fiel ihr unendlich schwer und erst, als Jack sie wegzog ließ sie sie los. Kim schlug die Augen auf und stellte fest, dass es noch Nacht war, der Mond stand inzwischen im Zenit. Sie hatte nicht in ihrem Traum geweint, doch in Realität hatte sie geweint. Die Spuren der Tränen auf ihren Wangen waren eiskalt geworden. Langsam richtete sie sich auf, da hörte sie laute Rufe. Ihr Name wurde immer und immer wieder gerufen. Die Stimme kam näher und Kim rang sich durch zu antworten. Die Stimme verstummte und bald konnte Kim das Rascheln von Blättern hören. Im nächsten Moment stand Jon vor ihr. Im Licht des Mondes sah er richtig gespenstisch aus. Er kniete sich zu ihr nieder und umarmte sie fest. Er hatte ihr Gesicht in seinen großen Händen und wischte ihre Tränen mit dem Daumen weg. Ohne ein Wort zu sagen hockte er sich neben Kim und legte seinen Arm um sie. Erschöpft ließ sie ihren Kopf gegen seine Brust fallen. Sie spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, durch seinen gleichmäßig gehenden Atem. In irgendeiner Art und Weise fand sie das beruhigend. Nach einer Weile sagte Jon: „Kim, deine Mutter ist zu uns gekommen, auf der Suche nach dir. Wir haben uns Sorgen gemacht, was ist denn passiert?“ „Ich bin gejoggt und im Wald gestürzt, dabei habe ich mir meinen Fuß verletzt und bin hier an den Strand gehumpelt.“ „Komm, ich nehme dich huckepack und trage dich wieder Heim.“ Kim war zu schwach, um sich zu wehren, also ließ sie sich aufheben und lehnte ihren Kopf an seinen Rücken, während er losmarschierte. „Jon?“ „Hm?“ „Ich bin vorhin eingeschlafen und habe geträumt; ich habe von dir geträumt. Du bist gestorben. Und davor… haben wir uns geküsst.“ Sie spürte, wie seine Körperwärme anstieg, ein deutliches Zeichen daraufhin, dass er errötete. Eine Weile Lang sagten sie kein Wort, doch schließlich fragte Kim: „Könntest du mich absetzen? Ich würde gerne noch mal probieren zu laufen.“ Widerwillig setzte Jon sie ab, stützte sie jedoch noch. Kim schob seinen Arm weg und versuchte alleine zu gehen, doch es kam, wie es kommen musste: sie stürzte erneut. Jon stieß einen Fluch aus und rappelte sie wieder auf. Die beiden standen sich gegenüber, starrten sich in die Augen. Es war wie in Zeitlupe, als Kim sich auf die Zehenspitzen stellte, ihre Augen schloss und Jons Lippen zärtlich küsste. Langsam begann er ihren Kuss zu erwidern. Sie ließen voneinander ab und starrten sich in die Augen. Als ihnen bewusst wurde, was sie da eben getan hatten, sahen sie verlegen zu Boden. Beide wussten, dass das nicht richtig gewesen war, denn Kim liebte Leo, aber es war einfach so über sie gekommen. Jon ergriff als erster das Wort, er räusperte sich: „Also, ich nehme dich am Besten wieder Huckepack.“ Kim nickte nur, konnte ihm jedoch nicht mehr in die Augen sehen. Als sie endlich am Schiff angekommen waren, brachte er sie in Leos Kajüte. Auch er hatte sich auf die Suche nach ihr begeben, war jedoch noch nicht zurückgekehrt. Alleine saß sie auf seinem Bett in dem dunklen Raum und überlegte, wie sie Leo am besten beichten sollte, dass sie Jon geküsst hatte. Es war ihrer Meinung nach kaum Zeit vergangen, da öffnete sich die Zimmertür und Leo stürzte herein. Er umarmte und küsste sie. Schon holte er Luft, um etwas zu sagen, da legte Kim ihm einen Finger auf die Lippen. Sie bedeutete ihm sich neben sie zu setzen. „Leo, ich liebe dich. Ich liebe dich über alles auf der Welt und es tut mir so schrecklich Leid was passiert ist. Ich kann es selbst nicht fassen…“ Kim krallte ihre Hände in ihre Hose und es tropften Tränen auf ihre Hände. „Kim, was ist denn los? Du kannst mir doch alles sagen!“ Er nahm ihre Hände und suchte vergeblich den Blickkontakt zu ihr. „Leo, ich.. ich… ich habe…“ sie schluckte schwer. „Was hast du?“ Fast schrie sie es: „Ich habe Jon geküsst!“ Schweigen. „Und… hat er den Kuss erwidert?“ „Nein,…nein, er… er hat mich abgehalten!“ Sie wollte die Beziehung zwischen den Beiden nicht zum wanken bringen. Noch immer hielt Leo ihre Hände. „Bist du jetzt böse auf mich?“, fragte sie kleinlaut. „Ich weiß nicht. Nun ja, eigentlich schon, aber, du warst immer so tolerant…“ Eine Weile lang wechselten sie wieder kein Wort. Auch diesmal brach Kim das Schweigen: „Kann ich heute bei dir schlafen? Ich hab mich am Fuß verletzt und kann nicht so gut laufen.“ „Natürlich, leg dich einfach hin. Ich hoffe nur, es stört dich nicht, dass ich auch im Bett schlafe, denn der Boden ist mir ein bisschen zu hart.“ „Nein und danke. Ach Leo, ich liebe dich.“ Sie schmiegte sich dicht an ihn und schlief erleichtert ein. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war Leo nicht da. Wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst war, war sie sogar fast froh darüber, denn über was hätte sie mit ihm reden sollen? Was hätte sie tun sollen? Wie hätte sie sich insgesamt verhalten sollen? Eine Weile blieb sie noch liegen, alles war so verfahren. Seit Jon sie mitgenommen hatte, wurde alles immer komplizierter. Aber was sollte sie hier herumliegen und in Selbstmitleid baden? Schließlich hatte sie Leo und Jon einen viel größeren ‚Schaden’ zugefügt. Langsam richtete sie sich auf und blieb einen Moment lang etwas benommen sitzen. Schließlich stand sie endgültig auf, ihr Fuß schmerzte noch beim auftreten. Sie begutachtete ihn noch einmal in dem spärlichen Licht, das in das Zimmer drang. Er war ziemlich angeschwollen. An ihrem Knie hatte sich inzwischen eine Kruste gebildet. Sie schaute auf das Laken in Leos Bett und sah, dass es ein wenig Blut abbekommen hatte. Sie bemühte sich, aufzustehen und zog, so gut es eben ging, das Bett ab. Zu Hause würde sie das Laken dann waschen. Langsam humpelte sie zur Tür. Es herrschte eine beunruhigende Stille, doch was konnte der Grund dafür sein? Sie stieg die knarrenden Treppenstufen hinauf und befand sich im nächsten Augenblick an Deck. Die Treppenstufen hatten doch früher noch nie geknarrt. Und was war das? Sie stand da wie benebelt. Warum graute denn erst der Morgen? Und wieso war niemand an Deck? Auf einmal zog dichter Nebel auf und hüllte Kim und ihre Umgebung vollständig ein. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und tastete mit vorgestreckten Händen in das undurchdringliche weiß. Plötzlich ertastete sie etwas, das sich wie die Haut eines Arms anfühlte, sie trat näher und konnte verschwommen ein ihr bekanntes Gesicht erkennen, doch wusste sie nicht, wem sie es zuordnen sollte. Sie konnte eindeutig die Züge eines jungen Mannes erkennen und auf einmal lichtete sich der Nebel und gab die Sicht über das restliche Schiff preis. Kim wollte den Mund zu einem Schrei öffnen, da trat der Fremde auf sie zu und hielt ihr den Mund zu. Er raunte ihr zu: „Sieh hin, all diese Männer, die sich zu Lebzeiten wackere Kerle schimpften, habe ich umgebracht.“ Kim konnte keinen Mucks von sich geben, auch wenn der junge Mann ihr den Mund nicht zugehalten hätte, denn der Schrecken saß ihr zu tief in den Knochen, sie musste sich zusammenreißen, um sich nicht an Ort und Stelle zu übergeben. Um sie herum lagen Leichen verstreut, wie das Saatgut eines Bauers. Ein einzelner Mann konnte doch nicht so viele Gegner töten! Kim konnte den Anblick nicht mehr ertragen und wandte den Blick ab, doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als in die Augen ihres Gegenübers zu sehen, der sie hämisch angrinste und seine Hand von ihrem Lippen nahm. Er stellte sich neben sie, legte seinen Arm um ihre Taille und schaute sie an, wie ein kleiner Junge, der Lob erwartete. Kim schaute zweifelnd auf die fremde Hand, die auf ihrem Becken ruhte und sah dem jungen Mann entgeistert in die Augen, um aus ihnen irgendetwas deuten zu können, was ihn ihr bekannt machte. Wo hatte sie diese tiefblauen Augen nur schon einmal gesehen? Und das strohblonde Haar kam ihr auch so merkwürdig vertraut vor. Als das von ihm erhoffte Lob ausblieb, bestrafte er sie mit einem mürrischen Blick und begann über die ersten Leichen zu steigen, nahm jedoch nicht seinen Arm von ihrer Taille. Als sie sich nicht von alleine in Bewegung setzte, half er durch leichten Druck mit seinem Arm auf ihren Rücken nach. Kim setzte sich Geistesabwesend in Bewegung. Auch wenn dieser Mann sagte, er habe all diese Männer umgebracht, so kam er ihr doch eher wie ein alter Freund vor. Der Fremde führte Kim in Richtung Festland und sie stiegen gemeinsam über etliche verblutete, erstochene, enthauptete, und viele andere niedergemetzelte, anders konnte man es nicht nennen, deren Tode sie nicht benennen konnte, so grausam waren sie vollzogen worden. Als sie schon fast am verbindenden Steg angelangt waren, hörte sie in dieser Totenstille, außer ihrem eigenem und dem ihres Begleiters, noch einen anderen schwer gehenden Atem, etwas weiter rechts von sich. Sie löste sich aus dem Arm ihres Begleiters und lief, sofern es ihr die Toten zuließen, so schnell sie konnte, auf den Sterbenden zu. Als sie ihn erreicht hatte, kniete sie sich neben ihn und stellte erschrocken fest, dass er aus mehreren Wunden stark blutete, auch sein Gesicht war von Blut und schweiß verschmiert. Lang würde ihm nicht mehr bleiben. Kim wurde bewusst, dass sie immer noch Leos Bettzeug in den Händen hielt und wischte dem Verletzten mit einem Fetzen des weißen Lakens sanft über das Gesicht, um dessen Gesichtszüge zu erkennen. Als dieser die Augen aufschlug, um die Person zu sehen, die sich so sanft um ihn kümmerte, wie ein Engel, hatte Kim bereits den größten Teil des Blutes auf seinem Gesicht entfernt und wich erschrocken zurück, als sie ihren Bruder erkannte. Da ihm ein großer Teil seiner Nase fehlte, hatte sie ihn nicht gleich erkennen können, doch als sie in seine verzweifelten und ängstlichen Augen sah, wusste sie, dass es sich um ihren Bruder Manuel handelte. Was hatte er denn hier zu suchen gehabt? Er starrte sie nicht minder überrascht an und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es drang nur ein Röcheln aus seiner Kehle und Blut rann über seine Lippen. Nach einer Weile wiegte Kim seinen Kopf auf ihrem Schoß und Tränen liefen ihre Wangen hinab, bis zu ihrem Kinn, sammelten sich dort und tropften auf Manuels blasses Gesicht. Er versuchte erneut etwas zu sagen und diesmal gelang es ihm auch, einige schwer zu verstehende Worte von sich zu geben: „Zum Glück bist du da, wenn ich schon sterben muss, du nimmst mir meine Angst.“ Kim sah ihn so erschrocken an, als hätte er sie angebrüllt, und wimmerte leise: „Nein, nein, nein, du wirst nicht sterben, ich bin doch bei dir und werde nicht zulassen, dass du mir in meinen Armen wegstirbst!“ Sie musste mehr sich selbst, als ihren Bruder beruhigen, denn der hatte sich bereits mit seinem Schicksal abgegeben und sah mit glasigen Augen gen Himmel. Ein Schuss ertönte, Manuel stöhnte auf und war im nächsten Augenblick tot. Kim war wie in Trance, als sie Manuels Kopf wieder auf den Boden legte, ihm einen Kuss auf die Backe drückte, seinen Leblosen Körper mit dem Laken zudeckte und sich langsam erhob. Erst, als sie stand, war ihr bewusst, wer am Tod ihres Bruders die Schuld trug und ging auf den ihr immer noch fremden jungen Mann zu, der noch die Pistole in der Hand hielt, mit der er ihren Bruder eben erschossen hatte. Sie holte aus und schlug mit aller Kraft zu. Jedoch traf sie nicht wie geplant sein Gesicht, sondern nur seine Hand, die den Schlag locker abfing. Sie versuchte ihm mit ihrer anderen Hand einen Hieb zu versetzen, doch auch dieser wurde abgefangen. Da sie ihre Hände nicht aus seinem Griff befreien konnte, stemmte sie sich mit aller Kraft gegen den Fremden, in der Hoffnung, sie würde ihn zurückdrängen können und er würde über eine Leiche stolpern. Doch er war zu stark. Schließlich sank sich kraftlos in sich zusammen und fragte schluchzend: „Warum hast du ihn umgebracht, du hast doch gesehen, dass ich an ihm hing!“ Der Mörder ihres Bruders ließ sich zu ihr hinab, umarmte sie und flüsterte ihr eiskalt ins Ohr: „Erstens habe ich meine Befehle, zweitens habe ich ihm weitere Schmerzen erspart und drittens war dieses Gewinsel nicht mehr mitanzuhören! Und ich hoffe, du bereust es spätestens jetzt, Jon mir vorgezogen zu haben.“ Als sie die kalte Klinge an ihrer Kehle wahrnahm, schrie sie laut auf. Sie hatte den Jungen Mann erkannt, doch warum wollte er sie jetzt umbringen? „Was? Was ist denn passiert? Wer schreit denn hier so?“, fragte sie verschlafen, als Leo sie wachrüttelte. Auf einen Schlag fiel ihr alles wieder ein und als Leos Augen die ihren anstarrten, schreckte sie auf und schob sich soweit von ihm weg, bis sie die Wand hinter sich spürte. Leo musterte sie erstaunt, und fragte leise: „Was ist denn Engelchen?“ Er kann ja nicht ahnen, dass er eben in meinem Traum meinen Bruder ermordet hat, schoss es ihr durch den Kopf und sie versuchte, nicht allzu abwehrend zu klingen: „ Nichts, Leo, ich … habe nur schlecht geträumt.“ Leo wollte sich anscheinend nicht mit dieser Antwort zufrieden geben, denn er fragte weiter: „Was hast du denn geträumt? War es wieder eine Vision?“ Kim war nicht nach einem Gespräch mit ihm zumute und so fauchte sie: „Nein, es war nur ein ganz gewöhnlicher Albtraum, wie ihn jeder Mensch mal hat und den wirst du mir ja wohl zugestehen können!“ Wütend sprang sie auf, unterdrückte die Schmerzen in ihrem Bein und stürzte zur Tür hinaus. Leo blickte ihr nur verblüfft hinterher. Einen Moment lang überlegte er, ihr nachzugehen, um sie zu tadeln. Schließlich hatte sie sich gestern noch mit Jon geküsst und eigentlich freundlicher zu ihm sein müssen, um auf seine Vergebung zu bauen, doch dann besann er sich Kims Temperament und ihm wurde bewusst, dass sie jeden, der sich ihr in den Weg stellen würde, auf direktem Wege in die Hölle schicken würde. Natürlich war dies übertrieben, doch die Piraten, die an ihr vorbeikamen, machten, als sie ihren Gesichtsausdruck sahen, vorsichtshalber einen großen Bogen um sie. Der Schmerz in ihrem Bein linderte den Schmerz in ihrem Herzen auch nicht. Es war alles so real gewesen und Kim glaubte noch nicht ganz daran, dass alles nur ein Traum gewesen sein sollte. Sie hatte die kalte Klinge an ihrem Hals gespürt, doch auch nachdem sie aufgewacht war, hatte sie noch die Kälte gespürt. Als sie an die Treppe gelangte, die an Deck führte, lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Zwar nahm sie den Lärm, der von oben zu ihr herab drang, ganz klar wahr, doch die Bilder, die sie in ihrem Traum hatte sehen müssen, konnte sie noch nicht so einfach verdrängen. Langsam setzte sie einen Fuß auf die erste Stufe, dann kam die nächste – nichts knarrte. Sie atmete auf und lehnte sich erleichtert gegen die Wand. Was hatte dieser Traum zu bedeuten? Das konnte keine Vision gewesen sein, denn Leo hatte ihr doch verziehen. Langsam stieg sie die Treppe weiter hoch. Oben angekommen sah sie eine muntere Piratenbande das Schiff ausbessern. Verträumt summte sie eine Melodie vor sich hin. Es war ein trauriges Lied und doch hatte es früher immer ihre Gefühle beschreiben können. Oft hatte sie es auf dem Klavier gespielt, doch irgendwann hatte sie aufgehört in ihrem Selbstmitleid zu baden. Wann war das gewesen? Ein heftiger Zusammenstoß, der sie zu Boden warf, riss sie aus ihren Gedanken. Sie setzte sich auf, rieb sich den schmerzenden Ellbogen, auf den sie gefallen war und begann gerade denjenigen mit dem sie zusammengestoßen war anzubrüllen: „Aua! Kannst du nicht auf…“ Kim verschlug es die Sprache, als sie ihrem Gegenüber ins Gesicht sah. Es strömten ihr Tränen in die Augen und lachend viel sie ihrem Bruder um den Hals. „Manu! Was machst du denn hier? Mann, bin ich froh, dich zu sehen!“ „Langsam, langsam! Es ist zwar schön, dass du dich freust mich zu sehen, aber dass du gleich anfängst zu heulen?“ „Ist ja gut!“ lachend wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht „Aber warum bist du denn jetzt eigentlich hier?“ „Na ich wollte dich abholen, schließlich hat Jon uns gestern erzählt, dass du dir den Fuß verstaucht hast und da musste Mutter natürlich mich schicken, um dich abzuholen, als hätte das nicht auch dein Freund machen können und wie es aussieht, kannst du ja auch schon wieder ganz gut laufen.“ „Ja, es geht so. Komm, lass uns Heim gehen.“ Er half ihr auf und stützte sie noch beim Gehen. Zu Hause angekommen setzten sie sich zu zweit auf die Terrasse. Eine Bedienstete stellte gerade einen Krug Saft und zwei Gläser auf den Tisch, als Kims Freundinnen angestürmt kamen und riefen: „Hey, Kim! Du bist ja wirklich wieder da und das genau zur richtigen Zeit! Am Wochenende steigt bei mir nämlich ne total krasse…“ Jackie stieß Cécile mit dem Ellenbogen in die Flanke und nickte mit dem Kopf zu Manuel. Dies entging Kim natürlich nicht und hämisch grinsend meinte sie: „Ach, du kannst ruhig reden, der sagt schon nichts, denn sonst erfahren unsere Eltern etwas von seiner neuen Freundin.“ Überrascht tuend fragte er: „Was für eine neue Freundin denn? Ich bin doch immer noch mit Deirdre zusammen!“ „Ach komm schon! Du willst mir doch nicht weismachen, dass ihr jemals eine echte Beziehung geführt habt. Das habt ihr doch nur euern Eltern als Alibi erzählt und währenddessen habt ihr euch mit anderen getroffen. In Wahrheit könnt ihr euch doch gar nicht leiden.“ „Und woher weißt du das bitte?“ „Na ich hab oft genug gehört, wie du Véronique deine Scheinbeziehung zu Deirdre erläutert hast.“ Abwehrend erhob Manu die Hände, stand auf und sagte: „Diese Diskussion möchte ich nicht weiterführen.“ Mit diesen Worten verließ er die drei. Hinter seinem Rücken streckte Kim ihm die Zunge heraus und wandte sich wieder ihren Freundinnen zu: „Also, du sagtest am Wochenende steige eine Feier bei dir, Cécile?“ „Ja, es kommen fast alle von hier, Neil kannst du natürlich auch mitbringen.“ „Ehm, nun ja, ich bin nicht mehr mit Neil zusammen.“ Vollkommen schockiert rief Jackie: „Nein! Wieso das denn? Hast du oder er Schluss gemacht? Und wieso?“ Und Cécile fiel Kim um den Hals: „Ach Kim, war es sehr schlimm? Liebst du ihn immer noch?“ Nach Luft schnappend befreite sich Kim aus Céciles Umarmung und ging lieber einen Schritt zurück, als könne sie dem Bombardement von Fragen so entkommen. Schließlich lächelte sie etwas gekünstelt und sagte: „Also, macht mal halblang… Ich hab Schluss gemacht…“ Die beiden ließen sie nicht ausreden, sondern kamen immer weiter auf sie zu und fragten weiter: „Und warum? Ihr wart doch immer das Traumpaar hier!“ „Also, das ist so,… da ist…“ „Oder gibt es da etwa …“, begann Cécile den Satz und Jackie beendete ihn für sie: „…einen heißen Piraten?“ Um vom Thema abzulenken fragte Kim hastig: „Wollt ihr euch vielleicht setzten oder etwas trinken?“ Aber Jackie und Cécile durchschauten sie sofort und fauchten sie an: „Nein, danke! Wir hätten lieber brandneue News zu deinem neuen Liebhaber!“ Jackie fragte: „Sieht er gut aus? Hat er viele Muskeln und einen Waschbrettbauch?“ Kim gab auf und begann von ihm zu erzählen: „Ist ja schon gut, ich erzähl euch ja alles! Also, er ist blond, ungefähr einen Kopf größer als ich, hat dunkelblaue Augen, so tief und rein wie das Meer, und natürlich ist er durchtrainiert, er ist ja schließlich Pirat.“ „Soso…“ Jackie warf Cécile einen vielsagenden Blick zu, den diese erwiderte. Cécile sah auf ihre Uhr, die auf der Innenseite ihres linken Handgelenkes baumelte und sagte etwas affektiert: „Oh, schon so spät? Jackie, wir müssen weiter, schließlich haben wir noch eine Menge für Übermorgen vorzubereiten. Also Kim, bis Samstag um acht bei mir!“ und in einem Tonfall, der sich mehr nach einem Befehl, als nach einem Angebot anhörte, fügte Jackie hinzu: „Und bring deinen heißen Liebhaber mit!“ Sie warfen ihr eine Kusshand zu, drehten sich um und gingen eifrig schnatternd durch das Haus in Richtung Eingangstür. Kim atmete auf, als sie die Tür zuschlagen hörte. Die beiden waren zwar ihre besten Freundinnen, aber manchmal gingen sie ihr richtig auf die Nerven. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, ein Buch zu lesen und früh schlafen zu gehen. Am nächsten Morgen wurde sie relativ unsanft geweckt, denn Manu klopfte penetrant gegen die Tür und als Kim „Ja“ knurrte, streckte er seinen Kopf durch die Tür und sagte: „Du hast Besuch, soll ich ihn hochschicken?“ „Ja, mach halt!“ Anstatt sich jedoch umzudrehen, rief er direkt in ihr Zimmer, aber immer noch laut genug, dass man es im ganzen Haus hören konnte: „Sie ist wach und erwartet dich!“ Kim rümpfte die Nase und fragte sich, wer jetzt wohl kommen würde, vorsichtshalber zog sie schon mal die Decke über den Kopf. Wieder im Halbschlaf hörte sie, wie sich die Tür weiter öffnete, sich wieder schloss und jemand in Richtung ihres Bettes ging. Dieser Jemand zog ihr die Decke weg, beugte sich über sie und küsste zärtlich ihre Lippen. Erschrocken riss sie die Augen auf und sah, dass dieser Jemand Leo war. Erleichtert erwiderte sie seinen Kuss. Sie setzte sich auf und sagte, sich den Schlaf aus den Augen reibend: „Hey Süßer! Zu dir wollte ich heute auch noch, ich muss dich nämlich noch was fragen.“ „Und was wäre das?“ „Ach, zwei Freundinnen von mir geben Morgen eine Party und haben uns eingeladen, ich wollte dich fragen, ob du mitkommst.“ „Als würde ich dich allein auf irgend so eine Party lassen! Da hätte ich viel zu viel Angst, dass dich die Jungs da genüsslich vernaschen, na klar komm ich mit.“ Er lächelte sie an. Schließlich fragte Kim: „Sag mal, Leo, willst du heute hier übernachten?“ Etwas perplex fragte er: „Wie kommst du denn jetzt darauf?“ „Na ja, ich hab dich gestern einfach vermisst, mir war hier so langweilig.“ „Wenn du unbedingt willst…“ Die Hände hinter seinem Kopf verschränkt ließ er sich auf Kims Bett fallen. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und ganz wie sie ihn kannte, legte er seinen Arm um ihre Schultern. So blieben sie eine Weile lang liegen und wechselten kein Wort. Beeinflusst von Leos ruhigem Herzschlag schlummerte sie wieder sanft ein. Erst, als sie etwas an der Nase stupste, wachte sie wieder auf. Sie erkannte, dass es Leos Nase war. Kim richtete sich etwas auf und versuchte seine Lippen zu erfassen, so dass sie Hineinbeißen konnte. „Nanu, Engelchen, du bist ja heute so zuneigungssüchtig?“ „Ich weiß, aber kann man bei dir denn anders?“ Wieder stupste er sie mit seiner Nase. Da er sie vermutlich im Schlaf richtig in ihr Bett gelegt hatte, kniete er über ihr. Noch einmal streichelte er ihr zärtlich über die Wange, dann stand er auf. Kim fragte: „Wie viel Uhr ist es eigentlich?“ „Kurz nach halb elf, wieso?“, kam rasch die Gegenfrage von Leo und Kim meinte: „Meine Mutter mag es nicht, wenn ich zu lange schlafe und ich muss sie ja schließlich gut stimmen, damit sie mir erlaubt, morgen bei dir zu schlafen.“ Sie zwinkerte ihm zu und natürlich wusste er, dass ihre Mutter es ihr niemals erlauben würde, auf eine Party zu gehen, denn auch wenn er Kims Mutter noch nicht lange und auch nicht sehr gut kannte, wusste er von Kim, wie streng deren Mutter sein konnte. Daher fragte er sich auch, ob sie es wohl erlauben würde, dass er hier übernachtete. Das fragte er dann auch Kim, doch die sagte nur, während sie sich hinter dem asiatischen Raumtrenner umzog: „Das geht schon klar, Neil hat auch schon ein paar Male bei mir übernachtet.“ Mehr sagte sie nicht dazu, sondern schubste Leo vor sich her in Richtung Küche. Heute trug sie eine kurze, weiße Hose und ein khakifarbenes T-Shirt. Schuhe oder Socken trug sie nicht, sondern tapste barfuss über den kalten Marmor. Als sie in der Küche ankamen, lächelte die etwas molligere Köchin die Beiden an, sagte aber nichts, sondern füllte etwas von dem Schokoladenpudding, der Offensichtlich für den Nachtisch gedacht war und wohl gerade am Abkühlen war, in zwei Schälchen, holte noch zwei Löffel aus einer Schublade und stellte sie auf die Küchentheke. Kim setzte sich vor eine der beiden Schälchen und begann denn Pudding genüsslich zu essen und Leo gesellte sich zu ihr. Die Köchin zwinkerte Kim zu und legte den Finger an die Lippen. Kim nickte stumm, mit dem Anflug eines Lächelns auf den Lippen, und aß stumm ihren Pudding. Als sie fertig waren, blieben sie noch ein wenig sitzen und beobachteten die Frau beim Kochen. Schließlich sprang Kim auf, stellte sich neben die weiß gekleidete Frau und begann ihr zu helfen. Leo genoss diesen Anblick, seine Freundin in eine Aufgabe vertieft, die ihr offensichtlich großen Spaß machte, denn sie hatte einen Glanz in ihren Augen, den er bei ihr noch nicht oft gesehen hatte. Im Wohnzimmer schlug die Uhr zwölf und die ganze Familie, inklusive Leo und Manuels Scheinfreundin Deirdre saßen am reich gedeckten Tisch. Nach einer Weile fragte Kims Mutter: „Also, Leonard, woher kommt Ihr denn?“ Leo warf Kim einen hilfesuchenden Blick zu. Diese reagierte sofort und bevor Leo sich seine Antwort zusammen gesucht hatte, sagte sie schon: „Er kommt aus Montevideo in Uruguay.“ „Und was haben Eure Eltern dazu gesagt, dass Ihr Pirat wurdet?“ „Die wu…“ „Kimberley! Wo bleiben deine Manieren? Vielleicht möchte Leonard selbst antworten.“ „Vielleicht möchte er aber auch gar nicht über seine Vergangenheit reden!“ Jetzt meldete sich auch Kims Vater zu Wort: „Also wirklich, Kimberley, so kannst du doch wohl nicht mit deiner Mutter reden! Ich möchte, dass du dich entschuldigst.“ Etwas trotzig erwiderte diese: „Ja, ja. Es tut mir Leid, Mutter.“ „Ist schon gut, Kimberley. Aber nun noch einmal zu Euch, Leonard, was haben Eure Eltern denn dazu gesagt?“ Diesmal konnte Kim ihn nicht aus der Affäre ziehen und so zwang er sich zu einem Lächeln und sagte: „Meine Eltern war das eigentlich relativ egal, denn die meiste Zeit war ich sowieso allein. Meine Eltern waren oft im Ausland, um Geschäfte abzuschließen.“ „Nein, das ist ja furchtbar! In welcher Branche sind Eure Eltern denn tätig?“ „Ehm, nun, sie sind… Ägyptologen.“ „Und wieso leben sie dann in Montevideo?“ „Weil sie… sich dort kennen gelernt haben, genau!“ „Nun, dann, das kann ich verstehen. Mein Mann und ich haben uns auch hier auf einer Urlaubsreise kennen gelernt.“ Als nun das Hauptgericht kam, sagte Manu: „Mutter, Vater, ich möchte morgen bei Deirdre übernachten, wäre das OK für euch?“ Kims Mutter meinte: „Aber natürlich, Deirdre ist ja schließlich eine so anständige junge Frau.“ Doch auch Sally wollte bei einer Freundin übernachten, Kims Mutter erlaubte es auch ihr und fügte noch hinzu: „Dann sind Kimberley und wir wohl morgen allein hier“ Doch Kim musste widersprechen: „Nun, Mutter, es ist so, ich wollte morgen eigentlich wieder auf dem Schiff, bei Leo, Jon und den anderen übernachten.“ „Soso, wolltest du das? Und dann benimmst du dich mir gegenüber so frech?“ Doch Manu stand Kim zur Seite: „Ach, Mutter, uns hast du es doch auch erlaubt, sonst wäre das nicht gerecht!“ „Das Leben ist nie gerecht, und deshalb…“ „Erlauben wir es dir.“, beendete Kims Vater den Satz und nickte Kim lächelnd zu. Freudig rief Kim: „Danke, Vater, danke Mutter! Vielen, vielen Dank!“ Sie grinste zu Leo und der grinste zurück. Manu seinerseits hob triumphierend eine Augenbraue. Kim war es, als würde der Tag einfach nicht vergehen wollen, Minuten kamen ihr vor wie Stunden, trotz Leos Anwesenheit. Dass er bei ihr schlafen würde, erwähnte sie ihren Eltern gegenüber erst gar nicht, sondern vertrieb sich den Tag mit Leo in der Stadt. Sie setzen sich in Kims Lieblingscafé und aßen Eis. Als Leo gerade wieder einer langbeinigen Schönheit nachschaute fragte Kim: „Leo?“ Ohne den Blick von den Beinen der Frau zu wenden fragte dieser: „Was?“ „Liebst du mich?“ Erst jetzt wandte er ihr seinen Blick zu und starrte sie etwas zerstreut an, dann sagte er: „Natürlich liebe ich dich!“ „Wie?“ „Ich versteh nicht ganz.“ „Wie sehr liebst du mich?“ „Was ist denn jetzt los?“ Sie blickte auf und ihm direkt in die Augen, schließlich bat sie: „Bitte Leo, ich meine das vollkommen ernst! Wie sehr liebst du mich?“ „Hm, das ist schwer zu beschreiben, aber ich werde es mal versuchen: Du bist für mich wie ein Blatt Papier.“ „Ach, Leo! Kannst du nicht einmal ernst bleiben?“ „Das ist mein Ernst! Schau doch mal, wie vielseitig so ein Blatt ist, es kann bunt sein oder weiß, es kann beschrieben sein oder unbeschrieben, es können unwichtige, aber auch wichtige Sachen darauf stehen, es kann ein einzelnes Strichmännchen darauf gemalt sein, oder ein Meisterwerk, es kann klein sein oder groß. Für mich bist du das Meisterwerk und ich setzte einen Strich, um es vollkommen zu machen.“ Kim musste lächeln. Wo nahm Leo nur immer wieder diese Ideen her? Er war einerseits so ein Frauenheld, konnte aber auch so sensibel sein, man musste nur wissen, wo man suchen musste. Doch eines beschäftigte sie noch: „Sag mal, Leo, würdest du dieses Blatt Papier zerreißen, weil ein Rechtschreibfehler darauf wäre, die Farben nicht zueinander passten, oder ein falscher Strich in dem Meisterwerk wäre?“ erschüttert musterte er sie und entgegnete: „Um Himmels Willen, niemals! Nichts ist fehlerfrei und doch ist es auf seine ganz spezielle Weise perfekt.“ Mit seinen Worten hatte er sie beruhigt, nie würde er so etwas Absurdes wie in ihrem Traum tun. Sie seufzte und wollte ihren Traum hiermit für immer aus ihren Gedanken verbannen. „Und du?“, fragte Leo, Kim aus ihren Gedanken reißend, „Was ist mit dir?“ „Was soll mit mir sein?“ Jetzt war sie diejenige die nicht folgen konnte. „Na, ich will wissen, ob du mich liebst.“ „Natürlich, ich liebe dich. Mehr, als alles andere auf der Welt, mehr noch als mein eigenes Leben. Ach Leo, ich bin so froh, dass ich dich habe!“ „Das will ich aber auch hoffen!“, lachte dieser. Nachdem sie noch eine Weile geplaudert hatten, bezahlte Leo für die Beiden und sie gingen noch etwas an der Promenade entlang und wie es der Zufall wollte, ging gerade während ihres Spazierganges die Sonne unter und tauchte alles in ein warmes Gold. Sie kamen erst wieder um halb neun bei Kim an. Sie gingen durch die Eingangshalle, Leo hatte seinen Arm um Kims Schultern gelegt und sie ihren um seine Hüfte. Als Kims Mutter die beiden durch die Tür des Wohnzimmers sah, die wie so oft offen stand, wollte sie gerade aufspringen und ihre Tochter vor diesem Flegel ‚retten’, da zog sie ihr Mann zurück aufs Sofa und wies sie auf den Gesichtsausdruck der Beiden hin. Tatsächlich hatte Kim ein vollkommen anderes Gefühl mit Leo, als damals, als sie mit Neil zusammen gewesen war. Sie fühlte sich wohl, einfach geborgen und verstanden. Es war, als wären sie ein Wesen in zwei Körpern. Dieser Moment, in dem sie Arm in Arm mit Leo in ihr Zimmer schlich, war der glücklichste, den sie jemals erlebt hatte. Diesen Morgen wurde sie sanfter geweckt, und zwar durch das Sonnenlicht, das durch ihr Fenster drang und sanft ihre Haut streichelte. Seinen Arm um sie gelegt, lag Leo hinter ihr und schlief noch immer selig. Es war so angenehm in seinem Arm zu liegen, sie fühlte sich sicher; wenn sie nicht aufstand, würde ihr niemand etwas anhaben können. Es war so angenehm ihn zu spüren. Sie sah auf die Uhr, die er an seinem Handgelenk trug und erkannte, dass sie in einer halben Stunde aufstehen mussten, doch diese halbe Stunde wollte sie noch ganz bewusst genießen. Kim drehte sich um und strich Leo durch die Haare, dann gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn, doch er wollte einfach nicht aufwachen, da flüsterte sie in sein Ohr: „Leo, lass uns zusammen duschen gehen.“ Blitzartig schlug er die Augen auf und fragte: „Du? Mit mir? Klar!“ Kim war ihrerseits schon aufgestanden und hatte ein Handtuch aus ihrem Schrank geholt, das sie Leo jetzt ins Gesicht schleuderte. Dieser fragte etwas empört: „Hey, was soll das denn? Ich bin doch nur auf dein Angebot eingegangen!“ „Du Trottel, du warst schon die ganze Zeit wach, gib’s zu! Und außerdem war das auch nur, um dich wach zu kriegen!“ „Hey, du bist ungerecht! Erstens, du warst doch auch wach und zweitens, sagt man so was nicht einfach so!“ „Das hab ich auch nicht einfach so gesagt, du musst dir nur das zusammen wegdenken! Also, wie gesagt, ich gehe jetzt duschen.“ Als sie wieder zurück ins Zimmer kam, seufzte sie: „Hach ja, duschen kann ja so erfrischend sein!“ Leo stand von ihrem Bett auf und meinte, während er aus der Tür ging: „Na dann geh ich mich jetzt auch mal erfrischen.“ Er brauchte nicht lange, nur ungefähr eine viertel Stunde, dann kam er wieder, nun sichtlich wach, in ihr Zimmer. Kim, die inzwischen auf dem Balkon die Aussicht genossen hatte, drehte sich um und sagte mit einem Lächeln auf den Lippen: „Komm, lass uns frühstücken gehen und dann schauen wir mal, was wir den Tag über so machen.“ Er nickte und folgte ihr ins Esszimmer, wo schon Toast, Cornflakes, Brotaufstrich und etwas Obst bereitstanden. Sie setzten sich und Leo nahm sich die Cornflakes und Kim das Obst, sie fragte: „Also, was machen wir nachher noch?“ „Ich wollte noch mal aufs Schiff, sonst machen die sich noch Sorgen.“ „Hm, ich glaube ich komm mit, ich hab ja sowieso nichts Besseres zu tun.“ So gingen sie nach dem Frühstück hinunter zum Hafen und auf ihr Schiff, die Vengeance. Dort verbrachten sie den halben Tag damit, faul auf den Planken des Decks herumzuliegen und sich zu sonnen. Auch die anderen Piraten unternahmen nicht viel, entweder, sie saßen im Schatten und hielten Siesta oder sie spielten Karten. Eine Weile lang spielte Leo auch mit, Kim hatte schon nach der ersten Runde aufgegeben, Karten waren einfach nicht ihr Ding, aber Leo gewann ständig. Doch wie heißt es, wenn es am schönsten ist, soll man aufhören. So steckte Leo den Gewinn ein und ging in den Bauch des Schiffes, um sich für den bevorstehenden Abend zu richten. Kim blieb an Deck und versuchte noch immer die Regeln des Spieles zu verstehen, doch sie mühte sich vergebens. Als Leo wieder an Deck kam, war sie sprachlos, denn was sie niemals auch nur geträumt hatte, war eingetreten: Leo sah noch besser aus als sonst. Lächelnd kam sie auf ihn zugelaufen, hakte sich bei ihm unter und sagte mit fester Stimme: „Du bist mein Freund, dass das mal klar ist!“ Leo lachte auf und nickte. Und so gingen sie gemeinsam in Richtung Kims Haus. Dort angekommen, gingen sie direkt in ihr Zimmer, wo sie prompt begann in ihrem Kleiderschrank herumzuwühlen und schier am verzweifeln war, weil sie nichts fand. Schließlich zog sie ein pinkes Top heraus und dazu einen blauen Jeans-Mini. Hinter dem Raumtrenner zog sie sich um, trat kurz vor den Spiegel und wühlte weiter im Kleiderschrank. So ging das eine ganze Weile, langsam begann sie auch zu klagen: „Was soll ich nur anziehen?“, und manchmal hielt sie sich die Sachen auch einfach an, zum Teil zog sie dieselben Teile zweimal an, nur anders kombiniert, doch es war noch kein Ende in Sicht. Leo hatte es sich inzwischen auf ihrem Bett bequem gemacht. Er sah auf die Uhr, viertel vor acht. „Engelchen, es ist schon viertel vor acht, wann müssen wir denn da sein?“ Wie angewurzelt blieb sie stehen, starrte ihn an, begann nun noch hektischer im Schrank zu wühlen und vergaß sogar, hinter den Raumtrenner zu gehen. Leo machte sie darauf aufmerksam, dass sie nur in Unterwäsche vor ihm stand, doch sie fauchte ihn an: „Dann schau doch weg!“ Aber diesen Gefallen tat er ihr nicht. Um zirka fünf vor acht wurde es ihm dann zu dumm und er ging zu ihr, umfasste ihre Hüfte und stellte sie beiseite. Nun sah er sich etwas in ihrem Kleiderschrank um. Er zog ein graues Top mit goldenen Lettern heraus und eine Jeans, die Kim bis jetzt ganz bewusst ausgelassen hatte. Er fragte: „Brauchst du die noch?“ Etwas erstaunt schüttelte sie den Kopf. Dann fragte er noch nach einer Schere und einem Stift. Stumm ging Kim zu ihrem Schreibtisch, nahm die Sachen aus einer Schublade und gab sie ihm. Leo wies sie an, die Hose anzuziehen, was sie auch brav tat. Nun malte er knapp über ihren Knien eine gestrichelte Linie „Zieh die Hose wieder aus.“ Verdutzt fragte Kim: „Was machst du da eigentlich?“ „Ich ändere die Hose so, dass sie gut aussieht.“ Kim hob eine Braue und sah ihn skeptisch an, doch er erwiderte: „Lass mich nur machen!“ kurz über der Markierung schnitt er die Hose ab und reichte sie Kim wieder. Diese zog sie an und war erstaunt, wie gut die Hose aussah. Sie zog noch das Top über, das Leo ihr reichte und verschwand dann im Badezimmer. Als sie wieder hinaus kam, vielen ihre sonst eher welligen Haare gelockt über ihre Schultern. Sie hatte sich auch etwas stärker geschminkt als sonst, doch war es immer noch dezent. Leo fehlten die Worte, nun ging es ihm wie ihr gerade auf dem Schiff. Doch er hatte sich schnell wieder gefasst und bot ihr die Hand an. Sie ergriff sie und gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Kim zog sich ihre schwarzen Riemchensandalen mit dem Absatz an und sie verließen das Haus. Draußen war es immer noch angenehm warm, obwohl die Sonne schon lange untergegangen war. Schon von draußen konnten sie die laute Musik hören. Vor der Tür standen einige rauchende Jugendliche, die sie skeptisch musterten. Kim öffnete die Tür und sie konnten schon die ersten Leute tanzen sehen. Da man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte, brüllte Kim: „Hey Leo, lass uns Jackie und Cécile suchen!“ Er nickte und so machten sie sich auf die Suche. Von früheren Partys bei Cécile wusste Kim wo was war und da sie ihre Freundinnen gut genug kannte, wusste sie natürlich, wo sie zu suchen hatte. Also ging sie schnurstracks in Richtung Esszimmer, wo, wie immer, der Alkohol stand. Wie erwartet fand sie die beiden auch dort, Cécile neben einer halbleeren Flasche Wodka und Jackie eng umschlungen mit einem Jungen küssend. Als Cécile sie sah, sprang sie auf und kam, wenn auch nicht ganz gerade, auf sie zugelaufen. Und sie brüllte so laut, dass sogar Jackie sich von dem Jungen löste: „Kim, Schätzchen, da bist du ja endlich! Wir haben schon die ganze Zeit auf dich gewartet!“ Mit der Flasche in der Hand umarmte sie Kim und fragte: „Na? Willste au mal probiere? Wir ham auch noch anneres Zeugs, Rum, Bier, Grapa, Goldwasser und so weiter, du weißt schon, das Übliche eben.“ Jackie hatte ihren Kerl inzwischen beiseite geschubst und kam nun auch auf Kim zu. Sie fragte: „Soso, das ist also dein neuer Liebhaber? Sieht ja echt nicht schlecht aus!“ Kim lief leicht rot an und zischte: „Sei doch still, er hat schließlich auch Ohren!“ Leo jedoch schmunzelte, küsste beiden die Hand und sagte: „Einen wunderschönen guten Abend wünsche ich. Wenn ich mich vorstellen darf, ich bin Kims neuer Liebhaber, oder auch Leo genannt.“ Cécile rempelte Kim an und raunte: „Da hast du dir ja echt nen super Kerl geangelt, höflich, gut aussehend, Pirat, einfach perfekt!“ Jackie hatte unterdessen Cécile die Flasche aus der Hand geschnappt und bot sie Leo mit den Worten an: „Es heißt doch, Piraten vertragen so einiges, weil sie eh den ganzen Tag saufen, willst du uns das nicht mal beweisen?“ Kim und Leo grinsten sich an, beide wussten, dass das nicht nur ein Gerücht war. So nahm Leo die Flasche und leerte sie in einem Zug. Cécile und Jackie sahen allerdings nicht sehr beeindruckt aus, Jackie sagte nur: „Na toll, ne halbe Flasche Wodka, das kann ja jeder! Außerdem kommt die Wirkung bei dem Zeugs eh erst später.“ Und Cécile stimmte ihr zu. Kim ihrerseits fragte Jackie: „Ihr habt doch gesagt, ihr hättet auch Rum da, hol doch mal ein Fläschchen!“ Jackie tat wie ihr geheißen, verschwand für kurze Zeit in der Küche und kam wieder mit zwei Flaschen Rum in der Hand zurück. Die eine gab sie Leo, die andere drückte sie Kim in die Hand und sagte zu ihr: „Heute trinkst du auch mal was!“ Kim und Leo warfen sich einen vielsagenden Blick zu und Kim sagte: „Wir gehen uns mal ein bisschen umsehen, wer alles da ist.“ Mit diesen Worten schraubte sie die Flasche auf und nahm einen großen Schluck; jetzt staunten Jackie und Cécile allerdings nicht schlecht, denn sonst hatte Kim Alkohol noch nicht einmal angesehen. Kim nahm Leo bei der Hand und zog ihn mit sich in Richtung Wohnzimmer. Hier waren immer die meisten Leute, direkt an der Quelle der Musik. Einige tanzten, einige saßen rum und unterhielten sich so weit es ging und andere rauchten. Cécile ging zu dieser Gruppe, schnorrte sich vier Zigaretten und kam wieder zu den anderen zurück. Eine steckte sie sich selbst in den Mund, die andere gab sie Cécile und die zwei restlichen bot sie Kim und Leo an, die allerdings verneinten. Cécile zuckte mit den Schultern, nahm sich noch eine von Jackie und klemmte sie sich hinters Ohr. Jackie tat es ihr gleich. Dann holte sie eine Packung Streichhölzer aus der Hosentasche und steckte Cécile und sich die Kippen an. Nun trennten sich die Beiden von Kim und Leo. Jackie ging wieder ins Esszimmer, wo sie den Kerl zurückgelassen hatte und Cécile stellte sich zu den Rauchern. Irgendwie waren Kim und Leo voneinander getrennt worden. Die beiden Flaschen Rum waren schon lange leer. Kim erinnerte sich noch, dass sie mit Leo getanzt hatte, doch dann hatte sie einen Aussetzer. Sie fand sich in einem leeren Raum wieder, in den der Schall der Musik nur gedämpft eindrang. Allein? Nein, nicht ganz, da war noch jemand, erst erkannte Kim den Fremden Jungen nicht, doch dann erinnerte sie sich wieder an ihn, Mikaël, letztes Jahr hatte sie ihm einen Korb gegeben, er hatte wuschliges schwarzes Haar und goldgelbe Augen. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie auf einer Bank lag und ihr Kopf auf seinem Schoß ruhte. Wie von der Tarantel gestochen setzte sie sich auf. Lächelnd fragte er: „Na, hat unser Dornröschen ausgeschlafen?“ Etwas verwirrt entgegnete sie: „Ich bin nur von einem das Dornröschen und der ist nicht da, wie spät ist es eigentlich?“ „Nicht so abweisend; es ist kurz nach zwölf.“ „Und was mache ich hier mit dir allein in einem Raum um kurz nach zwölf?“ „Deinen Rausch ausschlafen und dann sehen wir weiter.“ „Nun ja, ersteres ist ja schon zum Teil geschehen, aber was willst du jetzt sehen?“ Sie stand auf und ging in Richtung Tür, doch auch Mikaël hatte sich erhoben und packte sie grob am Handgelenk. Er flüsterte ihr ins Ohr: „Na, erstmal wirst du hier bleiben.“ Kim schluckte schwer und wollte sich losreißen, doch er verstärkte seinen Griff und drehte sie zu sich um. Sie setzte zum schreien an, doch er sagte nur: „Schrei nur, hier unten kann dich eh niemand hören, und selbst wenn man deine Schreie hören könnte, sind oben alle total dicht, dir kann keiner helfen.“ Er legte seine Hand auf ihren Rücken und ließ sie langsam bis zu ihrem Hintern gleiten. Sie schrie und versuchte noch stärker, sich los zu machen, doch sie schaffte es nicht. Langsam, ganz langsam näherte er sich ihr mit seinem Gesicht, er wollte sie küssen, doch sie presste ihre Lippen aufeinander und gerade, als seine Lippen sie berührten, hörte sie eine kühle Stimme sagen: „Ich dachte, ich hätte jemanden schreien gehört.“ Es war Leo. Kims Herz, das ihr auch vorhin schon bis zum Hals geschlagen hatte, machte einen Riesen Hüpfer. Mikaël ließ sich jedoch nicht beeindrucken und sagte: „Hey Blondie, verpiss dich und zieh deine Heldennummer irgendwo anders ab, vielleicht in der Grundschule, da hat man noch Angst vor dir.“ Er wollte sich wieder Kim zuwenden, doch diese zog nun gepfeffert ihr Knie hoch. Mikaël schrie mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und ließ sie los. Kim eilte an Leos Seite. Dessen Gesichtsausdruck veränderte sich auch. Etwas Mitleidig sah er auf Mikaël hinab, doch nicht minder hasserfüllt; er hatte es gewagt, seine Freundin zu bedrängen. Als Mikaël wieder aufrecht stand, wollte er auf Kim losgehen, doch Leo ging dazwischen. Er sah Kim fragend an, diese erwiderte starr seinen Blick und nickte langsam. Schließlich sagte Leo: „Lass deine Wut nicht an schwächeren aus! Lass uns raus gehen und das wie Männer regeln!“ Mikaël musterte Leo verächtlich und grinste: „Brauchst du etwa erst die Erlaubnis deiner Freundin, bevor du dich prügeln darfst?“ „Ja, denn ich frage erst, bevor ich etwas tue, was sie nicht will. Und das solltest du dir auch angewöhnen!“ Mikaël rümpfte herablassend die Nase und entgegnete: „Na dann, lass uns rausgehen.“ Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass draußen eine Schlägerei stattfand und viele waren herausgestürmt. Kim war schon vor dem ersten Schlag klar, wer gewinnen würde, doch trotzdem feuerte sie Leo an. Der hatte seine Deckung oben und erwartete den ersten Schlag seines Gegners, dieser tat ihm auch den Gefallen und einfältig wie er war hatte er natürlich die Deckung unten. Das nutzte Leo aus, fing Mikaëls schlag ab und platzierte selbst seine linke Faust im Gesichts seines Gegenübers. Dieser hatte nicht damit gerechnet und erstarrte für einen Kurzen Moment. In diesem Augenblick der Unachtsamkeit bekam er auch noch Leos rechte Faust ins Gesicht. Er taumelte, täuschte einen Fausthieb mit der linken an, schlug jedoch gleichzeitig mit der Rechten in Leos Bauch. Dieser vernachlässigte seine Deckung um sich den schmerzenden Bauch zu halten und Mikaël schlug ihm erneut mit dem rechten Arm hart ins Gesicht. Er traf Leos Nase, die sogleich begann stark zu bluten. Auch Kim war für einen kurzen Moment fassungslos, doch riss sie sich sogleich wieder und rief: „Leo, du schaffst das schon, du hast schon gegen die Untoten gekämpft, da wirst du den kleinen Mistkerl doch wohl mit links schlagen! Und denk mal, was der Dreckskerl mir antun wollte!“ Leos Augen blitzten auf und er richtete sich auf. Er beachtete das Blut nicht weiter, sondern erhob wieder die Fäuste. Als Mikaël zu einem erneuten Schlag ansetzte, lehnte er seinen Oberkörper zurück und trat mit aller Kraft gegen den Brustkörper seines Gegenübers. Dieser stolperte rücklings in die Menge, wurde allerdings gleich wieder in die Mitte des Rings zurückgestoßen. Dort fiel er auf alle viere und hielt sich die Brust. Leo seinerseits hob noch einmal den Fuß. Kim dachte, er wollte noch einmal zutreten und schrie: „Leo, lass das, er ist doch schon am Boden!“ Doch Leo ließ sich nicht beirren, sondern ließ seinen Fuß hervorschnellen, stoppte ihn jedoch kurz vor Mikaël. Stattdessen stellte er ihn auf Mikaëls Flanken und drückte ihn dagegen, bis dieser auf die Seite fiel und Leos Sieg so noch klarer wurde. Kim kam auf ihn zu gerannt, kramte ein Taschentuch aus ihrer Tasche, wischte Leo grob das Blut aus dem Gesicht und küsste ihn dann glücklich. Sie schmeckte den eisernen Geschmack seines Blutes, doch war es ihr egal. Ihm jedoch anscheinend nicht, denn er löste sich von ihren Lippen, nahm ihr das Taschentuch aus der Hand und hielt es sich an die Nase. Dann beugte er sich zu ihr, um sie zu umarmen. Doch war diese Umarmung nur ein Vorwand, um ihr ins Ohr zu flüstern: „Wir müssen reden, und zwar da, wo niemand ist und niemand sollte erfahren, dass wir nicht mehr da sind.“ Kim überlegte kurz, dann entgegnete sie: „Ist gut, mach einfach mit, ich regele das schon.“ Sie legte ihre Hand auf seine Hüfte und er tat es ihr gleich. Als sie drinnen im Wohnzimmer waren, bedeutete Kim ihm sich auf einen Stuhl zu setzen und kaum, dass er saß, hatte sie sich auch schon rittlings auf seinen Schoß gesetzt und begann ihn zu küssen. Liebevoll strich sie ihm durch die Haare. Dann begann sie an seinem Hemd herum zu nesteln und knöpfte es langsam auf. Sie strich ihm mit den Fingern über die nackte Brust. Er verstand zwar nicht ganz, was sie damit bezwecken wollte, doch spielte er artig mit. Er streichelte ihr über den Rücken und schließlich auch über den Po. Zufrieden ließ sie von ihm ab, stand auf, nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm die Treppe hinauf. Dort wandte sie sich nach links und ging den Gang entlang, bis sie vor einer Türe auf der rechten Seite stehen blieb und sie öffnete. Leo stellte erstaunt fest, dass in dem Zimmer ein großes Bett stand, was bezweckte Kim damit? Hatte sie nicht verstanden, dass er nicht in diesem Haus mit ihr reden konnte? Doch das hatte sie, denn als sie die Türe wieder hinter sich geschlossen hatte, ging sie schnurstracks zum Fenster, öffnete es und schaute hinaus. Wie sie es in Erinnerung hatte, konnte man ganz leicht an der Regenrinne herunterklettern. Vorsichtig stieg sie aus dem Fenster. Als Leo verstanden hatte, was sie vorhatte, half er ihr hinaus und folgte ihr, als sie auf dem grünen Rasen des Gartens stand. Als nun auch er bei ihr stand, ergriff sie erneut seine Hand und ging mit ihm in die Richtung, aus der sie ein Rauschen vernahm. Sie wusste, dass sich gleich hinter den Sträuchern der Strand verbarg und schob schon die ersten Äste zur Seite. Nur wenige Augenblicke später standen Leo und sie im weißen Sand. Etwas beleidigt sagte Leo: „Na du bist mir ja eine! Sag mir doch das nächste Mal einfach, was du vorhast, sonst könnten ein paar Missverständnisse aufkommen!“ „Wieso? An was hast du denn gedacht?“ Lachend beobachtete sie, wie sein Gesicht sich leicht rötlich färbte und gab zu: „Du hast ja recht, es war schon ein bisschen zweideutig, aber du hättest mal dein Gesicht sehen sollen, als du das Bett gesehen hast, oder Jackie und Cécile, als wir nach oben gegangen sind, die waren ja so was von verdutzt!“ Als sie das gesagt hatte wurde sein Gesichtsausdruck ernst und er sagte: „Lass uns ein Stück gehen, ich muss nämlich mit dir über etwas Wichtiges reden.“ Erstaunt schaute sie ihn an. Er nahm ihre Hand und sie setzten sich in Bewegung. Eine Weile lang gingen sie schweigend nebeneinander her, dann fragte Kim: „Sag mal, über was wolltest du denn jetzt reden?“ „Es geht um deine Beiden Freundinnen, sie haben sich etwas… merkwürdig verhalten.“ „Jackie und Cécile? Die sind immer so, das musst du einfach übersehen.“ Sie lächelte ihn an, aber er konnte nicht zurücklächeln. Er hatte etwas Mitleidiges in seinem Blick, was sie stutzig machte: „Was ist denn los?“ „Nun ja, zum ersten habe ich gesehen, wie sie mit Mikaël geredet haben, kurz bevor du verschwunden bist…“ „Na und? Dürfen sie etwa nicht mit ihren Gästen reden?“ „Doch, natürlich, nur sah das nicht nach einer gewöhnlichen Konversation aus.“ „Na toll, und was willst du mir jetzt damit sagen?“ „Warte doch erst mal ab, also, wie gesagt, ich hab sie mit ihm reden sehen und kurz darauf bist du verschwunden. Ich hab nach dir gesucht und auch die Beiden gefragt, doch sie haben gesagt, ich solle dich für heute Nacht vergessen, und es mir mit ihnen bequem machen, du erführst auch sicher nichts davon. Ich habe sie gefragt, was das solle, doch sie haben gemeint, dass ich was Besseres verdient hätte und du sozusagen die Dorfmatratze wärst und auch, dass du jetzt gerade bei Mikaël wärst und mit ihm…“ „Was soll das? Warum erzählst du mir das? Das ist nicht wahr! DU LÜGST!“ Tränen stiegen ihr in die Augen, sie wollte sich losreißen und zurückrennen, doch Leo hielt sie fest und umarmte sie. Sie schlug gegen seine Brust und schrie immer wieder: „Du lügst! Du bist ein Lügner! Warum tust du das?“ Nach kurzer Zeit ließen ihre Schläge nach und sie wehrte sich nicht mehr gegen die Umarmung, auch hatte sie aufgehört zu brüllen. Sie barg ihr Gesicht an Leos Brust und versuchte zu verstehen, was das, was er gesagt hatte, zu bedeuten hatte. Langsam wichen die Trauer und der Schmerz der Wut. Kim stieß Leo von sich, der das nicht erwartet hatte und rannte den Strand entlang zurück, um die beiden zur Rede zu stellen. Als Leo sich wieder gefasst hatte, lief er ihr hinterher und packte sie. Sie stolperte und fiel zu Boden, Leo fiel mit ihr. Er drehte sie auf den Rücken und hockte sich auf sie, damit sie nicht noch einmal davonlief. Kim stemmte sich mit aller Kraft gegen ihn, doch er ergriff ihre Hände und hielt sie über ihrem Kopf am Boden gedrückt fest. Dann flüsterte er: „Beruhige dich! Wenn du jetzt dahin rennst und irgendwas vor dich hinbrüllst, machst du dich nur zum Affen. Es ist doch egal, was die über dich sagen, solange du noch Menschen hast, die hinter dir stehen. Und da hast du doch eine ganze Menge, zum Beispiel Jon, deine Schwester, deinen Bruder, deine Eltern, Larry wird auch immer hinter dir stehen, ich glaube sogar, dein Ex stärkt dir den Rücken, außerdem ist da noch Jons ganze Mannschaft und wenn dir einer auch nur ein Haar krümmt, wenn die Crew dabei ist, dann wächst auf der stelle, wo der Typ fertig gemacht wurde kein Gras mehr. Und du darfst auch mich nicht vergessen, ich werde immer für dich da sein, es ist mir egal, was zwei dahergelaufene möchtegern Prinzessinnen mir erzählen, solange du das Gegenteil behauptest, werde ich immer dir glauben!“ Langsam hatte sie sich beruhigt und atmete gleichmäßig. Leo starrte ihr in die Augen, um nicht noch mal überrascht zu werden, doch Kim hatte nicht mehr die Kraft dazu. Sie lag da und war wie von innen zerstört. Ihre besten Freundinnen hatten versucht ihr den Freund auszuspannen. Jetzt verstand sie auch, wie sich Leo wohl gefühlt haben musste, als sie Jon geküsst hatte. Leo saß immer noch nach vorne gebeugt auf ihr und hielt ihre Hände. Sie richtete sich so gut es ging auf, schloss die Augen und gab Leo einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, sie flüsterte: „Danke.“ Erstaunt lockerte er seinen Griff und fragte: „Wofür denn?“ „Dafür, dass du dich nicht gerächt hast, du hättest die Situation so leicht ausnutzen können.“ „Ach, die Beiden waren sowieso nicht so ganz mein Geschmack!“ „Von wegen, ich weiß doch, dass du auf lange Beine und kurze Röcke stehst!“ Wieder lief er rot an. Sie kicherte leise. Als er seinen Griff noch etwas lockerte, richtete sie sich auf und küsste ihn. Langsam standen sie auf, dann flüsterte er: „Lass uns schwimmen gehen!“ „Aber ich hab keinen Bikini dabei!“ „Ist doch egal, hier sieht dich keiner und vor mir bist du vorhin auch in Unterwäsche herumgelaufen.“ Sie überlegte kurz, willigte dann aber ein. Leo entledigte sich als erster seiner Klamotten, dann stand er nur noch in Boxershorts vor ihr und kurz darauf stand auch Kim in Unterwäsche da. Gemeinsam gingen sie, umhüllt vom sanften weißen Licht des Mondes ins Meer. Als sie am nächsten Morgen in ihrer Kajüte neben Leo aufwachte, fühlte sie sich so erschöpft wie schon lange nicht mehr, in der vergangenen Nacht war soviel geschehen. Ihre Haare waren noch ein weinig feucht und die Sonne strahlte schon durch das kleine Bullauge. Sie konnte das Lachen der Piraten hören und entschloss sich aufzustehen. Als sie, angezogen, an Deck kam, schaute sie sich nach Garret um, sie fand ihn an den Hauptmast gelehnt sitzend vor. Seinen Hut hatte er sich über die Augen gelegt, und als sie näher kam, konnte sie leise Schnarchgeräusche vernehmen. Sanft stupste sie ihn mit dem Fuß an, doch er reagierte nicht. Nun trat sie etwas fester gegen sein Schienbein, er reagierte noch immer nicht. Schließlich wurde es ihr zu blöd und sie trat richtig zu. Er schrak auf und sah sie etwas benebelt an, dann begann er zu grinsen: „Na, wie war’s gestern auf der Party?“ Kim setzte sich neben ihn und sagte etwas gelangweilt: „Och, nichts besonderes, dumme Anmache, ne Prügelei, rumknutschen, das Übliche eben.“ Garret hob die Brauen und musterte sie skeptisch. „Lass mich raten, irgend so ein Kerl hat dich dumm angemacht, Leo hat ihm ein paar verpasst und dann gab’s das Happy End mit Filmreifen Kuss?“ „Nicht ganz, aber so ähnlich.“ „Na dann erzähl mal!“ Jack gesellte sich zu ihnen und sah ebenfalls gespannt auf Kim. Als nun auch noch ein Dritter dazukam und sie auffordernd anschaute, kicherte sie in sich hinein und fragte: „Ist Leos und meine Beziehung etwa die Seifenoper hier an Bord, oder was?“ Die drei grinsten sich an, sagten aber nichts weiter dazu. Sie seufzte und begann: „Also, Leo und ich sind ja gestern auf eine Party gegangen, bei einer Freundin von mir, Cécile. Nach der haben wir auch gesucht und sie im Esszimmer, beim Alkohol, gefunden. Bei ihr waren nur noch Jackie, meine andere Freundin, und ein Typ, mit dem sie rumgeknutscht hat.“ „Mit wem?“, fragte Edward, der sich inzwischen mit Terry zur Runde dazugesellt hatte. Sie antwortete: „Ich weiß nicht genau, Jackie braucht nicht jeden zu kennen, den sie küsst und schon gar nicht, wenn sie betrunken ist.“ „Ist doch jetzt egal!“, warf Terry ein. „Genau, erzähl weiter“, bestätigte Garret. Und so tat Kim ihnen den Gefallen: „Also, wie gesagt, ich fand sie beim Alkohol. Dann hat sie Leo die halb leere Flasche Wodka angedreht und uns noch jedem eine Flasche Rum in die Hand gedrückt und wir sind ins Wohnzimmer, zur Stereoanlage gegangen. Da habe ich Leo dann noch ein paar Leuten vorgestellt und als wir ein bisschen angeheitert, oder auch ziemlich betrunken waren, haben wir getanzt. Dann hatte ich einen totalen Aussetzer und bin in einem Kellerzimmer wieder aufgewacht, mit dem Kopf auf Mikaëls Schoß.“ Inzwischen hörten ihr fast alle Piraten, die sich an Deck befanden, zu, einschließlich Jon. Sie traute sich jedoch nicht, ihn direkt anzuschauen also erzählte sie weiter: „Ich hatte dem Kerl schon letztes Jahr einen Korb gegeben und trotzdem hat der mich befummelt und wollte mich küssen, aber dann kam Leo. Als Mikaël mich allerdings immer noch nicht loslassen wollte, habe ich ihm mein Knie in den Schritt gerammt…“ Die Umstehenden stöhnten erschüttert auf, sie konnten sich den Schmerz anscheinend lebhaft vorstellen. „Was denn? Hätte ich mich vergewaltigen lassen sollen?“ „Nein, aber das war echt fies.“, meinte Edward, doch Garret fiel ihm ins Wort: „Die Dreckssau hat’s doch verdient! Kim hat sich schließlich nur verteidigt, der ist doch selbst schuld, wenn er’s nicht kapiert, wenn man’s ihm sagt!“ Kim lächelte ihn an und ergänzte noch: „Genau, und schließlich hat der Kerl es gewagt, Leo zu beleidigen!“ Allgemeines Gelächter machte sich breit. Garret stieß sie an und flüsterte: „Das hättest du jetzt besser nicht sagen sollen.“ Kim verstand nicht ganz und versuchte zu erklären: „Nein, ihr missversteht mich! Ich meine ja nicht, dass Leo sich nicht selbst verteidigen könnte, aber ich wollte ja nicht, dass Leo den Kerl gleich ins Koma prügelt…“ Einige Piraten tuschelten zwar noch, aber insgesamt, so hoffte sie, hatte sie Leo aus der Affäre gezogen. „Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, genau, gleich darauf sind Leo und Mikaël dann nach draußen gegangen, um die Sache zu klären. Natürlich waren, wie bei jeder Prügelei, genug Zuschauer anwesend. Die ersten Treffer hat Leo gelandet, doch dann hat Mikaël einen Schlag angetäuscht, hat Leo aber in den Bauch geboxt und gleich darauf mitten ins Gesicht. Leo hat so Nasenbluten bekommen, dass ich schon dachte, er würde noch verbluten.“ Wieder begannen die Piraten zu lachen. Sie wussten, dass Kim gnadenlos übertrieb, doch war es mal etwas ganz anderes, eine Schlägerei von einem Mädchen geschildert zu bekommen, denn normalerweise prahlten immer nur Männer mit ihren Kampfkünsten. Kim achtete diesmal nicht auf die Reaktion der Crew, sondern erzählte unbeirrt weiter: „Für einen Moment war selbst ich aus der Fassung, aber dann ist Leo dem nächsten Schlag ausgewichen und hat Mikaël einen Tritt gegen die Brust versetzt. Der hatte, dumm und überheblich wie er nun mal ist die Deckung total vergessen und konnte nichts mehr gegen Leos Sieg machen und dann…“ Wie sollte sie weiter erzählen? Der Rest der Geschichte war ihr dann doch zu intim, aber Leo, der schon seit geraumer Zeit gegen den Mast gelehnt dastand, ohne dass sie ihn bemerkt hatte, half ihr weiter: „Dann hat sie mir das Blut abgewischt, festgestellt, dass es doch nicht ganz so viel war, mich geküsst und wir haben, ohne irgendwelche weiteren Pannen weitergefeiert, bis wir schließlich aufs Schiff getorkelt kamen.“ Doch Terry, der es pflegte nachts manchmal die Sterne zu beobachten fragte feixend: „Warum wart ihr denn dann vollkommen durchnässt, als ihr wiederkamt?“ Nun war auch Leo mit seinem Latein am Ende und beide liefen rot an, schließlich stotterte Kim: „Ach, du hast uns gesehen? Ja, wir waren noch kurz schwimmen, wenn man betrunken ist, weiß man ja nicht so ganz was man macht…“ „Na ja, also erstens saht ihr gar nicht so betrunken aus, als ihr Arm in Arm angekommen seid und zweitens wie wart ihr denn ohne Badesachen schwimmen? Nackt?“ „Nein, wir waren in Klamotten schwimmen…“ „Eure Kleider sahen allerdings auch nicht besonders nass aus.“ Nun meldete sich Jon zu Wort: „Leute, jetzt reicht es aber mal, lasst den zweien ihre Privatsphäre. Wir hätten eigentlich auch besseres zu tun, als hier herum zu sitzen und uns Geschichten anzuhören! Die Märchenstunde ist hiermit beendet.“ Enttäuscht stöhnte die Crew auf, erhob sich jedoch, wenn auch murrend, und jeder ging wieder seiner Aufgabe nach. Kim wollte sich eigentlich noch bei Jon bedanken, doch er war schon verschwunden. Bei ihr saßen nur noch Garret und Leo. Kim fragte etwas verwirrt: „Was ist denn so wichtig?“ Und Leo antwortete: „Weißt du das etwa noch nicht? In genau einer Woche Segeln wir wieder los.“ „Und warum?“ „Tja, Kim, irgendwann geht das Geld nun mal aus und wenn man noch so sparsam lebt.“ Garret allerdings brachte sie vom Thema ab: „Also, mir könnt ihr doch erzählen, was ihr gemacht habt.“ „Ehm, nun ja, ich,… ich muss noch was erledigen…“, stotterte Kim. Garret jedoch sah sie skeptisch an und fragte schließlich mit klarer Stimme: „Und was, wenn man fragen darf?“ Hastig suchte sie nach irgendeinem Grund, warum sie es ihm nicht erzählen konnte und schlagartig fiel ihr wieder das Buch ein, welches immer noch bei Jon lag. „Ich muss noch ein Buch von Jon holen, das ich aus der Bücherei ausgeliehen habe und bis morgen sollte es wieder an Ort und Stelle sein. Leo kann dir ja erzählen, was alles passiert ist.“ Mit diesen Worten stand sie auf und ging die Treppe hinab auf Jons Kajüte zu. Sie vertraute Leo, dass er das schon machte und nicht irgendeinen Unsinn erzählte. Sie klopfte kurz an und trat ein. Drinnen fand sie Jon, der am Schreibtisch saß und Edward, der gegen den Tisch gelehnt neben ihm, mit dem Rücken zur Tür, stand, vor. Als sie hereinkam, schauten die Beiden auf. Dann wechselten sie einen Blick und Jon ergriff das Wort: „Kim, möchtest du mit mir sprechen?“ „Ja, eigentlich schon, aber das kann auch warten, wenn ihr hier wichtiges zu besprechen habt, dann…“ „Sehr gut, danke, heute Abend hab ich Zeit für dich.“ Für ihn war die Sache damit abgehakt und Kim verließ den Raum ohne viel Federlesen. Hatte er sie gerade rausgeworfen? Ja, zwar war es sehr subtil gewesen, doch er hatte sie rausgeworfen. Etwas beleidigt stapfte sie wieder an Deck, wo Leo noch mit Garret am Mast saß. Als sie sich wieder zu ihnen setzte, fragte Leo etwas misstrauisch: „Wo ist denn das Buch?“ Noch etwas verwirrt, von Jons kaltem Rauswurf, schaute sie ihn daraufhin nur etwas konfus an und fragte: „Was für ein Buch denn?“ „Na, das Buch, das Jon noch hatte und das du morgen wieder abgeben musst!“ „Ach so! Jon hat mich rausgeworfen, bevor ich auch nur ein Wort gesagt habe.“ Etwas erstaunt hinterfragte Garret: „Und wieso das?“ Genervt antwortete Kim: „Edward war da und anscheinend hatten die Beiden gerade etwas unheimlich wichtiges zu besprechen.“ Nun mehr desinteressiert winkten die beiden ab und meinten: „Na dann, ist wahrscheinlich irgendwas wegen Samstag.“ Und setzten ihr Gespräch fort. Kim hielt sich aus diesen Gesprächen raus, sie langweilten sie, weil immer wieder das gleiche durchgekaut wurde. Und zwar, dass früher alles besser war. Die Piraten waren härter, die Monarchen teilweise auf ihrer Seite und auch die Huren in den Hafen freizügiger. Sie schüttelte nur den Kopf über die Beiden. Sie hatten doch wirklich schon hunderte Male ausdiskutiert, dass es der Piraterie früher besser ging, warum konnten sie nicht endlich mal über etwas anderes reden? Schließlich verabschiedete sich Kim von den Beiden und ging durch das Dorf zu sich nach Hause. Als sie gerade angekommen war, nahm ihre Schwester sie auch gleich in Empfang und zog sie in ihr Zimmer. Dort drückte sie Kim auf einen Stuhl und setzte sich selbst auf ihr Bett. Verwirrt fragte Kim: „Was ist denn los, Sally?“ Aufgebracht erwiderte diese, sich wieder erhebend: „Was los ist? Wo warst du die ganze Nacht? Heute Vormittag haben Cécile und Jackie angerufen und gefragt, wo du seist, da du gestern Nacht irgendwann von ihrer Feier verschwunden warst. Hast du eigentlich eine Ahnung, was Mutter und Vater dazu sagen würden?“ „Dann hast du es ihnen also nicht gesagt?“ „Wie käme ich denn dazu? Aber wo bist du denn hingegangen? Und wieso hast du niemandem bescheid gesagt, dass du zu Cécile gehst?“ „Nun ja, wie ich gesagt habe, habe ich auf dem Schiff übernachtet und denkst du, unsre Eltern hätten mich jemals zu Cécile gelassen? Sie hatten doch schon etwas mitbekommen, dass da eine Party steigt.“ „Aber hättest du es dann nicht wenigstens Manu oder mir sagen können?“ „Ich hab es Manu ja gesagt! Oder er wusste zumindest, dass bei Cécile was geht und zwei und zwei kann sogar er mit seinem Gehirn in der Größe einer Erbse zusammenzählen.“ Sally kicherte, wurde jedoch gleich wieder ernst: „Ach Kim, stell dir vor, Mutter wäre ans Telefon gegangen! Die hätte dich in der Luft zerfetzt! Und warum bist du denn nicht auf der Fete geblieben?“ „Es hat nicht ganz meinen Vorstellungen entsprochen…“ „Und das bedeutet? Komm schon, Kim, du gehst doch nicht einfach, nur weil dir ein Lied nicht passt.“, beharrte ihre Schwester darauf, dass sie weiter erzählte. Kim seufzte: „Wenn es nur das gewesen wäre!“ „Dann sag doch einfach, was war. Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst, ich verrate schon nichts, Ehrenwort.“ „Versprochen?“, fragte Kim skeptisch und Sally hob die linke Hand, die rechte legte sie auf ihre Brust, worunter ihr Herz schlug, und entgegnete: „Ich schwöre!“ Kim überlegte einen Moment, dann begann sie zu erzählen: „Na gut, es hat damit begonnen, dass ich ein bisschen zu viel getrunken hatte und dann nach einem totalen Aussetzer im Keller bei Mikaël wieder aufgewacht bin.“ Mit offenem Mund unterbrach sie ihre Schwester: „Warst du noch angezogen?“ Entrüstet fauchte Kim: „Natürlich!“ „Warte, der Mikaël, der dir die ganze Zeit nachgestellt hat?“ „Genau der. Und der Idiot hat mich dann begrabscht…“ „WAS?“, fiel Sally ihr erneut ins Wort. „Der Kerl hat mein kleines Schwesterchen begrabscht? Na dem mach ich die Hölle heiß, das sag ich dir.“ „Ist schon gut“, winkte Kim ab. „Er hat schon bekommen, was er verdient hat und zwar eine ordentliche Tracht Prügel von Leo und davor noch einen Tritt in den Schritt von mir.“ „Trotzdem ist so etwas unverzeihlich!“, trotzte Sally. Kim ging nicht weiter darauf ein, sondern fuhr fort: „Wie auch immer, Leo wollte danach noch mit mir reden, aber irgendwo anders, nicht auf der Feier. Also sind wir an den Strand gegangen. Dort hat er mir dann alles erzählt…“ „Was alles?“, fragte Sally leise. Sie hatte sich wieder gesetzt und beugte sich nun vor, Kim gespannt anstarrend. „Dass Cécile und Jackie Mikaël zu dem ganzen überredet haben um mich von Leo loszukriegen, damit sie sich in Ruhe an ihn ranmachen konnten. Sie haben zu ihm gesagt, ich sei so was wie die Dorfmatratze!“, erzählte sie ungerührt. „Nein, deine zwei besten Freundinnen?“, fragte Sally erschüttert und Kim korrigierte sie: „Nein, meine zwei ehemaligen besten Freundinnen!“ „Recht so kleine Schwester, wenn die dich und sich nicht auseinander halten können, sind sie zu dumm, um mit dir befreundet zu sein!“ Kim musste lachen, wie schaffte ihre Schwester es nur immer wieder sie auch in der größten Not zum Lachen zu bringen? „Aber jetzt erzähl du doch mal, wo du letzte Nacht warst, du kannst mir nämlich nicht erzählen, dass du letzte Nacht ganz brav bei deiner Freundin warst und ihr euch Zöpfchen geflochten habt!“, forderte Kim ihre Schwester auf. Diese grinste sie verschmitzt an und meinte: „Schwesterchen, du bist viel gewitzter, als ich immer dachte! Natürlich hast du Recht, wir haben uns keine Zöpfe geflochten, sondern Freundschaftsbänder geknüpft, die wir morgen an einem Flohmarkt verkaufen wollen.“ „Ha, ha. Sehr witzig!“, entgegnete Kim trocken. Sally erwiderte affektiert beleidigt: „Das ist mein voller Ernst!“ Nun spannte sie Kims geduldsfaden doch etwas stark und Kim brauste auf: „Mann, ich hab dir auch erzählt, was ich gemacht habe!“ Lachend entgegnete Sally: „Na gut, weil du es bist, und ich sonst platze, aber das tut ja hier nichts zur Sache… Also, ich habe bei Chimney geschlafen.“ „Bei einem Schornstein?“, hinterfragte Kim verblüfft. „Nein, wir nennen ihn nur so, weil er raucht wie ein Schlot.“, erklärte ihr Sally geduldig. Kim nickte und fragte interessiert: „Und ist irgendwas spektakuläres passiert?“ „Ich glaube, die Details erspare ich dir.“, grinste Sally süffisant. „Ach so…“ „Sag mal, wann ist es bei Leo und dir eigentlich soweit? Ich meine, ihr seid doch jetzt schon eine ganze Weile zusammen, wie lange wollt ihr denn warten?“ Kim lief rot an und zischte: „Das ist ja wohl unsere Sache!“ „Na wenn du meinst, Schwesterherz, aber du weißt ja, ich bin immer offen für interessante Geschichten über…“ fertig wurde sie nicht mit ihrem Satz, denn von unten schallte schon eine dominante Frauenstimme, die sie eindeutig ihrer Mutter zuordnen konnten: „Essen!“ Heute waren nur ihre Mutter, Sally und Manu da, denn ihr Vater hatte noch etwas wichtiges Geschäftliches zu erledigen, was auf keinen Fall bis Montag warten konnte. Erst herrschte eiserne Stille, bis Kims Mutter das Wort ergriff: „Also, Kimberley, was habt ihr denn gestern gemacht?“ „Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“ Als Kim das gesagt hatte, hörten schlagartig alle, bis auf sie selbst, auf zu essen und sahen sie entsetzt an. Ihre Mutter schnappte nach Luft: „Aber,… aber Kimberley, was ist denn in dich gefahren? Ich glaube, es ist besser, wenn du dich in nächster Zeit von diesem Piratenpack fern hältst, dieser Leonard hatte irgendetwas Drakonisches an sich. Ein Glück, dass morgen die Schule wieder beginnt, dort müssen die Lehrer sich mit dir plagen.“ Kims Mund öffnete sich, als hätte ihre Mutter gerade chinesisch mit ihr gesprochen. Leo hatte sich doch nicht ungehobelt verhalten! Langsam fragte sie: „Du willst mir verbieten, zu Leo, Jon und den anderen zu gehen? Und ich soll wieder in diese verdammte Schule?“ „Kimberley! Wie redest du denn? Und ja, genau das möchte ich, schließlich müssen deine seltsamen ‚Freunde’ ja auch wieder weitersegeln und du musst deinen Abschluss schaffen.“ „Aber wenn sie weitersegeln, komme ich mit! Du kannst mich nicht hierher ketten! Von mir aus gehe ich in die Schule solange ich da bin, aber mach dich darauf gefasst, dass ich schon bald wieder weg bin.“, entgegnete Kim trotzig und ihre Mutter sagte gelassen: „Na das werden wir ja noch sehen!“ „Ja, das werden wir!“, brüllte Kim und stand auf. „Kimberley, hör auf zu brüllen und setz dich wieder hin, bis das Essen vorbei ist!“, rief nun ihre Mutter. „Nein!“ Sie spürte, wie ihr Gesicht sich vor Zorn rot färbte, als ihre Mutter festlegte: „Jetzt reicht es mir, du hast absoluten Hausarrest!“ „Schön, wo sollte ich denn hingehen? Zu Leo darf ich ja nicht mehr, weil dir sein Gesicht nicht passt!“ Ihre Mutter schnaubte vor Wut und Sally und Manu starrten die Beiden mit großen, ungläubigen Augen an. Kim hatte sich ihrer Mutter bis dato noch nie widersetzt und sie konnte selbst nicht fassen, dass ihre Mutter so ausrasten würde, aber sie war zu weit gegangen, das mit der Schule hätte sie noch hinnehmen können, aber ihr den Umgang mit Leo zu verbieten und ihn dann auch noch als barbarisch zu bezeichnen, das ging ihr gewaltig gegen den Strich. Wütend warf sie sich auf ihr Bett. Wie konnte ihre Mutter nur so engstirnig sein? Sie kannte Leo ja noch nicht einmal. War sie früher auch so gewesen? Bevor sie mit den Piraten gesegelt war. Diese Monate hatten ihr unendlich gut getan, ihr gesamtes ethisches Gefühl hatte sich gewandelt und damit hatte sie nicht im Geringsten ein Problem. Mit diesem Gedanken schlief sie ein. Als ihre Mutter sie wieder weckte war es bereits Morgen. Sie hatte keine Lust irgendetwas zu tun. Sie wollte weder aufstehen, noch sich anziehen und schon gar nicht in die Schule gehen, doch ihre Mutter zog ihr die Decke weg und sorgte mit ein paar „sanften“ Worten dafür, dass sie sich anzog. Sie hasste ihre Schuluniform, sie war viel zu eng, man hatte gar keine Bewegungsfreiheit. Doch sie musste sie wohl oder übel anziehen. Die Uniform bestand aus einem Knielangen blau-weiß karierten Rock, einer weißen kurzärmeligen Bluse, einer blauen Krawatte und einem Blauen Blazer, der das Schulwappen trug. Diesen musste sie zum Glück nicht die ganze Zeit tragen, denn sonst wäre sie in der Hitze eingegangen. Sie packte ihre Tasche und kam herunter, wo schon ihre Mutter, ihr Bruder und ihre Schwester am Tisch saßen. Beide waren auf der gleichen Schule wie sie und trugen demnach auch eine Schuluniform. Manu war schon im letzten Jahr und Sally nur eine Stufe unter ihm Kim war noch zwei Klassen unter Sally. Schweigend setzte sie sich zu ihnen und knabberte missmutig an ihrem Toast. Schließlich stand Sally als erste vom Tisch auf, Manu und Kim folgten ihr auf dem Fuße. Kims Geschwister verabschiedeten sich noch von ihrer Mutter, im Gegensatz zu Kim, die an ihr vorbeiging und sie schlichtweg ignorierte. Auf dem Schulweg wechselten sie nicht viele Worte. Kim war mit ihren Gedanken schon in der Schule, wo sie unweigerlich Cécile und Jackie treffen würde. Der Schulweg kam ihr viel kürzer vor, als früher und als sie vor der Schule standen, sah Kim unsicher an ihr herauf. Manu ging einfach weiter, Sally allerdings blieb noch kurz neben ihr stehen, gab ihr einen Kuss auf die Backe und meinte aufmunternd: „Du schaffst das schon, lass dich von den Beiden auf keinen Fall fertig machen.“ Und mit einem zwinkern fügte sie noch hinzu: „Auf dem Heimweg kannst du ja dann noch ein bisschen trödeln und falls du zufällig auf einem Schiff landest, was soll’s.“ Damit ging auch sie ins Schulgebäude und Kim stand alleine draußen, bis von hinten zwei Personen kamen, sich bei ihr unterhakten und sie mit ins Schulgebäude schleiften, es waren, wie erwartet, Jackie und Cécile. Kim versuchte die Wut, die in ihr aufflammte, zu unterdrücken, befreite sich aus dem Klammergriff der Zwei und ging ohne ein Wort zu sagen in ihr Klassenzimmer. Dort schenkte sie auch den neugierigen Blicken der anderen keine Beachtung, sondern ging an ihren Platz am Fenster und setzte sich. Sie starrte zum Fenster hinaus und hörte der Lehrerin nicht zu, bis diese direkt vor ihr stand und sie anherrschte: „Mademoiselle Kimberley, à toi la balle de lire!“ „Pardon?“ erschrocken sah sie auf, direkt in das Gesicht ihrer zornigen Französischlehrerin Madame L’Olonois. Als diese bemerkte, dass Kim noch nicht einmal ihr Buch geöffnet hatte, wurde sie puterrot im Gesicht und donnerte: „A la page 124 dans votre livre! Mademoiselle, ce ne peux pas vrai. Attention, s’il vous plaît. “ Kim öffnete ihr Buch auf der besagten Seite, stand auf und begann zu lesen: „La Bretagne est le pays de la mer, des forêts et des rivières, c’est un pays d’histoire et un pays de vacances. Quand on y arrive pour la première fois, ou la… des fois déjà ? On ne sait plus…“ Was in dem Text stand verstand sie nicht wirklich, aber zum Glück hatten sie ja Laffite an Bord, der würde ihr sicher helfen können die Lücken zu füllen, schließlich stammte er ja aus Frankreich. Doch in Mathe sah es dann noch schlechter aus, als in Französisch, denn sie hatten gerade Äquivalenzumformungen und wie sollte Kim etwas verstehen, was sie noch nicht einmal aussprechen konnte? Ihrem Mathelehrer war es relativ gleichgültig, dass Kim im letzten viertel Jahr nicht da gewesen war und nahm in Folge dessen keinerlei Rücksicht auf sie, es war die Hölle, da es eine Doppelstunde war. In der Pause war sie dann damit beschäftigt Cécile und Jackie aus dem Weg zu gehen und die nervigen Fragen der anderen zu beantworten. Montags hatten sie zum Glück nur fünf Stunden, also nur noch Englisch und Geschichte. Englisch verlief relativ unspektakulär, der Lehrer verlangte nicht allzu viel von ihr und so versuchte sie so gut es ging mitzumachen. In Geschichte nahm die Klasse gerade das Mittelalterliche Europa durch, wie der Rest der Klasse hörte sie dem Lehrer nicht richtig zu und erhaschte nur immer wieder Fetzen von dem was er sagte. Es ging um Mönche, ihren Tagesablauf, „ora et labora“, die Gebete und so weiter. Keiner der Schüler zeigte sich sonderlich interessiert, es war eine Qual bei der Hitze in dem engen, stickigen Klassenzimmer zu sitzen und diesem langweiligen Gerede zuzuhören. Schließlich ertönte die befreiende Schulglocke. Kim packte ihr Zeug zusammen und verschwand so schnell es ging aus dem Klassenzimmer und raus aus der Schule. Es wehte eine kühle Brise, die Kim gerade recht kam, denn sie war es nicht mehr gewohnt, Tag für Tag in der Schule zu sitzen, bei geschlossenen Fenstern und stickiger, verbrauchter Luft. Aber anstatt schnurstracks nach Hause zu laufen, wie ihre Mutter es erwartete, lief sie zur Vengeance. Sie suchte das Deck nach Leo ab und sie fand ihn leise schnarchend gegen den Besan gelehnt schlafen. Kim kniete sich zu ihm hinunter und weckte ihn mit einem sanften Kuss. Verschlafen blinzelte er mit den Augenlidern und musterte sie mehr oder weniger im Halbschlaf, dann fragte er: „Was ist denn los? Wieso weckst du mich?“ „Jetzt wach schon auf, ich hab keine Zeit und will dich nur noch mal kurz sehen, bevor ich in die Hölle zurück muss.“, lächelte Kim. „Was? Wieso das denn?“ Schlagartig war er hellwach und schaute sie fragend an. „Meine Mutter hat mir verboten, zu dir zu gehen, geschweige denn, noch mal einen Fuß auf dieses Schiff zu setzen, ich habe absoluten Hausarrest.“, entgegnete Kim grinsend „Und wie bist du dann hergekommen?“, fragte Leo erstaunt und sie erklärte ihm: „Ich hatte gerade Schule, was denkst du, warum ich sonst dieses Zeug anhätte? Aber ich muss gleich wieder gehen, weil meine Mutter sonst Verdacht schöpft.“ Verwirrt schüttelte Leo den Kopf und fragte: „Jetzt warte mal einen kurzen Augenblick, heißt das, du kommst nicht mit am Samstag? Und was wird aus uns?“ „Keine Sorge, ich komme mit, koste es was es wolle. Manu und Sally helfen mir bestimmt und was meine Mutter dazu sagt ist mir egal, es ist mir auch egal, was sie zu uns sagt, weil ich dich liebe und mir das keiner ausreden kann, weder meine Mutter, noch sonst irgendjemand!“, sagte sie bestimmt. Er lächelte sie an und meinte: „Ich hatte nichts anderes erwartet.“ Er stand auf und begleitete sie noch über das Schiff. Als sie direkt vor dem Steg standen, umarmte er sie und flüsterte: „Lass heute Nacht die Tür von deinem Balkon geöffnet, du könntest unerwarteten Besuch bekommen…“ Mit diesen Worten küsste er sie noch einmal zärtlich und sie ging von Bord. Als sie zuhause ankam, war ihre Mutter glücklicherweise nicht da. So ging sie in die Küche und fragte die Mamsell nach etwas zum Essen. Diese reichte ihr eine Scheibe Brot und ein Schälchen Kaviar, sobald sie jedoch Kims verwirrten Blick sah, schob sie sie aus der Küche und meinte, es gäbe erst am Abend etwas Warmes zu essen, weil ihr Vater da wiederkäme. Also aß sie schweigend und gab der Köchin dann das Schälchen mit dem übrigen Kaviar wieder. Fast den ganzen Rest des Nachmittages verbrachte sie damit ihre Hausaufgaben zu erledigen. Dies wollte ihr allerdings nicht so recht gelingen, so ging sie zu Manu und bat ihn um Hilfe. Da er nichts Besseres zu tun hatte, half er ihr bei Französisch und Mathe. Ganz hatte sie das ganze zwar immer noch nicht begriffen, doch verstand sie den Stoff jetzt etwas besser. Bis zum Abendessen lag sie dann auf ihrem Bett und las in einem Buch. Kims Vater unterstützte seine Frau in Punkto Hausarrest zwar nicht, doch sagte er auch nichts dagegen, denn auch er fand, dass ihre Manieren drastisch abgenommen hatten. Mit Sally und Manu unterhielt er sich über die Schule, doch Kim schwieg. Warum sollte sie über etwas erzählen, was sie nur in Verlegenheit brachte? Das Essen war vorbei und Kim ging wieder in ihr Zimmer. Dort kramte sie ein frisches Nachthemd aus ihrem Schrank und ging damit ins Bad, um zu duschen. Mit dem Gefühl vollkommen sauber zu sein ging sie dann schließlich ins Bett und wie Leo ihr gesagt hatte, ließ sie die Balkontür einen Spalt breit geöffnet. Ein frischer Wind wehte zu ihr hinüber und weckte sie auf. Sie sah zum Fenster und konnte eine Silhouette im Türrahmen stehen sehen. Sie erschrak und setzte sich auf. In gleißendes Mondlicht getaucht stand er da. Jetzt erkannte sie Leo wieder. Er ging auf sie zu, gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen und fragte sie: „Na, bist du jetzt glücklich?“ Sie antwortete nicht, sondern zog ihn zu sich aufs Bett und umarmte ihn. Einige Zeit verweilten sie so, dann fragte er: „Wie ist es denn in einer Schule?“ „Sehr langweilig, du musst schrecklich viel lernen und möglichst keine Fehler machen. Die Lehrer bieten dir zwar immer an, du könntest sie alles fragen, doch wenn du dich daran hältst, dann ist es auch wieder nicht recht, weil man doch mit dem Stoff durchkommen müsse. Außerdem sind sehr viele Lehrer ungerecht und haben ihre Lieblinge, aber zum Glück sind nicht alle so, es gibt auch einige gute Lehrer, aber das kennst du ja…“ „Nein. Ich war nie auf einer Schule.“ „Was? Du warst nie in der Schule?“, fragte Kim entgeistert, aber nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, fügte sie hinzu: Hm, ist eigentlich logisch, du bist ja schon dein ganzes Leben auf Schiffen.“ Er setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand. „Ist es wirklich so schlimm in der Schule?“ „Eigentlich nicht, man trifft Freunde, lernt etwas, das man irgendwann bestimmt einmal brauchen wird und hat die Gewissheit, dass man nicht so einfach über den Tisch gezogen werden kann.“ „Ach so.“ Wieder verging einige Zeit, ohne dass sie sprachen, bis Leo auch diesmal die Stille durchbrach: „Liest du mir etwas vor?“ Erstaunt sah sie ihn an, knipste dann aber ihre Nachttischlampe an und Griff zu dem Buch, das darauf lag. Sie schlug es an einer ganz bestimmten Stelle auf und wollte gerade beginnen zu lesen, da fragte Leo: „Darf ich meinen Kopf auf deinen Schoß legen?“ Kim nickte stumm und begann ihm aus dem Buch vorzulesen. Als sie ihm ein Kapitel vorgelesen hatte, klappte sie das Buch zu und meinte: „Ich glaube, ich lege mich schlafen, morgen muss ich schließlich wieder zur Schule.“ Leo setzte sich auf und sagte: „Ist wohl besser so, schließlich ist schon halb zwei.“ „Was? Schon so spät? Morgen früh komme ich garantiert nicht aus dem Bett!“ Leo seinerseits stand auf, gab ihr einen flüchtigen Kuss und sagte dann: „Ich danke für die Märchenstunde. Morgen um dieselbe Zeit?“ Sie nickte stumm und sah, wie er durch die Balkontür ging. Nach einer kurzen Weile stand sie auf und ging auf den Balkon, von dort konnte sie Leo noch den Weg entlang gehen sehen, doch schon bald verlor sie ihn aus den Augen und ging wieder hinein. Leise schloss Kim die Tür hinter sich, zog die Vorhänge zu. Anschließend legte sie sich wieder ins Bett, zog die Decke bis unters Kinn und versuchte einzuschlafen. „Kimberley, nun steh doch endlich auf, sonst kommst du noch zu spät!“, dröhnte ihre Mutter und zog ihr genau wie am Vortag die Decke weg. Mürrisch starrte sie ihre Mutter an, stand dann aber, wenn auch nicht gerne, auf. Als ihre Mutter aus dem Zimmer gegangen war, begann sie sich umzuziehen. Sie nahm ihre Schultasche, die sie schon am Vorabend gepackt hatte und ging ins Esszimmer, da sie allerdings wirklich spät dran war, trank sie nur ein Glas Milch und nahm sich noch einen Toast. Sie zog sich Schuhe an und machte sich auf den Weg. In der Schule lief alles fast genau wie am Vortag ab, die Lehrer nahmen keinerlei Rücksicht auf sie, die anderen nervten sie immer noch mit Fragen und sie ging Cécile und Jackie noch immer aus dem Weg. Als sie nach der sechsten Stunde dann ihre Tasche nahm und hinausging sah sie, wie Leo gegen das Tor gelehnt dastand und auf sie wartete. Ihre bis eben noch so finstere Miene klarte auf und sie lief freudig auf ihn zu, drückte ihm einen dicken Kuss auf den Mund und ging mit ihm in Richtung Hafen. Sie fragte: „Sag mal, woher wusstest du, wann ich aus habe?“ „Ich hatte keine Ahnung, ich habe mich einfach ab halb zwölf ans Tor gestellt und gewartet.“ „Wie lieb von dir!“ „Ich weiß.“ Er grinste und sie erwiderte: „Schade nur, dass ich heute zu Laffite muss, weil der mir mit meinen Französisch Hausaufgaben helfen muss.“ Scherzend antwortete er: „Und Laffite ist ja auch ein so guter Pädagoge, der kann dir das sicher in Nullkommanix beibringen.“ Feixend meinte sie daraufhin: „Wer sagt denn, dass er mir das ganze erklären soll? Er muss mir ja nur die Lösungen sagen.“ „Und so wie ich unseren fleißigen Laffite kenne, wird der dich auch sicher so schummeln lassen, nein, nein, mein liebes kleines Engelchen, wenn du den fragst, kannst du dich auf tägliche Nachhilfe gefasst machen. „Und du kannst das auch, weil ich dir nämlich lesen, schreiben und rechnen beibringen werde.“ „Und was bringt mir das?“ „Wenn du zum Beispiel etwas unterschreibst, weißt du wenigstens, was wirklich in dem Schreiben steht und kannst nicht so leicht über den Tisch gezogen werden.“ „Aber die wenigsten von uns können lesen oder schreiben, warum sollte ich es dann also lernen?“ „Weil du, meiner Meinung nach, zu diesen wenigen dazugehören solltest, basta!“ Damit kamen sie am Schiff an und Kim sah nach Laffite, damit der ihr französisch erklären konnte. Allerdings vergaß sie dabei die Zeit und kam erst wieder am späten Nachmittag nach Hause. Ihre Mutter war außer sich: „Wo warst du denn? Hast du dich wieder bei diesem Gelump herumgetrieben?“ „Nenn sie nicht so, sie sind auch Menschen und Laffite hat mir nur Französisch erklärt!“ „Natürlich! Der kennt doch auch nur einen Satz auf Französisch und das ist: Voulez-vous couchez avec moi? Wobei er die Höflichkeitsform wahrscheinlich niemals verwenden würde. Und zur Abrundung des Unterrichts noch ein ‚French kiss’?“ „Nein, Mutter, den habe ich auch schon davor zur genüge üben können!“ Ihre Mutter holte aus und ohrfeigte sie. Das Echo hallte durchs ganze Haus. Dann flüsterte sie mit zitternder Stimme: „Hör auf dich wie eine Dirne zu benehmen!“ Boshaft schaute Kim ihrer Stiefmutter in die Augen und zischte: „Ich hasse dich!“ Mit diesen Worten ließ sie sie in der Eingangshalle stehen und ging in ihr Zimmer. Sie kam an diesem Tag nicht mehr herunter, weder zum Abendessen, noch als ihr Vater sie rief, um mit ihr zu reden. Genauso wenig ließ sie irgendwen in ihr Zimmer. Sie erledigte noch ihre Hausaufgaben, dies allerdings eher schlecht, als recht und setzte sich auf ihr Bett, Leo erwartend. Die Minuten zogen sich hin und wurden schließlich zu endlos scheinenden Stunden. Es war schon kurz nach eins, da klopfte jemand leise gegen die Tür. Jäh sprang sie auf und ging hastig zur Tür. Sie öffnete diese, die Vorhänge hatte sie erst gar nicht zugezogen, und gewährte Leo einlass. Fröhlich begrüßte er sie: „Hey, mein kleines Engelchen! Wie war Französisch mit Laffite?“ Sie antwortete nicht, teils, weil sie nicht richtig zugehört hatte, teils, weil sie zu ihrem Schreibtisch gegangen war und intensiv nach einem Block und einem Stift suchte, was in dem Chaos ihrer Schubladen gar nicht so leicht war. „Kim? Ist was?“, fragte er besorgt. - wieder keine Antwort - Schließlich ging er auf sie zu, nahm ihre Hand und fragte erneut: „Engelchen, was ist los?“ „Was?“ Verwirrt hörte sie auf zu suchen, drehte sich um und starrte ihm durch die Dunkelheit in die Augen. Ihr Zimmer wurde nur vom Mond beleuchtet, der in der heutigen Nacht allerdings nicht gut zu sehen war, weil der Himmel mit dicken Wolken verhangen war. Leo sah sie durchdringend an und als sie endlich verstand, was er gefragt hatte, antwortete sie flüchtig lächelnd: „Was soll denn sein? Mit mir ist nichts, ganz ehrlich.“ Er ließ jedoch nicht locker: „Nun sag schon, du kannst mir alles sagen, das weißt du doch.“ „Ja, natürlich weiß ich das, aber es ist nichts Großartiges passiert.“, winkte Kim ab. „Also ist etwas passiert?“ „Nein, nein, ich hatte nur einen Zoff mit meiner Mutter.“ „Und um was ging es bei dem Streit? Jetzt komm schon Kim, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!“, stöhnte er ungeduldig. „Nun ja, es ist bei Laffite ja etwas später geworden und da hat sie verdacht geschöpft. Sie hat euch beleidigt und da hab ich ihr widersprochen und ihr gesagt, dass ich mit Laffite nur Französisch gemacht habe, was ja auch stimmt. Daraufhin hat sie mir unterstellt, dass ich mit Laffite etwas gehabt hätte und ich bin auf diese absolut inakzeptable Unterstellung hin etwas frech geworden. Und weißt du, was meine Mutter dann gemacht hat? Sie hat mich geschlagen und mich eine Schlampe geschimpft.“ Mit jedem Wort hatte sich Leos Gesichtsausdruck weiter verfinstert, jetzt stand ihm die Wut förmlich ins Gesicht geschrieben, und da er nicht vollkommen ausrasten wollte, drückte er seine Hände zusammen, bis Kim aufstöhnte: „Aua, du tust mir weh!“ Wie von der Tarantel gestochen ließ er sie los. Kim rieb sich die schmerzende Hand und musterte ihn skeptisch. Nahm er wirklich solchen Anteil an der Sache? Vorsichtig fragte sie: „Leo? Wieso bist du denn so sauer?“ „Ich konnte diese arroganten reichen Schnösel noch nie verstehen, aber dass deine Mutter dich als Hure bezeichnet, da fehlen mir die Worte! Ich habe noch nie ein Mädchen getroffen, das so rein ist wie du, anfangs wollte ich dich nur schmutzig machen, deine weiße Weste verunreinigen. Doch ich erkannte, dass mir das nie gelingen würde und ich habe mich wirklich in dich verliebt! Glaub mir, ich kenne so viele Gören, die sich selbst unbefleckt schimpften, doch wenn man die dicke Schicht Make-up abkratzte, kam ihr wahres Ich zum Vorschein, hässlich und zu allem bereit. Diese Frau weiß gar nicht, dass ihre Tochter einer Heiligen mehr gleicht, als all die reichen, die alles tun, damit man sie beachtet. Einen Mann dazu zu bringen, einer Frau hinterher zu schauen, dazu gehört nicht viel, nur ein weiter Ausschnitt, ein kurzer Rock, doch einen Kerl wie mich dazu zu bringen, dass er für die Frau, die er liebt sogar sterben würde, das ist bei weitem viel schwerer!“ „Du,… Du würdest für mich sterben?“ Mit ungläubigen Augen sah sie zu ihm auf und er antwortete ohne auch nur eine Sekunde zu zögern: „Ja, Kim, ich würde eher sterben, als zuzulassen, dass dir etwas passiert.“ Sie klammerte sich an ihn und er hielt sie fest in seinen Armen. Das Gesicht an seiner Brust geborgen flüsterte sie: „Leo, hier ist alles so schwer, ich will hier weg! Ich weiß nicht, ob ich es noch bis Samstag aushalte.“ Beruhigend erwiderte er: „Ach Kim, ich bin ja da und zusammen schaffen wir das schon, denn ich komme ja bis Samstag jede Nacht. In die Schule musst du aber, schließlich hat mir Laffite heute eröffnet, dass er dir an Bord weiterhin Unterricht geben will und mir musst du ja auch noch so einiges beibringen.“ Sie musste lachen und schmiegte sich richtig an ihn an. Solch eine Geborgenheit hatte sie schon lange Zeit nicht mehr verspürt. So verweilten sie noch einige Augenblicke, dann gähnte Kim herzhaft und Leo ließ sie los. Da sich beide wieder beruhigt hatten, fragte Leo: „Willst du mir nicht wieder etwas vorlesen?“ Kim bejahte seine Frage. So ging sie zu ihrem Bett knipste die Nachttischlampe an, nahm ihr Buch und Leo legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Alles war wie am Vorabend, nur las sie ihm heute das nächste Kapitel vor. Sie klappte das Buch zu und gab Leo einen Kuss. Dieser erkannte, dass dies sein Zeichen war. Er stand auf und ging zur Tür, die auf den Balkon hinausführte. Als die Beiden draußen standen, küssten sie sich noch einmal, bis Leo dann an den Blumengittern hinabkletterte. Er drehte sich noch einmal um und warf ihr eine Kusshand zu. Dann ging er seines Weges. Am nächsten Morgen war es nicht ihre Mutter, die sie weckte, sondern Manu klopfte ungeduldig gegen die Tür und rief: „Kim! Steh endlich auf, sonst kommst du zu spät und ich warte ganz bestimmt nicht auf dich!“ Widerwillig stand Kim auf und richtete sich. Als sie an der Schule ankam, sah sie, dass Cécile und Jackie vor dem Eingang standen und wie immer über irgendwelche Leute lästerten. Sie konnte es an ihren Gesichtsausdrücken erkennen, denn wenn sie schlecht über andere redeten, beziehungsweise irgendwelche Gerüchte in die Welt setzen konnten, bekamen ihre Gesichter immer so ein hinterhältiges Grinsen. Sie beschloss einfach an ihnen vorbeizugehen und hoffte, dass sie vertieft genug in ihr Gespräch waren, dass sie sie gar nicht wahrnahmen. Doch so war es nicht. Als Jackie Kim sah, stieß sie Cécile mit dem Ellenbogen an und zeigte auf Kim, der das Herz förmlich in die Hose rutschte. Wie angewurzelt blieb sie stehen, als sie die Beiden auf sich zukommen sah. Sie blieben kurz vor ihr stehen und Jackie ergriff das Wort: „Hey, Kim! Wie geht’s dir denn so? Du redest in letzter Zeit ja nicht viel mit uns, wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Und bevor Kim etwas erwidern konnte, unterbrach sie Cécile auch schon: „Genau, und das ist wirklich schlimm, denn wir müssen dir noch unbedingt etwas sagen, was mit deinem neuen Freund zu tun hat!“ Was war das denn? Die Beiden wollten sich doch nicht etwa entschuldigen? So kannte Kim sie ja gar nicht, dennoch fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie lächelte und meinte: „Ach, das ist doch nicht schlimm, schließlich…“ „Oh doch, Kim, das ist furchtbar schlimm! Wie konnte er nur so etwas machen?“, fiel Cécile ihr erneut ins Wort. Kim verstand nicht ganz, und sie fragte: „Wir reden doch schon von Leo und der Party neulich, oder?“ „Oh ja, Kim. Und das was er getan hat, das heißt versucht hat zu tun, ist wirklich unverzeihlich!“, erläuterte Jackie. Kim starrte sie verwirrt an und fragte sich innerlich, was Leo denn angestellt hatte, oder wollte. Und als könnte Cécile Gedanken lesen, sagte sie: „Na du weißt schon, er hat dich doch betrunken gemacht, damit du ihn nicht störst, wenn er sich an uns ranmacht. Dieses Schwein hat doch tatsächlich gesagt, dass er dich nur benutzt, dass du eine Herausforderung wärst, weil er deine weiße Weste beflecken will…“ „Hör auf!“, schrie Kim. Die beiden starrten sie an, als wäre Kim der Leibhaftige. Diese wiederum fuhr unbeirrt fort: „Leo hat mir doch alles gesagt, gleich, nachdem wir von eurer Feier verschwunden sind. Er hat mir alles erzählt, angefangen damit, dass ihr Mikaël überredet habt, mich mit ins Kellerzimmer zu schleifen und dann habt ihr euch an ihn rangemacht, aber er wollte nicht!“ Cécile und Jackie wechselten einen verschwörerischen Blick, der Kim allerdings entging und schließlich seufzte Jackie: „Kim, er hat dich angelogen, wahrscheinlich wollte er uns zuvorkommen, sodass er eine höhere Glaubwürdigkeit hat. Kim, wir schwören dir, so etwas würden wir doch nie tun, schließlich waren wir doch beste Freundinnen, und sind es immer noch, oder?“ Und Cécile ergänzte: „Genau, wir sind hier schließlich das goldene Trio, so etwas würden wir mit jedem anderen machen, aber doch nicht in unserem Trio!“ Kim wusste nicht mehr, wem sie glauben sollte. In der Tat, sie waren das goldene Trio gewesen, in Sachen Mode wussten sie immer bescheid, in Sachen Klatsch und Tratsch wussten sie immer das neuste, und in Sachen Beliebtheit hatte ihnen niemand das Wasser reichen können. Und hatte Leo letzte Nacht nicht auch etwas davon gesagt, dass er nur ihre weiße Weste beflecken wollte? Andererseits waren Cécile und Jackie zu allem fähig und Kim kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie alles tun würden, um sich einen Kerl zu angeln, den sie als gut aussehend empfanden, schließlich war sie einmal genauso gewesen. Und immer wenn sie mit Leo zusammen war, konnte sie seine Wärme und seine Liebe spüren, sollte sie sich das wirklich verderben lassen? Selbst wenn es so gewesen wäre, wie die Beiden es geschildert hatten, so konnte Kim Leo nicht sauer sein, denn war es nicht sie, die vor kurzem noch mit Jon im Mondschein stand und sich mit ihm geküsst Hatte? Nein, selbst wenn es stimmte, würde sie ihm nicht böse sein können, dafür liebte sie ihn zu sehr. Mit einem mitleidigen Lächeln ließ sie die Beiden stehen und ging ins Schulgebäude. An diesem Mittag wartete nicht Leo, sondern Manu auf sie. Sie ging schweigend an ihm vorbei und er setzte sich auch in bewegeung. So, Manu immer nur ein paar Schritte hinter ihr, gingen sie hinauf zu dem großen Haus, in dem sie lebten. Sie setzten sich zu den anderen an den Mittagstisch und aßen. Kim und ihre Mutter ignorierten sich und Manuel und ihrem Vater war es ein Rätsel warum. Sally war noch in der Schule, da sie Nachmittagsunterricht hatte. Als das Essen beendet war, stand Kim auf und ging auf ihr Zimmer. Sie brütete gerade über den Matheaufgaben, da klopfte jemand an die Tür. Ruppig rief sie: „Familienmitglieder sind hier unerwünscht und werden eines grausamen Todes sterben, wenn sie nur die Tür öffnen, geschweige denn, es wagen, einen Fuß hier herein zu setzen!“ Dennoch hörte sie, wie sich die Tür öffnete. Sie hatte eigentlich ihre Mutter erwartet, so hatte sie sich schon umgedreht und zum Brüllen angesetzt, da traten Sally und Manu ein. Sie schluckte den Schwall Schimpfwörter hinunter und fragte, nicht minder freundlich als zuvor: „Was wollt ihr denn hier?“ Sally entgegnete vorlaut: „Sei nicht gleich so gehässig Kimberley von Merrylson!“ Sie wusste, wie sehr Kim es hasste, bei ihrem vollen Namen gerufen zu werden und kicherte etwas, als sie Kim schnauben hörte. Doch Manu kam Sally zuvor und redete weiter, noch bevor Sally Kim weiter reizen konnte. „Wir wollten nur mit dir reden…“ „Ach, wollt ihr mir jetzt auch weismachen, dass Leo und ich nicht zusammenpassen? Danke, kein Bedarf, lasst euch etwas Originelleres einfallen, um mein Leben zu ruinieren, das wird nämlich langsam langweilig.“, unterbrach ihn Kim, doch er sprach, ihren Kommentar ignorierend, weiter: „Wir waren nämlich auf dem Schiff und haben mit dem Hauptmann gesprochen, wie hieß er doch gleich?“ „Jon.“, half Sally ihm weiter. „Ach ja, genau.“, fuhr er fort. „Also, dieser Jon hat gemeint, dass er am Samstag schon wieder die Segel setzen will und wie wir dich kennen, willst du höchstwahrscheinlich mit, aber ich will dich daran erinnern, dass du nicht einfach vor deinen Problemen wegrennen sollst, Kim, du solltest erst mal hier alles regeln, bevor du…“ Sally jedoch stieß ihn ruppig zur Seite und redete selbst weiter: „Kim, hör nicht drauf, was unser schwachsinniges Brüderchen sagt! Mutter wird sich schon wieder beruhigen und sonst müsstest du dich auch von Leo trennen, weil er nicht an Land bleiben würde. Und selbst wenn, hier würde er nicht zurechtkommen und stell dir nur mal Mutters Gesicht vor, wenn sie erführe, dass er hier bliebe! Also ich würde dir raten mitzufahren.“ „Ach, ihr wollt mich also loswerden?“, fiel Kim ihr ins Wort und Sally nun sichtlich genervt von ihrem Pessimismus meinte sarkastisch: „Natürlich wollen wir dich loswerden, schließlich kann dich hier eh keiner leiden, also zieh schon Leine, je schneller, desto besser! Du dummes Kind, was hast du eigentlich heute für Probleme? Früher warst du doch immer so leicht zu handhaben!“ Kim musste kichern. Ja, das waren ihre Geschwister, der Eine besorgt und vernünftig, immer darauf bedacht, das richtige zu tun und zu sagen und die Andere draufgängerisch und unvernünftig, einfach nur alles sagend, was ihr in den Sinn kam. Sie lächelte sanft und sagte: „Ihr braucht euch keine Mühe geben, mich zu irgendetwas zu überreden, denn ich habe mich schon längst entschieden, ich werde bei Jon und der Mannschaft bleiben.“ Manu schüttelte betrübt den Kopf. Sally allerdings jubelte: „Yes, hab ich es doch gewusst! Manu, du Loser, schnupper ruhig an mir, damit du auch mal weißt, wie Erfolg riecht!“ Kim seufzte und wandte sich wieder ihren Matheaufgaben zu. Als Sally das mitbekam, ließ sie davon ab, Manu zu ärgern und fragte: „Was machst du denn da? Mathe? Darf ich dir helfen? Bitte, bitte, bitte!“ Etwas genervt antwortete Kim: „Na gut, aber ich bezweifle, dass du das kannst…“ „Ach, nun sei doch nicht gleich wieder so pessimistisch, ich kann das schon, nicht nur Manu ist schlau und kann Mathe und jetzt räum mal den Stuhl!“ Widerwillig tat Kim wie ihr geheißen und sie setzte sich neben Manu, der sich während des Gespräches auf ihr Bett gesetzt hatte. Nach ungefähr einer halben Stunde grinsten die Zwei sich an, denn Sally brütete immer noch über ein und derselben Aufgabe. Manu erhob sich, nachdem Kim ihm einen auffordernden Blick zugeworfen hatte und ging zu Sally, um ihr Kims Hausaufgaben zu erklären. Es war fast wie früher, da kam Sally wieder auf ihr ursprüngliches Thema zurück. „Ach ja, Kim, was ich dich auch noch fragen wollte, wie willst du das ganze eigentlich Mutter beibringen?“ „Ich werde es ihr gar nicht erst sagen, sonst würde sie mich wahrscheinlich noch hier drinnen einsperren und Gitter an den Fenstern anbringen. Dann könnte Leo nicht mal mehr nachts kommen und…“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund und schaute in die Gesichter ihrer Geschwister. Manu setzte schon an, um ihr eine Gardinenpredigt zu halten, doch Sally kam ihm zuvor und quietschte: „Oh mein Gott, wie romantisch! Kommt er etwa jede Nacht über den Balkon zu dir? Was würde ich für so einen Kerl geben! Und was hab ich? Einen Idioten, der denkt, dass ich es toll fände ihn rauchen zu sehen.“ „Und wieso sagst du ihm dann nicht einfach, dass du es nicht toll findest?“, fragte Kim und Sally erläuterte: „Der ist doch schon längst süchtig und da geht das mit dem Aufhören nicht so leicht und ich glaube, dass er für niemanden aufhören würde, solange er selbst es nicht will.“ „Frag ihn doch einfach mal, vielleicht braucht er nur einen Anstoß und du kannst ihm helfen.“ „Ach Kim, hör auf, mir Vorschriften zu machen und mach das lieber bei unserem Herrn Perfekt hier, schließlich führt er hier die Scheinbeziehung!“ Gelangweilt fragte Kim: „Sagt mal, kann es sein, dass ich die einzige bin, die ihre Liebe vor unseren Eltern verteidigt?“ Sally und Manu warfen sich einen Blick zu und nickten beide. Sally sagte: „Aber du musst auch sehen, dass du hier wieder wegkommst. Wir müssen hier bleiben und sind auf die Gnade und Obhut unserer Eltern angewiesen, wir können es uns nicht leisten, so mit Mutter zu reden.“ Und Manu nickte bestimmt. Kim fand es feige. Warum konnten die beiden ihr Moralpredigten halten und standen selbst nicht richtig zu ihren Gefühlen. Wenn Kim Leo nicht hätte, wüsste sie nicht, wie sie alles aushalten sollte. Wie konnte sie nur früher einmal hier herpassen? Nach einer Weile des Schweigens ergriff Manu das Wort und sagte: „Wir sollten runter gehen, es gibt gleich Essen.“ Er stand auf und ging aus der Türe. Die beiden Mädchen folgten ihm. Als Kim wieder in ihrem Zimmer war, saß sie auf ihrem Bett und dachte nach. Sie hörte nur das beruhigende Rauschen des Regens und ab und zu wurde ihr Zimmer von einem Blitz erhellt, dem ein lautes Grollen folgte. Sie dachte noch einmal über das nach, was Cécile und Jackie ihr gesagt hatten und verglich es mit dem, was Leo ihr erzählt hatte. Sollte sie ihn fragen? Vielleicht würde er wütend werden und sie anbrüllen? Vielleicht würde er gestehen, dass es so gewesen war, wie Cécile und Jackie es geschildert hatten? Vielleicht würde er alles leugnen und auf seiner Geschichte beharren? Oder vielleicht sagte er ihr erneut die Wahrheit. Was auch immer er sagte, sie hatte Angst vor der Antwort, denn sie würde auf jeden Fall eine Trennung bedeuten. Ob nun von ihren Freundinnen, oder von Leo, wobei sie letzteres eher ausschloss. Sie fühlte sich elend. Warum hatte sie nur unbedingt hierher zurück gewollt? Fast alles hier schmerzte sie. Sie hatte die Beine angezogen, die Arme darum geschlungen und den Kopf auf die Knie gestützt. Ihr Blick richtete sich starr gen Boden. Erneut erhellte ein Blitz ihr Zimmer und auf dem Boden konnte sie einen Schatten sehen. Sie schrak auf und hörte im nächsten Moment ein Klopfen. Sie stand auf und ging zur Balkontür, die sie öffnete und Leo somit Einlass gewährte. Dieser schüttelte den nassen Kopf, sodass die Regentropfen durch das ganze Zimmer flogen. Er gab ihr zur Begrüßung ein Küsschen auf den Mund und fragte gleich: „Guten Abend, Engelchen, hast du mir vielleicht ein Handtuch? Bei dem Mistwetter schickt man noch nicht mal einen Hund vor die Tür und ich renne durch das ganze Dorf, um zu dir zu kommen. Ich hoffe, du bist mir dankbar, schließlich…“ Kim legte ihm den Finger auf die Lippen und ging leise aus dem Zimmer. Kurze Zeit später kam sie mit einem weißen Handtuch und einem Bademantel wieder und schloss behutsam die Tür hinter sich. Sie gab Leo die Sachen und sagte lächelnd: „Ich will ja nicht, dass du wegen mir krank wirst!“ Er grinste sie an und begann sein Shirt auszuziehen. Er hängte es über ihren Stuhl, genauso, wie seine Hose. Daraufhin schlüpfte er in den Bademantel und begann sich die Haare mit dem Handtuch trocken zu rubbeln. Kim hatte sich inzwischen auf ihr Bett gesetzt und schaute ihm verträumt zu. Als er das bemerkte, legte er sich das Handtuch um die Schultern und fragte: „Was ist denn? Du hast mich doch schon mal nass und in Boxershorts gesehen.“ Sie lächelte und zog ihn zu sich aufs Bett. Dort legte sie ihren Kopf auf seine Brust und sagte: „Ich habe heute mit Cécile und Jackie gesprochen, sie haben gesagt, dass das auf der Party alles andersherum gewesen sei.“ „Kim, das ist…“ „Nein, lass mich ausreden. Ich möchte, dass du mir die Wahrheit sagst. Und du sollst wissen, dass, selbst wenn es so gewesen sein sollte, wie sie sagen, ich dir verzeihen würde, weil ich dich liebe.“ „Kim, du enttäuschst mich.“ Er setzte sich auf. „Wieso glaubst du mir nicht? Ich habe dir immer nur die Wahrheit gesagt, warum sollte ich jetzt damit aufhören. Und selbst wenn, was würde mir das bringen?“ „Leo, bitte sei nicht sauer, aber sie haben so etwas Ähnliches gesagt, wie du gestern Nacht, und zwar, dass du zu ihnen gesagt hättest, dass du mich nur verunreinigen willst und da…“ „Und da hast du gedacht, dass das, was sie sagen ja stimmen muss, nur weil sie zufälligerweise dasselbe gesagt haben wie ich. Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass ich das wollte, dich aber jetzt wirklich liebe. Das hast du gestern wohl überhört, oder?“ „Nein,… nein, das habe ich nicht, aber die Beiden waren schon mein ganzes Leben lang mit mir befreundet…“ „Gerade deswegen müsstest du doch wissen, was das für Biester sind!“ Kim schwieg. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Er hatte Recht, in allen Punkten. Bedrückt sah sie zu Boden, da umarmte Leo sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Aber, du hast mit mir darüber gesprochen und ich kenne niemanden sonst, der so etwas gleich sagen würde. Ich will dir dafür danken.“ Etwas verwirrt sah Kim ihn an und ein Lächeln flog über seine Lippen. Er drückte sie auf das Bett und raunte: „Soso, du hast also geglaubt, ich würde dich anlügen? Du kleines Miststück! Und trotzdem könnte ich dich jetzt vernaschen, obwohl jeder normale Kerl stinksauer wäre.“ Kim wälzte sich herum, bis sie oben lag und meinte verschmitzt: „Vielleicht bin ich einfach zu süß?“ Er versuchte sie zu küssen, doch sie legte ihre Stirn auf seine und sagte: „Aber um mich zu vernaschen, musst du schon was tun.“ Er packte sie bei den Hüften und legte sie neben ihn auf den Rücken, dann setzte er sich auf sie und drückte sie an den Schultern in die Kissen. Langsam beugte er sich vor und küsste sie, jedoch nur kurz. Sie wollte mehr. Er richtete sich wieder auf, schmunzelte und meinte: „Können wir das nicht auch in den Unterricht mit aufnehmen? Dann hätte ich wenigstens eine gute Note.“ Herausfordernd schaute sie ihn an und sagte: „Ich glaube, in dem Fach bist du der bessere Pädagoge.“ Leo legte seinen Zeigefinger an sein Kinn und sagte in einem Tonfall, der wohl gebildet klingen sollte: „Ich glaube, du wirst ein würdiger Lehrling sein…“ Sie lachte, richtete sich auf und küsste ihn. Dann meinte sie: „Also wenn jedes Fach so wäre, würde ich die Schule lieben, obwohl, wenn ich an unsere Lehrer denke…“ „Zum Glück habe ich nur eine Lehrerin und vor der habe ich großen Respekt.“ Sie lächelte geschmeichelt. Es regnete immer noch, als Leo ging. Er hatte sich wieder seine nasse Kleidung angezogen und lief los, als er auf festem Grund stand. Kim war auf anraten Leos nicht mit hinaus gekommen und stand so vor der geschlossenen Tür des Balkons und schaute durch die Glastür Leo hinterher, bis sie sich schließlich wieder in ihr Bett legte und alles außer Leo aus ihren Gedanken verbannte, damit sie behaglich einschlafen konnte. Als sie am nächsten Morgen erwachte, regnete es immer noch. Sie stand gerade auf, als ihre Schwester hereinplatzte, vermutlich um sie zu wecken. Sie schaute sich um und musterte grinsend den Bademantel, das Handtuch und die immer noch etwas feuchte Stelle, an der Leo in der Nacht gestanden hatte und fragte schließlich: „Na? War dein Liebster dich sogar bei dem Mistwetter besuchen?“ Kim schaute sie nur herablassend an und sagte leise, aber bestimmt: „Eigentlich wüsste ich nicht, was dich das anginge, aber ja. Und jetzt raus!“ Einen Moment lang starrte Sally sie nur verwundert an, verließ dann aber schweigend den Raum. Kim ihrerseits richtete sich für den kommenden Unterricht. Donnerstag war nie so schlimm. Sie hatte nur Nebenfächer, wie Kunst, Musik, Geschichte und Religion. Also packte sie ihre Noten, das Geschichtsbuch und auch das für Religion und einen Block in ihre Schultasche und ging nach unten. Obwohl sie nicht sonderlich spät dran war, nahm sie sich nur zwei Toasts und verließ das Haus grußlos. Sie bemerkte, dass es nur noch leicht tröpfelte und schloss erleichtert ihren Schirm. Sie schaute auf zum Glockenturm, der höher war, als sämtliche Häuser der Umgebung und sah, dass sie noch eine knappe halbe Stunde hatte, bis sie in der Schule sein musste. Das hieß, dass, wenn sie sich beeilte, sie noch kurz zu Leo und den anderen konnte. Also rannte sie los. Keuchend kam sie kurze Zeit später auf der Vengeance an und schaute sich um. Sie hatte kaum einen Fuß an Deck gesetzt, da kam auch schon Garret herbeigelaufen, um sie zu begrüßen. Er nahm sie spaßeshalber in den Schwitzkasten und rubbelte ihr mit den Knöcheln seiner Hand über den Kopf, bis ihr die Kopfhaut schmerzte. Dabei sagte er freudig: „Was hat denn ein fremdes Frauenzimmer hier an Deck verloren? Das ist doch verboten!“ Kim befreite sich mühsam aus seiner so genannten Umarmung, richtete sich ihre Haare wieder einigermaßen und meinte herrisch: „Was heißt hier Frauenzimmer? Du weißt wohl nicht, wie du mit mir zu reden hast, aber von Piratenpack kann man wohl nicht verlangen, dass sie wissen, wie man mit einer von Merrylson zu reden hat!“ Mit einer tiefen Verbeugung und gekünsteltem bedauern erwiderte er: „Ich bitte Euch untertänigst um Vergebung, gnädige Frau. Ich wollte Euch weder verstimmen, noch in irgendeiner Art und Weise beleidigen, aber Ihr erinnert mich an eine alte Freundin, die ich seit sehr langer Zeit nicht mehr zu Gesicht bekam und glaubt mir, hätte ich einen Hut auf, würde ich ihn vor Euch ziehen.“ Mit gespieltem Hochmut legte Kim den Kopf in den Nacken und meinte: „Nun gut, ich werde es Euch verzeihen, denn es kommt mir vor, als wäre ich soeben aus dem lodernden Fegefeuer entlassen worden und jedes fröhlich gesinnte Wesen dem ich begegne, stimmt auch mich fröhlich, denn ich muss in nicht einmal einer halben Stunde vom Fegefeuer in die Hölle.“ Damit hielt sie ihm ihre Hand entgegen. Er ergriff sie, wohl wissend, was er tun sollte, und küsste sie. Just in diesem Moment kam Leo dazu, der die Beiden fragend musterte, sich allerdings nichts weiter dachte, weil Garret und Kim eine seltsame Art hatten, miteinander zu scherzen. Er ging auf die Beiden zu und hauchte Kim nur einen flüchtigen Kuss auf den Mund. Dann fragte er skeptisch: „Was machst du denn hier? Deine Mutter hat es dir doch verboten und hast du nicht eigentlich Schule?“ Etwas beleidigt wegen dem schmählichen Empfang entgegnete sie: „Was meine Mutter mir erlaubt oder nicht, ist mir egal, schließlich erlaubt sie es auch nicht, dass du mitten in der Nacht über meinen Balkon in mein Zimmer kommst.“ Garret musterte Leo erstaunt, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Amüsiert kommentierte er: „Soso, deshalb bist du morgens schon immer so geschafft. Das hätte ich euch gar nicht zugetraut, ihr seid ja schließlich noch recht jung.“ Es war nicht Leo, der Garret zum schweigen brachte, obwohl er aussah, als würde er gleich explodieren, weil Garret anscheinend einen wunden Punkt getroffen hatte, sondern Kims fast schon tödliche Blicke, die er schon kennen- und fürchten gelernt hatte. So verabschiedete er sich gezwungen lächelnd und ging zu einer anderen Gruppierung. Leo schüttelte den Kopf über Kim, die ihn fragend musterte. Schließlich erbarmte er sich und erklärte ihr: „Warum musst du denn unbedingt davon erzählen, du weißt doch genau, wie schnell Gerüchte an Bord entstehen, von der Geschwindigkeit mit der sie sich verbreiten ganz zu schweigen. Mir sind Gerüchte über Techtelmechtel egal, solange sie nichts Schlechtes von mir behaupten, aber ich weiß nicht, wie das bei dir aussieht.“ Ungläubig starrte sie ihn an. Garret setzte doch nicht solche Gerüchte in die Welt, oder doch? Aber wenn Leo nichts erzählt hatte, würde es wohl stimmen. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, was so ein Gerücht für Ausmaße hatte und überlegte eifrig, was so etwas für sie zu bedeuten hatte. Mitten in ihren Gedanken fragte Leo: „Wann beginnt eigentlich die Schule?“ Kim schrak aus ihren Gedanken auf und schaute auf die große Turmuhr, die ihr verriet, dass sie in einer Viertelstunde an der Schule sein sollte. Von hier aus brauchte sie ungefähr zehn Minuten, das sagte sie auch Leo, der sie bei der Hand fasste und sich mit ihr aufmachte, in Richtung Schule. Dort angekommen, gab Leo ihr wieder nur ein Küsslein auf die Wange und wollte schon wieder gehen, da hielt Kim ihn fest. Als er fragte, was denn noch sei, starrte sie auf ihre schwarzen Ballerinas und die bis unter die Knie hochgezogenen weißen Socken und fragte: „Was ist mit dir? Bist du noch sauer?“ Erstaunt sah er sie an, als sie seinen Blick jedoch nicht erwiderte, sondern weiterhin ihre Schuhe anstierte, hob ihr Gesicht mit seiner Rechten und streichelte mit seiner linken zärtlich darüber. Er fragte sich, wie sie darauf kam und stellte fest, dass er an diesem Morgen tatsächlich viel abweisender war, als gewöhnlich. Erst jetzt erkannte er, dass Kim sich im Moment nach mehr Aufmerksamkeit und vor allem Zärtlichkeit sehnte als sonst, da ihr Heimkehren ihr nicht viel Freude bereitet hatte, obwohl sie ihm auf dem Weg hierher schon andauernd in den Ohren gelegen hatte, wie sehr sie sich freue, alle hier wieder zu sehen. Als er das verstand, schämte er sich selbst, wie begriffsstutzig er gewesen war und auch bereute er, wie hart er teilweise mit Kim umgegangen war. Für sie musste es eine herbe Enttäuschung sein, sich von aller Welt verlassen da wieder zu finden, wo sie früher einmal zu Hause gewesen war. Innerlich machte die Betroffenheit der Bewunderung platz, wie sie das aushielt, ohne auch nur eine Träne zu vergießen. Als er sie kennen gelernt hatte, war sie ihm fast schon wie ein weinerliches Kind vorgekommen, doch jetzt ertrug sie alles, ohne auch nur ein Schluchzen von sich zu geben. Wieder fühlte er sich schlecht, weil er sie in keinster Weise unterstützt hatte. Er hatte nie sonderlich auf ihre Gefühle geachtet, Hiobsbotschaften hatte er ihr unverhohlen mitgeteilt und auch nie sonderlich ihre Meinung zu Rate gezogen. Er umarmte sie selbstvergessen und flüsterte schwermütig: „Kim, es tut mir Leid, es tut mir so unendlich Leid! Ich habe in meiner Selbstverliebtheit nie bemerkt wie sehr du leidest! Ich habe dir schlechte Nachrichten immer unverblümt überbracht und dich nie nach deiner Meinung gefragt. Nie bin ich auf deine Gefühle eingegangen oder war sonderlich liebevoll zu dir. Verzeih mir, Kim, bitte verzeih mir.“ Als er geendet hatte, erwiderte Kim, die sich in Leos starken Armen so wohl fühlte, dass sie ihn nie wieder loslassen wollte: „Warum bist du so hart zu dir? Du hast wohl vergessen, wie du Nacht für Nacht bei mir warst und mir Mut zugesprochen hast und durch deine alleinigen Beschlüsse, hast du mir eine schwere Last abgenommen. Die Hiobsbotschaften, die du so ohne irgendeinen Schmuck, karg und nüchtern in all ihrer Härte überbracht hast, haben die Realität nicht noch härter gemacht, nur wenige Menschen wissen, wie gütig so etwas in Wahrheit ist. Und in deinem Inneren wusstest du immer, wie sehr ich leide, denn ich konnte sehen, wie du dich zerrissen hast, doch mit jedem Blick, jeder Berührung und jedem Kuss hast du mich unterstützt und mir Mut zugesprochen und dafür sollte ich mich eigentlich bedanken.“ Trotz ihrer schmeichelnden Worte war Leo noch immer erbost über sich selbst, doch Kim achtete nicht weiter darauf, sondern küsste ihn im nächsten Moment. In der Pause zwischen der Doppelstunde Kunst kamen Cécile und Jackie zu ihr gelaufen und schnatterten aufgeregt los: „Kim, hast du dich etwa wieder mit diesem Scharlatan versöhnt? Du darfst so einem doch nicht glauben, der lügt dir das Blaue vom Himmel vor und wenn er dich dann hatte, verschwindet er so schnell, wie er aufgetaucht ist!“ Cécile fügte noch hinzu: „Jackie hat ganz recht, ich bin heute Nacht nämlich aufgewacht, weil der Regen so laut gegen mein Fenster trommelte, da wollte ich es schließen und habe deinen Piraten gesehen, wie er mit einer Hure im Schlepptau zu dem Schiff getorkelt ist.“ Nüchtern erkundigte sich Kim: „Wann war denn das?“ Cécile starrte sie für einen Moment ungläubig an, als hätte sie ihr gerade mitten ins Gesicht geschlagen, fasste sich aber gleich wieder und sagte: „Es muss so gegen viertel nach eins gewesen sein, da die Turmuhr gerade die Viertelstunde schlug.“ Kim wandte sich wieder dem Bild zu und beschloss, die Beiden keines weiteren Blickes zu würdigen, denn um die Zeit war Leo bei ihr gewesen. Jackie wurde stutzig und fragte: „Was hat der Halunke dir denn erzählt?“ Kim fuhr auf, als sie diesen abwertenden Ton vernahm, und packte Jackie am Kragen. Mit einem bedrohlich kalten Unterton in der Stimme flüsterte sie: „Nenn ihn noch einmal so und du bist so gut wie tot.“ Fast zeitgleich schrieen die verwöhnten Rotzgören auf und Kim ließ Jackie angewidert los. Die Blicke der Klassenkameraden ignorierend wandte sie sich anschließend wieder ihrem Bild zu. Die Lehrerin war zum Glück schon zu Beginn der Pause weggegangen, um etwas mit einem Kollegen zu besprechen. Kim wusste, dass Cécile und Jackie sich an ihr rächen würden, doch würden sie sie mit Sicherheit nicht verpetzen. Zum Glück musste sie nur noch diesen und den folgenden Tag aushalten und konnte dann wieder dorthin, wo sich inzwischen ihr wahres zu Hause befand, an Bord der Vengeance. Jetzt sehnte sie sich die Nacht noch stärker herbei, als an all den Tagen zuvor. Jedoch war es wie immer: wenn man etwas so innig herbeisehnte, vergingen die Minuten nur spärlich und kamen Kim schon fast wie ganze Stunden vor. Als die Schule nun endlich vorbei war, sah sie jedoch schon Manu, in Begleitung Deirdres, auf sie warten. Auf dem Weg würdigten sich Manu und Deirdre keines Blickes, doch als sie in Sichtweite des Hauses waren, in dem er lebte, begannen die beiden schlagartig Händchen zu halten und verliebte Blicke auszutauschen. Auch der Nachmittag verlief nicht besser als ihr Vormittag. Als würden die Minuten und Stunden extra langsam machen, um sie zu quälen verstrichen sie, während Kim eine zermürbende Langeweile packte. Doch schließlich gab es Abendessen und Kim wusste, dass Leo nicht mehr allzu lange auf sich warten ließ. In dieser Nacht kam er tatsächlich früher, schon um halb zwölf. Da es draußen immer noch feucht war und er durch den Matsch hatte laufen müssen, bat er Kim kurzerhand um ein Tuch, oder ähnliches, damit er ihr Zimmer nicht unnötig verschmutzte. Er lief in der Stadt häufig barfuß herum, weil ihm die Socken in den Schnallenschuhen zu heiß waren. Allerdings hatte er nicht darauf geachtet, dass es erst am Morgen aufgehört hatte zu regnen und die Erde daher noch nass und schlammig war. Nachdem er dankbar ihr Tuch entgegennahm, sich die Füße gründlich abwischte und dann eintrat, begrüßte er sie richtig, was bedeutete, dass er sie an sich drückte und zärtlich küsste. Kim klammerte sich fast schon an ihn, genoss es aber, sich in seiner Nähe so sicher zu fühlen. Sie löste sich jedoch von ihm und fragte: „Sollten wir nicht langsam anfangen, dir irgendetwas beizubringen?“ Leo seinerseits musterte sie nur hochmütig, kam ihr wieder näher und machte Anstalten das Hemd ihres Schlafanzuges aufzuknöpfen. Kim wich erschrocken zurück und fragte, ihrem Gefühl Ausdruck verleihend: „Was machst du denn? Könntest du mir sagen, was du vorhast?“ Ein schadenfrohes Grinsen huschte über Leos Gesicht und er meinte nur, einen weiteren Schritt auf Kim zugehend: „Mach dir keine Sorgen, es ist schon nichts unsittliches, aber ich will dich überraschen!“ Nun ließ Kim ihn, wenn auch weiterhin misstrauisch, gewähren. Als er den letzten Knopf geöffnet hatte und ihr das Hemd über die Arme abgestreift hatte, musterte er sie genauer. Es wunderte Kim selbst ein bisschen, dass sie sich nicht schämte, sondern eher stolz war, ihm etwas präsentieren zu können. Er hieß sie, sich auf ihr Bett zu legen und sie legte sich brav hin. Damit sie ihn noch sehen konnte, hatte sie sich auf die Seite gelegt, doch er lachte auf und legte Hand an ihre Hüfte und Taille und drehte sie, bis sie auf dem Bauch lag. Sie verstand nicht, worauf er hinaus wollte und erst als er sich auf sie setzte, dämmerte es ihr langsam. Aus seiner Tasche entnahm er ein kleines Fläschchen, dessen Inhalt Kim unzweifelhaft als teures Öl einschätzte. Sie wollte gerade fragen, wie er daran gekommen sei, da streichelte Leo ihr schon über den nackten Rücken und strich die Haare, die darüber lagen zur Seite. Daraufhin beugte er sich zu ihr hinab, küsste sanft ihren so zart und gebrechlich aussehenden Nacken und flüsterte ihr ins Ohr: „Es kommt mir vor, als seist du noch schöner geworden, als früher. Und denk jetzt ja nicht, ich hätte das Fläschchen gestohlen, nein, ich habe Jon gebten mir einen Vorschuss zu gewähren, damit ich dich mit etwas vollkommen legalem verwöhnen kann!“ Innerlich lachte Kim auf und fragte sich, ob man das Geld eines Piraten tatsächlich als legal ansehen konnte, doch für den Verkäufer des Ladens, in dem Leo das Öl gekauft haben mochte, war Geld Geld und für ihn spielte es wahrscheinlich nicht die geringste Rolle, ob dieses nun von einem Reichen, einem Armen, einem Gesetzeshüter, oder einem Gesetzesbrecher, wie einem Piraten kam. Leo liebkoste noch einmal zärtlich ihren Nacken und öffnete dann die kleine Flasche, damit er beginnen konnte, Kim zu massieren. Sie fragte sich, wo er das gelernt hatte und genoss die Fingerfertigkeit ihres Freundes. Als dieser fertig war und sie vergnügt in die Seite zwickte, bis sie kicherte, drehte sie sich um und sagte ihm, dass er sich nun seines Hemdes entledigen und sich auf den Bauch legen solle. Erst wehrte Leo das Angebot entschieden ab, ließ sich dann aber doch überreden. Diesmal nahm sie auch nicht neben ihm Platz, sondern setzte sich keck auf ihn. Nach all der Anstrengung der letzten Tagen und Wochen konnte er sich ein paar mal nicht bremsen und stöhnte leise auf, als wäre Kim so gut wie eine ausgebildete Masseurin. Als auch sie endete, stand sie nicht auf, sondern legte sich, mit der blanken Brust, auf seinen Rücken und genoss die Vertrautheit zwischen ihnen. Sie wusste, dass Leo niemals etwas tun würde, was sie nicht auch wollte und steigerte sich in ihre Gedanken an Leo und vergaß alles, was am heutigen Tag vorgefallen war. Kim wachte auf. Der Morgen graute gerade und sie spürte Leos Arm um sie gelegt und wollte gerade wieder einschlafen, da fiel ihr wieder ihre Mutter ein und ihre Schwester, die sie unter Garantie wecken würde und sie mit solch einer Situation noch lange aufziehen würde und drehte sich sachte zu Leo um. Sie gab ihm ein Küsschen auf die Lippen und auch er erwachte. Er sah sich um und erkannte, dass er nicht auf Jons Schiff war, sondern noch immer in Kims Zimmer. Erschrocken setzte er sich auf und sah Kim fragend an. Diese konnte sich auch nur denken, dass sie wohl beide eingeschlafen sein mussten, denn sonst würde er wohl kaum so erschrocken auf die Uhr starren, die auf Kims Nachttisch stand und verriet, dass es bereits kurz vor sechs war. Wie von der Tarantel gestochen, sprang Leo aus dem Bett und schnappte sich sein Hemd, um rasch in es hineinzuschlüpfen. Kim stand ebenfalls auf und ging, in die Bettdecke gehüllt in die Mitte des Raums, um ihr Oberteil aufzuheben, das noch immer dort lag. Sie hob es auf und warf es sich über. Im nächsten Augenblick stand Leo vor ihr und knöpfte es ihr liebevoll zu. Nachdem er damit fertig war, legte er ihr den Finger auf die Lippen und sagte leise: „Sag aber nichts darüber zu Jon, Jack, Garret, oder anderen, denn Gerüchte verbreiten sich schnell, wie ich dir gestern schon erklärt habe.“ Kim nickte nur stumm und fasste seine Hand mit ihren. Als Leo sich mit einem zärtlichen Kuss verabschiedete und davonlief, fühlte sich Kim, als könnte an diesem Tag rein gar nichts verkehrt laufen, doch wie sehr sie sich irrte, musste sie später schmerzhaft feststellen. Als sie in der Schule ankam, sah sie schon die anderen tuscheln und immer wieder zu ihr herüber schauen, doch anfangs dachte sie sich nichts dabei, da sie sich schon gedacht hatte, dass Jackie und Cécile irgendein Gerede in die Welt setzen würden. Doch als zu einer der tuschelnden Gruppen ihrer Klasse ging und sie fragte, was es denn zu Flüstern gäbe, trat eines der Mädchen vor und fauchte sie an: „Hau bloß ab! Schlampen können wir nicht leiden und wir reden auch nicht mit ihnen!“ Kim stand da wie erstarrt. Langsam begann sie sich doch zu fragen, was die Beiden erzählt hatten und schaute sich um. Die Jungs blickten sie anzüglich an und die Mädchen schienen sie mit ihren Blicken wie mit Speeren durchbohren wollen. Sie suchte nach ihren beiden Peinigerinnen und fand diese mit Neil sprechend auf einem der langen Flure stehen. Hastig lief sie auf die drei zu und zog Neil grob beiseite, um ihn dann beunruhigt zu warnen: „Neil, glaub ihnen kein Wort, die sind nur sauer auf mich, weil ich mich für Leo und nicht für sie entschieden habe und jetzt erzählen sie überall ihre Märchen über mich.“ Mit einer angewiderten Miene befreite sich Neil aus ihrem Griff, wünschte Cécile und Jackie einen guten Tag und ignorierte Kims Anwesenheit. Diese fragte sich langsam, was die Beiden in die Welt gesetzt hatten und stellte sie zur Rede: „Was habt ihr denn über mich erzählt, dass die Jungen mich anstarren, als würden sie mich am liebsten hinter die nächste Ecke schleifen und die Mädchen versuchen, mich mit ihren Blicken zu töten?“ „Wir haben ihnen nur die Wahrheit über dein Leben als Hure bei den Piraten erzählt.“, erklärte Cécile hämisch grinsend. Mit offenem Mund starrte Kim von der Einen zur Anderen. Jackie schien sich sichtlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen, doch Cécile wollte den Moment Kim eins reinzuwürgen in vollen Zügen genießen und sie fügte hinzu: „Und Neil haben wir über deinen Seitensprung zu Mikaël aufgeklärt, der Arme wusste gar nicht, wo ihm der Kopf stand. Du solltest dich mal was schämen!“ Mit diesen Worten ließen sie die Beiden im Gang stehen und kehrten in ihr Klassenzimmer zurück. Nach einer Weile folgte Kim ihnen unter dem Geläut der Schulglocke. Schon in den ersten beiden Stunden war es Kim nicht leicht gefallen, die Blicke der anderen zu ignorieren, doch jetzt, da sie wusste, was die Blicke zu bedeuten hatten, wurde es nahezu unerträglich. Als in der großen Pause auch noch die Jungen in den Stufen über ihr versuchten mit ihr zu kokettieren und nahezu alle Mädchen mit dem Finger auf sie zeigten, rastete sie völlig aus und rannte vom Schulgelände, hinab durch die Straßen und Gassen des Dorfes. Hinab, auf das Schiff, das von Männern bewohnt wurde, von denen es hieß, sie wären mit dem Teufel im Bunde, doch in diesem Augenblick kam es Kim eher vor, als wäre sie gerade aus der Hölle entflohen. Sie rannte hinab, bis sie keuchend vor dem Schiff stehen blieb, das auf den französischen Namen Vengeance getauft war. Wie blind vor Verzweiflung stürzte sie an Bord und fragte den ersten Piraten, der ihren Weg kreuzte, wo sich Leo befände. Später konnte sie nicht mehr sagen, wer es ihr gesagt hatte, doch sie stolperte auf das Achterdeck, auf dem Leo gegen das Steuerrad gelehnt, Garret gegenüber, dasaß und sich fragend zu ihr umdrehte, als Garret plötzlich aufhörte zu reden und sie anstarrte wie einen Geist. Bei ihrem Anblick wurde Leo ein wenig mulmig zumute, denn Kims Gesicht spiegelte die verschiedensten Gefühle wieder. In ihren Augen flackerten Demütigung und gleichzeitig Zorn. Ihre Wangen waren wie vor Scham errötet und ihre Lippen bebten vor Erbitterung. Leo sprang auf und lief ihr entgegen. Etwas verwirrt nahm er sie in den Arm und fragte, was los sei. Kim konnte jedoch nicht antworten, da sie versuchte den Kloß in ihrem Hals, der immer größer wurde und bald drohte sie zu ersticken, zu schlucken. Sie schloss die Augen, damit Leo nicht sah, dass ihr Tränen in den Augen standen, öffnete sie jedoch gleich wieder, da die Stimmen die in ihrem Kopf nachhallten und sie als Hure, Dirne, Metze, und dergleichen beschimpften immer lauter wurden und auch die Bilder der auf sie gerichteten Finger immer klarer wurden. Als die von Leo erhoffte Antwort ausblieb, sah er sich Hilfe suchend nach Garret um, aber der zuckte auch nur mit den Achseln. Kim sog den ihr wohlbekannten Duft ein und spürte nun stärker denn je ihre Verbindung zu Leo, denn er zwang sie nicht irgendetwas zu sagen, sondern würde warten, bis sie von selbst mit ihm reden würde, da er spürte, dass etwas bedeutendes geschehen sein musste. Einige Zeit saßen sie mit dem Rücken zur Rehling nebeneinander. Kim hatte die Arme um die eng angezogenen Beine geschlungen und die Stirn auf die Knie gestützt. Er merkte immer stärker, wie minderwertig Kim sich fühlte, als mehr und mehr Piraten von den Nächten sprachen, die Leo in ihrem Zimmer verbracht hatte, und sich wilde Geschichten dazu an den Haaren herbeizogen. Endlich sprang er wutentbrannt auf und funkelte die Redenden zähneknirschend an. Dann brüllte er: „Jetzt hört mal gut zu, ihr verlaustes Pack! Ich habe nicht mit Kim geschlafen! Weder in einer dieser Nächte, noch irgendwann sonst. Und jetzt hört endlich auf Maulaffen zu halten und schert euch zum Teufel!“ Zuerst etwas entgeistert, dann aber belustigt, schauten die Mitglieder der Crew ihn an und zogen lachend von dannen, um sich anderen interessanten Themen zu widmen. Kim blickte erstaunt auf. Männer, insbesondere die Piraten, ließen es sich doch sonst nie nehmen, mit ihren Romanzen zu prahlen; hatte er sich nur für sie zum Gespött der anderen gemacht? Denn unter den Piraten hing das Ansehen auch von Sachen wie diesen ab. Ärgerlich setzte er sich wieder neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. So saßen sie da, bis Leo das Wort ergriff: „Sag mal, Kim, solltest du nicht bald mal nach Hause?“ „Warum sollte ich dahin? Ich hasse meine Mutter, meine Geschwister ziehen mich auch wieder nur auf und Vater wird ausrasten, wenn er mitbekommt, dass ich heute den halben Tag geschwänzt habe.“ „Aber du musst noch deine Sachen packen, schließlich müssen wir morgen ziemlich früh los, Jon hat nämlich keine Lust auf irgendwelche peinlichen Fragen des Hafenmeisters.“ „Ach so.“ Verärgert stand sie auf. „Willst du mich loswerden? Wenn du keine Lust hast, bei mir zu sein, musst du es nur zu sagen, bei meinem momentanen Lebensstand würde das auch keinen großen Unterschied mehr machen. Aber wenn dann wenigstens einer von uns glücklich ist, dann gehe ich eben!“ Auch Leo erhob sich und fuhr sie an: „Also jetzt mach aber mal einen Punkt! Ich habe doch kein Sterbenswörtchen davon gesagt, dass du gehen musst. Wenn du keine Frische Kleidung oder ähnliches brauchst, kannst du ja hier bleiben, aber ich vermute mal, dass du hin und wieder gerne etwas trägst, was noch nicht vollkommen nach Salz und Fisch und Rum stinkt!“ Kim giftete zurück: „Du und deine faulen Ausreden! Warum kannst du mir nicht einfach ins Gesicht sagen, dass ich verschwinden soll?!“ „Sag mal, spinnst du jetzt, oder was ist los? Ich will doch gar nicht, dass du verschwindest, ich will dich lediglich auf den kommenden Monat vorbereiten!“ „Du willst mich vorbereiten? Ich habe auch schon fast drei Monate an Bord der Vengeance hinter mir und die habe ich auch ohne Vorbereitung überstanden! Und wenn du mich wirklich vorbereiten wolltest, könntest du dich ruhig mal mehr ins Zeug legen!“ „Was willst du eigentlich von mir? Reicht es dir nicht, dass ich mich vor der ganzen Mannschaft zum Gespött mache und das nur wegen dir?“ „Darum hat dich ja wohl keiner gebeten, oder?“ „Oh nein, weil sich die Dame ja zu fein ist, mit mir zu reden!“ „Von meinen Problemen hat der gemeine Pöbel doch sowieso keine Ahnung! Du hast noch nicht einmal eine Schulbildung und deine Manieren sind auch recht notdürftig, eigentlich hat meine Mutter fast Recht, über so einen Unterschied kann man nicht einfach hinwegsehen! Und die ganzen Probleme habe ich auch nur wegen dir! Im Prinzip bist du die Wurzel meines Übels, ohne dich hätte ich weder Streit mit meiner Mutter, noch mit Cécile und Jackie!“ Wutentbrannt starrte er sie an, erwiderte nichts mehr, wandte sich ab und ging wieder zu Garret, der gerade mit ein paar anderen Piraten würfelte. Kim atmete tief durch. Nein, sie hatte nicht übertrieben! Oder doch? Auf einmal war sie sich nicht mehr sicher, ob sie im Recht war. Sie hatte ihm die Schuld an allem gegeben. Aber er hatte ihr doch nur die Wahrheit gezeigt, ihr die Augen geöffnet. Und er war immer für sie da gewesen. Langsam ging sie auf in zu und schlang ihre Arme um ihn. Dann flüsterte sie: „Es tut mir Leid, du bist nicht schuld an alledem. Verzeihst du mir?“ Die Antwort fiel aus und Kim fragte zögerlich: „Leo? Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“ „Ja.“ „Aber warum antwortest du mir dann nicht?“ „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Verwirrt lachte sie auf und gab Leo ein Küsschen auf die Wange. Er reagierte nicht. Noch zerstreuter fragte sie: „Was hast du denn? Ich habe mich doch entschuldigt.“ Er drehte sich nicht zu ihr um, sondern sagte in einem Tonfall, wie Leo noch nie mit ihr gesprochen hatte: „Warum bist du immer so Naiv? Du läufst durch die Welt und denkst, du könntest alles was du getan hast mit einer Entschuldigung rückgängig machen, aber ich habe keine Lust mehr. Ich hab die Schnauze voll, mir reicht es. Überleg dir vielleicht mal früher, was du sagst, bevor du Menschen verletzt, denn manchmal kann man es nicht mehr rückgängig machen.“ Sie konnte und wollte nicht fassen, was er da gerade sagte. Die Kälte in seiner Stimme ließ sie frösteln. Sie nahm ihre Arme von ihm und ging langsam von Deck. Auf dem Weg nach Hause konnte sie nicht anders. Sie lachte und lachte und konnte gar nicht mehr aufhören. Wie konnte ein einzelner Mensch nur so dumm sein? Mit ein paar Sätzen hatte sie den Menschen verloren, den sie am meisten liebte und der ihr immer beiseite gestanden war, wenn es ihr nicht gut ging. Er hatte sich all ihre Probleme angehört und sie getröstet. Er hatte ja Recht. Sie sollte beginnen, darüber nachzudenken, was sie sagte. Warum hatte sie ihm denn nicht erzählen können, was vorgefallen war? Schließlich hatte er ihr sonst immer Mut gegeben. Und er hatte sich wirklich für sie zum Gespött der Mannschaft gemacht. Aber was hatte sie jemals für ihn getan? Die ganze Zeit hatte sie etwas verlangt und immer und immer mehr, doch hatte sie nie etwas dafür getan. Eigentlich geschah es ihr ganz recht, dass Leo ihr nicht verzieh. Sie hätte sich selbst auch nicht verziehen. Als sie zu Hause ankam, beachtete sie die Schimpfkanonaden ihrer Mutter nicht, sondern ging auf ihr Zimmer und begann eine Tasche mit Kleidung zu packen, doch schon bald stellte sie sich die Frage, ob sie überhaupt mitfahren sollte. Den ganzen Nachmittag saß sie unschlüssig auf ihrem Bett, bis ihre Mutter zum Abendessen rief. Manu und Sally wussten, dass Kim am nächsten Morgen schon nicht mehr da sein würde und starrten betrübt auf ihre Teller. Auch Kim musste sich zwingen etwas von dem Essen herunterzuwürgen, denn sonst hätte ihre Mutter nie Ruhe gegeben. Als Kim gerade wieder in ihr Zimmer wollte, kamen ihre Geschwister auf sie zu und Sally umarmte sie mit Tränen in den Augen. Auch Manuel nahm sie in den Arm. Er flüsterte ihr noch ein „Schlaf gut“ zu und auch die Beiden verschwanden in ihren Zimmern. Kim hatte sich jetzt allerdings entschlossen. Sie würde hier bleiben. Die Tasche würde sie am nächsten Morgen wieder versorgen, doch jetzt warf sie sich auf ihr Bett und schlief. Ein heftiges Klopfen weckte sie. Verschlafen richtete sie sich auf und horchte, woher das Klopfen kam. Es war eindeutig die Balkontür. War Leo etwa gekommen, um sich mit ihr zu versöhnen? Sie sprang auf und riss die Vorhänge zur Seite, doch sie sah nicht wie erhofft Leo, sondern Garret. Als sie die Tür öffnete flüsterte er: „Na los, beeil dich, wir müssen gleich los!“ „Ich komme nicht mit.“ „Du tust was?“ „Ich komme nicht mit.“ „Jetzt rede doch keinen Unsinn! Nur wegen eines kleinen Streits mit Leo! Ihr müsst euch auch gerade heute in die Haare kriegen!“ Genervt musterte er sie. Als sie sich nicht rührte, ließ er seinen Blick durchs Zimmer schweifen und erblickte die gepackte Tasche. Ohne zu zögern nahm er sie, warf sich Kim über die Schulter und marschierte los. Die Tasche warf er über das Geländer und kletterte selbst am Blumengitter herab. Als sie auf dem Schiff ankamen, musterten die anderen Piraten sie neugierig. Nur Leo schaute demonstrativ weg. Kim wurde auf einmal noch wütender auf Garret. Vielleicht würde Leo jetzt etwas Falsches denken. Er kam weder um sie zu begrüßen, noch um sich mit ihr auszusprechen. Sie würde auf keinen Fall zu ihm gehen, schließlich hatte sie sich doch schon entschuldigt und nur wegen seines Sturkopfes fühlte sie sich jetzt noch schlechter als zuvor. Da die Aufgaben schon verteilt worden waren, schaute sie, wo man noch jemanden brauchen konnte und begann mitzuhelfen den Besan zu hissen. Leo war am Bug mit den Klüvern beschäftigt. Immer wieder ließ sie ihren Blick zu ihm wandern, doch umsonst, sie schien ihn nicht mehr zu interessieren. Und mehr als einmal wurde sie gescholten, gefälligst auf das Tempo der Anderen zu achten und nicht selbstvergessen über das Deck starrend dazustehen. Als sie endlich fertig waren, wurde sie dazu verdonnert die langen Enden der Seile ordnungsgemäß zu versorgen. Damit ließ sie sich viel Zeit und legte ordentliche Kreise, damit sie nicht auch noch beim Hauptmast mithelfen musste. Kim fragte sich, warum sie überhaupt half, schließlich wollte sie doch gar nicht da bleiben. Gerade als sie den letzten Kreis noch einmal machen wollte, weil er nicht absolut perfekt aussah, kam Terry zu ihr hinüber und schnauzte sie an: „Was machst du hier eigentlich? Drüben beim Hauptmast hätten wir noch eine helfende Hand brauchen können und was machst du? Legst hier Kreise, die beim nächsten Manöver sowieso wieder abgeschossen werden! Jetzt sind wir schon halb auf See und du machst immer noch mit den Seilen rum, häng das dumme Ding auf und mach dich das nächste Mal gefälligst nützlich!“ Sie waren schon halb auf See? Tatsache. Kim rannte aufs Achterdeck und sah zurück auf die noch im Schlaf liegende Stadt. Wollte sie tatsächlich dort bleiben, oder hatte sie nur Angst gehabt, Leo unter die Augen zu treten. Sie musste zugeben, dass letzteres der Fall war, denn vermissen würde sie niemanden richtig, bis auf ihre Familie. Das Schiff entfernte sich immer weiter vom Ufer und Kim wurde schweren Herzens bewusst, dass das, was sie verließ, nicht ihre Heimat war. Nun die versprochene gute Nachricht: Ab dem nächsten Kapitel geht's Bergauf =D Na? Freut ihr euch jetzt? Mit Bergauf meine ich natürlich es kommen nicht mehr ganz so unrealistische Dinge wie Duschen oder Hotels vor und auch mein Stil wird ab dem dritten Kapitel besser. :D Und es kommt ein neuer Charakter vor, den ihr hoffentlich alle... hassen... werdet? Naja, bei genauerem Betrachten treten 'ne Menge unbekannte Charaktere auf, aber das dritte ist auch das längste Kapitel =) LG, Terrormopf^^ Kapitel 3: Afrika ----------------- Sooo~oo Nach langer, langer Zeit lade ich nun endlich das dritte und auch längste Kapitel dieser Geschichte hoch. Immerhin 73 Word-Seiten oÔ Ab hier geht es langsam Berg auf (ich weiß, das verspreche ich euch jedes Kapitel >__>") Ich hoffe, dass es euch gefällt =) Sie waren nun schon zwei Wochen auf See. Bisher hatte es keine größeren Probleme mit dem Wetter gegeben und die Mannschaft hoffte, dass es auch so blieb. Sie hatten nicht sonderlich viel zu tun und so lagen sie wie immer faul an Deck, spielten, sangen, oder lachten. Mit Jon verstand sich Kim wieder gut, Laffite redete fast ausschließlich französisch mit ihr und auch mit dem Rest der Mannschaft kam sie immer besser klar. Mit der ganzen Crew? Nein. Die Stimmung zwischen Leo und ihr war nach wie vor eisig, was sehr an ihren Nerven zerrte. Jedes Mal, wenn er grußlos an ihr vorbeiging, sie mit einem kalten Blick bedachte, sie ignorierte, wenn sie sich zu ihm setzte, war es ein erneuter Schwertstich in ihr Herz. Er schien es zu drehen, bis sie an den Qualen zu erstickten drohte. Und das sollte sich nicht ändern, bis sie in einem kleinen Piratennest an der westafrikanischen Küste landeten. Da das Wetter tatsächlich nicht schlechter geworden war, wollten sie sich hier erst einmal ein paar Tage erholen, bis sie im Handelsdreieck eines der Handelsschiffe kapern würden. Kim saß mit Garret, Terry, Jack, Leo und Jon in einer Spelunke und trank ein Glas Rum. Noch immer schenkte Leo Kim keinerlei Beachtung. So verabschiedete sie sich von den Piraten und verließ die stickige Bar. Angebote, sie zum Schiff zu begleiten hatte sie abgelehnt, doch trotzdem beeilte sie sich, da die dunklen Straßen und Gassen jedem betrunkenen Seeräuber Schutz darboten. Während sie durch eine der dunklen und recht engen Gassen lief, konnte sie hinter sich Schritte vernehmen. Sie beeilte sich, doch spürte sie schon nach einigen Schritten eine Hand auf der Schulter. Langsam drehte sie sich um und sah einem stämmigen Piraten ins Gesicht. Als er den Mund öffnete und sie angrinste, konnte sie die starke Fahne riechen, dann fragte er: „Bist du neu hier? Ich habe dich noch nie hier gesehen, aber glaub mir, wenn ich gewusst hätte, dass es hier so ein Sahneschnittchen gibt, hätte ich dich schon viel früher aufgesucht, wie viel willst du denn?“ „Lass mich in Ruhe, du besoffener Quadratschädel!“ „Oh, so widerspenstig? Das gefällt mir! Also, nun sag schon, was du verlangst.“ Hinter ihm ertönte Leos Stimme, die leise, aber bestimmt sagte: „Lass sie in Ruhe, die gehört mir!“ Erleichtert atmete Kim auf, doch der Fremde drehte sich zu Leo um und donnerte: „Scher dich zum Teufel, ich hab sie zuerst gesehen und so ein Wurm wie du kann sie doch eh nicht befriedigen!“ Leo ging nicht auf die Provokation ein, sondern schob sich an ihm vorbei, packte Kim am Arm und rief dem Betrunkenen beim Gehen zu: „So besoffen wie du bist, kriegst du heute ohnehin keinen mehr hoch, also lass die Befriedigung der Kleinen mal meine Sorge sein!“ Als sie außer Hörweite waren, fiel Kim Leo um den Hals und seufzte: „Ach Leo, was hätte ich nur ohne dich gemacht? Ich bin so froh, dass du mir gefolgt bist! Hast du dir etwa Sorgen gemacht?“ Leo schob sie jedoch von sich weg und erwiderte monoton: „Ich hab nur beim Auslosen verloren, glaub nicht, dass ich dir freiwillig gefolgt bin, aber die anderen haben sich Sorgen gemacht.“ Ihr Gang verlangsamte sich und sie ging einige Meter hinter Leo her. Hatte er sich denn gar nicht um sie gesorgt? War es ihm egal, was mit ihr geschah? Sie kämpfte mit den Tränen und stellte sich erneut die Frage, die sie sich in letzter Zeit immer häufiger stellte: Liebte er sie gar kein Bisschen mehr? Auf dem Schiff angekommen ging sie schnurstracks in ihre Koje, warf sich auf ihr Bett und überlegte, wie sie Leos Herz wiedergewinnen konnte. Als sie erwachte, war es noch recht früh am Morgen, die Sonne war noch nicht aufgegangen, es graute noch nicht einmal. Leise stand sie auf und schlich sich durch den Bauch des Schiffes zu Jons Kajüte. Sie öffnete vorsichtig die Türe und steckte den Kopf hindurch, um zu sehen, ob er noch schlief. Der Dunkelheit halber konnte sie allerdings nichts erkennen. So ging sie auf Zehenspitzen zu seinem Bett und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Als sie seine gleichmäßigen Atemzüge vernahm, seufzte sie trübsinnig und ging wieder zur Tür, doch gerade, als sie sie öffnen wollte, spürte sie, wie sich ein Arm um ihre Brust legte und eine kalte Klinge an ihren Hals gehalten wurde. Sie schluckte und Jon zischte ihr ins Ohr: „Wer bist du und was machst du zu dieser Unzeit in meiner Koje?“ Schwer atmend erwiderte sie: „Jon, ich bin’s! Lass mich los!“ Wie von der Tarantel gestochen ließ er Kim los und sie rang nach Luft. Dann stammelte er: „Es, es tut mir Leid, ich wollte dich nicht bedrohen, aber man weiß ja nie, wem man so begegnet und was machst du eigentlich in meiner Kajüte um diese Zeit?“ Kim fasste sich an die Stelle, wo Jon sein Messer platziert hatte und stellte erschrocken fest, dass ein dünnes Rinnsal Blut ihren Hals entlanglief. Sie versuchte den Kloß in ihrem Hals zu schlucken und sagte: „Ich wollte nur mit dir reden, aber du hast Recht, es ist wohl wirklich noch etwas früh…“ „Jetzt bin ich sowieso schon wach, also, was liegt dir auf dem Herzen, Kleines?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zu einem Schrank, nahm eine Packung mit Streichhölzern heraus und zündete eine Petroleumlampe an. Diese stellte er auf einen Tisch, an dem zwei Stühle standen. Er setzte sich auf einen und bot Kim den anderen an. Sie hockte sich mit angezogenen Beinen darauf und sagte: „Danke, dass ihr euch gestern Sorgen gemacht habt und Leo losgeschickt habt, um mich zu schützen, wäre er nicht da gewesen, wäre ich heute ganz bestimmt nicht hier und…“ „Warte“, unterbrach er sie barsch. „Was erzählst du denn da? Wir haben Leo doch gar nicht losgeschickt. Als du gegangen bist, saß er wie auf glühenden Kohlen und als er kurz davor war, auszurasten, hat er ausgetrunken, das Geld förmlich auf den Tisch geworfen und ist dir nachgelaufen. Keiner von uns hat ihn dazu gedrängt.“ Kim war sprachlos. Liebte Leo sie etwa doch noch? Gewiss, denn sonst wäre er ihr sicher nicht hinterhergelaufen. Jon musterte sie fragend und erkundigte sich: „Was hat er dir denn gesagt?“ „Das ist doch jetzt egal, aber sag mal Jon, wieso ignoriert Leo mich eigentlich die ganze Zeit?“ „Er will lediglich, dass du dich bei ihm entschuldigst.“ „Aber das habe ich doch schon getan!“, rief sie empört. Jon legte einen Finger an die Lippen und raunte: „Scht! Sei doch leise, oder willst du die ganze Mannschaft aufwecken?“ „Oh, Entschuldigung.“ „Und jetzt noch mal etwas leiser. Hast du es denn da auch wirklich ernst gemeint?“ Kim dachte einen Moment nach. Natürlich hatte sie es ernst gemeint, aber vielleicht war es nicht so rübergekommen. Entrüstet fragte sie: „Aber wie soll ich mich denn so entschuldigen, dass er mir glaubt?“ „Vielleicht überraschst du ihn mal mit einem netten Frühstück am Bett?“ Das war eine Idee! Sie bedankte sich bei Jon und ging, nun etwas leichter ums Herz, in Richtung Kombüse. Als sie fertig war, graute bereits der Morgen. Sie stellte alles auf ein Tablett und balancierte es in Leos Koje. Sie rüttelte ihn sanft, bis er aufwachte und sie verschlafen anblinzelte. Als er sie erkannte, setzte er wieder seinen gleichgültigen Blick auf und fragte: „Was willst du denn hier?“ Etwas verunsichert entgegnete sie: „Ich wollte dir das Frühstück bringen, ich habe es selbst gemacht.“ „Toll.“ Noch unsicherer fuhr sie fort: „Aber ich wollte mich noch einmal bei dir entschuldigen, es tut mir so unendlich Leid, bitte glaube mir, ich habe Unsinn dahergeredet! Bitte verzeih mir!“ Als er sie immer noch gefühllos ansah, warf sie sich auf die Knie, nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange, über die nun dicke, heiße Tränen kullerten. Hemmungslos schluchzte sie: „Leo, ich bitte dich! Hast du mich nicht schon genug gestraft? Ich halte das nicht mehr aus! Verzeih mir, was muss ich denn tun, damit du mir glaubst, dass ich es ernst meine? Ich kann nicht mehr, bitte sag irgendwas. Irgendetwas!“ Als er die Verzweiflung in Kims Augen sehen konnte und auch die Tränen die Haut seiner Hand benetzten, erwärmte sich sein Blick. Er zog sie an sich und umarmte sie. Beruhigend sagte er: „Ganz ruhig, es ist ja alles gut. Ich habe dich doch die ganze Zeit über geliebt!“ „Leo, ich hatte solche Angst! Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, dass du mich noch liebst, denn in einem Monat lebt man sich auseinander!“ Er lachte auf, küsste sie auf den Mund und flüsterte: „Kim, du bist und bleibst ein verrücktes Huhn! Wie willst du dich denn auf einem Schiff auseinander leben?“ Doch gleich wurde er wieder ernst und sagte: „Es tut mir Leid, dass ich dich so sehr verletzt habe, das hatte ich nicht beabsichtigt…“ Kim hielt ihm den Mund zu und flüsterte: „Solange du mich liebst ist mir das egal und vielleicht hatte ich es auch verdient.“ Sie zog ihn noch näher an sich und küsste ihn, doch er löste sich schnell wieder von ihr und brachte sie dazu sich auf den Rücken zu legen und wie so oft setzte er sich auf sie. Dann begann er wieder sie leidenschaftlich zu küssen, doch bei einem Kuss sollte es diesmal nicht bleiben. Als sie Händchen haltend an Deck kamen, waren kaum Piraten anwesend. Da die meisten von ihnen noch bis spät in die Nacht in Spelunken gewesen waren, oder bestimmte Häuser aufgesucht hatten, schliefen sie noch, doch die Piraten die da waren, schauten ihnen etwas verwirrt nach, weil sie wie ein frisch verliebtes Paar aussahen. Sie hatten vor, sich in der Stadt ein bisschen die Beine zu vertreten. Die Straßen waren weitgehend leer, bis auf einige Alkoholleichen, die im Schatten der Häuser schliefen. Kim sah gerade angewidert auf einen dieser Männer hinab, da stieß sie mit jemandem zusammen. Durch den Zusammenstoß fiel sie hart zu Boden und rieb sich den schmerzenden Hintern, während sie sich von Leo aufhelfen ließ. Gerade wollte sie sich entschuldigen, da wetterte die äußerst junge Frau schon: „Du dummes Ding, kannst du nicht aufpassen? Deinetwegen bin ich jetzt ganz nass und muss noch einmal zum Brunnen laufen! Und mein Chef wird mich auch noch schelten, weil ich zu spät komme! Pass gefälligst das nächste Mal auf, wo du hintrittst du blöde Gans!“ Kim schnappte nach Luft und musste die Strafpredigt erst mal verdauen, bis sie antworten konnte, doch die Frau hatte Leo schon eindringlich gemustert und fragte zögerlich: „Leonard? Bist du es?“ Leo und Kim sahen die Fremde gleichsam verwirrt an und Leo antwortete: „Also, ich heiße schon Leonard, aber wer bist du?“ Sie stieß einen spitzen Schrei aus, packte Leo an den Händen, sprang auf und ab und rief: „Leonard, erinnerst du dich denn nicht? Ich bin es, Kathleen! Ist wirklich schon ein Jahr vergangen, seit wir nicht mehr zusammen sind?“ Der angesprochene stierte sie mit großen Augen an und setzte zur Gegenfrage an: „Was machst du denn hier, Kathleen? Hast du nicht in New Providence gearbeitet?“ Kathleen wollte ihm gerade um den Hals fallen, da legte Kim ihren Arm um Leos Hüfte und sagte: „Hallo, Kathleen. Ich bin Kim, Leos Freundin, nett dich kennen zu lernen.“ Kathleen ließ von ihrem Vorhaben ab, sondern musterte Kim ein zweites Mal abwertend und erwiderte, sich nicht sonderlich bemühend die Abgeneigtheit zu verbergen: „Hallo, ich bin auch hoch erfreut.“ Leo, die Hassgamma-Strahlen spürend, lachte etwas verlegen auf und bot Kathleen, zu Kims Verärgerung, an, ihr mit dem Wasser zu helfen. Kathleen nahm dankend an und bedachte Kim mit einem süffisanten Grinsen, als Leo gerade nicht hinsah. Auf dem ganzen Weg zum Brunnen und zu dem Haus, in dem sie lebte, redeten sie und er über die Zeit, in der sie den Anderen nicht gesehen hatten. Als sie an dem Haus ankamen, blieb Kim entgeistert davor stehen und ihr wurde bewusst, dass Kathleen dem Gewerbe der Hurerei nachging. Aber als Leo das nicht beachtete und arglos in das Gebäude trat, gab Kim sich einen Ruck und ging ihm hinterher. Kathleen war höchstens zwei, drei Jahre älter als sie. Drinnen wartete sie, bis Leo und Kathleen die Eimer in der Küche abgegeben hatten und folgte Kathleen dann eine kleine Treppe hinauf, bis sie vor einer Holztür standen. Sie ergriff misstrauisch Leos Hand. Dieser lächelte ihr zu und trat direkt nach Kathleen in einen kleinen Raum ein. Drinnen befanden sich nur ein Tisch mit zwei Stühlen, die vor einem kleinen Fenster standen, und ein Bett. Kathleen ging auf den Tisch zu, setzte sich auf einen der beiden Stühle, bot Leo den anderen an und sagte an Kim gewandt: „Kim, ich habe leider nur zwei Stühle, wie du siehst, aber du kannst dich ja aufs Bett setzten.“ Die angesprochene sog scharf die Luft ein und Leo sagte hastig: „Ach was, sie kann sich ja auf meinen Schoß setzten.“ Etwas gezügelter setzte sie sich dann auf Leos Schoß und er umfasste ihren Bauch. Kathleen zermaterte Kim förmlich mit ihrem Blick, da sie doch eigentlich wollte, dass dieses kleine Miststück so weit weg von Leo war, wie möglich und sie jetzt noch viel näher an ihm war. Eine Weile herrschte eiserne Stille, bis Kathleen gezwungen lächelnd fragte: „Soso, ihr seid also zusammen? Wie habt ihr euch denn kennen gelernt?“ Leo erzählte ihr, dass sie Kim entführt hatten und sie dann an Silvester zusammengekommen waren. Einige Details ließ er allerdings aus und Kim glaubte, dass er das ganz bewusst tat. Kathleen sah ihn etwas mitleidig an und erwiderte: „Ach ja, weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben? Damals warst du noch so unschuldig und ich war knapp ein halbes Jahr im Geschäft, du hattest etwas zu tief ins Glas geschaut und ich hab dich mit zu mir genommen. In den paar Monaten hab ich dir ja ne Menge beigebracht, würde mich interessieren, ob du noch alles weißt…“ Verführerisch lächelte sie ihn an und Leo errötete leicht. Kim, die sich etwas vergessen vorkam meldete sich nun auch zu Wort: „Kathleen, es war schön, dich kennen zu lernen, aber wir sollten jetzt wieder aufs Schiff zurück, ich habe nämlich einen Bärenhunger.“ „Na wenn das so ist, dann esst doch hier mit mir.“ „Aber wir haben gar kein Geld dabei.“, versuchte Kim sich rauszureden, jedoch ohne Erfolg, denn Kathleen erwiderte: „Ach iwo! Ich lade euch ein, seit ich hier bin, habe ich nämlich fast doppelt so viele Freier, wie die anderen, mit steigender Tendenz, da wird der Chef mal zwei Essen mehr springen lassen können.“ Etwas missmutig musste Kim sich eingestehen, dass sie diese Tatsache nicht weiter wunderte, denn im Gegensatz zu den anderen Lebedamen hier, war Kathleen eine wahre Schönheit mit ihren außergewöhnlich Aschblonden, langen glatten Haaren, den strahlend grünen Augen und schwungvoll geformten Lippen. Aber ganz besonders war Kim Kathleens Hüfte aufgefallen, was würde sie dafür geben, eine solche Taille zu haben, stattdessen hatte sie relativ kleine Hüften. Die anderen Huren hatten meist krauses schwarzes Haar, waren etwas zu wohlgenährt und sie wirkten oftmals noch ein halbes Jahrzehnt älter, als sie es eigentlich waren. Nervös fingerte Kim an Leos Hand herum. Sie saßen nun schon den ganzen Tag in diesem stickigen Stübchen herum und Kathleen war damit beschäftigt, Leo zu umgarnen und Kim giftige Blicke zuzuwerfen. Zu Kims Erleichterung streckte der Wirt den Kopf durch die Tür und sagte energisch: „Kathleen, unten warten zahlende Kunden!“ Das Wort zahlende betonte er besonders. Die Angesprochene rollte mit den Augen, nickte dann aber und wandte sich an Leo und Kim: „Tut mir Leid, aber ich glaube, ihr müsst jetzt gehen, das Geld verdient sich schließlich nicht von selbst.“ Sie begleitete die Beiden noch bis an den Eingang. Dort reichte sie Kim die Hand und verabschiedete sich von ihr. Leo gegenüber verlief es allerdings ein wenig anders: Sie gab ihm zuerst auch die Hand, zog ihn dann aber an sich, küsste ihn zärtlich auf den Mund. Als er sie nur geschockt anstarrte, lächelte sie, und flüsterte, gerade so laut, dass Kim alles verstehen konnte: „Falls du es leid bist, mit dieser Person zusammen zu sein, mein Bett ist groß genug für zwei Personen.“ Angewidert stieß Leo sie von sich und ging aus der Tür, Kathleen mit keinem weiteren Blick würdigend. Kim folgte ihm auf dem Fuße, doch als sie den Kopf noch einmal zu Kathleen drehte, konnte sie ein selbstgefälliges Grinsen auf deren Lippen erkennen. Eilig lief sie Leo nach, der schon einige Schritte vorausgegangen war und ergriff seine Hand. Freundlich lächelte sie ihn an, doch er stierte starr gerade aus. Als er nichts sagte, ergriff sie selbst das Wort: „Kathleen ist hübsch, nicht? Und sie hat so eine, wie soll ich sagen, gewisse Ausstrahlung.“ Leo stoppte abrupt, sah sie verwirrt an, warf dann aber den Kopf in den Nacken und prustete: „Das ist wirklich dein Ernst! Und ich dachte schon, du willst mich auf den Arm nehmen! Aber sei mal ehrlich, von dem Moment an, seit du mit ihr zusammengestoßen bist, war sie dir zuwider.“ Kim schob die Unterlippe vor und sagte beleidigt: „Gar nicht wahr, sie hat mir nur ein bisschen zu viel mit dir kokettiert, aber hübsch ist sie wirklich. Schau dir doch nur mal ihre Hüften an! Im Gegensatz zu ihr könnte ich glatt als Junge durchgehen!“ Leo musterte sie von oben bis unten und wieder zurück. Schließlich sagte er, sie an sich ziehend: „Also mir gefällt, was ich sehe und mehr will ich nicht.“ Kim kicherte und fragte: „Du willst wirklich nicht mehr, als anschauen?“ „Soll das eine Herausforderung sein?“ „Wer weiß?“ Verführerisch zwinkerte sie ihm zu und wand sich aus seinem Griff, bevor er sie küssen konnte. Sie lief ihm zugewandt die Straße entlang, streckte ihm die Zunge heraus und rief herausfordernd: „Fang mich doch! Wenn du es schaffst, belohne ich dich vielleicht.“ Die Herausforderung annehmend knurrte er: „Na warte!“ und lief ihr nach. Am Hafen kriegte er sie dann doch noch zu fassen, umfasste ihre Taille von hinten und wirbelte sie lachend durch die Luft. Kim quietschte vergnügt, bis er sie wieder absetzte und sie erwartungsvoll anschaute. Als sie sich nicht rührte, fragte er, ihre Hände ergreifend: „Und wo bleibt meine Belohnung?“ Schnippisch antwortete sie: „Hast du etwa das ‚Vielleicht’ nicht gehört?“ „Nein, das muss mir entgangen sein und daher erwarte ich jetzt etwas!“ „Und was schwebt dir da so vor, du großer starker Mann?“ „Alles, wozu du bereit bist…“ „Hm, genau! Ich wüsste da was…“ er trat näher an sie heran und fragte gespannt: „Willst du mir denn nicht sagen, was es ist?“ Kim trat ganz nahe an ihn heran, schaute ihm für einen Moment in die Augen, legte ihre Hände an seine Brust und flüsterte langsam: „Als erstes werde ich dich umarmen. Dann werde ich dich küssen. Und zu guter Letzt:“ Vergnügt hörte sie, wie er schluckte und es gar nicht erwarten konnte zu hören, was als letztes kommen sollte, doch Kim wollte ihn noch etwas zappeln lassen. So knöpfte sie vorsichtig und sehr langsam den obersten Knopf seines Hemdes auf. Dann den zweiten. Als sie gerade mit dem dritten beginnen wollte, hielt er es nicht mehr aus, hielt ihre Hände fest und fragte mit einer nicht sehr sicheren Stimme: „Was machst du als Letztes?“ Sich erbarmend knabberte sie zärtlich an seinen Lippen und beendete dann ihren Satz: „Als letztes, werde ich mit dir zusammen, in deiner Kajüte auf dem Bett … lesen üben!“ Zum zweiten Mal lief sie vor ihm davon und leicht verärgert rannte er ihr nach. Diesmal stellte er sie an Deck. Allerdings mit so viel Schwung, dass sie zu Boden fielen. Noch bevor Kim wegrobben konnte, hockte Leo sich schon auf sie und rief affektiert aufgebracht: „Was soll denn der Mist? Erst machst du mich total heiß und dann so was! Du solltest dich mal was schämen.“ Kim kicherte und erwiderte: „Ich soll mich schämen? Wer sitzt denn hier auf wem in aller Öffentlichkeit?“ Jetzt bemerkte auch er, was für große Augen der Rest der Crew bekam und als er gerade aufspringen wollte, packte Kim ihn am Kragen. Sie zog ihn zu sich runter und lächelte: „Sollen sie doch einen kleinen Einblick bekommen, ein Kuss wird schon keinem schaden.“ Tollkühn schaute er ihr in die Augen und begann ohne irgendetwas zu erwidern sie leidenschaftlich zu küssen. Die Freibeuter um sie herum begannen zu pfeifen und zu johlen. Schließlich reichte es Kim und sie drückte Leo sanft zurück. Er verstand sofort und löste sich von ihren Lippen. Er stand auf und bot ihr seine Hand als Hilfe beim Aufstehen an, die sie dankend ergriff. Als sie aufgestanden war, legte er seinen Arm um sie und fragte leise: „Machen wir unten weiter?“ Kim gab ihm keine Antwort, sondern setzte sich einfach in Bewegung. In Kims Kajüte angekommen, ging sie zu der kleinen Kommode und holte einen Block, ein Buch und einige Stifte heraus. Leo, der es sich inzwischen auf ihrem Bett bequem gemacht hatte, schaute sie etwas verwirrt an und fragte: „Ich dachte, du hättest nur Spaß gemacht?“ „Keineswegs, das war mein voller Ernst.“ Langsam setzte er sich auf und sah sie gequält an, dann maulte er quengelig wie ein kleiner Junge: „Ach Kim, bitte, muss das wirklich sein? Ich meine, was bringt mir das denn? Es reicht doch, wenn einer von uns gebildet ist, außerdem bin ich nicht gut in so was, irgendjemand wollte mir schon mal was beibringen, der hat noch genau zwei Zähne und ist psychisch total am Boden.“ „Glaub mir, ich schaffe es schon, dir etwas beizubringen und wenn du mich zu sehr nervst, dann trete ich dir einfach in den Hintern.“ Wohl wissend, dass hinter ihrem süßen Lächeln ein wahrer Drachen lauerte, seufzte er schließlich und sah sie erwartungsvoll, aber mit einem gewissen Desinteresse an. Kim setzte sich grinsend zu ihm und breitete die Sachen auf dem weißen Laken aus. Wie sollte sie jetzt anfangen? Angestrengt überlegte sie und entschloss sich schließlich dazu, ganz am Anfang anzufangen: „Also, kennst du das Alphabet?“ „Ich musste es mal lernen.“ „Kannst du die Buchstaben auch schreiben? Groß, klein, Druck- und Schreibschrift?“ Als Antwort nahm er sich den Block und einen Stift und schrieb langsam, aber sorgfältig das Alphabet auf. erst in Großbuchstaben, dann in Kleinbuchstaben, dann in Schreibschrift. Auch hier groß und klein. Kim zeigte sich beeindruckt und war froh, nicht ganz von vorne beginnen zu müssen. Leo, merklich stolz auf die Leistung, die er soeben erbracht hatte, grinste sie an. Kim, die genau wusste, worauf er es abgesehen hatte, lobte ihn: „Super, gar nicht schlecht. Ich muss sagen, du überrascht mich, wenn es so weiter geht, muss ich ja gar nichts mehr machen.“ Doch schon bald merkte sie, dass das Alphabet das Einzige war, was er beherrschte, denn als er einige Wörter abschreiben sollte, die sie ihm aufgeschrieben hatte, musste er sich doch anstrengen. Sie ließ ihn die Wörter mindestens fünfmal schreiben und die, die er gar nicht beherrschte, wie zum Beispiel „Katze“, oder „Gitarre“, bis zu zehnmal. Auf diese Weise nahm jedoch seine Motivation, die auch schon zu beginn kaum zu erkennen gewesen war, zusehends ab. Angestrengt überlegte sie, wie sie ihm die ganze Sache angenehmer machen konnte und entschloss sich schließlich dazu, es mit Belohnungen zu versuchen. Doch was sollte sie ihm bieten? Als Leo bemerkte, dass sie gar nicht mehr bei der Sache war, hörte er schließlich auf zu schreiben und hob ärgerlich den Kopf, um sie dann zu tadeln: „Na toll, ich soll mich voll ins Zeug legen und du schaust noch nicht mal, ob ich den ganzen Schrott richtig mache. Ich hab keine Lust mehr, das ganze bringt mir doch sowieso nichts!“ „Jetzt sei doch nicht so ungeduldig, du kannst nicht erwarten, dass du von einem bisschen Schreiben gleich alles kannst, oder? Aber von mir aus, machen wir mit etwas anderem weiter. Du hast die Wahl, entweder, wir lesen etwas, oder wir fangen mit Mathe an.“ Bei diesen Worten blitzten Leos Augen freudig auf und er fragte: „Liest du mir wieder etwas vor?“ „Nein, diesmal liest du mir vor und wenn du nicht weiter weißt, dann helfe ich dir.“ Sie schlug das Buch auf, auf der Seite, auf der sie damals aufgehört hatte, ihm vorzulesen. Mit nicht sehr hohen Erwartungen setzte sie sich neben Leo und gab ihm das Buch. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sehr gebrochen lesen würde und oft ihre Hilfe benötigte, doch diesen Annahmen zum Trotz las er recht passabel. Zwar fiel ihm das Schreiben äußerst schwer, doch er las weitgehend flüssig und hatte auch bei unbekannten Wörtern nicht allzu große Schwierigkeiten. Jedoch verflog die Lust auch in diesem Gebiet sehr rasch. Schließlich nahm Kim ihm das Buch aus der Hand und räumte auch den Rest der Sachen weg. Erleichtert fragte Leo sie: „Sag mal, wo hast du eigentlich den ganzen Schreibkram her?“ „Den hab ich von zu Hause mitgenommen, da ich ja wusste, dass ich dir etwas beibringen würde.“ Leo hatte sich inzwischen wieder hingelegt und gähnte, als sie sich gerade neben ihn legen wollte: „Willst du mir jetzt nicht noch etwas vorlesen?“ Sie seufzte und rollte genervt mit den Augen, ging aber noch einmal zur Kommode und kramte das Buch heraus. Sie setzte sich neben ihn, schlug das Buch auf und begann ihm daraus vorzulesen. Als sie einmal nach Leo sah, war der schon eingeschlafen, es war auch schließlich schon fast elf und sie hatte ihn am Morgen so früh geweckt. Sollte er ruhig schlafen, sie würde noch einmal zu Jon gehen und ihn fragen, wann sie wieder Segel setzten. Leise legte sie das Buch beiseite und stand vorsichtig auf, um dann auf Zehenspitzen aus der Tür zu schleichen. Aber Jon war nicht an Bord, Terry meinte, er sei in einer Spelunke mit dem Namen „Glücklicher Schädel“. Sie fand die Kneipe ohne Probleme, da sie ja schon am gestrigen Abend dort gewesen waren. Kim trat ein und schaute sich um. Sie sah Jon und starrte ihn ungläubig an. Oder eher das Mädchen, in dessen Armen er lag und die ihm zärtlich den Kopf kraulte. Er hatte sie gerade bemerkt, da drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ die stickige Bar. Schnellen Schrittes ging sie durch die Gassen. Aus irgendeinem Grund war sie sauer auf ihn. Sie war gerade in einer besonders dunklen Gasse, da hielt sie jemand am Handgelenk fest. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ängstlich schluckend drehte sie sich um. Als sie jedoch Jon sah, der völlig außer Atem vor ihr stand, verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck wieder und sie wollte weitergehen. Jon hinderte sie allerdings daran, indem er ihr Handgelenk nicht losließ und sie fragte: „Was ist denn los? Wieso bist du wütend? Habe ich etwas Falsches gemacht?“ Er roch stark nach Alkohol und Frauenparfüm. Den Versuch sich seinem Griff zu entwenden gab sie bald auf, da sein Griff so fest war, dass es ihr schon fast wehtat. Schließlich sagte sie, sich nicht getrauend ihm in die Augen zu sehen: „Wieso sollte ich wütend sein?“ „Du bist so schnell weggelaufen, also lüg mich nicht an.“ „Mir war es nur zu stickig und außerdem wollte ich dich nicht stören.“ „Also bist du wegen ihr sauer?“ „Red doch keinen Unsinn! Wieso sollte ich aufgebracht sein, wenn du in den Armen von irgendeiner Schlampe liegst, die ganz zufälligerweise mal mit Leo zusammen war?“ „Das sehe ich auch so! Lass mir doch meinen Spaß, du hast ja Leo und Kathleen empfängt ja wohl jede Menge Freier, ob ich das bin, oder irgend so ein betrunkener Schmutzfink, ist doch völlig irrelevant!“ „Siehst du? Warum sollte ich da denn sauer sein? Und wenn du doch eigentlich deinen Spaß wolltest, warum bist du mir dann nachgelaufen?“ „Weil ich nicht will, dass du aus einem absolut nichtigen Grund böse auf mich bist.“ „Wie ich schon gesagt hatte, ich bin nicht sauer.“ „Du bist eine schlechte Lügnerin.“ Noch aufgebrachter keifte sie jetzt: „Ach, jetzt musst du mich auch noch beleidigen?“ Trocken antwortete er: „Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung. Aber wieso warst du eigentlich in der Kneipe, so ganz ohne Leo?“ „Also weißt du, ich liebe Leo, aber trotzdem muss ich nicht immer alles mit ihm zusammen machen und zu deiner Information, er schläft gerade. Eigentlich wollte ich ja nur zu dir um dich zu fragen, wann wir weiter wollen, aber ich glaube fast, du solltest zu Kathleen zurück, nicht dass sie noch irgend so einen betrunkenen Schmutzfink als Freier nimmt, wie du es so schön formuliert hast!“ „Reg dich wieder ab, dann können wir noch mal in Ruhe reden, so macht das ja überhaupt keinen Sinn!“ „Dann werd du erst mal wieder nüchtern!“ Da er ihr Handgelenk während des Gesprächs losgelassen hatte, um teilweise wild zu gestikulieren, drehte sie sich um und lief weiter in Richtung Hafen. Sie konnte hören, wie er verächtlich ausspuckte, aber keine Anstalten machte, ihr zu folgen, oder sie aufzuhalten. Als sie auf der Vengeance ankam, war es weitestgehend ruhig, nur ein paar Männer lallten in einiger Entfernung des Schiffes. Es war eine klare, warme Nacht, ein laues Lüftchen wehte, das Kims Haare verspielt tanzen ließ. Sie gähnte herzhaft und beschloss, sich schlafen zu legen, doch als sie an Leo angekuschelt in den Laken lag, bekam sie kein Auge zu. In einem fort musste sie an Kathleen denken. Sie war so perfekt, unbewusst verglich sich Kim mit ihr, warum wurde Kathleen von allen Männern begehrt? Womöglich lag es an ihrer femininen Figur, den großen Brüsten, der schmalen Taille und den breiten Hüften. Angespannt wälzte sie sich herum und wurde nur noch wacher. Schließlich streichelte ihr Leo, der durch ihr ständiges Herumwälzen wach geworden war, zärtlich über die Hand und fragte leise: „Was ist denn los, kannst du nicht schlafen?“ Sie setzte sich ruckartig auf und wollte verbittert wissen: „Warum ist Kathleen so perfekt?“ Auch Leo setzte sich auf, strich ihr liebevoll durchs Haar und entgegnete: „Beschäftigt sie dich so sehr?“ Kim nickte beschämt, doch er lächelte sie nachsichtig an und fuhr fort: „Glaub mir, sie ist nicht perfekt, vielleicht mag sie eine gute Figur haben, doch auch die schönste Rose hat Dornen und Kathleen hat davon nicht zu wenig. Ich habe schließlich schon nach nicht ganz zwei Wochen die Beziehung beendet, falls man das so nennen konnte.“ Kim erwiderte nichts, sie wollte sich mit dieser Antwort nicht zufrieden geben, Leo merkte das und seufzte. Dann sagte er verständnisvoll: „Ach Kim, der Charakter macht einen Menschen schön. Kathleen vermag einem die Liebe vorzuspielen, damit sie das bekommt, was sie will, doch so schön das Spiel auch sein mag, es ist und bleibt Theater. Hinter ihrer Maske verbirgt sich ein kleines verwöhntes Rotzgör, das die Menschen ausnutzt, bis sie nur noch Schatten ihrer selbst sind.“ „Aber sie ist so schön.“ „Glaub mir, jedes Mal, wenn ich deine Haare sehe, wenn der Wind sie aufwirbelt, jedes Mal, wenn ich den Glanz in deinen Augen sehe, deine weichen Lippen spüre, werde ich ganz trunken bei der Vorstellung, dass niemand anderes meinen Platz in deinem Herzen hat und nur ich dich so berühren darf. Niemand anderes konnte, kann und wird mir jemals so ein Gefühl des Wohlbehagens bereiten können. Du bist mein Engel, allein deine Erscheinung berauscht mich, ich kann zwar nur für mich selbst reden, aber für mich bist du die Schönste von allen.“ Hatte er ihr die Wahrheit gesagt? Musste er das nicht sagen, weil er mit ihr zusammen war? Eigentlich war es ihr egal und sollte es doch eine Lüge sein, war es sicherlich die süßeste. Ohne ihm noch etwas zu sagen, legte sie sich wieder hin. Leo küsste noch einmal zärtlich ihren Bauchnabel und legte sich neben sie, um dann seinen Arm um sie zu legen und gemeinsam mit ihr einzuschlafen. Als sie am nächsten Morgen wieder aufwachte fand sie ihren Kopf auf Leos Schoß gebettet, der ihr abwesend durchs Haar kraulte. Es war vergleichsweise dunkel in der kleinen Kajüte und sie konnte von draußen den Regen gegen die Planken prasseln hören. Als es donnerte zuckte sie unwillkürlich zusammen, sodass Leo bemerkte, dass sie wach war. Er lächelte sie freundlich an und fragte: „Morgen, Engelchen, du wirst dich doch nicht etwa erschrocken haben?“ Kim protestierte allerdings sofort: „Stimmt doch gar nicht, ich habe mich nicht erschrocken!“ Er hingegen lachte: „Hast du wohl, du kleiner Angsthase!“ Gespielt beleidigt schob sie die Unterlippe vor und meinte gerade noch so laut, dass er es verstehen konnte: „Blöder Besserwisser!“ „Wie war das bitte?“ Unschuldig grinste sie ihn an und sagte hastig: „Nichts, nichts.“ Provokativ zwickte er ihr in die Seite und sagte übermütig: „Das will ich aber auch hoffen, ansonsten würdest du bald einen Kopf kürzer rumlaufen!“ Kim sprang auf, streckte ihm die Zunge heraus und triumphierte: „Nur weil du auf meine Genialität und Intelligenz neidisch bist, musst du mir noch lang nicht den Kopf abhacken, schließlich wäre ich selbst ohne den noch schlauer als du!“ „Na das will ich sehen, du Knallfrosch!“ Kim ihrerseits schürzte die Lippen, schlug verführerisch die Augen auf und sagte: „Ich bin ein verzauberter Frosch, küss mich!“ Kaum hatte sie das gesagt, stand Leo auch schon vor ihr und tat, was sie gewollt hatte. Dann nahm er sie auf den Arm und warf sie aufs Bett. Er beugte sich über sie und schob langsam seine Hand unter ihr Hemd. Doch gerade, als Kim es am wenigsten erwartete, begann er sie zu kitzeln. Sie prustete los und versuchte ihn mit Händen und Füßen von sich zu schieben. Nach einiger Zeit gelang es ihr dann auch und sie rang erschöpft nach Atem. Schließlich fragte sie: „Sag mal, was sollen wir heute eigentlich machen?“ Leos Gesichtsausdruck wurde differenzierter und er antwortete: „Kathleen war vorhin hier und hat mich gefragt, ob ich mal bei ihr vorbeischaue, aber wenn du keine Lust hast, müssen wir nicht, das ist nur ein Vorschlag.“ Kim nickte etwas bekümmert und sagte: „Natürlich können wir noch einmal zu Kathleen, heute Nachmittag vielleicht?“ Nicht wirklich freudig nickte Leo und nahm ihre Hand, um sie zu küssen und dann an seine Wange zu halten. Nicht viel später saßen sie wieder in dem kleinen dunklen Raum Kathleens. Diese redete ohne Punkt und Komma und ohne irgendeinen roten Faden irgendwelches Zeug daher, dass sie anscheinend erlebt hatte. Leo hatte den Kopf auf Kims Schulter aufgestützt und hielt ihre Hand. Anscheinend glaubte er ihr genauso viel wie Kim; und zwar nichts. Nachdem Kathleen eine gute halbe Stunde getratscht hatte, wurde es Kim zu bunt. Sie stand auf und verabschiedete sich mit den Worten an Leo: „Viel spaß noch weiterhin, lass dich nicht zutexten.“ Er ließ ihre Hand allerdings nicht los, sondern sah sie flehend an, doch Kim blieb erbarmungslos und sagte nun lauter an Kathleen gewandt: „Tut mir Leid, Kathleen, aber ich muss jetzt leider gehen, es war schön dich wieder zu sehen.“ Leos verzweifelte Blicke ignorierend drehte sie den Beiden den Rücken zu und ging aus der Tür. Gerade wollte sie die Treppe runter gehen, da hörte sie von der Tür her, die sie unabsichtlich nicht ganz geschlossen hatte, Kathleen seufzen: „Endlich ist sie weg, mir wären bald die Geschichten ausgegangen.“ Unschlüssig blieb Kim vor der Treppe stehen, ging dann aber doch noch einmal zur Tür und öffnete sie so weit, dass sie die Beiden sehen konnte. Angestrengt versuchte sie zu verstehen, was Kathleen sagte, da diese sehr leise sprach. „Ach Leo, endlich allein, ich habe dich ja so sehr vermisst!“ Kim konnte erkennen, wie unwohl Leo sich in dieser Situation fühlte und er sagte: „Ach ja? Und wie vielen von deinen Freiern hast du das erzählt? Glaub mir, du bekommst kein Geld von mir, außerdem will ich schon lange nichts mehr von dir!“ Langsam erhob sich Kathleen und ging auf Leo zu. Breitbeinig ließ sie sich auf seinem Schoß nieder und hauchte ihm ins Ohr: „Natürlich willst du, ich habe doch das Verlangen in deinen Augen lesen können, aber keine Angst, ich will nichts für das Lindern deines Begehrens.“ Mit diesen Worten strich sie Leo durch die noch vom Regen feuchten Haare, zog seinen Kopf ein wenig zurück und küsste in sanft. Erstarrt vor Schreck und Entrüstung sah Kim sich das ganze an. Leo ging es anscheinend nicht anders, doch als er sich wieder gefasst hatte, stieß er sie von sich und sprang mit einem solchen Schwung auf, dass der Stuhl auf dem er gesessen hatte geräuschvoll zu Boden fiel. Er fixierte hasserfüllt die ebenfalls am Boden liegende Kathleen und brüllte: „Du dreckiges Miststück, dir sollte mal jemand eine Scheuern, dass dir noch drei Tage danach die Ohren klingeln! Vielleicht würde das auch dem Deuten von Blicken nachhelfen, denn soweit ich mich erinnern kann, habe ich nie das Verlangen gespürt, mich mit einem charakterlosen Flittchen einzulassen! Vielleicht hast du ja schönere Kurven als Kim, aber eine Frau macht noch mehr aus, als nur die Idealmaße! Wenn du nicht weißt, was sonst noch liebenswert ist, dann helfe ich dir mal auf die Sprünge: zum Beispiel wäre da Charakterstärke, von der du reichlich wenig besitzt, außerdem ist eine gewisse Eleganz erforderlich, zudem noch Achtung, vor dir selbst und anderen Menschen und nicht zuletzt der Glanz in den Augen den Kim hat, wenn sie mich in ihrer süßen Unschuld anlächelt, der bei dir aber noch nie vorhanden war und auch niemals kommen wird!“ Kathleen hatte die Lippen aufeinander gepresst und starrte ihn zähneknirschend an. Kim konnte sehen, wie ihr Tränen in die Augen schossen, hatte aber keinerlei Mitleid mit ihr, sondern verspürte eine solche Schadenfreude, dass sie schon begann sich zu schämen. Leo schüttelte nur den Kopf und ging in Richtung Tür. Kim wich erschrocken zurück und eilte zur Treppe. Sie setzte sich und wollte so tun, als hätte sie auf Leo gewartet. Gerade, als Leo die Tür öffnete, konnte sie Kathleen hören, wie sie schluchzte und rief: „Du verdammter Idiot! Ich könnte dir alles geben, alles! Nur weil dieses dumme Ding deine Leidenschaft zur See teilt! Sie kann dir nichts geben, rein gar nichts, schließlich ist sie noch ein Kind!“ Kurz bevor Leo die Tür schloss, drehte er sich um, schaute herablassend auf Kathleen hinunter und rümpfte die Nase. Dann sagte er: „Du bist doch selbst noch ein Kind in einem erwachsenen Körper. Ich werde dir sagen, was Kim mir geben kann und das wirst du nie können, denn sie gibt mir aufrichtige und ehrliche Liebe.“ Damit schloss er die Türe. Als er Kim am Treppenabsatz sitzen sah, sagte er nur: „Lass uns gehen.“ Er half ihr noch beim Aufstehen und ließ ihre Hand nicht los, bis sie in ihrer Kajüte angelangt waren. Keiner von beiden sagte etwas. Kim überlegte sich, warum Kathleen ihm nichts von Jon erzählt hatte. Sollte sie es ihm sagen? Besser nicht, sonst regte er sich nur noch mehr auf, denn immer, wenn er rasend war, sprach er nicht. Kim kam es vor, als stünden seine Augen in Flammen; sie traute sich weder, etwas zu sagen, noch zu gehen. So setzte sie sich mit angezogenen Beinen auf ihr Bett und wartete. Leo hingegen schritt rastlos im Zimmer auf und ab. Auch Kim wurde langsam hibbelig und als ihr auch so schon gespannter Geduldsfaden endgültig riss, brüllte sie: „Hör doch endlich auf hier herumzurennen, du machst mich ganz wirr! Und auf was bist du eigentlich sauer? Sie wollte doch dich herumkriegen und hat dich nicht einmal beleidigt, oder war in sonstiger Weise rüde, eigentlich solltest du dich geschmeichelt fühlen, dass sie etwas für dich empfindet!“ Zwar antwortete er ihr nicht, aber er blieb stehen, die Hände in den Taschen und das Gesicht ihr zugewandt. Leo holte ein paar Mal tief Luft und sagte dann schließlich: „Aber sie hat dich schlecht gemacht.“ Kim schüttelte resignierend den Kopf und entgegnete: „Das ist mir doch egal, ich hab ja dich, das beweist mir, dass ich irgendwie besser sein muss, als sie.“ Er seufzte ergeben lächelnd, setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Dann sagte er: „Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du eine grottenschlechte Lügnerin bist?“ „Bin ich nicht!“ „Und wie schlecht!“ Er lachte auf, wurde aber gleich wieder ernst und sagte: „Kim, selbst, wenn es dir wirklich egal wäre, mir könnte das niemals gleichgültig sein, auch wenn du gar nichts mitbekommen hättest. Ich finde, sie ist es nicht einmal wert, deinen Namen zu auszusprechen, geschweige denn, über dich zu urteilen. Sie hat sich ja noch nicht mal die Mühe gegeben, dich als Konkurrenz auszulöschen, wäre sie wirklich verliebt, wäre sie anders vorgegangen, sie wollte mich nur benutzen, um an erbeutete Schätze zu kommen.“ Sie wusste nicht, was sie entgegnen könnte, so ließ sich einfach die Hand tätscheln, obwohl sie glaubte, dass Leo das mehr tat, um sich selbst zu beruhigen. Doch schon bald ließ er ihre Hand los und strich ihr durchs Haar. Wann hatte er sich das nur angewöhnt? Seit ein paar Wochen waren sie erneut auf See. Und wie so oft saßen Garret und Leo zusammen an Deck und polierten ihre Entermesser. Garret führte zudem zwei Pistolen mit sich, Leo besaß lediglich eine Steinschlosspistole. Auch diese Waffen wurden gründlich gereinigt, schließlich war es ein Gesetz an Bord, seine Waffen immer sauber und griffbereit zu halten. Da Kim sich in dem Küstendorf auch eine Waffe - einen Dolch - zugelegt hatte, saß sie bei den Beiden und polierte die Klinge, bis sie glänzte. Laffite und Terry gesellten sich auch zu ihnen, beide hatten jeweils zwei Pistolen, zudem besaß Laffite ein Entermesser, Terry ein Enterbeil und ein Entermesser. Kaum hatte er sich gesetzt, begann Laffite schon mit Kim ein Gespräch, auf Französisch, versteht sich. „Salut, Kim, ça va?“ Leicht desinteressiert antwortete Kim: „Ça va. Et toi?“ „Très bien, merci. Que je peux voir, tu es en train de remembre ta dague ? » « Et que je peux voir, tu as des yeux biens, non ? » « Tu es trop tendue, vas être plus calme. » Kim verdrehte die Augen, erwiderte aber nichts. Laffite grinste breit und fragte: „Tu ne sais pas quoi dire?“ « Mais non, je sais exactement quoi dire, mais seulement pas en français. » « S’il te plaît, dit. Je sais, que tu peux ça. Puisque tu es très intelligente, et très jolie aussi. » Kim errötete leicht und der Franzose zwinkerte ihr zu. Leo hatte inzwischen seine Arbeit unterbrochen und sah argwöhnisch zu den Beiden. Es passte ihm gar nicht, dass sie in letzter Zeit so viel schäkerten und dann auch noch in einer Sprache, die er nur gebrochen verstand. Kim spürte seinen Blick, ließ sich nach hinten fallen, so dass ihr Kopf weich auf seinem Schoß landete, zog sein Gesicht zu sich herab und fragte, neckisch grinsend: „Ist mein Schatz etwa eifersüchtig? Vielleicht solltest du dich beim Lernen ein bisschen mehr reinhängen, dann könnte ich dir etwas französisch beibringen und du müsstest nicht mehr raten, über was Laffite und ich reden.“ Selbstsicher antwortete er: „Ich soll eifersüchtig auf den Franzaken sein? Du enttäuschst mich, kennst du mich denn so schlecht?“ „Nein, tut mir Leid, ich sollte langsam wirklich wissen, dass deine insolente Selbstsicherheit bis zu den Toren des Himmels reicht und selbst Petrus an der Pforte aufpassen muss, dass er nicht über deinen babylonischen Hochmut stolpert, aber keine Angst, Einbildung ist auch eine Bildung“, scherzte sie. Die anderen um sie herum lachten auf und klopften Kim auf die Schulter. Leo richtete seinen Oberkörper auf und sah sie etwas eingeschnappt von oben herab an. Kim störte dies allerdings nicht weiter, denn auch sie setzte sich wieder richtig hin und fuhr fort den Dolch zu polieren, womit auch sie kurzzeitig aufgehört hatte. Seit sie wieder auf See waren, achtete die Mannschaft besonders auf den Zustand der Waffen, da sie sich im Handelsdreieck befanden und immer damit rechnen mussten, dass ein Schiff, ob nun ein einfaches Handelsschiff, das sie Kapern würden, oder eines der Marine, am Horizont auftauchte. Auch Alkohol gab es so gut wie keinen mehr für die Männer. Die Vengeance hatte zwar viele und gute Kanonen, doch Leo hatte ihr erklärt, dass man meistens auf den Einsatz von ihnen verzichtete, da man das gekaperte Schiff noch verwenden könnte und was wollte man mit einem kaputten Schiff? Als Kim mit ihrem Dolch fertig war, steckte sie ihn zurück in die Scheide, die an einem Gürtel um ihre Hüfte befestigt war und beobachtete Leo. Wie alle anderen hatte auch er eine Kopfbedeckung, ein einfaches rotes Kopftuch, das seine zerzausten, blonden Haare bändigte. Ein Hemd hatte er nicht an, da das Wetter gut war, nur ein Tuch bedeckte seinen Nacken, das dieselbe Farbe wie das Kopftuch hatte. Er trug bequeme Jeans, die er bis zu den Knien hochgekrempelt hatte und wie sein Oberkörper waren seine Füße nackt, gleich denen der restlichen Mannschaft an Bord. Sie trugen Schuhe fast ausschließlich, wenn sie an Land gingen. Leo reinigte seine Pistole mit gekonnten Handgriffen. Eifersüchtig schielte Kim immer wieder auf ihr Objekt der Begierde. Zu gerne hätte sie auch eine Steinschlosspistole gehabt, doch Jon und Leo hatten gemeint, sie wäre mit dem Dolch fürs Erste besser dran. Kim seufzte; vielleicht hatten sie ja Recht, mit so einer Pistole konnte man nur einmal schießen und wie sie sich kannte, würde sie höchstwahrscheinlich danebenschießen. Es gab nicht viel zu tun, da der Wind nur träge in die Segel wehte und sie kein bestimmtes Ziel hatten, sondern auf ein Handelsschiff warteten. Wie so oft war der Jolly Roger nicht gehisst, sie würden ihn erst hissen, wenn es sicher war, dass sie angriffen. Kim konnte sich noch genau daran erinnern, wie es sie gegraust hatte, als sie zum ersten Mal den Totenkopf, umrandet von drei Säbeln, gesehen hatte. Konnte das nun wirklich schon über ein halbes Jahr her sein? Sie war gerade in Gedanken versunken, da rief Edward aus dem Krähennest: „Schiff in Sicht, hart backbord!“ Jon, der sich auf dem Achterdeck aufgehalten hatte, hetzte zu ihm hinauf, nahm das Fernrohr in die Hand und spähte hindurch. Kim konnte erkennen, wie er etwas zu Edward sagte und sich dann hinunter auf das Hauptdeck schwang, wo sich schon die Crew angesammelt hatte, alle über die Reling der Backbordseite gelehnt, um das Schiff auch zu sehen. Er rief die Meute zu sich, grinste breit und sagte dann laut: „Meine Herren, meine Dame, schon bald werden wir im Geld und nicht mehr im Wasser schwimmen, denn dort am Horizont schippert ein französisches Handelsschiff, das nur darauf wartet, von uns geentert zu werden!“ Die Piraten brachen in lautes Jubeln aus, Kim schielte zu Laffite, doch er schien es kaum mehr erwarten zu können, seinen Landsleuten eins überzubraten. Sie hakte sich bei Leo unter. Der nahm ihre Anwesenheit zur Kenntnis, starrte sie einen Moment differenziert an und sagte dann: „Kim, ich glaube, es wäre besser, wenn du unter Deck bliebst.“ Kim protestierte allerdings heftig und rief: „Ich denke ja gar nicht dran! Ich will auch dabei sein!“ Nun mischte sich Jon ein und bekräftigte Leo: „Nein, Kim, glaub uns, es ist besser, wenn du nicht dabei bist.“ Trotzig wie ein kleines Kind erwiderte sie: „Kommt nicht in Frage, ich bin schließlich auch ein Teil dieser Mannschaft, nicht umsonst habe ich dieses Amulett!“ Leo seufzte und fragte, ihr ernst in die Augen schauend: „Kim, dann beantworte mir eine Frage, aber sei ehrlich; wenn du sie mit ja beantworten kannst, kannst du dableiben, wenn du verneinen musst, gehst du unter Deck, einverstanden?“ Genervt fuhr sie ihn an: „Ja, ja, schon gut, stell halt deine blöde Frage!“ Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich noch weiter, dann fragte er schließlich: „Kim, bist du wirklich fähig, einen Menschen zu töten?“ Sie schluckte. Daran hatte sie gar nicht gedacht. Langsam schüttelte sie den Kopf. Leos Mimik klarte auf. Freundlich lächelnd nahm er ihre Hand und begleitete sie in ihre Kajüte. Dort verabschiedete er sich mit einem langen und leidenschaftlichen Kuss und verließ den Raum mit den Worten: „Ich liebe dich, auf dass wir uns wieder sehen.“ Kim hielt diese Wortwahl für schrecklich unpassend, jetzt musste sie schon hier unten herumsitzen und dann verabschiedete er sich auch noch mit einem Gruß, der klang, als wäre es schon fast sicher, dass er nicht überlebte. Die Minuten verstrichen nur langsam, immer wieder stellte sie sich vor, wie alles verlaufen würde, wie der Jolly Roger gehisst, die Enterhaken ausgeworfen wurden, über die die Mannschaft auf das andere Schiff gelangten. Dort würden sie die Franzosen dazu zwingen aufzugeben und sie vor die Wahl stellen, ob sie hingerichtet-, als Sklaven verkauft-, oder zu den Piraten desertieren wollten. Doch alles kam ganz anders. Als sie sich gerade vorstellte, wie ein ausgewachsener Mann vor Leo um Gnade winselte, kam Garret ins Zimmer gestürzt. Er war vollkommen außer Atem, keuchte noch: „Kim,… schrecklich,… komm schnell!“, und zerrte sie am Handgelenk ins Freie. Dort deutete er auf Leo, der halb bewusstlos in einer Lache aus Blut auf den Planken der Vengeance lag. Ein gellender Schrei übertönte alle anderen Geräusche, die man auf der heute so friedlichen See vernehmen konnte. Sie stürzte auf ihn zu und warf sich neben ihm auf die Knie. Mit halb geschlossenen Augen sah er sie verwirrt an und fragte mit zitternder Stimme: „Wieso bist du da? Hier ist es viel zu gefährlich!“ Fassungslos brüllte sie ihn an: „Du spinnst wohl, wer liegt denn hier halbtot an Deck?“ Garret legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte leise: „Ein Franzmann hat ihm zwei Finger abgeschossen, als er halb bewusstlos war, davor hat er ihm eins Übergebraten, dass er eigentlich den Schädel gebrochen haben müsste. Wir müssen ihm die Finger noch ganz abnehmen.“ Kim starrte auf Leos rechte Hand, an der noch alle Finger vorhanden waren, dann lenkte sie ihr Augenmerk auf die linke Hand, an der tatsächlich die Hälfte des Ring- und des Mittelfingers in Fetzen lag. An dem Arm konnte sie sehen, dass er primitiv mit einem Tuch abgebunden worden war, damit er nicht zuviel Blut verlor. Es schüttelte sie, als sie die Fleischreste sah, aus denen immer noch viel zu viel Blut quoll. Ihr Puls raste in die Höhe und sie spürte erschrocken, wie die Panik in ihr heraufkroch. Sie musste sich beruhigen! Was aber sollte sie jetzt tun? Sie begann damit, dass sie das Tuch, das um den Arm gebunden war, öffnete und es sogleich wieder, jedoch um einiges fester, verknotete. Dann sah sie sich um, Garret war nicht mehr da. Leo war inzwischen ganz weggetreten. Sie stand auf und hastete in die Kombüse zur Vorratskammer, um etwas Hochprozentiges zum desinfizieren zu finden. Außerdem brauchte sie eine Säge. Wenn niemand sonst es tun würde, dann müsste sie eben Hand anlegen. Außerdem griff sie noch nach einem Handtuch. Die Säge befand sich an Deck; es klebte schon Blut daran. Es schauderte sie, als sie nun auch die Säge aufhob und damit zu Leo ging, der inzwischen wieder bei Bewusstsein war. Als er sie mit diesen Utensilien sah, weiteten sich seine Augen und er fragte panisch: „Was willst du damit, Kim?“ „Leo, deine Finger…“ „Was ist mit ihnen? Das wächst wieder nach, die müssen nicht ab!“ In seiner Stimme schwang pure Verzweiflung mit und bevor Kim antwortete, musste sie erst tief durchatmen. „Sieh sie dir an, Leo, es geht nicht anders!“ Sie richtete seinen Oberkörper auf und schleifte ihn, den Griff um seine Schultern, zum Hauptmast, an den sie ihn lehnte. Ihre Stimme bebte, als sie ihm die Flasche reichte und sagte: „Trink! Trink nur ordentlich.“ Er sah sie allerdings nur verständnislos an und im nächsten Moment huschten seine Augen hilfesuchend über Deck. Nun setzte sie ihm die Flasche an die Lippen, doch als der Alkohol gerade seine Lippen benetzte, begann er zu sprechen: „Mein Engel! Das kannst du nicht tun! Das kannst du mir nicht antun!“ Und im nächsten Moment hustete er schrecklich. „Leo, trink endlich! Sonst wird der Schmerz unerträglich!“ Ihr standen die Tränen in den Augen und sie wusste sich nicht zu helfen, als er erklärte: „Aber ich halte den Schmerz doch aus und wenn du die Säge weglegst, dann muss ich auch nicht trinken.“ Sie unterdrückte ein Schluchzen, rümpfte die Nase und Tränen rannen über ihr erhitztes Gesicht. Von allein würde er nicht trinken, also musste sie sich etwas anderes überlegen. Schließlich setzte sie nach kurzer Zeit die Flasche selbst an, doch schluckte sie nicht, sondern beugte sich im nächsten Augenblick zu Leo vor und flößte ihm den Alkohol so ein. Er dachte anscheinend, sie wolle ihn küssen und erwiderte es schon, da entfernte sie sich wieder von ihm, um den nächsten Schluck zu nehmen, doch als sie ihre Lippen gerade wieder auf seine legen wollte, zog er den Kopf weg und wimmerte: „Du kannst das doch nicht ernst meinen!“ „Wie sollte ich denn anders?“ Sie hatte es nun doch selbst geschluckt und es brannte in ihrem Rachen. Ihr Gesicht war tränenverschmiert und sie konnte das Schluchzen nicht mehr unterdrücken. „Denkst du denn, ich will dich betrunken machen? Denkst du denn, ich will dir wehtun? Verdammt, Leo! Mach es mir nicht noch schwerer und trink endlich!“ Leo schluckte schwer und biss sich auf die Lippen. Noch einmal sah er auf die beiden Knochen, die einst seine Finger gewesen waren. Es schüttelte ihn, doch schließlich griff er nach der Flasche, die Kim ihm entgegen hielt, setzte sie an und trank. Er leerte sie fast vollkommen in einem Zug. Das hätte er auch geschafft, hätte Kim sie ihm davor nicht weggezogen. Er lehnte seinen Kopf gegen den Mast und beobachtete Kim. Diese rieb die Säge an ihrem T-Shirt ab und kippte dann einen Schuss des Alkohols darüber. Anschließend wollte sie ihm das Handtuch in den Mund stecken, aber er fragte: „Hast du mir dann nicht wenigstens etwas Hartes zum Draufbeißen?“ Sie ließ ihren Blick übers Deck wandern. Sie brauchte irgendetwas, das einem Stock glich, da fiel ihr Blick auf einen Besen, der nicht verräumt war, sie sprang auf, schnappte sich diesen und brach ihn entzwei. Das kurze Ende wollte sie Leo geben, da beugte er sich nach vorne, küsste sie zärtlich und flüsterte: „Ich liebe dich.“ „Ich liebe dich auch!“ Ihre Worte waren kaum zu verstehen gewesen, so sehr hatte sie schluchzen müssen. Nun klemmte sie Leo das Holzstück zwischen die Kiefer. Sie atmete tief durch und gebot ihm dann: „Sieh weg!“ Er drehte seinen Kopf weg und kniff die Augen zusammen, in der Erwartung des Schmerzes. Ihre Hände zitterten unkontrolliert, als sie die Säge ansetzte. Konnte sie denn so etwas? Sollte sie nicht doch besser auf irgendjemanden warten? Nein! Das würde viel zu lange dauern, das konnte sie Leo nicht antun. So setzte sie die Säge ein zweites Mal an und schließlich begann sie. Es war ein furchtbares Geräusch, das einem durch Mark und Bein fuhr und Leos erstickter Schmerzensschrei, als sie die letzten Nerven seines Fingers durchtrennte, jagte ihr noch einen eiskalten, unangenehmen Schauer über den Rücken. Doch nun hatte sie angefangen und musste es zu Ende bringen. Endlich hatte sie den Rest des Ringfingers abgetrennt, da wandte sie den Blick zu Leo, der Kreidebleich auf das Stück Holz zwischen seinen Zähnen biss. Die Schmerzenstränen auf seinen Wangen vermischten sich mit dem Schweiß. Sie wollte gerade etwas Aufmunterndes zu ihm sagen, da spuckte er das Holz aus, wandte sich zur Seite und übergab sich. Kim wartete, bis er sich wieder gerade hinsetzte, nahm dann das Handtuch und wischte ihm zärtlich das Gesicht ab. Doch gleich darauf ließ sie ihn wieder auf das Holz beißen und wollte gerade wieder die Säge ansetzen, da hörte sie ihn etwas flehen, doch des Stockes in seinem Munde wegen hatte sie es nicht verstanden. Deswegen nahm sie ihm diesen wieder ab und er schluchzte auf: „Kim, bitte! Es tut so weh! Gönn mir ’ne Pause!“ Es war das erste Mal, dass sie ihn weinen sah und es fuhr ihr kalt in alle Knochen. Sie legte die Säge beiseite, schloss ihn in ihre Arme und streichelte ihm beruhigend über Rücken und Hinterkopf. An letzterem entdeckte sie ebenfalls Blut; es hatte seine Haare am Hinterkopf schon vollkommen rot gefärbt und lief nun eilig Leos Nacken hinunter. Der Junge hatte nicht mehr die Kraft ihre Umarmung zu erwidern, sondern schluchzte nur immer wieder unterdrückt auf. Die anderen durften auf keinen Fall bemerken, dass er weinte, denn sonst war sein Ansehen dahin und unter Piraten konnte das fatal sein. So flüsterte sie ihm tadelnd ins Ohr: „Reiß dich zusammen, Leo, schließlich bist du ein Mann!“ Diese Worte passten so gar nicht zu ihren Gesten, die ihn am liebsten nie wieder losgelassen hätten. Doch sie besann sich eines Besseren und löste diese Einseitige Umarmung wieder. „Pass auf: Ich gehe noch mal Alkohol holen, weil du Idiot ja alles ausgekotzt hast. Solange gönne ich dir eine Pause. Und wenn du nicht aufgehört hast zu heulen, wenn ich wiederkomme, dann säg ich dir die ganze Hand ab.“ Ohne auf eine Reaktion seinerseits zu warten erhob sie sich und ging in Richtung Kombüse. Als sie wiederkam hatte er tatsächlich aufgehört zu weinen; dennoch konnte sie erkennen, dass seine Augen noch ganz nass waren. Doch sie sagte nichts darauf, sondern küsste ihn sanft auf die Wange, gab ihm die Flasche und wartete, dass er getrunken hatte. Endlich setzte er sie ab. Einige Augenblicke wartete sie noch, dann griff sie wieder nach der Säge und setzte sie ein zweites Mal an. Ihre schweißnassen Haare hingen ihr im Gesicht und sie wischte sich immer wieder mit dem Arm über die Stirn, aus Angst der Schweiß könne auf die Wunde tropfen. Endlich hatte sie es geschafft und griff nun nach Nadel und Faden, die sie eben aus der Vorratskammer mitgenommen hatte. Sie hasste das Geräusch, das es machte, wenn man den Faden durch die Haut festzog, doch kam sie nicht darum und trug die Gänsehaut schaudernd. Als sie Leo das Holzstück aus dem Mund nahm und er leise „Danke.“ flüsterte, vernahm sie, wie heiser er war. Kein Wunder, schließlich hatte er geschrieen wie am Spieß, doch Kim konnte sich vorstellen, dass die Schmerzen unerträglich hatten sein müssen. Doch nun begann er fürchterlich zu zittern. Zähneklappernd hauchte er: „Mir ist so kalt, Kim, es ist so kalt.“ Sie legte ihm den Finger auf die Lippen und flüsterte: „Warte kurz, ich komme gleich wieder.“ Mit diesen Worten erhob sie sich und rannte so schnell sie nur konnte in ihre Kajüte, um alles Mögliche, was ihn wärmen könnte zusammenzusuchen und zu ihm zu bringen. Erst deckte sie ihn mit einigen Pullovern zu, dann setzte sie sich zu seiner Linken, schmiegte sich an ihn, um ihn auch mit ihrem Körper wärmen zu können. Anschließend legte sie die dicke Wolldecke über sich und Leo. Mit seiner Rechten tastete er nach ihrer Hand und drückte sie leicht, als er sie zu fassen bekam. Sein Atem ging nur schwer und sie merkte, dass er immer noch Schmerzen hatte. Sie wollte ihn gerade fragen, ob es langsam besser würde, da flüsterte er: „Kim, da schleicht sich einer von rechts an; meine Pistole ist geladen.“ Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Was erwartete er nun von ihr? Sollte sie diesen Fremden erschießen? Sie fingerte blind an seinem Gürtel herum, bis sie die Pistole in die Hände bekam und sie aus dem Colt nahm. Langsam, um den Angreifer nicht auf dumme Gedanken zu bringen, stand sie auf und sah sich im nächsten Moment einem Franzosen gegenüber, der sie erstaunt musterte und dann sagte: „Oh là là! Une très jolie fille. Pourquoi est-ce que tu t’occupe de cet garçon?“ « Parce que je lui aime. » « Qu’il aille au diable ! Il va être mourir, ce sûr. » « Non ! Il sera survive, ce sûr ! » Leo stöhnte auf und sagte, so laut es ging: „Kim, hör auf zu schwätzen und unternimm etwas!“ Der Franzose fragte verwirrt: „Qu’est-ce qu’il a dit?“ „Il a dit que je n’aurai pas á bavarde. » Mit diesen Worten richtete sie die Waffe auf ihn, entsicherte sie, drückte jedoch nicht gleich ab. Der Fremde starrte entsetzt auf die Pistole und rief flehend: „Grâce! Grâce! S’il te plaît, as pitié de moi! J’ai quatre enfants au maison, qu’est-ce qu’ils doivent sans moi ? Je te pris, grâce ! » Ihre Hand begann zu zittern, doch Leo brüllte: „Hör auf, Mitleid zu haben, mit mir hatten sie auch kein Mitleid!“ Sie brüllte zurück: „Aber er hat vier Kinder zu Hause, ich will ihn nicht töten!“ In dieser Unachtsamkeit witterte der Franzose seine Chance. Er ging ruckartig auf Kim los und versuchte, ihr die Pistole aus der Hand zu nehmen, doch Kim hatte sie zu fest umklammert. Er gab es auf und schlug ihr stattdessen ins Gesicht; sein Fuß traf nur kurze Zeit später in ihren Bauch. Sie taumelte rückwärts, doch die Waffe war immer noch entsichert, sie brauchte nur abzudrücken, dann war es vorbei. Aber das war leichter gesagt, als getan, sie zögerte zu lange und der Franzose kam wieder auf sie zu und zielte diesmal mit der Faust in ihren Bauch, die zweite folgte schnell. Die Waffe vergessend und nur den Schmerz spürend, presste sie die Hände vor Schmerz zusammen. Der längst überfällige Schuss löste sich. Ein Knall ertönte. Kim hatte die Augen geschlossen, doch traf die Kugel präzise in ihr Ziel, den Kopf des Franzosen. Einen Moment lang starrte er sie ungläubig an, dann sackte er zu Boden. Kim ließ die Waffe fallen und fiel im nächsten Moment auf ihre Knie. Hatte sie da gerade tatsächlich einen Menschen umgebracht? „Kim, es- es tut so weh!“ Leo riss sie aus ihren Gedanken, sie sprang umgehend auf und eilte zu ihm. Warum hatten sie auch keinen Arzt an Bord? Leo stand der Schweiß auf der Stirn, obwohl er noch immer zitterte. Sie streichelte ihm liebevoll über die Wange und setzte sich wieder neben ihn. Es machte sie verrückt, dass sie nichts gegen seine Schmerzen tun konnte, sie fühlte sich so hilflos. Am Horizont verschwand die blutrote Sonne im Meer und die Geräusche des Kampfes auf dem anderen Schiff nahmen ab, schließlich hörten sie ganz auf. Erschöpft aber glücklich kehrten die Piraten mit einigen Gefangenen an Bord der Vengeance zurück. Einige von ihnen blieben allerdings auf dem anderen Schiff, um es zu steuern. Edward, der Schiffszimmermann war, kam auf Kim und Leo zugelaufen. Er hatte zwar bemerkt, dass Leo etwas zugestoßen war, hatte allerdings keine Zeit gehabt, sich um ihn zu kümmern. Er besah sich Leos Hand und kam zu dem Schluss, dass er es selbst nicht besser hätte machen können. Die Blutung hatte inzwischen fast ganz ausgesetzt und Edward lief in den Bauch des Schiffes, um einen Verband aufzutreiben. Wenige Minuten später kam er mit einer Bandage wieder, diese war jedoch alles andere als steril. Edward wollte sie Leo gerade anlegen, da hielt Kim ihn empört zurück und blaffte ihn an: „Spinnst du eigentlich? Mit dem schmutzigen Ding holt er sich doch garantiert noch eine Entzündung, wenn nicht sogar eine Blutvergiftung! Wenn wir keine sterilen Binden haben, dann geh das Ding wenigstens kochen!“ Leo starrte abwesend vom Einem zum Anderen und wunderte sich, warum sie sich so streitsüchtig angifteten. Er begriff nicht wirklich, dass es um ihn ging. Nach längerem Hin und Her schnaubte Edward verächtlich und knurrte: „Wenn du das sagst, dann muss es ja wohl stimmen, ich gehe das Ding jetzt kochen, aber dann wird er wohl eine Weile ohne irgendeinen Verband auskommen müssen.“ Als er gegangen war, rümpfte Kim die Nase. Sie wusste, dass er Recht hatte, denn wenn der Verband gekocht wurde, musste er erst trocknen, bevor sie ihn Leo anlegen konnten. Sie beschloss, ihm eines ihrer T-Shirts als Ersatz zu geben. So küsste sie ihn sanft auf die Wange, sagte ihm bescheid und lief in ihre Kajüte. Sie zog ein Shirt heraus, achtete aber darauf, dass es weiß war, da sie ihre weiße Wäsche immer kochte. Damit rannte sie wieder an Deck, wo Leo noch immer gegen den Mast gelehnt dalag. Sie wickelte das Kleidungsstück um seine Hand. Etwas erleichtert stellte sie dabei fest, dass er nicht mehr so stark zitterte. Leise fragte sie: „Ist dir jetzt wärmer? Sind die Schmerzen etwas besser geworden?“ Leo antwortete nicht. Es war, als schaute er durch sie hindurch. Während sie sich allerdings wieder an ihn schmiegte, damit ihm noch wärmer wurde, wurde sein Blick wieder klar. Die Sonne war inzwischen ganz untergegangen. Kim hatte mitbekommen, dass erst am nächsten Tag über die „Gäste“ verfügt wurde. Immer wieder kam jemand vorbei, um sich zu erkundigen, wie es Leo ging, doch schon bald wurden aus den besorgten Kameraden betrunkene Rüpel, die nicht aufpassten, wo sie hintraten. Kim bekam Angst, dass einer Leo auf die ohnehin schon genug verstümmelte Hand trat und beschloss, dass er in seiner Kajüte sicherer war. Sie fragte Leo vorsichtig, ob er laufen könne und er nickte verbissen. Doch er konnte noch nicht einmal alleine aufstehen, geschweige denn laufen. Kim stützte ihn so gut es ging und lotste ihn durch die umhertanzenden Piraten. An der Treppe hielt sie einen Moment erschöpft inne; wie sollte sie ihn da nur heil herunterbringen? Die Frage erledigte sich jedoch von selbst, denn auf einmal tauchte Jon neben ihr auf. Er lud sich Leo auf den Rücken und schleppte ihn bis in dessen Kajüte. Dort setzte er ihn vorsichtig auf dem Bett ab. Kim wollte, dass er sich hinlegte, doch widersprach ihr Leo partout. Jon wünschte Leo noch gut Besserung und verließ dann den Raum. Als Kim bemerkte, dass Leo immer noch ein wenig fröstelte, ging sie an die Truhe, die bei seinem Bett stand und wühlte darin, bis sie eine Jacke fand, die sie Leo über die Schultern legte. Leo sah sie nicht an, sondern begann zu jammern: „Ich hab keine Lust hier unten rum zu sitzen, lass uns hochgehen und mitfeiern! Ich hab mir das doch wohl am ehesten verdient!“ „Nichts gibt’s, du hast doch schon was getrunken!“ „Aber das reicht noch lange nicht zum betäuben!“ „Und du bekommst nichts mehr! Mir reicht es schon, dass dir zwei Finger fehlen, wenn du jetzt betrunken irgendwo herumläufst, stößt dir noch irgendwas zu.“ Er wollte sich gerade erheben, da ergriff sie seine recht Hand und flehte, den Tränen nahe: „Bitte, Leo, bitte! Tu mir das jetzt nicht an!“ Einen Moment bewegte er sich nicht, als überlege er, was er machen solle, dann setzte er sich allerdings doch wieder und brummte eingeschnappt: „Na schön! Aber dann hol mir wenigstens was zu trinken.“ Erleichtert stand sie auf und eilte in die Kombüse, um zu sehen, was noch an unalkoholischen Getränken da war. Als sie am Herd vorbeikam, sah sie, dass in einem Topf etwas kochte. Sie hob den Deckel an und konnte den Verband erkennen, den Edward besorgt hatte. Sie schüttelte den Kopf über seine Engstirnigkeit und nahm den Topf vom Herd. Sie ging in die Speisekammer, doch sie fand nicht viel. Lediglich ein Fass Wasser war noch da, wenn man bedachte, wie groß die Mannschaft war, würde das Wasser morgen, spätestens übermorgen ausgehen. Nichtsdestotrotz ging sie noch einmal in die Küche und holte einen Krug, mit dem sie dann Wasser schöpfte. Außerdem holte sie zwei Gläser aus einem Schrank. Als sie noch einmal an dem Topf vorbeikam, griff sie in das noch heiße Wasser und holte den Verband heraus. Sie wrang ihn kräftig aus und hängte ihn sich über den Arm. Damit, den zwei Gläsern in der einen und dem Krug in der anderen Hand machte sie sich dann auf den Weg zurück zu Leo. Als dieser allerdings den Inhalt des Kruges sah, meinte er griesgrämig: „Super, du solltest doch was ordentliches zu trinken holen!“ „Hab ich doch auch, in deinem Zustand gebe ich dir keinen Alkohol mehr.“ Sie goss ihm etwas in eines der Gläser ein und drückte es ihm in die Hand. Dann sah sie sich im Zimmer um, wo sie den Verband aufhängen konnte und entschloss sich schließlich für die Lehne des Stuhles. Argwöhnisch fragte Leo: „Warum ist das Ding denn so nass?“ Kim antwortete ihm sachgemäß: „Glaubst du, ich lass dich in so ein Ding wickeln, das vor Bakterien, Viren und Schmutz strotzt? Oh nein, mein Herr, den hat Edward gerade für mich abgekocht.“ Er stierte sie mit hochgezogenen Brauen an und schüttelte den Kopf. Schließlich begann er an dem Wasser, das ihm Kim gegeben hatte, zu nippen. Sie setzte sich neben ihn und fragte: „Tut es noch arg weh?“ Nachdem Leo das Glas auf der Truhe abgestellt hatte, machte er eine wegwerfende Handbewegung und meinte: „Ach was, zwei Finger kann man noch verkraften, bei dreien sähe das Ganze etwas anders aus.“ Er hatte sie eine schlechte Lügnerin genannt und konnte noch nicht einmal verstecken, dass er die Zähne gewaltig zusammenbeißen musste, um bei der kleinsten Bewegeung der Hand nicht gleich aufschreien zu müssen. Sie sagte allerdings nichts dazu, sondern fragte ferner: „Kann ich nicht irgendetwas machen, damit du nicht so leiden musst?“ Hämisch grinsend meinte er daraufhin: „Also, ich wüsste da schon etwas, aber ich glaube, dazu bin ich jetzt nicht fähig. Dann musst du mir eben etwas vorlesen, ja?“ Nachsichtig lächelnd nickte Kim und verließ den Raum, um ihr Buch zu holen. Doch als sie die Tür zu ihrer Kajüte öffnen wollte, fand sie diese verschlossen vor. Sie legte ein Ohr an die Tür und konnte drinnen einige Männer schnelles französisch sprechen hören. Waren das etwa die Gefangenen? Sie lief an Deck und suchte nach Jon. Es dauerte eine Weile, doch sie fand ihn, zwar etwas angeheitert, aber immer noch fähig klar zu denken. Sogleich blaffte sie ihn an: „Jon, was fällt dir eigentlich ein? Hast du angeordnet die Franzosen in meiner Kajüte unterzubringen, oder warum sind die da drinnen?“ „Du bleibst doch sowieso die ganze Nacht bei Leo und morgen wird ihnen der Prozess gemacht. Außerdem ist dein Zimmer das einzige, das man abschließen kann.“ „Na toll! Ich muss aber mein Buch holen, hast du den Schlüssel?“ „Ja, aber ich lass dich da nicht rein.“ „Bitte, Jon, ich brauche doch auch noch ein anderes T-Shirt, schließlich will ich nicht die ganze Zeit in dem zerfetzten Ding rumlaufen.“ „Kim, die würden dir weiß Gott was antun, da kannst du nicht alleine rein.“ „Dann komm du mit, bitte, muss ich dich erst auf Knien anflehen?“ Genervt rollte er mit den Augen. Kim hatte das Gefühl, es ging ihm gar nicht so sehr um ihre Sicherheit, als um sein Vergnügen mit dem Rest der Mannschaft. Doch als Kim wirklich Anstalten machte, auf die Knie zu gehen, erbarmte er sich und ging mit ihr zusammen unter Deck. Als sie vor der Tür standen, zog Jon einen kleinen Schlüsselbund aus seiner Tasche, sah sie eindringlich an und sagte, bevor er aufschloss: „Ich werde nicht mit hinein kommen und nach dir wieder abschließen. Wenn du wieder raus willst, dann klopfst du dreimal.“ Er steckte den Schlüssel ins Loch, hielt aber inne und ergänzte: „Und noch etwas, Kim, du gehst da auf eigene Verantwortung rein, vergiss das nicht, mach mich für nichts verantwortlich.“ Sie nickte heftig und er drehte den Schlüssel, bis sich die Tür öffnete. Sie trat ein. Hinter ihr schloss sich die Tür gleich wieder, wie Jon es gesagt hatte und sie konnte hören, wie der Schlüssel gedreht wurde. Als sie eingetreten war, verstummten die Franzosen jäh. Sie starrten sie neugierig an. Im Gegensatz zu Kims Erwartungen, waren sie weder gefesselt, noch sonst etwas in der Art. Sie konnte ein paar ihrer Sachen in den Händen einiger wieder finden und starrte diejenigen finster an. Einer der Franzmänner die saßen, erhob sich und fragte sie gebrochen: „Willst du uns eine Botschaft sagen?“ Sie schüttelte den Kopf. Er fragte weiter: „Sind das deine Sachen?“ Er deutete auf die Sachen, die seine Landsleute in Händen hielten. Kim nickte und er herrschte die anderen auf Französisch an, die Dinge wieder zurück zu legen. Zu Kims Verwunderung folgte der Rest seinem Befehl. Schließlich fragte er, weiterhin mit einem starken Akzent: „Warum bist du hier, wenn du uns nichts zu sagen hast?“ „Ich brauche etwas.“ Der Mann machte ihr bereitwillig Platz. Als er jedoch das Buch sah, hinterfragte er verwirrt: „Ein Pirat, der liest? Gibt es denn das? Das habe ich ja noch nie gesehen!“ Kim warf ihm einen vernichtenden Blick zu und sagte dann leise, aber bedrohlich: „Ja, das gibt es. Und wehe, ihr lasst meine Sachen nicht in Ruhe, dann lebt ihr nicht mehr lange!“ Der Franzose hob abwehrend die Hände und lachte: „Morgen wird dein Kapitän mich ohnehin hinrichten, da ich nicht vorhabe als Sklave zu arbeiten.“ Sie wollte noch etwas erwidern, da wurde die Tür aufgeschlossen und Garret stürzte herein. Er brüllte sie an: „Kim, spinnst du? Alleine hier rein zu gehen! Die hätten dich mit einem Schlag erledigen können!“ Er packte sie unsanft am Arm und zerrte sie aus dem Raum. Bevor Jon die Türe wieder schloss, konnte sie den Sprecher ihr noch einmal zulächeln sehen und hörte ihn „Bon soir“ sagen, dann blaffte Garret auch Jon an: „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Sie einfach alleine da reingehen zu lassen! Ihr seid doch alle geistig nicht mehr ganz auf der Höhe!“ Doch Jon klopfte ihm nur auf die Schulter und schob ihn in Richtung Treppe, ohne auf sein Gebrüll einzugehen. Auch Kim entfernte sich von der Tür und trat in Leos Kajüte ein. Sie fragte sich, wie man lieber sterben konnte, als sich ihnen anzuschließen. Sie könnte das nicht. Als sie sich nach Leo umschaute, gewahrte sie ihn schwitzend unter der Decke liegend. Er sah noch schlechter aus, als zuvor. Sie ließ prompt das Buch fallen und stürzte zu ihm. Leo wandte den Kopf zu ihr und stöhnte: „Kim, es tu so weh, so sehr. Und es blutet, es hört nicht auf zu bluten, werde ich sterben?“ Sie riss die Decke weg und sah, dass seine Bandage vollkommen von Blut durchnässt war. Angsterfüllt nahm sie ihn in den Arm und flüsterte mit zitternder Stimme: „Nein, du wirst nicht sterben! Nicht jetzt, nicht so!“ Sie wusste nicht, was sie tun sollte, um den Blutstrom zu stoppen, gerade wollte sie wieder nach draußen rennen, um Edward zu suchen, da packte Leo sie mit seiner Rechten und flehte: „Kim, geh bitte nicht, ich will nicht allein sterben, ich habe solche Angst!“ Eine Träne rann ihre Wange hinunter, doch sie wollte stark sein, für sich selbst, für Leo. So strich sie ihm die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht und setzte sich zu ihm. Sie verweilten so, bis Leo schließlich vor Erschöpfung einschlief. Kim deckte ihn wieder zu und setzte sich auf den Stuhl, das Buch, aus dem sie Leo eigentlich hatte vorlesen wollen, zur Hand nehmend. Sie begann zu lesen, konnte jedoch nicht erfassen, um was es eigentlich ging, da ihre Gedanken die ganze Zeit um Leo schweiften. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war es noch recht früh. Leo sah aus wie tot, erst starrte sie geschockt auf seinen leblos daliegenden Körper, sah dann aber, wie sich seine Brust gleichmäßig hob und senkte. Sie hatte sich nicht an der Stuhllehne angelehnt, sondern lag mit dem Kopf auf dem Buch auf der Matratze. Sie sah nach dem Verband, den Edward gekocht hatte und fühlte, dass er trocken war. Sie wollte Leo den Verband wechseln solange er noch schlief, also zog sie vorsichtig die Decke zurück und begann den Stofffetzen, der bis Jetzt als Binde gedient hatte, abzuwickeln. Durch das inzwischen getrocknete Blut klebte er an den Wunden und Kim versuchte ihn besonders behutsam zu lösen, doch wollte ihr das nicht recht gelingen. Schließlich gab sie es auf, es so zu versuchen. Sie zog ihr T-Shirt aus und tunkte es in den Krug mit Wasser, der noch immer auf der Truhe stand. Damit beträufelte sie die Wunde und löste den Fetzen vorsichtig ab. Zwar ging es immer noch nicht reibungslos, doch schon etwas besser. Als sie schließlich begann mit dem ehemaligen Top die Hand vom Blut zu säubern, musste sie an sich halten, um sich nicht zu übergeben. Leos Hand war ein erbärmlicher Anblick. Als das meiste Blut abgewischt war, wartete sie einen Moment, bis das Wasser auf der Hand getrocknet war und begann dann sie richtig zu verbinden. Zum Glück hatte es aufgehört zu bluten, denn Kim wusste nicht, wie viel Leo noch hätte verlieren müssen, bis er wirklich gestorben wäre. Sie wollte gar nicht daran denken. Jetzt musste er erstmal etwas essen, damit sein Körper wieder Kraft bekam, um neues Blut zu produzieren. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, sie hätte aufräumen können, doch sie wollte dabei sein, wenn er aufwachte. Als erstes würde sie sich ein neues T-Shirt anziehen, doch so konnte sie kaum in ihre Kajüte laufen, außerdem waren dort eh die Franzosen drin. Also ging sie zu Leos Truhe, stellte Krug und Gläser daneben auf den Boden und suchte sich ein Hemd, dessen Ausschnitt nicht alles preisgab. Sie fand auch eines, aus Leinen, das sie sich überzog und ganz zuknöpfte. Außerdem suchte sie einen Lappen, mit dem sie Leo waschen konnte. Auch den fand sie, allerdings ganz am Boden der Kiste. Sie tauchte ihn, wie schon ihr altes Shirt, in den Krug und begann dann den Schweiß von Leos Körper zu wischen. Währendessen wachte Leo auf, ließ es sie aber nicht merken, sondern genoss die Bemutterung seiner Freundin. Bisher hatte sich noch nie jemand so um ihn gekümmert und er fühlte sich geborgen wie nie. Sogar die Schmerzen in seiner Hand ließen nach. In diesem Moment wurde ihm klar, wie sehr er Kim brauchte. Erstaunt stellte er fest, dass er noch nie in seinem Leben so abhängig von einem anderen Menschen gewesen war, doch war es kein schlechtes Gefühl. Er spürte jede Berührung ihrer zarten Haut stärker denn je und jede Stelle, die sie berührte brannte angenehm. Als sie fertig war und den Lappen zur Seite legte und nach dem Hemd griff, setzte er sich langsam auf. Sie wandte sich ihm gerade wieder zu, da erschrak sie sich fürchterlich. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn wach zu sehen. Etwas verlegen sagte sie: „Guten Morgen, tut mir Leid, ich wollte dich nicht wecken. Ich habe deinen Verband gewechselt und dich gewaschen. Die Blutung hat gestoppt und ich habe mir eines deiner Hemden ausgeliehen.“ Er erwiderte nichts, sondern sah sie nur lächelnd an. In seinen Augen konnte sie unendliche Dankbarkeit lesen und auch sie musste lächeln. Dann fragte sie hastig: „Leo, du musst etwas essen, auf was hast du Hunger? Ich hole es dir.“ Leo schüttelte den Kopf und sagte: „Danke, mein Engel, aber ich habe keinen Hunger.“ Doch jetzt war es Kim, die energisch den Kopf schüttelte und bestimmt rief: „Oh doch, du musst etwas essen, sonst fällst du mir noch vom Fleisch, außerdem muss ich noch neues Wasser holen. Warte hier, ich bin gleich wieder zurück.“ Sie stürmte aus der Tür und kam ungefähr eine viertel Stunde später wieder hineingeplatzt. Leo war inzwischen im Zimmer auf und ab gegangen. Als sie ihn stehend sah, die Arme an der Seite runterbaumelnd, blaffte sie ihn an: „Leg dich wieder hin! Das ganze kann doch gar nicht verheilen, wenn die ganze Zeit Blut reinströmt, obwohl du jetzt natürlich reichlich wenig davon hast. Trotzdem solltest du deine Hand nach oben halten, das hat Edward gesagt. Außerdem hat er mir erzählt, dass die Gefangenen wohl erst heute Nahmittag verhört werden, falls es dich interessiert.“ Leo hatte sich inzwischen auf die Kante seines Bettes gesetzt und den linken Ellenbogen auf sein Bein gestützt, um den Unterarm in der Luft zu halten. Kim lächelte ihn an und streichelte ihm über den Kopf, als wollte sie einen Hund belohnen, der brav gewesen war. Leo gierte nach etwas zu trinken und leerte das Glas, das ihm Kim mit Wasser aufgefüllt hatte, in einem Zug. Beim Essen tat er sich allerdings schwerer, aber er würgte trotzdem alle Nahrungsmittel runter, die Kim ihm gab. Nach langer Zeit, war er dann endlich fertig mit essen und Kim half ihm, sein Hemd anzuziehen. So, gestärkt und angezogen, gingen sie an Deck, damit Leo etwas frische Luft bekam. Es waren kaum Piraten an Deck, da die meisten ihren Rausch ausschliefen, doch diejenigen, die an Bord waren, musterten Leo neugierig, oder mehr noch seine Hand. Sein Lichtblick war, dass er gut entschädigt wurde, denn für zwei Finger bekam man schon eine ganze Menge extra. Heute Nachmittag, bevor die „Gäste“ verurteilt wurden, würde die Beute aufgeteilt werden. Bei dem Gedanken an all das Geld huschte ein Grinsen über sein Gesicht, das Kim allerdings entging. Sie drehten eine Runde und Leo setzte sich an die Rehling gelehnt auf die Planken. Kim ließ sich neben ihm fallen. Die Sonne brannte auf ihre Köpfe und Leo, den Kopf an Kims Schulter angelehnt, fragte: „Willst du mir jetzt nicht etwas vorlesen? Gestern bist du ja nicht dazu gekommen.“ Kim seufzte, erhob sich aber und ging, um das Buch, das noch immer auf der Matratze in Leos Kajüte lag, zu holen. Einige Minuten später kam sie wieder, mit dem Buch, einer Mütze und einem Tuch. Das Tuch Band sie Leo um den Kopf, die Mütze setzte sie sich selbst auf den Kopf, damit sie keinen Sonnenstich bekamen. Wie zuvor setzte sie sich neben ihn und er lehnte sich bei ihr an. Sie schlug das Buch, das sie sich in dem Westafrikanischen Dorf gekauft hatte, auf der ersten Seite auf und begann, ihm von starken Helden und holden Jungfern vorzulesen. Nach und nach gesellten sich auch ein paar andere zu ihnen. Unter ihnen Garret, der im Schneidersitz dasaß, die Ellenbogen auf die Beine und den Kopf auf die Hände gestützt. Kim kam sich etwas seltsam vor, waren diese Kerle doch sonst so verwegen, hörten ihr jetzt alle mit gebannten Blicken zu. Nach einer Weile fragte Kim einen der Piraten, ob er ihr ein Glas Wasser bringen könne, er willigte ein, aber nur unter der Bedingung, dass sie nicht weiter las, bis er wieder da war. Als sie es ihm versprochen hatte, sprang er auf und eilte in die Kombüse, aus der er ein paar Minuten später mit einem gefüllten Wasserglas wiederkam. Sie nahm einen großen Schluck und atmete tief durch, dann las sie weiter. Auf diese Art verflog der Vormittag, doch als die Sonne im Zenit stand, knurrten einigen die Mägen. Kim schlug das Buch zu und herrschte ein paar von denen, die um sie herum saßen, an, gefälligst ein paar Brote zu schmieren, doch Terry maulte: „Wieso sollten wir das machen? Ist doch eigentlich dein Job, wir haben heute Morgen schließlich schon das Deck geschrubbt!“ Die Antwort Kims kam dem Fauchen einer Katze gleich: „Weil ich mir jetzt geschlagene drei Stunden den Mund fusselig gelesen habe und keinen Widerspruch dulde!“ „Na toll, das ist ja wohl keine Arbeit, das könnte jeder!“ „Ach ja? Dann kannst du ja ab jetzt weiter lesen.“ „Wenn ich lesen könnte, würde ich das mit Freuden tun, aber Leo kann doch jetzt lesen, oder?“ Leo richtete den Oberkörper auf und lachte abfällig: „Na klar! Bin ich bescheuert? Ich les euch doch nichts vor! So weit kommt’s noch, außerdem ist mir das zu anstrengend, da muss man viel zu viel denken.“ Kim grinste überlegen und zeigte mit dem Finger in Richtung Kombüse, womit sie Terry klarmachte, dass jedes weitere Wort zwecklos war. Dieser stand griesgrämig auf und trat einen Kameraden leicht in die Seite. Dann brummte er: „Du hilfst mir!“ Der andere beschwerte sich jedoch prompt: „Wieso sollte ich denn? Sie hat es doch zu dir gesagt!“ Terry allerdings zischte unmissverständlich: „Du kommst mit, weil ich es sage und ich bisher immer den Eindruck hatte, dass du deinen Tabak gerne behalten würdest und ihn nicht morgen in der See schwimmen sehen willst.“ Kim wusste, dass der Tabak an Bord knapp geworden war, da sie schon lange keinen mehr erbeutet hatten und auf dieser Route auch sicherlich keinen bekämen. Terry würde seine Drohung in die Tat umsetzten, das war klar, denn er war Nichtraucher, so stießen den Angesprochenen einige Piraten, die in seiner Nähe saßen an und schnauzten ihn an, er solle Terry gefälligst helfen, damit sie nicht auch auf ihre geliebten Zigaretten verzichten mussten, da der Tabak an Bord geteilt wurde. Also stand auch dieser Pirat auf und folgte dem inzwischen pfeifenden Terry in die Kombüse. Eine gute halbe Stunde später kamen sie wieder, mit einem gewaltigen Berg belegter Brote und einigen Humpen Bier. Diejenigen, die keinen Pokal abbekommen hatten, trotteten missmutig in die Schiffsküche und holten sich einen. Auch diesmal musste Kim Leo zwingen etwas zu essen. Da er sich jedoch sträubte, als wären die Brote vergiftet, wurde es kompliziert. Letztlich schaffte sie es dann aber doch ihn dazu zu bringen. Die Piraten wurden langsam ungeduldig, weil sie endlich ihren Anteil an der Beute wollten. Das französische Schiff hatte hauptsächlich Waffen gelagert. Außerdem noch eine Menge Geld, Kim vermutete, dass die Besatzung nach Amerika hätte weiterfahren müssen, um dort Tabak, Baumwolle, Zucker und dergleichen zu erwerben. Zuerst wurde der Wert der Waffen geschätzt. Sie würden auf dem Markt in dem Piratennest verkauft werden, dort war Schmugglerware immer willkommen, besonders Waffen und ähnliches, weil Piraten stets Waffen benötigten und man damit guten Umsatz machen konnte. Das Geld wurde gleichmäßig aufgeteilt, nur Jon und der Quartiermeister – Laffite - bekamen das Doppelte wie die anderen, auch der Hauptkanonier, der Bootsmann und andere wichtige Posten bekamen noch mehr. Leo bekam ebenso mehr als die anderen, weil seine verlorenen Finger entschädigt wurden. Hätte er seinen rechten Arm verloren, hätte er dreimal soviel bekommen, doch er besann sich, dass er lieber zwei Finger weniger hatte, als gleich den ganzen rechten Arm, schließlich war er Rechtshänder und war sich sicher, dass er mit links jedem Gegner unterlegen wäre. Bei dem Gedanken nahm er es gerne in Kauf etwas weniger Geld zu bekommen, schließlich musste er auch Kim beschützen können. Diese bekam auch einen Anteil, zwar geringerer, als der normale, doch gab sie sich damit zufrieden, sie gab ja nicht alles für Alkohol und Frauen aus. Sie beschloss, aufzupassen, dass auch Leo nicht alles an einem Abend ausgab, denn wie sie ihn kannte, würde er für das Geld sehr tief ins Glas schauen. Außerdem nahm sie sich vor, mit Leo zu einem Arzt zu gehen, noch an dem Tag, an dem sie ankamen. Als nun fast alle, außer denen, die sich auf dem anderen Schiff befanden ihren Anteil hatten, sollte es an die Gefangenen gehen. Jon schickte einen Schrank von Mann los, um die Gefangenen zu bringen. Als alle an Deck standen, die einen mehr, die anderen weniger ängstlich, trat Jon vor und sagte so laut, dass alle es hören konnten: „Soso, wir haben hier also ein paar Franzosen. Sollen wir ihnen das Privileg lassen, sich dafür zu entscheiden, sich uns anzuschließen, oder einfach alle umbringen, oder verkaufen?“ Kim schüttelte es und, wie viele der Piraten rief auch sie: „Lass sie wählen!“ Ein erleichtertes Lächeln glitt über Jons Lippen, doch er wurde sofort wieder ernst und er sprach weiter: „Nun gut, dann stellen wir sie vor die Wahl. Fangen wir mit dem ehemaligen Kapitän an, tritt vor!“ Der Mann, der sich noch am Vorabend mit Kim unterhalten hatte, trat vor Jon und sah ihm unverfroren in die Augen. Als er nichts sagte, fragte Jon mit vor der Brust verschränkten Armen: „Also?“ Der Franzose spuckte aus, verfehlte dabei Jons Füße nur knapp und rief auf Französisch: „Au diable! Je veux plutôt mourir que me connecte de pareil damné démons du sept mers!“ Jon allerdings blieb ganz ruhig und fragte: „Du willst also sterben? Nun gut, den Wunsch können wir dir erfüllen, die Frage ist nur, willst du über die Planke, oder die Kugel durch den Kopf?“ „Werft mich über die Planke oder erschießt mich, es ist mir gleich, solange ihr es schnell macht!“ Jon wandte sich an seine Crew und rief: „Wollt ihr Blut sehen?“ Bevor noch ein Anderer aus der Mannschaft etwas sagte, rief Laffite: „Ich will ihn erschießen!“ Jon sah ihn erstaunt an und fragte: „Du willst ihn hinrichten, Laffite? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut, aber gut, dann soll der Schuss, der ihn das Leben kostet dir gehören.“ Die Piraten begannen zu tuscheln, doch als Jon seine Hand hob, wurde es schlagartig still. Als Kim die Hand sah, die in die Höhe gestreckt war, fiel ihr plötzlich wieder etwas ein: „Leo, du solltest deinen Arm auch nach oben halten, sonst tut es nur noch mehr weh!“ Leo sah sie etwas genervt an. Kim zuckte nur mit den Schultern und meinte: „Ich habe nachher keine Schmerzen, dass ich mir wünschte, meine Hand wäre ganz ab, also kann es mir ja egal sein, aber denk nicht, dass ich dich dann tröste, oder dir auch nur einen Satz vorlese!“ Wie von der Tarantel gestochen, fuhr sein Arm in die Höhe. Kim rollte genervt mit den Augen und packte seinen Unterarm grob, sie legte ihn sich auf die Schulter und sah Leo kokett an. Dieser war, als sie seinen Arm so unsanft berührt hatte, sichtlich zusammengezuckt und sah sie jetzt vorwurfsvoll an, da er sich arg hatte zusammennehmen müssen, um nicht aufzuschreien. Jon hatte auch einen weiteren Franzmann zum Tode verurteilt und fragte jetzt den Dritten, der sich, gottfroh über das Angebot, dankend zu den Piraten gesellte. So ging es weiter. Insgesamt, sollten vier erschossen und zwei über die Planke geschickt werden. Drei waren zu den Piraten desertiert. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Den Beiden, die über die Planke gejagt werden sollten, wurden die Augen verbunden und die Arme an den Körper gefesselt. Einer nach dem Anderen wurde so auf die Planke gestellt. Der Erste zögerte mit dem Springen, doch der Zweite sprang sofort. Da sie sich fortbewegten, konnten sie sie nicht ertrinken sehen, doch Kim hatte Mitleid mit den armen Männern. Nun waren die vier Anderen an der Reihe. Die drei ersten Schüsse tätigte Jon. Die Franzosen hatten sich an die Rehling lehnen müssen, mit gefesselten Händen, damit ihre Leichen ins Meer fielen und keine unnötige Putzarbeit anfallen ließen. Beim Vierten drückte er Laffite die Waffe in die Hand und klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken. Die Waffe zitterte in seinen Händen, er betätigte gerade die Sicherung, da keuchte der Verurteile wie vom Donner gerührt: „Henry?“ „Ja, Jérôme, der bin ich.“ „Du bist hier? Ich dachte, du wärst damals gestorben, aber was machst du bei diesem Piratenpack?!“ „Nachdem das Schiff gekapert wurde, hatte auch ich die Wahl und wie du siehst, habe ich mich für das Leben entschieden, nicht zuletzt, weil ich schon seit Jahren auf diesen Augenblick gewartet habe.“ „Aber wir waren doch beste Freunde, all die Jahre lang!“ „Ja, beste Freunde waren wir, bis du abgehauen bist, aber nicht ohne meine Schwester vorher zu vergewaltigen und dabei zu schwängern! Du verdammter Dreckssack hast sie geschlagen, als sie es dir sagte und bist auf und davon. Meine Schwester hat das Kind ausgetragen, aber als es aufwuchs und dir immer ähnlicher wurde, konnte sie es nicht mehr ertragen. Ich habe sie eines Morgens tot in ihrem Bett aufgefunden, den Leichnam des Kindes in ihren Armen haltend. Sie hat Gift geschluckt! Und all das nur wegen dir! Du hättest mehr als den Tod verdient, für das, was du mir, was du ihnen angetan hast!“ „Henry, glaub mir, ich wollte euch doch nur vor einer Torheit bewahren! Ich habe doch gemerkt, was ihr euch für Blicke zugeworfen habt, das war keine normale Geschwisterliebe, ich hatte auch nicht die Absicht, zu verschwinden, aber meine Eltern haben mich in ein Internat geschickt, glaub mir!“ „Halt’s Maul, Jérôme! Halt’s Maul! Deine Eltern haben dich in ein Internat gesteckt, weil meine Schwester dir nicht gereicht hat, du hast dich an jedem Mädchen vergriffen, das sich nicht wehren konnte und ich hab dich auch noch so oft gedeckt, dir ein Alibi gegeben. Es mag stimmen, dass ich meine Schwester auf andere Art geliebt habe, als man seine Schwester lieben sollte, aber ich hätte es niemals so weit kommen lassen, denn ich besitze noch so etwas wie Moral und Anstand!“ Jérôme schwieg. Auch der Rest der Crew schwieg und als wollte der Himmel die Stille noch unterstreichen, wehte nicht einmal ein laues Lüftchen und keine einzige Wolke war am Himmel zu erkennen. Schließlich sagte Jérôme an Kim gewandt: „Bleib so wie du bist, Kleine, es war schön, deine Bekanntschaft gemacht zu haben.“ Die angesprochene zuckte zusammen und wich erschrocken zurück. Diese Reaktion missverstehend, riefen Jon, Leo, Garret und Laffite im Kollektiv: „Was hast du mit Kim angestellt?“ Jérôme sah erst etwas verblüfft aus, dann prustete er los: „Soso, Mädchen, da hast du dir ja eine schöne Leibgarde zusammengestellt, behalt sie dir bei, dann kann dir keiner etwas anhaben.“ Nun wandte er sich wieder Laffite zu, der ihn mit Wutverzerrtem Gesicht anstarrte, und sagte: „Henry, nun drück schon ab, ich habe es in der Tat verdient, also tu der Welt den Gefallen.“ Er schloss die Augen und wartete auf das, was nach dem Schuss kommen würde. Laffites Gesichtszüge glätteten sich nicht, im Gegenteil, er wurde noch wütender, er hatte erwartet, dass Jérôme ihn auf Knien um Verzeihung bitten, ihm die Füße küssen würde. So wollte er die Rache nicht nehmen, seine Schwester hatte sich schließlich auch nicht auf ihr Schicksal einstellen können. Er drückte ab und traf Jérômes rechtes Bein. Dieser schrie auf, hielt sich dieses und sackte zu Boden. Er sah angsterfüllt und unter Schmerzen auf und erkannte Laffite, der mit seinem Entermesser auf ihn zukam. Er wollte ihn leiden sehen, er wollte sehen, wie er sich unter schmerzen wand, dafür würde er alles tun. Er kniete sich zu dem Verwundeten, flüsterte ihm etwas ins Ohr, so dass dieser ängstlich die Augen aufriss. Dann zerrte er an einer von Jérômes Händen und legte sie flach auf den Boden. Im nächsten Moment hackte er sie mit seinem Entermesser ab und warf sie ins Meer. Die Schmerzensschreie und das Blut ignorierend, zerrte er die andere Hand auf die Planken und schnitt genüsslich einen Finger nach dem Anderen ab. Leo zuckte bei diesem Anblick unwillkürlich zusammen und er musste an sich halten, um nicht aufzuschreien, denn der Schmerz in seiner Hand flammte erneut auf. Kim strich ihm beruhigend über die Schulter, musste sich selbst aber auch zusammenreißen, um nicht an die Reling zu rennen, sich zu übergeben. Währenddessen trieb Laffite sein Spielchen weiter und achtete darauf, dass sein Gegenüber ja nicht bewusstlos wurde, oder gar starb. Plötzlich rief Garret: „Laffite, das reicht!“ - Keine Reaktion - „Hast du nicht gehört? Es reicht, hör auf mit dem Scheiß!“ Auch jetzt reagierte Laffite nicht. Doch Garret handelte. Er zog seine eigene Pistole und schoss dem gepeinigten in den Kopf, so dass dieser nicht noch mehr Qualen erleiden musste. Laffite schaute ihn mit einem wirren Zorn an und sah für einen Moment so aus, als wolle er nun auf Garret losgehen, doch dann steckte er das Messer weg und ging durch die Reihen von Piraten. Diese schauten, immer noch nicht fassend, was gerade passiert war, auf die Leiche, wenn man das zerstückelte etwas so nennen konnte. Schließlich erbarmten sich Terry und Edward und warfen die leblosen Überreste Jérômes über Bord. Die restlichen Piraten verteilten sich langsam wieder über das ganze Deck, sich angeregt unterhaltend. Nur Kim und Leo standen, beide kreidebleich, bewegungslos da. Als Kim noch einmal das Blut ansah, konnte sie es nicht mehr zurückhalten, sie rannte zur Reling an der Leeseite des Schiffes, beugte sich darüber und übergab sich. Leo, der ihr nachgegangen war, streichelte ihr über den Rücken und fragte, als sie fertig war: „Na, geht’s wieder? Willst du dich etwas hinlegen?“ Kim nickte betreten und folgte Leo, der sie an die Hand genommen hatte, in seine Kajüte. Dort legte sie sich auf sein Bett und versuchte, nicht an den grauenvollen Anblick von gerade eben zu denken, doch sie schaffte es nicht und ihr wurde schwarz vor Augen. Als sie wieder erwachte, war es bereits dunkel und Leo saß immer noch neben ihr. Er küsste ihre Stirn und fragte besorgt: „Wie geht es dir?“ Kim setzte sich auf und antwortete etwas heiser: „Besser und dir?“ „Ach, das geht schon, solange es dir gut geht, geht’s mir auch gut.“ Kim lächelte ihn an und fragte dann schließlich: „Wie geht es Laffite?“ „Der ist wieder zu Vernunft gekommen. Ist vorhin hier hereingekommen und hat gefragt wie es dir geht. Außerdem hat er sich noch dafür entschuldigt, dass wir das Ganze Gemetzel mit ansehen mussten.“ „Sag mal, wie ist das eigentlich mit deiner Hand passiert?“ Erst druckste Leo, um eine Antwort verlegen, herum, begann dann aber doch zu erzählen: „Nun ja, weißt du, das war so, wir waren ja auf dem anderen Schiff, ich habe mich gerade nach einem neuen Gegner umgeschaut, da hat der Froschfresser mir eins mit dem Griff seiner Axt übergezogen. Ich wurde nicht bewusstlos, bin aber doch irgendwie nicht ganz bei mir gewesen. Auf jeden Fall hat der Kerl dann seine Pistole gezückt und abgedrückt, aber er hat, ob nun absichtlich oder nicht, in meine Hand geschossen, hat mir schön die Finger zerfetzt, hast du ja gesehen. Ich wollte mich wehren, aber ich hab es nur geschafft, meine Pistole zu ziehen, doch bevor ich sie überhaupt nur entsichern konnte, hat der Kerl sie mir schon aus der Hand gerissen und sie auf mich gerichtet, diesmal zielte er aufs Herz. Er wollte gerade abdrücken, da fiel sein Kopf vom Körper und Garret hat mich, mitsamt meinem Schießeisen hierher gebracht. Ich glaube, er hat ihn enthauptet.“ Kim schluckte und suchte nach den passenden Worten. Als sie diese jedoch nicht so recht finden konnte, sagte sie: „Wenn wir in einem Hafen einlaufen, gehen wir erstmal zu einem Arzt, der soll sich dann deine Finger anschauen.“ Leo lachte erbittert auf und meinte: „Oder was davon übrig ist.“ Daraufhin wusste Kim wirklich nicht mehr, was sie sagen sollte, doch Leo wusste, was er tun wollte, nämlich sich zu Kim vorbeugen und sie zärtlich küssen. Sie zog ihn an sich und genoss die Nähe, die sie in diesem Moment spürte. Als Leo wenig später in ihren Armen lag, flüsterte er ihr ins Ohr: „Danke, dass du immer um mich bist, du bist wahrlich ein Engel.“ Kim erwiderte, sich an ihn schmiegend: „Wir sind alle Engel mit nur einem Flügel, ohne dich wäre ich unvollständig.“ Auch diese Nacht schlief Kim bei Leo und als sie am nächsten Morgen neben ihm erwachte, fühlte sie sich so erholt wie schon lange nicht mehr. Sie blieb noch eine Weile, in der sie sich an Leo kuschelte und noch einmal betreten über den vergangenen Tag nachdachte. Sie wusste nicht, was sie von den Geschehnissen halten sollte, doch was war das? Hörte sie da den Wind jaulen und Regen gegen die Planken prasseln? Sie sprang auf und starrte aus dem kleinen Bullauge. Tatsächlich, es bahnte sich ein Sturm an und wie zur Bestätigung ihrer Vermutung, wurde die Türe aufgerissen und Terry rief aufgebracht: „Ihr müsst aufstehen, das Wetter wird immer schlechter, wir werden wohl in ein übles Gewitter kommen.“ Als Leo sich aufsetzte und ihn verschlafen anblinzelte fügte er noch hinzu: „Zieht euch was anständiges an und kommt dann sofort an Deck!“ Er schloss die Tür wieder und sie konnten ihn in eine andere Kajüte brüllen hören. In einem äußerst aggressiven Tonfall und extrem sarkastisch äußerte sich Leo zur derzeitigen Situation: „Na toll! Ein Sturm, das ist das, was mir noch zur Vollendung meines Glücks fehlt! Dass meine Hand jetzt vollkommen verkrüppelt ist, reicht dem Herrn wohl nicht, nein, jetzt muss auch noch so ein scheiß Sturm herhalten, um mir eins reinzuwürgen!“ Er wollte noch weiterreden, doch Kim unterbrach ihn rüde: „Jetzt mach aber mal ’nen Punkt! Geh doch nicht immer davon aus, dass alles Übel nur auf dich bezogen ist. Wir müssen unter dem Sturm genauso leiden wie du und du weißt genau, wie sehr mir das mit deinen Fingern leid tut!“ Leo seufzte und stand auf. Immer noch finster dreinblickend ging er zu seiner Truhe und öffnete sie, doch da man den Deckel festhalten musste, damit er nicht wieder herunterkippte, hatte er keine Chance irgendetwas hinauszuholen. Hilfe suchend sah er sich nach Kim um, die ihn mit hochgezogenen Brauen musterte. Schließlich erbarmte sie sich dann aber doch und ging an die Truhe, um seinen imprägnierten Pullover und ein Shirt mit langen Ärmeln herauszukramen. Als sie die Hände aus der Truhe hatte, ließ Leo den Deckel Geräuschvoll zufallen. Auffordernd sah er Kim an, doch diese meinte nur: „Wie wäre es zur Abwechslung mal mit den kleinen netten Wörtchen ‚bitte’ und ‚danke’?“ Mit den Augen rollend, sagte er dann: „Danke für deine Hilfe und könntest du mir bitte helfen, die Sachen anzuziehen?“ Zufrieden nickend machte Kim sich dann ans Werk. Sie knöpfte Leos altes Hemd auf und streifte es ihm ab. Hierbei konnte sie nicht widerstehen, ihn auf die blanke Brust zu küssen und bemerkte schmunzelnd, wie er eine Gänsehaut bekam. Sie hob das Shirt auf und streifte es ihm erst über den Kopf. Dann kamen die Arme dran. Da die Ärmel etwas weiter waren, gab es keine größeren Probleme, ganz im Gegensatz zu den Ärmeln bei seinem Pullover, er stieß ein paar mal am Stoff mit seiner Verletzten Hand an und schrie jedes mal übertrieben laut auf, wie Kim fand. Als er gerade wieder zu einem Schrei ansetzte, blaffte sie ihn an: „Jetzt halt mal die Schnauze! Das ist ja nicht zu ertragen, wie wehleidig du bist!“ Beleidigt sah er sie an und meinte: „Ich bin nicht wehleidig, ich habe vorgestern zwei meiner zehn geliebten Finger verloren, denen darf man doch wohl noch nachtrauern, außerdem tut das ganze höllisch weh und es brennt. Mir tut schon der ganze Arm weh!“ Der ganze Arm tat ihm weh? Das konnte aber nicht sein, außer… Sie krempelte hektisch den Ärmel hoch und wickelte den Verband ab. Leo, ihre Panik nicht begreifend, starrte sie nur unentwegt perplex an. Als seine Stümpfe zum Vorschein kamen, bestätigte sich ihr Verdacht. Die Wunden hatten sich entzündet. Wenn sie nicht schleunigst zu einem Arzt kamen, lief er Gefahr, sich eine Blutvergiftung zuzuziehen. Benommen sank sie in die Knie. Leo, der immer noch nicht begriff, was sie hatte, kniete sich zu ihr nieder und fragte: „Was ist denn?“ Die Tränen liefen ihr in Strömen die Wangen hinunter und sie schluchzte: „Verdammt, das ist alles meine Schuld, ich hätte die Finger davon lassen sollen! Leo, ich will nicht, dass du meinetwegen stirbst, ich will das nicht! Du darfst nicht sterben!“ Sie war ins schreien verfallen. Sie fuhr sich durch die Haare und riss im nächsten Moment daran. Als sie immer hysterischer wurde und Leo nicht zuhörte, rastete der aus. Er ohrfeigte Kim hart. Sie starrte ihn entsetzt an und wurde für einen Moment still. Jetzt war Leo es, der sie anfuhr: „Jetzt beruhige dich endlich! Zwei Finger weniger werden mich nicht umbringen!“ Sie nahm ihn nur verschwommen wahr, da die Tränen ihr die Sicht nahmen. Kim warf sich ihm in die Arme und das mit einem solchen Schwung, dass er auf den Rücken fiel und sie auf ihm liegen blieb. Er schloss seine Arme um sie und machte, wie sie, keinerlei Anstalten aufzustehen. Die Tür öffnete sich erneut, ohne dass die Beiden etwas mitbekamen und Terry brüllte, als er sie sah: „Verdammt noch mal, für so etwas ist jetzt wirklich nicht die Zeit, ich weiß genau, warum an Bord eigentlich keine Frauen erlaubt sind!“ Als er das letzte Wort gebrüllt hatte, legte sich das Schiff schräg und Leo packte instinktiv an die Bettkante, um nicht gegen die Wand zu prallen. Kim klammerte sich ihrerseits an Leo. Das Schiff kam wieder in die Wagerechte und Terry warf mit den Worten: „Beeilt euch gefälligst!“ die Tür ins Schloss. Etwas rot im Gesicht standen Kim und Leo auf. Kim hob den Verband auf, den sie vorher aufs Bett geworfen hatte, und begann Leos Hand erneut zu verbinden. Hand in Hand verließen sie dann Leos Kajüte und gingen in Kims, da diese sich auch noch etwas überziehen wollte. Auch sie zog sich ein langärmeliges Shirt und darüber einen Pullover an. Sie suchte noch etwas und durchwühlte das ganze Zimmer danach. Schließlich fand sie es unter ihrem Bett in der Tasche, die Sie mitgenommen hatte. Einen Handschuh. Diesen zog sie Leo über den Verband. Er war ihr viel zu groß und passte ihm daher. Er schaute von dem Handschuh zu Kim, wieder zurück und fragte verwirrt: „Was soll das denn?“ „Dann ist deine Hand noch besser geschützt.“ So gingen sie an Deck, wo die anderen Männer der Mannschaft aufgescheucht herumrannten und die Sachen mit Tauen befestigten. Das Hauptsegel drohte sich selbstständig zu machen und Leo, die Gefahr erkennend, lief hin und packte zu. Kim rannte ihm nach und half ihm, das Tau wieder festzuzurren. Die Wellen wurden immer höher. Der Sturm tobte schon den ganzen Vormittag, doch ein Ende war noch lange nicht in Sicht. Sie konnten das gekaperte Schiff in einigen hundert Metern Entfernung in den Wellen tanzen sehen und fragten sich, ob es den anderen gelingen würde, durchzuhalten. Der Himmel war nahezu schwarz, hin und wieder erleuchtete ein Blitz den Himmel, dicht gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnern. Kim klingelten schon die Ohren von dem Getöse des Windes und dem lauten Donnern. Sie half mit, wo sie konnte. Als sie sah, wie eine der Kanonen versuchte, sich selbstständig zu machen, zog sie Leo am Ärmel und deutete darauf. Dieser nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich dahin. Sie nahmen das Tau, das sich gelöst hatte und banden es wieder fest, doch gerade, als sie das Seil verknotet hatten, brachte eine hohe Welle, die über das Deck schlug, das Schiff zum Schaukeln. Als die Welle vorüber war, schaute sich Leo nach Kim um, konnte sie aber nirgends sehnen. Angestrengt versuchte er, ob er sie hören konnte. Und tatsächlich, inmitten des tosenden Meeres, konnte er sie seinen Namen rufen hören. Panisch suchte er das Schiff mit den Augen nach ihr ab, konnte sie aber nicht finden. Erneut versuchte er sie zu hören und probierte, zu lokalisieren, woher ihre Stimme kam. Es kam von der Steuerbord- und Leeseite des Schiffes. Er rannte dorthin und beugte sich über die Reling, um zu sehen, ob sie vielleicht ins Wasser gefallen war, da sah er sie. Mit einer Hand hielt sie sich an dem Geländer fest, doch gerade, als er aufatmen wollte, rutschte sie von dem glitschigen Holz ab und fiel. Beherzt griff er zu und erwischte sie noch an der Hand, doch als sie sich verzweifelt daran festhielt, schrie er vor Schmerzen auf, denn sie hatte die Behandschuhte Hand erfasst; seine verletzte. Er versuchte verzweifelt sie hoch zu ziehen, aber er schaffte es nicht und der Handschuh drohte ihm von der Hand zu rutschen und damit mit Kim ins Meer zu fallen. Er versuchte es immer weiter und Kim schaffte es schließlich, die andere Hand um sein Handgelenk zu legen und sich festzuhalten. Das jedoch keine Sekunde zu früh, denn just in diesem Moment verabschiedete sich der Handschuh und wurde noch eine Weile vom Wind getragen, bis er schließlich verschwand. Unter großem Kraftaufwand gelang es ihm schließlich noch, Kim auf das sichere Deck zu hieven. Sie ließ sich in seine Arme sinken und zitterte vor Kälte und Angst. Die Schmerzen in Leos Hand ließen nicht nach und Kim wollte ihn scheinbar nie wieder loslassen. Aber sie begann sich zu wundern, warum keiner sie anherrschte, gefälligst weiterzumachen, da sah sie über Leos Schulter hinweg und ihre Augen weiteten sich. Sie ließ ihn los und stürmte an die Luvseite des Schiffes. Ächzend folgte Leo ihr, doch als er seinen Blick dem Horizont zuwandte, sah er, was die anderen so fesselte. Das französische Schiff stand in Flammen. Kim fragte Garret, neben dem sie stand, mit zitternder Stimme: „Was ist denn passiert?“ Ohne den Blick von dem Feuer abzuwenden antwortete er ihr: „Der Blitz hat eingeschlagen. Möge Gott mit uns gnädiger sein.“ Bei diesen Worten schlug er das Kreuz. Keiner sagte ein Wort, sondern alle starrten gebannt auf die Flammen, die dort am Horizont loderten. Jedoch, als die nächste große Welle tosend auf das Deck klatschte, begannen die Piraten wieder, sich ihren Aufgaben zuzuwenden. Insgesamt gewitterte es den ganzen Tag und die halbe Nacht. Als sich der Himmel endlich klärte, man den Vollmond und die Sterne sehen konnte und das Meer sich beruhigte, saßen die Piraten, am Ende ihrer Kräfte, an Deck und sprachen nicht. Auf dem gekaperten Schiff war ein Großteil der Waffen gewesen und knapp ein Drittel der Mannschaft. Kim hatte keinen von ihnen besonders gut gekannt, war aber trotzdem erschüttert, so viele Mitglieder ihrer „Familie“ auf einen Schlag verloren zu haben. Sie saß zwischen Leos Beinen, den Kopf gegen seine Brust gelehnt und sagte leise: „Du zitterst ja.“ „Nicht mehr, als du.“, kam es daraufhin von Leo. Kim schaute sich um. Einige der Piraten waren offensichtlich eingeschlafen und einige dösten nur so vor sich hin. Sie stand auf und sagte zu Leo: „Komm, wir gehen uns etwas anderes anziehen.“ Er nickte und ließ sich von ihr aufhelfen. Aus ihrer Kajüte holte Kim das Handtuch, das sie besaß und einige trockene Sachen, dann ging sie zu Leo, der schon mal zu sich vorgegangen war. Er saß auf seinem Bett und wartete auf sie, da er sich ja nicht alleine umziehen konnte. Bevor sie aber noch irgendetwas anderes machte, tadelte sie ihn: „Steh sofort auf, du machst das ganze Bett nass!“ Brummig tat er wie ihm geheißen und stellte sich hin. Dann fragte er: „Würdest du mir bitte helfen?“ „Heb deine Arme hoch.“ So zog sie ihm erst den Pulli, dann das Shirt aus. Auch bei der Jeans half sie ihm. Als er nur bibbernd in Boxershorts vor ihr stand, nahm sie das Handtuch und begann ihn trocken zu rubbeln. Als letztes trocknete sie seine Haare und legte das Handtuch beiseite. Als er sich nicht rührte fragte sie: „Soll ich dir bei der Boxershorts etwa auch helfen?“ Etwas verlegen nickte Leo. Kim seufzte und half ihm schließlich aus der alten raus und in eine frische Boxershorts rein. Dann nahm sie die Hose, die auf dem Bett lag und zog sie ihm an. Sie nahm auch das Hemd, zog es ihm über die Arme und knöpfte es zu. Jetzt begann sie sich selbst umzuziehen und legte sich zu Leo ins Bett, wo sie fast sofort einschlummerte. Es war dunkel. Sie befand sich auf einem Schiff, aber es war nicht die Vengeance. Es kam ihr seltsam vertraut vor, doch sie wusste nicht, woher sie dieses Schiff kennen sollte. Da fiel es ihr schlagartig ein; es war Alice Schiff. Als ihr das klar wurde, tauchten plötzlich auch die Piraten Alice’ Crew um sie herum auf. Einige waren schwer verwundet, andere kümmerten sich um sie. Kim schaute sich um und da sah sie sie: Alice lag da, wie Kim sie vor ungefähr einem halben Jahr zum letzten Mal gesehen hatte. Mit vor Blut rot gefärbter Bluse und einem Dolch im Rücken lag sie an Bord. Die Piraten würdigten sie keines Blickes, da sie sich erst einmal um die noch lebenden kümmern mussten. Doch plötzlich tauchten, wie aus dem Nichts, einige Männer neben ihr auf. Kim erkannte sie sofort, es waren Untote. Der eine beugte sich zu ihr hinunter, zog ihren Kopf an den Haaren hoch und als würde sie noch leben, flüsterte er: „Du hast es verdorben!“ Obwohl er es so leise gesagt hatte, dass eigentlich nur Alice es mitbekommen konnte, hatte Kim alles gehört und auch jetzt hörte sie, wie Alice keuchte: „Nein, bitte, noch eine Chance!“ Sie hatte noch gelebt? Die ganze Zeit hatte Kim geglaubt, sie sei sofort gestorben, aber jetzt wurde ihr klar, dass Jon, ob nun unabsichtlich oder nicht, ihr Herz verfehlt hatte und sie wahrscheinlich qualvoll verblutet war. Angewidert ließ der Untote ihr Haar los und Alice Kopf schlug unsanft am Boden auf. Die Untoten wandten sich schon wieder von ihr ab, da ballte sie die Hände zu Fäusten und versuchte aufzustehen. Die Untoten schauten ihr belustigt zu und der, der schon vorher gesprochen hatte, sagte: „So, du willst also noch eine Chance? Wie sollen wir das machen? Wir können dich nicht vor dem Tod Bewahren.“ „Oh doch, das könnt ihr“, flüsterte sie, die Zähne zusammenbeißend. Der Untote hob erstaunt die Augenbrauen und fragte: „Und wie sollen wir das machen?“ „Macht mich zu einer von euch, ich will, dass dieses Miststück, für das mich Jon aufgegeben hat, so sehr leidet, wie ich!“ „Du gefällst mir und du hegst die richtigen Gedanken, um eine von uns zu werden; Rache.“ „Dann helft mir!“ Der Untote kniete sich zu ihr hinunter und sah sie für einen Moment an. Dann fasste er den Griff des Dolches und drehte ihn, langsam, um 180 Grad. Alice stöhnte auf, ließ sich aber nicht zu einem lauten Schreien hinreißen. Sie ertrug die Schmerzen. Der Kerl ließ den Dolch los und sagte: „Nun gut, wir werden dir helfen, aber verdirb es nicht noch einmal!“ Kim konnte nicht sehen, was er machte, denn er kniete direkt vor Alice und versperrte Kim so die Sicht auf das Geschehen. Im nächsten Moment jedoch sagte er: „Wenn sich der Letzte von dir verabschiedet hat und sie dir die letzte Ehre erweisen, dann wirst du auferstehen und nicht mehr sterblich sein.“ Von einem Augenblick auf den anderen wurde es schwarz und wieder hell. Kim sah Alice nun in ihrem Bett in ihrer Kajüte liegen. Die Hände gefaltet, jetzt war sie wirklich tot. Just in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Leo trat herein. Als er Alice Leichnam sah, bekreuzigte er sich hastig und ging dann an das Bett. Er sagte mit einem Hauch Melancholie in der Stimme: „Ach Alice, du hast nie den Wert eines Menschen zu schätzen gewusst. Erst als sie weg waren, fiel dir auf, wie viel dir an ihnen lag, aber jetzt ist es zu spät, jetzt bist du nicht mehr da. Und ich hasse und verachte dich dafür, doch habe ich mein Glück jetzt gefunden. Ich hoffe, du gönnst es mir, mach’s gut.“ Damit schlug er noch einmal das Kreuz und ging wieder. Kim setzte sich auf einen Stuhl und starrte gebannt auf die schöne Leiche. Sie sah so fast schöner aus, als lebendig. Wie eine Puppe, für die Ewigkeit gemacht. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür erneut und zwei Piraten ihrer Crew kamen herein, um sie zu holen, damit sie ihr die letzte Ehre erweisen konnten. Die letzte Ehre? Hatte der Untote nicht gesagt, dann würde sie wieder auferstehen? Plötzlich öffneten sich die Augen der Toten und starrten sie an. Sie durchbohrte Kim förmlich mit ihrem Blick, sie schien sie zu verschlingen, alles zu sehen. Angsterfüllt rang Kim nach Luft und begann zu schreien. Von ihrem eigenen Schrei geweckt wachte sie auf und sah Leo neben sich kerzengerade im Bett sitzen, dann fragte er sie leise: „Was ist denn? … Kim?“ Sie klammerte sich an ihn. Am ganzen Körper zitternd, schaute sie zu ihm auf. Er sah auf sie hinab und erneut begann sie zu schreien, denn sie hatte anstatt seinen, Alice Augen gesehen, die sie anstarrten, wie in ihrer Vision. Sie sprang auf und ging rückwärts zur Tür. Als sie diese erreichte, suchte sie nach dem Türgriff. Leo war inzwischen auch aufgestanden und fragte sie etwas, doch sie konnte es nicht verstehen. Er hatte wieder seine normalen Augen, doch trotzdem öffnete sie die Tür, schob sich durch sie hindurch und schloss die Tür wieder hinter sich. Nun begann sie zu rennen. Sie wusste nicht genau wohin, doch ihre Füße lenkten ihre Schritte vor Jons Kajüte. Sie riss die Tür auf und verbarrikadierte sie gleich darauf mit allem, was sie finden konnte. Von dem Lärm aufgeweckt, schaute Jon sie fragend an. Als sie nichts sagte, sondern sich zitternd auf den Boden, am anderen Ende des Raumes, möglichst weit weg von der Tür, setzte, stand er auf, ging zu ihr hin und wollte ihr über den Kopf streicheln. Doch er hatte sie kaum berührt, da zuckte sie zusammen, als hätte er sie geschlagen. Er kniete sich zu ihr nieder und fragte: „Was ist los, Kim? Was machst du mitten in der Nacht in meiner Kajüte und wieso blockierst du noch dazu meine Tür?“ Mit angsterfüllter Stimme keuchte sie: „Sie lebt, sie ist eine Untote, sie will sich an mir rächen, mich genauso leiden lassen, wie sie gelitten hat.“ „Wer? Wer lebt und will sich an dir rächen?“ „Alice.“ Jon erwiderte einige Zeit nichts, dann sagte er: „Das kann nicht sein, Alice ist tot. Ich habe sie selbst umgebracht. Und wie sollte sie denn auf das Schiff gelangen?“ „Sie war nicht tot. Ich habe es gesehen. Und als sie ihr die letzte Ehre erweisen wollten, hat sie die Augen aufgeschlagen, obwohl sie da wirklich tot war, und hat mich angestarrt. Eben, als ich aufgewacht bin, hatte Leo ihre Augen und hat mich mit diesem Blick angeschaut.“ „Ach was, das hast du dir nur eingebildet, das lag wahrscheinlich an…“ Es klopfte und Leo fragte leise: „Kim? Bist du da?“ Sich an die Wand drückend, fiepte Kim ängstlich: „Nein, Jon, bitte nicht.“ Doch Jon antwortete schon: „Ja sie ist hier, warte, ich mache dir auf.“ Und ihr Flehen missachtend, baute er die Barrikade ab und öffnete Leo, der, sich bedankend, eintrat. Er ging auf Kim zu, die in eine Ecke gedrängt dasaß und ihn zitternd und schnell atmend ansah. Seine Schritte wurden langsamer und ungefähr zwei Meter vor ihr blieb er stehen. Ruhig fragte er: „Was ist denn los, Kim? Habe ich etwas getan?“ Sie schüttelte den Kopf, nicht fähig, auch nur einen Ton herauszubringen. „Nein? Hattest du wieder eine Vision?“ Als sie nickte fuhr er fort: „Und was hast du gesehen?“ „Alice.“ Auch er schwieg bei diesem Namen. Er trat näher an sie heran, kniete sich zu ihr nieder und streichelte ihr sanft mit der rechten Hand über die Wange. Nachsichtig lächelnd fragte er: „Wollen wir wieder schlafen gehen?“ Ganz konnte sie noch nicht glauben, dass sie sich das ganze eingebildet hatte, nickte aber und folgte ihm aus dem Raum. Sie wusste nicht was sie glauben sollte, hatte sie es sich nun eingebildet oder nicht? Verzweifelt versuchte Kim sich an den Gedanken festzukrallen, dass es nur Einbildung gewesen war und verbannte den Gedanken an das Gesehene und Geschehene in den hintersten Winkel ihres Gedächtnisses. Als sie wieder neben Leo lag, schmiegte sie sich an ihn und war froh, von ihm in den Arm genommen zu werden, obwohl sie immer noch ein wenig zitterte. Da flüsterte er: „Mein kleiner Engel, hab keine Angst, ich bin da und werde dich vor allem beschützen und wenn ich dabei draufgehe!“ Kim wusste, dass das ein Schwur war und beruhigte sich wieder. So konnte sie dann wieder einschlafen und verschlief den ganzen nächsten Vormittag. Als sie aufwachte, saß Leo im Bett, ihren Kopf auf seinem Schoß und einem Buch in der Hand. Es war das Buch, aus dem sie den Piraten vor nicht allzu langer Zeit vorgelesen hatte. Sie blieb liegen und fragte: „Du liest?“ Er sah auf und antwortete lächelnd: „Ja, hier hat man ja sonst nichts zu tun und außerdem haben wir den Unterricht in letzter Zeit ziemlich vernachlässigt.“ Nach einiger Zeit des Schweigens fragte nun sie: „Willst du mir nicht etwas vorlesen?“ Er stutzte kurz, las ihr dann aber doch vor. Zwar las er immer noch stockend und betonte auch nicht immer sehr vorteilhaft, aber er hatte sich sehr verbessert. Insgeheim fragte Kim sich, ob er alleine geübt hatte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder, da das Buch ja die ganze Zeit bei ihr gewesen war und seit sie Leo das erste Mal daraus vorgelesen hatte, war sie nicht mehr von seiner Seite gewichen. Als sie am Nachmittag das Deck betraten, war die Stimmung an Bord sehr gedrückt. Der Sturm der vorausgegangenen Nacht war noch nicht vergessen und auch der Schmerz über den Verlust der Freunde stand den meisten Piraten förmlich ins Gesicht geschrieben. Am Himmel standen wieder dicke Wolken und verdeckten die Sonne. Auch die See war rauer, als gewöhnlich. Kim fürchtete schon, dass sie noch einen solchen Sturm überstehen mussten, doch als sie Leo fragte, winkte dieser nur ab und meinte, dass das wohl kaum der Fall sein dürfte. Aber kaum hatte Leo sie beruhigt, kam einer der Piraten auf Kim zugelaufen und zog sie beiseite. Als Leo ihnen folgte, musterte der Kerl ihn missbilligend und meinte: „Ich müsste mit ihr unter vier Augen reden.“ Kim jedoch erwiderte trocken: „Alles, was du mir sagst, wird er sowieso erfahren, also rede, oder lass es.“ Der Pirat überlegte kurz, fuhr dann aber fort: „Wir haben kein Wasser mehr.“ Kims Augen weiteten sich und sie fragte entsetzt: „Wir haben was?“ „Wir haben kein Wasser mehr und die nächste Stadt werden wir in frühestens vier Tagen erreichen.“ „Und was sollen wir jetzt machen?“, wollte Kim bestürzt wissen. Der Pirat zuckte mutlos mit den Schultern und sagte seufzend: „Das wollte ich dich gerade fragen.“ Kim überlegte kurz und fragte dann: „Wissen denn die anderen aus der Mannschaft schon davon?“ Ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. Kim dachte nach und währenddessen begann es zu regnen. Als ein Tropfen ihre Haut berührte, ging ihr plötzlich ein Licht auf, hastig sagte sie: „Ich habe eine Idee! Wir werden das Regenwasser sammeln! Schnell, du kommst mit mir und du, Leo, du sagst den anderen bescheid, dass sie alle Schüsseln, Töpfe, Fässer und sonstige Sachen auf Deck bringen sollen, vielleicht schaffen wir es ja, genug Wasser aufzufangen.“ Sie lief in Richtung Kombüse und befahl dem Pirat, der ihr gefolgt war, zwei leere Fässer mit hinaus zu nehmen. Sie selbst nahm einige Töpfe. Als sie draußen ankamen, stellten sie die Sachen an eine, ihrer Ansicht nach, günstige Stelle und liefen wieder hinein, diesmal mit noch einigen anderen Piraten. Nachdem alles, womit man den Regen fangen konnte, an Deck aufgestellt war, ließ sich Kim erschöpft am Hauptmast hinab gleiten. Sie richtete den Kopf gen Himmel, schloss die Augen und genoss den Regen, der sanft auf ihr Gesicht fiel. Sie fragte sich, wo Leo steckte und wie zur Antwort, küsste sie jemand zärtlich. Sie erkannte Leo sofort und erwiderte den Kuss. Als er von ihr abließ, sich neben sie setzte und den Arm um sie legte, schaute Kim noch einmal über Deck. Es sah seltsam aus, aber ihr Plan schien aufzugehen. Die Töpfe und Schüsseln füllten sich langsam, doch da hörte es plötzlich auf zu regnen. Verzweifelt sah Kim noch einmal gen Himmel, doch dieser klarte auf und die Sonne schien nur einige Minuten später gnadenlos auf sie herab. Kim erhob sich und herrschte einige Piraten, die faul herumsaßen, an, ihr zu helfen das Wasser in den Töpfen und Schüsseln in die Fässer zu schütten. Es war nicht sehr ertragreich gewesen. Gerade mal zwei Fässer hatten sie, nicht ganz halbvoll, füllen können. Das würde höchstens noch für den nächsten Tag reichen, aber was sollten sie dann machen? Die Piraten konnten kaum nur noch Alkohol trinken. Obwohl? Wenn sie nur noch wenig tranken und auch einiges an Alkohol, dann würde es vielleicht reichen. Sie ließ die Fässer von den Piraten, die sich gerade wieder davonstehlen wollten, in die Vorratskammer tragen, damit es nicht sofort wieder verdunstete und begab sich auf die Suche nach Jon. Diesen fand sie in seiner Kajüte, in das Logbuch eintragend. Als sie eintrat, sah er nicht auf, sondern schrieb in aller Seelenruhe weiter. Sie sagte nichts, sondern schaute ihm zu. Er strahlte eine solche Gelassenheit aus, dass Kim sich fragen musste, ob der Verlust der Männer einfach so an ihm vorbeigezogen war. Nach einer Weile fragte Jon, ohne aufzublicken: „Geht es dir wieder besser?“ Kim erschrak ein wenig, denn obwohl er leise gesprochen hatte, kam es ihr nach der Zeit der vollkommenen Ruhe vor, als hätte er gebrüllt. Etwas verunsichert sagte sie: „Ja, schon, aber wir haben ein wichtigeres Problem.“ Jetzt schaute Jon doch auf und fragte: „So?“ Er bot ihr den Stuhl ihm gegenüber an und fuhr fort: „Was für ein Problem haben wir denn?“ Kim setzte sich nicht, sondern blieb hinter dem Stuhl stehen. Sie versuchte genauso ruhig zu bleiben, wie er es war und sagte schließlich: „Wir haben kein Wasser.“ Jon sah sie skeptisch an und fragte: „Gar keines?“ „Nun ja, noch genug für höchstens einen Tag.“ „Und was schlägst du vor?“ Kim war etwas verwirrt, wieso fragte er denn nach ihrer Meinung? Das hatte er doch sonst nie getan. Zerstreut antwortete sie: „Also, ich würde, … nein. Man sollte, … nein! Die Crew sollte nur noch so wenig Wasser wie möglich trinken und ansonsten Alkohol, davon müssten wir noch genug haben.“ „Denkst du? Aber wir haben ungefähr fünfzehn Flaschen Rum und zehn Flaschen Bier, das reicht nie.“ „Und wenn wir einfach Salzwasser destillieren?“ „In größeren Mengen ist das giftig.“ „Aber, was sollen wir denn dann…“ Sie konnte den Satz nicht mehr beenden, denn Garret platzte jäh herein und brüllte, sodass Kim unwillkürlich zusammenzuckte: „Captain, wir haben ein Schiff gesichtet, sollen wir angreifen?“ Jon hob die Hand und brachte ihn somit zum Schweigen, dann sagte er: „Ich komme sofort.“ Damit schloss Garret die Tür leise wieder. Jon lächelte Kim an und meinte: „Deine Ideen sind gar nicht mal so übel, aber unsere Rettung kommt schon angeschwommen.“ Er erhob sich und ging zur Tür, die er für Kim aufhielt. Sie ging hindurch und hinauf aufs Hauptdeck. Leo kam ihr entgegen und nahm ihre Hand ohne etwas zu sagen. Jon kletterte hinauf ins Krähennest und sah durch das Fernrohr. Die Crew wartete an Deck, ohne auch nur einen Mucks zu machen. Dann rief Jon: „Ein großes Handelsschiff, britisch, das lassen wir uns doch wohl nicht entgehen, oder?“ Die Piraten grölten und gaben damit ihre Zustimmung kund. Leo wandte sich nun an Kim: „Ich glaube, du solltest wieder unter Deck warten.“ Stur sagte Kim: „Nein!“ Daraufhin brauste Leo auf: „Jetzt sei doch nicht so engstirnig, oder hat es dir gefallen, den Franzosen umzubringen?!“ Kim sah zu Boden und schüttelte kleinlaut den Kopf, doch sagte sie gleich wieder etwas bestimmter: „Dann bleibst du aber auch unter Deck!“ Leo starrte sie verdutzt an und fragte verwirrt: „Wieso das denn?“ „Weil zwei Finger weniger reichen, als nächstes verlierst du womöglich noch deinen Kopf! Außerdem kann es sich bestimmt nicht positiv auf die Heilung der Wunden auswirken, wenn du kämpfst!“ Edward, der das Gespräch mehr unfreiwillig mit angehört hatte, da die Beiden äußerst laut geworden waren, mischte sich nun auch ein: „Ich glaube fast, Kim hat Recht, Leo. Ihr solltet zusammen unter Deck bleiben.“ Leo fuhr ihn allerdings an: „Von wegen! Ich werde kämpfen, das sind doch nur Briten!“ Nur Briten; ebendiese Briten hatten nicht selten auf ihren Handelsschiffen einige Männer der Marine, um sich vor Piraten zu schützen und die waren nicht ohne. Das außer Acht lassend, brüllte Kim: „Wenn Leo an Deck bleibt, bleibe ich auch! Ich lasse ihn nicht alleine hier oben!“ Edward schüttelte resignierend den Kopf und murmelte: „Diese Jugend heutzutage!“ Leo sagte beschwörend zu Kim: „Bitte, Kim, ich will doch nur, dass dir nichts geschieht.“ Doch sie entgegnete trotzig: „Eben das gilt auch für mich.“ Leo sah ein, dass es aussichtslos war, mit ihr zu diskutieren. So nahm er seine geladene Steinschlosspistole und reichte sie ihr mit den Worten: „Benutz sie nur im äußersten Notfall!“ Als sie in Schussweite waren und sich sicher waren, dass das fremde Schiff nicht mehr entkommen konnte, hissten sie ihren Jolly Roger und machten die Enterhaken klar. Kim erfasste Leos Rechte, nun doch etwas Angst bekommend. Aber Leo drückte ihre Hand, lächelte sie an und sagte leise: „Ich liebe dich.“ Kim schmiegte sich an seine Brust und zitterte ein wenig vor Aufregung auf das Bevorstehende. Leo schloss seine Arme um sie und fragte: „Willst du nicht doch lieber unter Deck bleiben?“ Energisch schob sich Kim von ihm und sagte stur: „Nein!“ Das wollte sie vom Anfang, bis zum bitteren Ende durchstehen. Leo seufzte, resignierend lächelnd: „So kenne ich dich, immer mit dem Kopf durch die Wand.“ Gebannt schauten sie auf das schnell näher kommende britische Schiff, mit dem Namen Audrey. Als das Schiff in Reichweite war, schleuderten die Piraten ihre Enterhaken auf das fremde Deck und schwangen sich herüber. Kim umfasste das Entermesser, das sie von Terry bekommen hatte, noch fester. Irgendwie hatten es Kim und Leo auch geschafft an Deck der Audrey zu kommen und sofort wurden sie von den Briten attackiert. Sie waren erstaunlich gut bewaffnet, doch noch lange nicht so gut wie die Piraten. Es waren auch verhältnismäßig viele Marinesoldaten an Bord, doch die Seeräuber juckte das nicht, im Gegenteil, denn je besser ein Schiff bewacht wurde, umso größer war die Beute. Kim focht verbissen, Rücken an Rücken mit Leo, sie hielt sich gut, doch als ein Zweiter auf sie losging, sah es anders aus. Einer der beiden Briten verletzte sie am Arm. Kim taumelte zurück und stieß mit Leo zusammen, der mit einem Schrank von Mann zu tun hatte. Als er sie spürte, schielte er kurz zu ihr. Er sah, dass Blut an ihrem Arm entlanglief und zwei Männer gegen sie kämpften und wurde nervös. Das bemerkend schlug der Kerl zu und traf ihn hart im Gesicht. Leo stolperte rückwärts, fing sich aber sofort wieder. Er duckte sich unter dem folgenden Schwerthieb weg und riss dem Briten mit dem Bein die Füße vom Boden. Der Haudegen krachte geräuschvoll zu Boden. Leo tötete ihn, mit einem Stich durchs Herz. Er zielte präzise, denn wenn er eine Rippe traf, wäre das fatal gewesen, doch es lief alles glatt. Als er sich wieder aufrichtete, war Kim verschwunden. Panisch rannte er durch das Kampfgetümmel und suchte nach ihr, doch er wurde von einem Marinesoldaten gestoppt, der sich ihm breitbeinig in den Weg stellte und hämisch grinste. Kim saß mit klopfendem Herzen in der Kombüse. Einer der Briten hatte sie hierher entführt und als sie zum Schreien angesetzt hatte, hatte er ihr den Mund zugehalten. Seine Hand ruhte noch immer auf ihren Lippen. Er kniete vor ihr, doch da es dunkel war, konnte sie seine Mimik nicht erkennen. Sie fragte sich gerade, ob das das Ende war, ob er sie erst vergewaltigen und dann töten würde, da flüsterte er: „Hab keine Angst, wir befreien dich von diesem Piratenpack und bringen dich zurück zu deiner Familie, es wird alles gut.“ Kim starrte ihn verständnislos an, aber woher sollte er auch wissen, dass ebendieses „Piratenpack“ ihre Familie war? Der Fremde streichelte ihr wohlwollend über die Schulter und nahm langsam seine Hand von ihrem Mund. Kim schrie nicht, sondern sie sagte, sich bemühend, ruhig und gelassen zu klingen: „Lass mich in Ruhe und untersteh dich, mich zu berühren.“ Das Zittern in ihrer Stimme konnte sie nicht verbergen und der Brite verstand es wohl falsch. Er zog sofort seine Hand weg und sagte mitleidig: „Du armes Mädchen, was haben dir diese Halunken nur angetan? Komm, ich bringe dich zu Eleonora.“ Kim verstand gar nichts mehr, was sollten die Piraten ihr denn angetan haben? Wütend fuhr sie ihn an: „Sie sind meine Familie, sie würden mir niemals etwas antun!“ Der Mann hielt ihr erneut die Hand auf den Mund und flüsterte: „Psst! Sei doch still, du bist ja vollkommen durcheinander!“ Er half ihr auf und führte sie, mit einem harten Griff, der jeglichen Widerstand zwecklos machte, zu einer Treppe, die sie hinab stiegen. Dann noch eine. Nun gingen sie einen langen Gang entlang, auf dem ein purpurner Teppich ausgerollt war. Am Ende des Ganges hielten sie vor einer Tür. Der Brite klopfte an und fragte: „Miss Roberts? Darf ich eintreten?“ Von drinnen kam prompt die Antwort: „Mack? Seid Ihr das? Wenn ja, dann tretet ein.“ Mack öffnete die Tür und trat ein; Kim im Schlepptau. Er verbeugte sich und sagte dann, zur trotzig dreinblickenden Kim nickend: „Miss, verzeiht die Störung, aber dieses Mädchen befand sich in Gefangenschaft der Piraten, darf ich es in Eurer Obhut lassen?“ Das Mädchen, das in dieser nicht allzu geräumigen Kajüte an einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen saß, nickte, sagte aber nichts. Kim wartete, bis sich Mack wieder zurückgezogen hatte und hielt dann ein Ohr an die Tür, um zu lauschen, ob er vor der Tür stehen blieb, oder wieder ging. Als sie Schritte vernahm, die immer leiser wurden, bis sie schließlich verklangen, atmete sie auf. Sie wartete noch ein, oder zwei Minuten, dann öffnete sie die Tür. Doch Eleonora drückte sie wieder zu und starrte Kim mit großen Augen an, dann fragte sie: „Bist du verrückt? Diese Piraten werden dich noch umbringen! Bleib hier bei mir, da bist du sicher.“ Kim musterte das Mädchen geringschätzig. Es war ungefähr ein oder zwei Jahre jünger als sie. Es wirkte sehr nobel, da sie ein Kleid aus einem teuren Stoff trug. Die blonden Haare waren zu Locken gedreht worden und hochgesteckt. Ihre kleinen Füße steckten in samtenen Schühchen, natürlich mit roten Absätzen. Das Gesicht hatte feine Züge, rote Lippen und Wangen und eisblaue Augen, die sie fassungslos anschauten. Kim verzog keine Miene, sondern sagte gleichgültig: „Ich muss wieder an Deck.“ „Aber warum denn?“, fragte Eleonora mit ihrer hohen Kinderstimme. „Weil ich der Crew helfen muss.“ „Hab keine Angst, die schaffen das schon und dann werden diese grauenvollen Piraten allesamt gehängt.“ Bei dem Gedanken überkam Kim ein kalter Schauer und sie sagte fröstelnd: „Du verstehst wohl nicht ganz, auf wessen Seite ich stehe.“ Sie zog das Amulett, das sie von Jon zum Geburtstag bekommen hatte, aus dem Ausschnitt und legte es auf das T-Shirt. Eleonora starrte ungläubig von dem Amulett zu Kim und wieder zurück. Dann fragte sie: „Das ist doch wohl nur ein schlechter Scherz?“ Kim lächelte mild und sagte: „Nein, Kleine, das ist kein Scherz, weder gut noch schlecht; das ist mein Ernst.“ Eleonora, die das ganze einfach nicht glauben wollte, fasste sie am Arm, als sie die Tür erneut öffnen wollte und sagte: „Aber doch wohl nicht freiwillig, bleib hier, wir werden dich befreien!“ Kim riss sich los, zog die Pistole, die Leo ihr gegeben hatte, und richtete sie auf das Mädchen, das erschrocken zurückwich. Dann sagte sie: „Ich wurde schon befreit und jetzt muss ich meinen Wohltätern helfen!“ Als Eleonora gerade den Mund öffnete, um zu schreien, fügte Kim hinzu: „Und wenn ich nur einen Mucks von dir höre, dann komme ich zurück und knall dich ab!“ Damit ging sie endlich aus der Tür und suchte sich den Weg an Deck. Die Pistole hatte sie schon lange wieder weggesteckt. Die Piraten hatten in der Zwischenzeit die Oberhand gewonnen und Kim suchte nach Leo. Sie entdeckte ihn im Duell mit einem nicht wirklich großen, aber geschickten Briten. Kim hastete durch die Reihen der Kämpfenden und schlich sich von hinten an den Briten an. Als Leo Kim sah, leuchteten seine Augen auf, doch Kim legte den Finger auf die Lippen. Sie kam dem Briten immer näher und Leo lenkte ihn ab. Schließlich nahm sie ihn von hinten in den Schwitzkasten und hielt ihn solange fest, bis Leo den finalen Hieb platziert hatte. Als die Muskeln des Briten erschlafften und er immer schwerer wurde, ließ Kim ihn fallen und rannte auf Leo zu, der sie in seine Arme schloss. Beide hatten bei jedem Schritt gefürchtet, über die Leiche des Anderen zu stolpern und waren nur froh, sich lebendig in die Arme schließen zu dürfen. Während sie so dastanden, kapitulierten die Briten um sie herum nach und nach. Wenig später wurden die meisten Fässer Wasser, zusammen mit der Crew der Audrey, auf die Vengeance gebracht. Die Piraten hatten Recht behalten, es waren Kisten voll Gold gelagert und für Eleonora wollten sie ein ordentliches Lösegeld erpressen. Da die Briten früher aufgegeben hatten, als die Franzosen, reichte Kims Kajüte nicht. Es mussten auch noch ein paar Mehr-Bett-Kabinen herhalten. Die beiden Schiffe ankerten dicht nebeneinander und die Verurteilung, die Vollstreckung des Urteils und das Aufteilen des Goldes, wurden für den nächsten Vormittag angesetzt. An Deck herrschte das bunte Treiben, wie nach jeder gewonnenen Schlacht. Auch Kim und Leo hatten jeweils ein Glas Rum neben sich stehen. Leo saß im Schneidersitz gegen die Reling gelehnt und strich immer wieder durch Kims Haare. Diese hatte den Kopf in seinem Schoß gebettet und lag, in den klaren Sternenhimmel schauend, entspannt da und sprach nicht. Nach einer Weile fragte Leo: „Tut dein Arm eigentlich noch weh?“ „Das? Das ist doch nur ein Kratzer, aber wie geht es deiner Hand? Die muss doch eigentlich ziemlich gelitten haben.“ Er winkte ab und meinte: „Ach was, du hast deine Arbeit schon gut gemacht, als du sie genäht hast, ich glaube, man sollte dich fast zur Schiffsärztin erklären!“ Am nächsten Morgen wachte Kim an Deck auf. Ihr Kopf lag noch immer auf Leos Schoß. Dieser schlief in aller Seelenruhe, die Arme vor der Brust verschränkt. Die Sonne stand schon hoch und die Piraten waren munter. Kim erhob sich und weckte Leo mit einem liebevollen Kuss auf die Wange, dann flüsterte sie: „Komm, Schatz, du musst aufstehen.“ Leo blinzelte verschlafen, streckte sich und gähnte herzhaft. Dann ließ er sich von Kim aufhelfen, küsste sie ebenfalls auf die Wange und flüsterte: „Guten Morgen, Engelchen.“ Sie wollten gerade zu Terry gehen, da scharten sich die Piraten schon um Jon, der damit begann, die Beute aufzuteilen. Es lief ab, wie beim letzten Mal, nur dass Leo dieses Mal nicht mehr und Kim nicht weniger bekam. Als das geklärt war, wurden die Gefangenen aufgeführt, unter ihnen die kleine Eleonora. Auch die Verhörung und die Verurteilung verlief wie beim letzten Mal, mit dem einzigen Unterschied, dass dieses Mal ein Großteil der Gefangenen zu den Piraten desertierte, unter ihnen erkannte Kim auch den Mann, der sie am Abend zuvor zu Eleonora geschliffen hatte. Der Rest wurde über die Planke gejagt, oder erschossen. Kim hatte nicht zugeschaut, es hatte ihr schon genügt, bei den Franzosen zuzusehen. Später am Tag saßen Leo und Kim bei Terry, Edward, Jack, Garret und Jon, die sich noch über die Schlacht unterhielten. Kim hörte ein Mädchen weinen und wusste sofort, dass es Eleonora war. Sie sah sich nach ihr um und entdeckte sie bei Thomas, Bartholomew und Hans, die sie, jeweils mit einem Messer in der Hand, triezten. Kim hatte Mitleid mit der armen Eleonora und erhob sich, um zu ihr zu gehen. Leo, den üblen Charakter der drei kennend, folgte ihr, damit sie nicht in ihr eigenes Verderben rannte. Sie hörte, wie Hans sagte: „Du hast aber schöne Locken, wie sähest du wohl ohne deine langen, blonden Haare aus?“ Bartholomew entgegnete hämisch grinsend: „Probieren wir’s doch aus!“ Er ging gerade auf Eleonora zu, das Messer gezückt um ihr die Haare abzuschneiden, das stellte Kim sich ihm in den Weg und zischte: „Lasst die Kleine in Ruhe, sie hat euch nichts getan!“ Bartholomew spuckte aus und grinste: „Geh aus dem Weg, Kim, oder willst du auch deine Haarpracht verlieren?“ „Trau dich doch!“ Das hätte sie lieber nicht sagen sollen, denn schneller, als sie schauen und Leo reagieren konnte, hatte er sie an den Haaren gepackt und diese mit einem Hieb seines Entermessers abgesäbelt. Lachend stieß er sie zu Boden und ließ ihre Locken durch seine Finger gleiten, doch wurden sie vom Wind fort getragen. Kim starrte fassungslos ihren Haaren hinterher. Leo allerdings wollte schon auf Bartholomew losgehen, da rief Kim: „Lass das, Leo, der Kerl ist es nicht wert!“ Thomas lachte hinterhältig: „Genau, Leo-Schatzi, du könntest dich sonst noch verletzen, oder gar noch einen Finger verlieren, dann hättest du nur noch sechs!“ Leo knurrte und spuckte zornig aus, blieb aber stehen. Kim, die langsam wieder aufgestanden war, sagte leise: „Lern erstmal rechnen, Thomas, acht minus eins sind nämlich sieben und nicht sechs. Und du, Bartholomew, du hattest doch deinen Spaß, jetzt kannst du Eleonora ja in Ruhe lassen!“ Ihre jetzt nur noch knapp schulterlangen Haare, wehten in einer frisch aufkommenden Brise und noch bevor Bartholomew etwas erwidern konnte, stand Eleonora schon mit geschwellter Brust und voller Abscheu in den Augen vor ihr und brüllte: „Das ist meine Angelegenheit! Halt dich da raus, du kleine Piraten-Schlampe! Von einer Person, die es mit allen und jedem hier treibt, brauche ich keine Hilfe!“ Leo krempelte sich die Ärmel hoch und schnaubte: „Na warte, du kleines Biest, ich mach dich gleich zur Piraten-Schlampe!“ Doch er kam nicht zu ihr, denn Kim hatte ihr schon eine gescheuert. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, drehte sie sich um und ging unter Deck. Leo war sich sicher, Tränen in ihren Augen gesehen zu haben. An das Gör gewandt, knurrte er: „Wir sprechen uns noch!“ Dann lief er Kim hinterher. Als sie gegangen war, war es still an Deck gewesen. Jeder hatte gesehen, was Bartholomew getan hatte und jeder hatte gehört, was Eleonora gesagt hatte. Sie saß auf ihrem Bett und versuchte vergeblich ihre Tränen zu trocknen. Doch die Worte des Mädchens hatten sie zu sehr verletzt. Hatten sie sie doch zu sehr an damals erinnert, an Cécile und Jackie. Alles, was sie verdrängt, in sich hineingefressen hatte, kam jetzt heraus. Sie fühlte sich elend, nicht zuletzt, weil sie ihre Haare für das kleine Miststück geopfert hatte. Sie war so stolz auf ihre langen Haare gewesen und jetzt waren sie weg, von einem Moment auf den anderen. Die Tür öffnete sich langsam und Leo trat herein. Als er Kim sah, still dasitzend, in einem Meer von Tränen, da nahm er sie in den Arm und strich ihr über den Rücken. Eigentlich wollte er, dass sie sich beruhigte, doch sie begann jetzt hemmungslos zu schluchzen. Es schien gerade, als hörte sie nie mehr auf zu weinen, da fasste sie sich langsam und wischte sich die Tränen, diesmal mit mehr Erfolg, von den geröteten Wangen. Immer noch nicht ganz beruhigt lachte sie: „Oh Mann, ich sehe bestimmt schrecklich aus!“ Leo erwiderte ihr Lächeln und schüttelte den Kopf, dann sagte er: „Du siehst nie schrecklich aus, Engelchen.“ „Ich bin doch so dumm, nur, weil meine Haare etwas kürzer sind und dieses Gör mich beschimpft hat, heule ich hier wie ein kleines Kind, dabei hast du deine Finger verloren und ein Drittel der Mannschaft liegt auf dem Grunde des Meeres.“ Leos Lächeln verschwand von seinem Gesicht und er sagte zornig: „Das Miststück hat dich eine Schlampe genannt, obwohl du deine Haare für sie geopfert hast! Allein dafür sollte sie in der Hölle schmoren, oder zumindest sollten die Drei ihr die Haare auch noch stutzen, soll sie doch mit einer Glatze herumlaufen! Aber du solltest wissen, dass alle hier an Bord wissen, dass du es nicht mit jedem treibst. So sehr manche es sich auch wünschen, einschließlich Hans, Thomas und Bartholomew.“ Kim musste kichern. Leo hatte Recht, solange sie und der Rest der Mannschaft wussten, dass die Behauptung Eleonoras nicht stimmte, konnte es ihr gleich sein. Sie wusste, dass zumindest Jon, Garret, Laffite, Terry, Edward, Jack und auch Leo, der hier bei ihr saß und den Arm um sie gelegt hatte, zu ihr halten würden. Sollte das Mädchen doch von ihr denken, was es wollte, solange diese zu ihr hielten, war es egal. Sie ging zu ihrer Truhe und holte einen Spiegel heraus, der zwischen ihren Kleidern lag, damit er nicht zerbrach. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete musste sie erst schwer schlucken, dann prustete sie los: „Na toll, der Kerl ist sogar zu blöd, Haare gerade abzuschneiden, ich sehe ja aus, wie eine Vogelscheuche!“ Leo ging zu ihr und nahm den Spiegel, dann legte er ihn aufs Bett und sagte: „Ich könnte sie dir vielleicht gerade schneiden und wenn wir an Land gehen, gehen wir zu einem Barbier, Okay?“ Kim nickte, fragte dann aber: „Und womit willst du sie schneiden? Dein Entermesser lass ich nicht einmal in die Nähe meiner Haare und eine Schere haben wir, soweit ich weiß, nicht an Bord.“ Kaum hatte sie das gesagt, öffnete sich die Tür und Garret trat ein. Leo und Kim starrten auf das, was er in Händen hielt. Er hatte ein Handtuch und eine Schere dabei. Er räusperte sich etwas verlegen und sagte dann: „Kim? Ich wollte dir anbieten, dir die Haare zu schneiden.“ Als Kim ihn jedoch nur verdutzt anstarrte, fügte er eilig hinzu: „Bevor ich an Bord angeheuert habe, habe ich angefangen Barbier zu lernen. Ich bin zwar nicht perfekt, aber es wird auf jeden Fall besser aussehen, als jetzt.“ Leo seufzte erleichtert auf, schob Kim zur Tür und meinte: „Ein Glück, wenn du mich an deine Haare gelassen hättest, sähen sie wahrscheinlich wie ein abstraktes Bildnis aus.“ Garret folgte den Beiden auf Deck. Dort machte er Kims Haare mit etwas Wasser nass und begann damit, sie auf eine Länge zu stutzen. Kim fühlte sich mehr als unwohl, denn alle Blicke waren auf sie gerichtet und es kam ihr vor, als bräuchte Garret eine Ewigkeit. Doch Leo, der neben ihr saß und ihre Hand hielt, gab ihr Kraft und Sicherheit. Endlich war Garret fertig und nahm das Handtuch, das er ihr um die Schultern gelegt hatte, weg. Er holte einen abgenutzten Besen und kehrte ihre abgeschnittenen Haare zusammen, um sie dann mithilfe des Fegers über Bord zu werfen. Gemeinsam setzten sich die Drei auf das Achterdeck, auf dem zur Zeit nur der Steuermann, Knoxville, anwesend war, der sich allerdings auf das Steuer konzentrieren musste, so dass er sich nicht um sie kümmern konnte. Kim saß auf der Reling, Leo an ihre Beine gelehnt auf dem Boden und Garret den Beiden gegenüber ebenfalls auf den Holzplanken. Kim und Leo fragten Garret gerade aus, wie es denn war, eine Ausbildung zu machen, da hörten sie heftige Schritte, die sich näherten. Sie sahen zu der Treppe, die auf das Achterdeck hinauf führte und im nächsten Moment stolperte Eleonora die Treppe hinauf. Offensichtlich war sie von jemandem gestoßen worden, denn sie fiel hin und schürfte sich das Knie auf. Sofort darauf kamen die Übeltäter hinterher; es waren Laffite und Terry. Terry packte sie am Arm und zerrte sie auf die Beine. Dann verlagerte er seinen Griff in den Nacken des weinenden Mädchens und schob sie auf Kim zu. Als sie unmittelbar vor ihnen standen, stieß er Eleonora zu Boden und herrschte sie an: „Und jetzt entschuldigst du dich gefälligst, du kleines verzogenes Rotzgör!“ Jämmerlich heulend, murmelte die Kleine eine Entschuldigung und blieb mit dem Gesicht gen Boden liegen, da sie sich nicht traute aufzusehen, oder gar sich aufzurichten. Doch Laffite reichte es noch nicht: „Ich habe kein Wort verstanden, Goldlöckchen! Glaub mir, wir können auch anders!“ Eleonora schluchzte selbstquälerisch auf und weinte: „Bitte, es tut mir leid, wirklich! Verzeih mir, hab Mitleid, bitte!“ Terry lachte auf und sagte: „Das wollen wir auch hoffen, denn täte es dir nicht leid, käme dich das teuer zu stehen!“ Bei dem Spektakel weiteten sich Kims Augen und sie rief: „Hört sofort auf damit, es reicht! Lasst das Mädchen in Ruhe, es hat doch nichts getan!“ „Aber,…“, unterbrach Laffite sie, doch Kim ließ sich nicht beirren: „Kein ‚Aber’! Ihr habt genug angerichtet, seht ihr denn nicht, dass sie noch ein Kind ist?“ Mit diesen Worten half sie Eleonora auf und führte das zitternde Mädchen vom Achterdeck weg. Sie glaubte, es wäre das Beste, wenn sie es zu diesem Mack brächte und ging so unter Deck, um in den Kajüten nachzusehen, wo er war, da er sich nicht oben befand. Eleonora humpelte etwas und Kim sah, wie Blut an ihrem Knöchel herunter lief. Sie kniete sich nieder und hob das Kleid und den Unterrock Eleonoras an. Diese verstand allerdings nicht, was Kim damit bezwecken wollte und trat so verunsichert einen Schritt zurück, ihren Rock mit den Händen festhaltend. Kim lächelte mild und sagte dann: „Keine Angst, ich will keineswegs unter deinen Rock gucken oder so etwas in der Art, ich will lediglich deine Schürfung sehen.“ Als Eleonora keine Anstalten machte, Kim an ihr Kleid zu lassen, machte Kim kurzerhand einen Umweg in ihre Kajüte. Dort drückte sie Eleonora aufs Bett und schob ihr Kleid übers Knie. Sie besah sich die Wunde und kam zu dem Schluss, dass ein einfaches Pflaster reichte, da sie weder groß, noch tief war. So ging sie zu der kleinen Kommode und kramte etwas darin herum, bis sie ein Pflaster fand. Das klebte sie auf die Schürfung. Dann ging sie zu ihrer Truhe und suchte einige Kleidungsstücke heraus, die Eleonora ungefähr passen müssten. Sie warf sie ihr hin und sagte, den Rücken zu dem Mädchen: „Zieh das an, an Bord ist das weitaus praktischer.“ Zufrieden hörte Kim, dass Eleonora aus ihren eigenen Sachen schlüpfte, doch bevor sie Kims Sachen anzog, zupfte sie sie am Ärmel und fragte verlegen: „Kannst du mir das Korsett öffnen?“ Verblüfft drehte sich Kim zu ihr um und stellte entsetzt fest, dass dieses zarte Ding tatsächlich in ein enges Korsett gezwängt war. Bestürzt fragte sie: „Wer hat dich denn da hinein gesteckt? Doch wohl nicht du selbst, oder?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und meinte: „Das war meine Zofe.“ „Und wo ist die? An Bord habe ich keine einzige Frau außer dir entdeckt.“ „Im letzten Hafen ist sie fort.“ Kim öffnete das Korsett und fragte dann: „Aber der nächste Hafen ist fast vier Tage von hier entfernt, bist du etwa solange in dem Ding gewesen?“ Eleonora nickte. Sie zog jetzt Kims Kleidung an. Sie war etwas zu groß, doch Kim krempelte die Hosenbeine und die Ärmel der Bluse hoch. Kleinlaut ergriff Eleonora das Wort: „Warum bist du eigentlich so freundlich zu mir?“ Kim blickte erst erstaunt drein, sagte dann aber lächelnd: „Weil ich weiß wie es ist, von allen verachtet zu werden. Und jetzt komm, ich bringe dich zu Mack.“ Bei dem Namen leuchteten die Augen der Kleinen auf und sie lief hibbelig neben Kim her, bis sie vor einer Kajüte stehen blieben, die den Neuen zugewiesen worden war. Kim trat ein, ohne anzuklopfen. Eleonora versteckte sich hinter ihrem Rücken und schaute sich in der Kajüte um. Drei Briten und ein Franzose waren hier einquartiert. Als Eleonora Mack unter ihnen erkannte, quiekte sie erfreut auf und lief auf ihn zu. Mack erkannte sie erst nicht, breitete dann aber lachend die Arme aus und umarmte sie. Als die anderen Briten sie jedoch erschüttert musterten, ließen sie errötend voneinander ab. Mack räusperte sich und sagte geschwollen: „Miss Roberts, was habt Ihr denn da an? Eine Hose gehört sich nicht für eine Dame.“ Seitdem waren nun schon zwei Tage vergangen, in denen Eleonora Kim nachrannte wie ein kleines anhängliches Schoßhündchen, es war, als wäre das blaue Blut, das in ihren Adern pulsiert hatte, Kim gegenüber, ausgewechselt worden. Am Anfang hatte es Kim amüsiert, doch empfand sie es schon bald als äußerst lästig. Aber jetzt hatte Kim es endlich geschafft. Sie war mit Leo, sich in Sicherheit wähnend, in seiner Kajüte, allein. Er saß mit freiem Oberkörper auf seinem Bett und Kim rittlings auf seinem Schoß. Zärtlich liebkoste Kim seinen Oberkörper und er war gerade dabei, ihr das Shirt auszuziehen, da öffnete sich die Tür. Die Beiden schraken auf und Kim zog ihr Shirt gerade, als Eleonora eintrat und freudig strahlend erklärte: „Kim, ich habe dich schon überall gesucht! Störe ich?“ Kim wusste, dass es eine rein rhetorische Frage war und sie war kurz davor genervt „Ja“ zu brüllen, doch als sie einen Blick mit Leo wechselte, sah sie seufzend ein, dass jegliche Stimmung zerstört war. Daher seufzte sie „Nein.“ und setzte sich neben Leo, der sich sein Hemd wieder überzog. Eleonora, die anscheinend erst jetzt Leos Verband bemerkte, fragte ihn neugierig: „Nanu? Was hast du denn an der Hand gemacht?“ Leo erwiderte: „Da hat mir so ein verdammter Froschfresser zwei Finger abgeschossen.“ Vergnügt quiekte Eleonora auf und fragte: „Hat das weh getan?“ Verärgert dachte Kim: „Noch lange nicht so, wie ich dir wehtun werde, wenn du uns noch einmal störst!“ Leo jedoch sagte freundlich lächelnd: „Na ja, am Anfang habe ich nicht viel gemerkt, da der Kerl mich erst niedergeschlagen hatte, aber dann hat Kim die Reste abgesägt und sie zusammengenäht.“ Kim sah Leo vorwurfsvoll an und er fügte hastig hinzu: „Und jetzt tut es überhaupt nicht mehr weh.“ „Mein Knie tut auch nicht mehr weh, seit Kim es verarztet hat.“ Stolz präsentierte sie das Pflaster, das Kim auf die Schürfwunde geklebt hatte. Kim allerdings fand, dass es jetzt reichte und sagte: „So, Eleonora, ich glaube fast, du solltest ins Bett gehen, schließlich ist es schon spät.“ Wie zur Bestätigung gähnte das Mädchen lange und ließ sich von Kim ins Bett bringen. Solange sie an Bord war, hatte sie Kims Kajüte bekommen und Kim war zu Leo gezogen. Als Kim wieder zurückkam, schaute Leo sie fragend an, doch Kim schüttelte den Kopf. Sie wollte nur noch schlafen. So legte sie sich neben Leo und schlief in seinen starken Armen ein. Früh am nächsten Morgen wurde sie von Eleonora wach gerüttelt und stand missgelaunt auf. Als das Mädchen ein fröhliches „Guten Morgen“ anstimmen wollte, hielt sie ihm die Hand auf den Mund und legte sich den Zeigefinger der anderen Hand auf die Lippen. Sie wollte nicht, dass Leo aufwachte, denn wenn man ihn zu früh weckte, konnte er ungenießbar sein und das für den ganzen Rest des Tages. Still zog sie sich an und ging mit Eleonora an Deck. Es graute gerade und die blond Gelockte turnte über das ganze Deck, während Kim in die Kombüse ging, um sich und dem Balg Frühstück zu bereiten. In Momenten wie diesen bereute sie es, dem Mädchen geholfen zu haben. Als sie fertig war, trug sie das Frühstück raus und reichte Eleonora ihres. Sie schlang es, im Gegensatz zu Kim, hastig hinunter und zerrte Kim aufs Achterdeck. Dort lief sie zum Steuerrad und begann daran zu drehen. Kim hatte Mühe, sie wieder davon los zu bekommen, doch gerade, als sie das geschafft hatte, heckte Eleonora schon den nächsten Unfug aus. So verging der Morgen. Als Terry verschlafen die Treppen zum Deck hinaufstieg, packte sie Eleonora bei den Schultern und schob sie zu ihm. Dieser starrte sie nur verdutzt an, doch Kim ächzte: „Ich kann nicht mehr, die ist schlimmer als ein Sack Flöhe!“ Damit ging sie die Treppe hinunter, die er gerade hinaufgestiegen war und schlug schnurstracks den Weg zu Leos Kajüte ein. Dort ließ sie sich neben den immer noch schlafenden Leo fallen und schlief auch wieder ein. Als sie erwachte, diesmal von selbst, war Leo bereits aufgestanden. Sie ging an Deck und sah ihn bei Laffite und Garret sitzen. Sie ging zu ihm und begrüßte ihn mit einem Küsschen auf die Lippen. Leo zog sie näher an sich und flüsterte: „Eleonora spielt mit Terry und die Beiden scheinen sich prächtig zu amüsieren.“ Kim sah sich um und fand die Beiden tatsächlich in ein Würfelspiel vertieft vor. Sie wusste, auf was Leo hinauswollte und küsste ihn herausfordernd. Dann ging sie in Richtung Treppe und hörte, wie Leo ihr schnurrend folgte. Laffite und Garret grinsten sich breit an, da sie wussten, womit die Beiden sich beschäftigen würden. Kim wollte in Leos Kajüte, doch er blieb stehen und zog sie in ihre eigene. Erst verstand sie nicht, was er damit bezwecken wollte, doch als er die Tür schloss und den Schlüssel im Schloss drehte, begriff sie, dass er etwas gegen ungebetene Besucher tat. Kim hatte sich inzwischen auf die Bettkante gesetzt und Leo kam mit einem aufreizenden Lächeln auf den Lippen auf sie zu. Er drückte sie in die Laken und begann sie zärtlich zu küssen. Als sie wieder an Deck kamen, spielten Terry, Eleonora, Laffite und Garret Karten. Das Mittagessen hatten die Beiden verpasst, doch machte es ihnen nicht viel aus. Kim setzte sich zwischen Leos Beine und er legte seine Arme um ihre Schultern. Sie schauten die Runde zu und stiegen in der nächsten mit ein. Auf diese Weise zog der Rest des Tages an ihnen vorbei. Mit den Segeln mussten sie nicht viel machen, da der Wind beständig blieb, nur am Abend mussten sie sie lichten. Danach gingen sie in ihre Kajüten, da um neun Uhr eigentlich Bettruhe herrschte. Trotzdem öffnete sich die Tür zu Leos Kabine um ungefähr halb zehn und Kim streckte den Kopf heraus, um zu sehen, ob jemand sie sehen konnte. Als die Luft rein war, schlich sie, Leos rechte Hand haltend, an Deck. Sie kletterten ins Krähennest. Eigentlich wollten sie die Sterne anschauen, doch schon bald versanken sie in einem innigen Kuss. Sie ließen gerade voneinander ab, da konnte Kim, über Leos Schulter schauend, eine Person erkennen, die sie beobachtete. Sie setzte gerade zu einem spitzen Schrei an, aber Leo hielt ihr im letzten Moment den Mund zu, dann fauchte er: „Was soll das denn? Willst du uns verraten?“ Kim schüttelte den Kopf, zeigte aber mit dem Finger auf das Gesicht, das noch immer über das Geländer linste. Als der Mond gerade hinter einer Wolke zum Vorschein kam, konnte Kim Eleonora erkennen. Sie stöhnte genervt auf und zischte: „Was willst du denn hier?“ Zu ihnen ins Krähennest kletternd, sagte sie Schulter zuckend: „Dasselbe könnte ich euch fragen.“ Kim und Leo erröteten leicht und Kim sagte hastig: „Wir haben uns die Sterne angesehen.“ Eleonora grinste und stellte fest: „Das sah aber gar nicht danach aus.“ Sie drängte sich zwischen Kim und Leo. Einige Zeit schwiegen sich die Drei an, dann ergriff Eleonora wieder das Wort: „Liebt ihr euch?“ Kim und Leo sahen sich verdutzt an. Kim erwiderte: „Ja, natürlich lieben wir uns.“ Leo nickte zur Bekräftigung ihrer Antwort. Eleonora fuhr traurig lächelnd fort: „Das merkt man; eure Berührungen, eure Küsse sind so zart, aber doch leidenschaftlich. Ich wünschte, ich hätte auch so jemanden wie Leo.“ Sie seufzte und Kim fragte, etwas rot im Gesicht: „Aber du hast doch sicher auch jemanden, das sieht man dir doch an.“ Ein selbstquälerisches Lächeln huschte über ihre Lippen und sie sagte: „Nun ja, es gibt da schon jemanden, aber ihn werde ich niemals erreichen, das würden meine Eltern und die Gesellschaft zu verhindern wissen.“ „Dann kämpfe darum, was kannst du denn verlieren?“ „Ach, ich wünschte wir wären auch Piraten, dann wäre alles leichter. Aber so würde er sich von mir abwenden und sagen, dass es sich nicht geziemte, er würde mich nie wieder anschauen, um alles im Keim zu ersticken, was droht zu wachsen. Dabei weiß ich, dass er genauso fühlt. Ich wünschte, ich wäre fünf Jahre älter, dann wäre mir auch der Standesunterschied egal.“ Kim wusste, von wem sie sprach und strich ihr mitfühlend über den Arm. Leo allerdings wurde etwas unruhig, da er nicht gern bei so etwas zuhörte, geschweige denn seine Meinung dazu äußerte. Für ihn reichte es allemal, Kim um sich zu wissen. Das Schicksal anderer kümmerte ihn wenig. Einerseits bewunderte Kim ihn dafür, andererseits machte es sie unglaublich wütend, wie teilnahmslos er so etwas aufnahm. Sie wollte etwas unternehmen, doch wusste sie nicht was, denn Eleonora hatte Recht, wenn sie ihm von ihren Gefühlen erzählen würde, würde er seine eigenen verleugnen und sie zurechtweisen, dass es sich nicht gehörte, dass ein Mann, Anfang zwanzig, niederer Schicht und ein Mädchen, gerade mal zarte zwölf Jahre alt, höheren Standes, sich liebten. Warum konnten Männer ihre Gefühle nur immer verleugnen? Kim hätte so etwas nie übers Herz gebracht. Sie beschloss, dass es spät war und scheuchte Leo und Eleonora in die Kajüten. Sie selbst folgte Leo in seine. Dann fragte sie: „Weißt du, wer es ist?“ „Wer was ist?“ „In wen Eleonora verliebt ist.“ „Nein, woher auch? Weißt du es denn?“ Eigentlich war diese Frage rein rhetorisch gewesen und Kim wusste das, aber dennoch antwortete sie: „Ich glaube schon.“ Als Leo nicht fragte, was sie vermutete, fuhr sie fort: „Ich denke, es ist Mack. Hast du noch nie bemerkt, was passiert, wenn sich ihre Blicke streifen? Sie beobachten sich immer heimlich, aber wenn der Andere es entdeckt schauen sie schnell wo anders hin. Ich würde ihr so gerne helfen.“ Kühl fragte Leo: „Warum willst du eigentlich immer allen helfen?“ Kim sah ihn entrüstet an, fand aber keine Antwort, schließlich sagte sie: „Ich wünschte, mich würde das ganze genauso wenig interessieren, wie dich.“ Mit diesen Worten legte sie sich zu ihm und schlief, sich bemühend ihn so wenig wie möglich zu berühren, ein. Sie waren schon seit einem Tag wieder in der kleinen Hafenstadt in der Kathleen arbeitete. Noch hatten sie sie nicht gesehen und Kim hoffte, dass es auch so bleiben würde. An diesem Abend sollte sie auf Eleonora aufpassen und als Leo ihr anbot, mit ihr dazubleiben, meinte sie nur: „Nein, nein. Mach du mal einen richtigen Männerabend, ich krieg das schon hin und ein Abend getrennt von mir wird dich wohl kaum umbringen! Aber komm nicht zu spät, schließlich haben wir morgen früh einen Arzttermin.“ Da es genug Piraten gab, die verletzt waren, aber nur einen Arzt, hatten sie erst einen Termin für den nächsten Tag bekommen. Kim hatte sich furchtbar darüber aufgeregt, da die Fäden schon längst hätten gezogen werden müssen und das kein großer Zeitaufwand war, doch was sollte sie machen? Ihr blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und zu hoffen, dass alles gut lief. Als er dann am Abend das Schiff verließ, rief sie ihm hinterher: „Gib ja nicht das ganze Geld auf einmal aus und lass dir nichts zu Schulden kommen, ich bekomme alles mit, sei dir dessen versichert!“ Leo jedoch hob nur zum Gruß die Hand, drehte sich aber auch nicht um, sondern verschwand lachend mit den Anderen hinter der nächsten Ecke. Sie saß in ihrer Kajüte, Eleonora gegenüber. Die Zeit verstrich nur sehr langsam und beide sprachen kein Wort. Sie hatten seit der Unterhaltung im Krähennest nicht mehr miteinander gesprochen, doch jetzt fragte Eleonora, mit aufleuchtenden Augen: „Wollen wir nicht auch in die Stadt gehen?“ Kim lachte auf: „Bist du verrückt? Die würden dich mit Haut und Haaren fressen, wie oft kommt schon ein blond gelocktes Mädchen, noch dazu von gutem Stand, in dieses kleine, unansehnliche Kaff? Schlag dir das mal lieber gleich aus dem Kopf, wir bleiben hier an Bord.“ „Das ist aber unfair! Du durftest auch in die Stadt!“, murrte das Mädchen. Doch Kims Lächeln verschwand und sie sagte ruhig: „Ich würde aber nie allein durch die Gassen hier laufen, ich fühle mich sogar unwohl, wenn nur Leo dabei ist.“ In ihrer Stimme schwang eine gewisse Drohung mit, obgleich es unbewusst war. Schließlich sagte Eleonora: „Ich bin müde, könntest du bitte raus gehen, ich möchte mich hinlegen.“ Da war es wieder, das blaue Blut, das in ihren Adern pulsierte. Sie konnte kein „Nein“ akzeptieren. Entweder sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihr widersprach, oder sie hatte es so oft hören müssen, dass sie es leid war und sich aus der Affäre zog, indem sie eine Ausrede erfand. Kim war dies relativ egal. Wenn das Mädchen so früh schlafen ging, hatte sie mehr Zeit für sich. So ging sie in Leos Kajüte und nahm sich ihr Buch zur Hand. Sie war so in das Buch vertieft, dass sie die Zeit völlig vergaß. Erst als Leo, stark nach Alkohol riechend, die Kajüte unbeherrscht schwankend betrat, legte sie das Buch zur Seite. Eigentlich hatte sie ja schon längst nach Eleonora sehen wollen, aber als sie die Tür zu deren Kajüte öffnete, fand sie das Bett leer vor. Panisch stürmte sie in Jons Kajüte, in der Hoffnung, ihn nicht ganz so betrunken vorzufinden, wie Leo. Jedoch fand sie ihn weder betrunken, noch nüchtern vor, denn er war nicht da. War er nicht mit Leo losgezogen? Wahrscheinlich vergnügte er sich gerade mit Kathleen oder irgendeiner anderen Kurtisane. Kim bekam eine Wut im Bauch, doch musste sie in erster Linie an das Mädchen denken. Wo konnte sie nur sein? Hatte sie nicht gesagt, sie wolle in die Stadt? Die Stadt! Sie rannte zurück zu Leo, der gerade verzweifelt versuchte, sich das Hemd auszuziehen, es aber nicht recht schaffte, zog ihm das Hemd gerade und schleifte ihn mit in die Kombüse. Dort stopfte sie ihm ein Stück Zwieback in den Mund und sagte aufgebracht: „Du kommst mit in die Stadt, wir müssen nach Eleonora suchen!“ Leo schaute sie verständnislos an, ließ sich aber bereitwillig mitschleifen, während er an dem Zwieback nagte, den Kim ihm in die Hand gedrückt hatte. In einer Straße blieb er stehen und stützte sich auf die Knie. Kim schaute ihn besorgt an und fragte: „Leo? Was ist los? Ist dir schlecht?“ Er antwortete nicht, sondern lehnte sich an eine Hauswand. Sie wollte gerade zu ihm gehen, da hörte sie aus der Nebengasse eine Kinderstimme und die eines Mannes. Sie rief: „Warte hier, ich bin gleich wieder da!“ Als sie um die Ecke bog, sah sie im Halbdunkel der Straße, wie ein Mädchen, Eleonora, auf dem Boden kauerte und ein Mann sich gerade zu ihr hinunterbeugte. Eleonora hielt sich die zerrissene Bluse vor der Brust zusammen und versuchte verzweifelt den Fremden mit den Füßen von sich fern zu halten. Dieser jedoch ließ sich nicht beirren und hielt ihre Beine mit der einen Hand auf den Boden gedrückt, mit der Anderen griff er zu seiner Jacke. Kim wollte gerade eingreifen, da zog er sich den Mantel aus und legte ihn Eleonora über. Da rief Kim: „Hey du! Nimm deine schmutzigen Griffel von ihr!“ Er hob abwehrend seine Hände und stand auf. Ohne ein Wort zu sagen, ging er an Kim vorbei. Im Vorbeigehen jedoch ließ er es sich nicht nehmen, Kim einen Klaps auf den Hintern zu verpassen und anschließend anerkennend durch die Zähne zu pfeifen. Aus Angst, der Fremde könnte noch anzüglicher werden, sagte sie nichts, sondern ging auf Eleonora zu, die zitternd, mit der Jacke des Mannes bedeckt, am Boden saß. Ihr liefen Tränen über die Wangen, doch schien ihr Gesicht keinen Ausdruck zu haben. Kim half ihr auf und zog ihr die Jacke richtig an, sie knöpfte sie auch zu, damit niemand irgendeinen Blick auf Eleonoras Körper erhaschen konnte. An der Hand führte Kim sie aus der Gasse, doch hier wartete schon das nächste Problem auf sie: Leo, der sich gerade übergab. Eleonora konnte sie auf keinen Fall alleine lassen, aber auch Leo konnte sie nicht hier lassen. So wartete sie, bis er fertig war und strich ihm über den Rücken. Dann legte sie seinen Arm über ihre Schulter, um ihn beim Laufen zu unterstützen, da er sehr stark schwankte. Eleonora im Auge behaltend, setzte sie sich in Bewegung, in Richtung Hafen. Als sie schon in Sichtweite der Vengeance war, kam ihr ein aufgeregter, auch nicht mehr ganz nüchterner Terry entgegen und sagte, etwas lauter, als erwartet: „Wo wart ihr denn? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“ Dann musterte er Leo skeptisch, der halb bewusstlos neben Kim stand, die sein ganzes Gewicht zu spüren bekam und nahm ihn ihr schließlich ab. Dann sagte er: „Der Gute verträgt wohl doch nicht so viel, was? Den kriegen wir schon wieder hin!“ Mit diesen Worten ging er gut gelaunt voraus. Kim atmete erleichtert auf, wenn sie Leo in Terrys Obhut wusste, konnte sie sich selbst um die Kleine kümmern. Doch sie hatte sich zu früh gefreut, denn als sie Eleonora in die Kajüte folgen wollte, schlug diese ihr die Tür vor der Nase zu. Etwas gekränkt ging Kim also wieder an Deck, wo Terry Leo gerade ein Glas Wasser einflößte, ihn über die Reling beugend, woraufhin sich der übergeben musste. Sie lief zu den Beiden und blaffte Terry an: „Was hast du ihm denn da gegeben? Davon muss er sich ja nur noch heftiger übergeben.“ Gelangweilt, Leos Kopf an den Haaren festhaltend, antwortete Terry: „Salzwasser. Irgendwie müssen wir den ganzen Scheiß ja aus ihm rauskriegen. Holst du inzwischen etwas Zwieback?“ Kim nickte, aber Leo murmelte schwer zu verstehen: „Ich hab doch gar keinen Hunger!“ Sie wollte schon dableiben, doch Terry brüllte sie an: „Wo bleibt denn jetzt der Zwieback?“ Sie beeilte sich und kam mit einigen Scheiben Schiffszwieback wieder. Leo lag inzwischen auf den Planken und Terry wischte ihm, mit einem angewiderten Gesichtsausdruck, das Gesicht ab. Als er Kim sah, nahm er ihr den Zwieback aus der Hand und schob Leo ein Stück davon in den Mund. Langsam kaute der darauf herum und Terry tadelte ihn: „Wer trinken kann, muss mit den Konsequenzen klarkommen. Warum musst du auch auf Kathleens idiotische Wette eingehen? Erstens hast du sie verloren und zweitens war das Ganze nur Geldverschwendung. Hättest du nicht alles so heruntergestürzt, schwämme jetzt nichts von dem teuren Zeug im Meer.“ Als Kathleens Name fiel, verdüsterte sich Kims Mimik. Leo schaute sie mit glasigen Augen an und fragte kleinlaut: „Bist du jetzt böse?“ Doch bevor er den Satz ganz beendet hatte, steckte sie ihm schon das nächste Stück Zwieback in den Mund. Terry stand auf und sagte, wohl wissend, dass sich ein Streit anbahnte: „Ich glaube, ich gehe schlafen. Kim, ich würde ihn erstmal hier draußen lassen, aber auf keinen Fall allein, sonst erstickt er noch, wenn er sich wieder übergeben muss. Sollte das der Fall sein, beug ihn über die Reling, sonst musst du morgen so viel putzen. Ich wünsche eine geruhsame Nacht.“ Damit ging er zur Treppe und verschwand im Inneren der Vengeance. Leo musste sich zum Glück nicht mehr übergeben und irgendwann, spät in der Nacht, schleifte sie ihn dann in die Kajüte. Allerdings nicht, ohne ihm vorher gründlich das Gesicht und die Hände zu waschen. Kim hatte auf keine seiner Fragen reagiert. Wieso hatte er sich nur auf eine Wette mit Kathleen eingelassen? Am nächsten Morgen klagte Leo über starke Kopfschmerzen und versuchte mit allen Mitteln sich vor dem Arztbesuch zu drücken, doch Kim kannte keine Gnade. Sie hatte doch gesagt, dass er aufpassen solle und er hatte es missachtet. Noch dazu musste sie jetzt den Besuch beim Arzt, der nicht gerade billig war, da er absolut keine Konkurrenz zu befürchten hatte, aus eigener Tasche bezahlen. Deswegen sprang sie nicht sehr umsichtig mit Leo um, außerdem hatte sie sich schon in der Nacht um ihn kümmern müssen. Im Wartezimmer rutschte Leo unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Kim legte ihm, jetzt doch etwas besorgt, die Hand aufs Knie und fragte leise: „Was ist denn los, Leo?“ Er antwortete ihr mit einer Gegenfrage: „Glaubst du, es wird sehr wehtun?“ Kim musste schmunzeln und stellte amüsiert fest: „Du hast ja Angst.“ „Nein!“ „Wie süß, mein furchtloser und tapferer Freund hat Angst vorm Fäden ziehen!“ Just in diesem Moment öffnete sich die Tür und die Sprechstundenhilfe sagte gelangweilt: „Du kannst jetzt kommen.“ Als Kim jedoch mit ihm aufstand, fügte sie hinzu: „Der Doktor empfängt immer nur eine Person.“ Kim wollte schon protestieren, da schluckte Leo und sagte: „Lass nur, ich hab ja keine Angst.“ Kim legte ihm die Hand auf die Schulter, drückte ihm ein Küsschen auf die Backe und flüsterte: „Du machst das schon.“ Dann verließ er das Zimmer. Nun wurde Kim nervös. Was war, wenn der Kerl ein Stümper war? Sie machte sich Vorwürfe, weil sie ihn alleine gelassen hatte. Ein kalter Schauer durchfuhr sie, als sie sich vorstellte, wie Leo mit Schmerzverzerrtem Gesicht auf einem Stuhl, natürlich festgekettet, saß und irgend so ein verrückter Arzt an ihm herumhantierte. Immer mehr steigerte sie sich in diese Wahnvorstellung hinein, bis sich schließlich die Tür öffnete und Leo eintrat. Kim stürmte auf ihn zu und übersäte ihn mit Küssen. Etwas verwundert musterte er sie und meinte: „Was ist denn jetzt los? Nicht, dass es mich stören würde, wenn du so stürmisch bist, aber es wundert mich doch ein Wenig.“ Sie antwortete nicht sofort, da sie sich genauestens seinen neu angelegten Verband besah. Als sie zu dem Schluss kam, dass er steril war, schaute sie ihm in die Augen, um zu sehen, ob der Arzt wirklich ein Stümper war. Jedoch konnte sie nichts außer Verwunderung über ihr Verhalten daraus lesen. Als er einsah, dass er keine Antwort mehr von ihr bekommen würde, da sie schon mit der Sprechstundenhilfe über den Preis feilschte, ging er zu ihr und küsste sie zärtlich in den Nacken, der nun nicht mehr von so vielen Haaren bedeckt wurde. Zufrieden stellte er fest, wie sie eine Gänsehaut bekam und die Sprechstundenhilfe ihn etwas perplex ansah. Schließlich seufzte Kim, zog ihre Geldbörse und zahlte den Betrag, den er dem Arzt schuldete. Als sie wieder auf der Straße waren und gen Schiff liefen, fragte Kim Leo über den Arztbesuch aus: „Was hat er denn gemacht?“ „Mir die Fäden gezogen?“ „Hat es sehr wehgetan?“ „Na ja.“ „Hat er gesagt, woran das gelegen haben könnte?“ „Er hat gemeint, dass die Fäden ziemlich dick wären, aber…“ „Na toll, jetzt ist es meine Schuld?“, unterbrach Kim ihn ruppig, doch Leo erwiderte ruhig: „Lass mich doch ausreden; er hat gesagt, die Fäden seien recht dick, aber ansonsten hättest du gute Arbeit geleistet. Außerdem hat er gesagt, dass ich wirklich eine Blutvergiftung hätte bekommen können, wenn du das Ganze nicht sofort desinfiziert hättest.“ Kim versuchte, etwas verlegen, ihre im Wind flatternden, kurzen Haare hinter den Ohren zu bändigen, doch wollte es ihr nicht recht gelingen. Da nahm Leo sein Kopftuch ab und band es so um ihren Kopf, dass die Haare nicht in ihr Gesicht flogen. Beeindruckt stellte Kim fest: „Wow, du bist ja ganzschön geschickt mit deiner Hand, tut es denn nicht noch weh, so frisch nach dem Fäden ziehen?“ Leo winkte lachend ab und grinste: „Wenn ich dir helfen kann, nehme ich alle Schmerzen in Kauf.“ Kim boxte ihm freundschaftlich auf die Schulter und scherzte: „Du alter Charmeur!“ Doch gleich darauf wieder ernst werdend, fragte sie: „Hat der Arzt auch gesagt, wann du den Verband wechseln sollst und wann du ihn abnehmen kannst?“ Als Antwort auf den „Charmeur“ zog er sie an sich und küsste sie. Sogar als ein paar Kurtisanen, laut über Kim schimpfend, da sie ihnen ihre Kunden anscheinend wegschnappte, vorbeikamen, ließ er nicht von ihr ab. Erst als sie begann, sanft an seiner Lippe zu knabbern, sagte er: „Er hat gesagt, ich könne ihn in ein, oder zwei Wochen abnehmen, solle aber noch vorsichtig sein. Ach ja, er hat gesagt, ich solle eine Salbe holen.“ Kim fragte etwas skeptisch: „Und du weißt noch welche das war?“ „Nein.“ „Leo, verdammt! Heißt das, wir müssen wieder zurücklaufen und ihn noch mal stören?“, brüllte sie ihn an. Doch Leo blieb abermals ruhig und sagte: „Nein.“ Verwirrt blieb Kim stehen und fragte: „Und wie willst du dann die richtige Salbe holen?“ Leo zog einen Zettel aus seiner Hosentasche und sagte, ihn in der Hand schwenkend: „Ich hab mir den Namen aufgeschrieben.“ Er streckte ihr die Zunge heraus und meinte, als sie wutschnaubend vor ihm stand: „Sieh es doch von der positiven Seite, ich konnte das, was du mir beigebracht hast, endlich mal gebrauchen.“ Sie stöhnte genervt auf und rollte mit den Augen, dann erwiderte sie: „Ja, Leo, wo du Recht hast, hast du Recht.“ Als sie wieder auf dem Schiff ankamen, ging Leo zu Terry. Kim wollte noch einmal in die Stadt gehen, um eine Apotheke oder dergleichen zu suchen, wo sie neue Verbände und die Salbe kaufen konnte. Sie hörte noch einen Teil von Terrys und Leos Gespräch: „Sag mal, Leo, wo warst du denn noch und was hast du alles getrunken? Du warst gestern Abend ja ganz schön fertig.“ „Keine Ahnung, ich weiß nur noch, dass ihr irgendwann gegangen seid. Danach hab ich ein totales Blackout gehabt.“ „Na eins kann ich dir sagen, du hast die halbe Nacht durchgereiert und die arme Kim…“ Mehr verstand sie nicht mehr. Kim lief die Straßen auf und nieder, doch sie fand keine Apotheke, als sie ein paar Leute fragte, wussten auch diese nicht, wo eine war. Sie wollte gerade aufgeben, da sah sie Kathleen, die mit ihrer Kollegin lachend, mit einer Zigarette in der Hand, vor ihrem Freudenhaus stand. Vielleicht wusste sie ja, wo eine Apotheke war. So sehr ihr vor einem Gespräch mit Kathleen auch graute, so war ihre Sorge um Leo doch größer. Also ging sie auf die beiden Frauen zu und fragte: „Hallo, Kathleen, weißt du, wo hier eine…“ Sie konnte die Frage nicht mehr beenden, denn Kathleen hatte ihre Hände schon auf Kims Schultern gelegt und schaute sie mitleidig an. Jedoch war Kim das hämische Grinsen, das über Kathleens Gesicht gehuscht war, nicht entgangen. Argwöhnisch wartete sie auf eine Erklärung, die sofort folgte: „Ach, Kim, das mit Leo tut mir ja so Leid. Glaub mir, wäre er nicht so begehrend gewesen, hätte ich mich niemals darauf eingelassen, da ich ja wusste, dass er mit dir zusammen war, aber…“ Skeptisch fragte Kim: „Was tut dir Leid?“ Kathleen hob erstaunt die Augenbrauen und fragte: „Hat er es dir nicht erzählt? Nicht mal erwähnt?“ Kim schüttelte den Kopf, ihre Miene verfinsterte sich stetig. Dann sagte Kathleen: „Er war gestern bei mir, er hat erzählt, dass er sich schon länger von dir trennen wollte, es sich aber nie getraut hätte. Und er hat dir das wirklich nie erzählt? Oh nein, du Arme! Es tut mir ja wirklich so schrecklich Leid!“ Sie wollte Kim in den Arm nehmen, doch Kim hielt sie davon ab. Monoton fragte sie: „Wo ist denn die nächste Apotheke?“ „Du musst nur die Straße wieder zurück, dann links und auf der linken Seite ist eine.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte Kim ihr den Rücken zu und ging zu der beschriebenen Apotheke. Sie holte die Verbände und die Salbe. Dann machte sie sich wieder auf den Weg zur Vengeance. Kim ging auf Leo zu und gab ihm die Salbe, ohne ein Wort, geschweige denn eine Geste der Begrüßung. Entgeistert sah er ihr nach, wie sie in Richtung Treppe ging, sprang dann aber auf, um ihr nachzulaufen und zu fragen: „Was ist denn los?“ Sie blieb stehen und fragte: „Du weißt doch nicht mehr, wo du gestern warst, oder was du gemacht hast, nicht?“ Er verneinte verwundert und sie fuhr fort: „Ich weiß es, Kathleen hat es mir erzählt. Ich hoffe, es hat dir wenigstens gefallen.“ Sie ging weiter. Einen Moment blieb Leo fassungslos stehen, doch dann fasste er sie am Handgelenk und drehte sie zu sich. Eiskalt starrte sie in seine Augen, dann zischte sie: „Was schaust du denn so betreten? Du wolltest dich doch schon längst von mir trennen, bitte, wenn du es so unbedingt willst, ich zwinge dich zu nichts. Es ist Schluss, aber glaube nicht, dass ich weinen werde. Nicht eine Träne werde ich verschwenden.“ Er öffnete seine Arme, um sie zu umarmen und sagte: „Lügnerin, du weinst doch jetzt schon. Ich will nicht, dass Schluss ist, bitte glaube mir.“ Doch Kim fauchte: „Fass mich nicht an, wage es ja nicht!“ Und als sich seine Arme um sie schlossen schrie sie: „Lass mich los!“ Sie riss sich von ihm los und brüllte: „Warum tust du das eigentlich? Denkst du nicht, dass das schon schwer genug für mich ist? Ich dachte, wir wären uns näher als jemals zuvor! Ich habe dir meine Unschuld geopfert, als du noch darüber nachdachtest, ob du mich verlässt! Warum tust du mir so weh? Ich hasse dich!“ Sie stürmte davon und Leo brüllte ihr nach: „Du spinnst doch, du hast doch gerade Schluss gemacht!“ Die Piraten an Deck schauten sich stillschweigend das Geschehen an und Leo setzte sich wieder zu den anderen. Kim allerdings stampfte in Leos Kajüte und knallte die Verbände in die Truhe. Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Wo sollte sie eigentlich schlafen? Vielleicht könnte sie sich bei Terry, Garret und Laffite einquartieren. Sie würde sie gleich fragen. Doch als sie auf dem Weg an Deck an der Tür zu ihrer alten Kajüte vorbeikam, stoppte sie. Ihr wurde klar, dass sie Eleonora völlig vergessen hatte. Sie klopfte vorsichtig an die Tür und drückte dann die Klinke herunter, es war nicht abgeschlossen. Kim gewahrte Eleonora auf dem Bett sitzend, den Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Leise fragte Kim: „Darf ich reinkommen?“ Das Mädchen schrak auf, lächelte sie gezwungen an und nickte. Kim setzte sich neben sie und fragte behutsam: „Wie geht es dir?“ Mit einem immer noch aufgesetztem Lächeln antwortete sie: „Gut und dir?“ „Mir geht es auch hervorragend, mit meiner Familie verstehe ich mich super, wie eh und je, meine Freundinnen haben mich nie aus Eifersucht hintergangen, alle Menschen sind super nett zu mir und ich fand meine langen Haare schon immer blöd. Also, sagst du mir jetzt die Wahrheit? Was ist gestern passiert?“ Sie erwähnte Leo nicht. Es wäre zu schmerzhaft für sie gewesen, sich darüber lustig zu machen. Sie wäre in Tränen ausgebrochen. „Nichts, ehrlich, mir war nur etwas kalt und dann hat der Mann mir den Mantel gegeben.“ „Aha, und deshalb war auch deine Bluse zerfetzt?“ „Ehm, das ist, weil… weil ich hingefallen bin.“ „Na dann, willst du mir nicht erzählen, was gestern wirklich vorgefallen ist? Du kannst mir doch vertrauen.“ Sie sah, wie Tränen in Eleonoras Augen standen, doch noch immer leugnete sie und sagte: „Nein, nein, es war wirklich nichts.“ Dicke Tränen kullerten ihre Wangen herab, aber immer noch lächelte sie affektiert. Ein letztes Mal fragte Kim: „Willst du sicher nicht mit mir darüber sprechen? Danach geht es dir bestimmt besser.“ Nun hielt es Eleonora nicht mehr aus. Sie verlor ihr falsches Lächeln, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. Sie schlang ihre Arme um Kim und schluchzte: „Es tat so weh, Kim und es tut jetzt auch weh. Ich hätte auf dich hören sollen. Es war so schrecklich! Warum hat er das getan?“ Kim nahm sie in den Arm und streichelte ihr über den Rücken. Dann sagte sie: „Ach, Eleonora, das ist so schrecklich. Ich verstehe auch nicht, wie Menschen so etwas machen können.“ „Ich schäme mich so, dabei wollte ich mich doch aufheben, für ihn. Aber jetzt hat das keinen Sinn mehr! Warum tut es denn so weh? Hat es bei dir auch so wehgetan?“ „Nein, aber ich war bereit dafür. Meine arme, kleine Eleonora, glaub mir, wenn ich dieses Schwein finde, bringe ich ihn eigenhändig um!“ Mit zitternder, schwacher Stimme fragte sie: „Warum tut es so weh?“ Sehr besorgt sagte Kim: „Ich glaube, wir sollten einen Arzt aufsuchen.“ Als sie vor derselben Arztpraxis standen, wie Kim schon heute Morgen, hoffte sie inständig, dass der Arzt sie nicht sofort wieder fortschicken würde. Mit klopfendem Herzen traten sie ein. Die Rufe der Sprechstundenhilfe ignorierend trat Kim in das Behandlungszimmer, Eleonora knapp hinter ihr. Der Arzt war gerade mit dem Armstumpf eines besonders grimmig aussehenden Piraten beschäftigt. Als die Tür aber ruckartig aufgestoßen wurde und ein Mädchen und eine junge Frau eintraten, sah er auf. Verwundert fragte er: „Was kann ich für Sie tun?“ Kim antwortete für Eleonora: „Sie müssen sich Eleonora anschauen, gestern hat sich so ein Dreckssack an ihr vergriffen und sie hat starke Schmerzen.“ Das Mädchen lief puterrot an und starrte betreten zu Boden. Der Arzt beachtete allerdings nur Kim, an der er offensichtlich Gefallen gefunden hatte und sagte: „Lassen Sie sich von meiner Hilfe einen Termin geben, allerdings bin ich im Moment sehr beschäftigt, vor nächster Woche ist nichts mehr drin, es sei denn…“ „Es sei denn was?“, fragte Kim skeptisch. Der Arzt winkte ab und meinte: „Ach, das machst du eh nicht.“ Kim schaute zu Eleonora, die anscheinend vor Schmerzen nicht mehr richtig aufrecht stehen konnte und sagte dann mit gesenktem Blick: „Bitte, Herr Doktor, wir brauchen sofort einen Termin, es ist dringend! Ich mache alles, was Sie verlangen!“ Ein selbstgefälliges Grinsen machte sich auf dem Gesicht des Arztes breit und er fragte: „Wirklich alles?“ „Wenn Sie ihr helfen, alles.“ „Dann will ich einen Kuss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“ Bei diesen Worten musste Kim an Leo denken und für einen Moment bekam sie Zweifel, ob sie ihn damit nicht betrog, doch da fiel ihr wieder ein, dass es ja Leo gewesen war, der sie betrogen hatte und sie gar nicht mehr zusammen waren. Sie willigte ein. Der Arzt sagte blasiert: „Dann geht ins Wartezimmer, ihr seid die Nächsten. Meine Bezahlung löse ich erst heute Abend ein.“ Kim sah erschrocken auf und protestierte: „Es war nur ein Kuss vereinbart!“ Der Arzt allerdings grinste: „Ja, ein Kuss, aber nach einem gemeinsam verbrachten Abend.“ „Aber nicht mehr als ein Kuss zum Abschied!“ Legte Kim sauer fest. Als der Arzt nickte, gingen sie ins Wartezimmer nebenan und warteten, bis die Sprechstundenhilfe „Der Nächste!“ rief. Dann standen sie auf. Die Hilfe wollte Kim schon zurückweisen, da fauchte diese: „Ich lasse sie nicht alleine, wer weiß, was der Lustmolch noch mit ihr anstellt!“ Bei diesen Worten begann Eleonora zu zittern, aber Kim flüsterte mit sanfter Stimme: „Keine Angst, ich bin ja dabei.“ Als sie im Behandlungsraum waren, saß der Arzt gerade über ein paar Akten gebeugt. Er hörte sie eintreten und sagte: „Mach dich bitte frei und setz dich auf die Liege.“ Kim nickte Eleonora aufmunternd zu und diese tat wie ihr geheißen. Der Arzt drückte Kim eine Salbe in die Hand und sagte: „Die muss sie einmal am Tag auftragen, außerdem sollte sie sich in den nächsten zwei oder drei Tagen möglichst wenig bewegen. Heute Abend hole ich dich um acht Uhr vor dem Schiff ab, bezahlen musst du nichts, außer mit dem Kuss. Mit welchem Schiff seid ihr denn unterwegs?“ Kim antwortete: „Mit der Vengeance.“ Entgeistert fragte der Arzt, mit Namen Blake O’Donnel: „Täusche ich mich, oder ist da nicht heute Morgen einer der Besatzung hier gewesen. Und ich hätte schwören können, er wäre Pirat.“ „Ist er auch und zwar durch und durch!“, erwiderte Kim geladen. Als sie aus der Tür ins Freie traten, fragte Kim Eleonora: „Geht es dir besser?“ Sie schaute nicht auf, sagte aber: „Ein bisschen, die Schmerzen lassen allmählich nach.“ Kim wusste, warum Eleonora sie nicht ansah. Sie fühlte sich von ihr verraten. Hatte Kim es doch zugelassen, dass sie noch einmal von einem Fremden angefasst worden war. Es war schon dunkel, als Kim von Bord ging. Eleonora lag in ihrer Kajüte, die Aufsicht hatte sie Edward übergeben und ihm klargemacht, keinerlei Bemerkungen zu machen. Leo würde erst später mit den anderen in die Stadt gehen. Sie hatte den Rest des Tages kein Wort mit ihm gewechselt, auch wenn es ihr schwer gefallen war. Der Arzt wartete schon auf sie und Kim spürte Leos Blick, der sie beobachtete, im Rücken. Um sich etwas an ihm zu rächen, lief sie freudig auf den Mann zu und umarmte ihn zur Begrüßung. Dieser lachte und fragte: „Heute Mittag schienst du mir noch nicht so begeistert, aber mich soll’s nicht stören. Einen recht schönen guten Abend wünsche ich übrigens.“ Kim erwiderte den Gruß, hakte sich unter und ging los. Bevor sie aus Sichtweite des Schiffes verschwanden, warf sie noch einmal einen sehnsüchtigen Blick zurück zum Schiff. Irgendwie hoffte sie, dass Leo ihr nachlief und sich entschuldigte. Vielleicht hätte sie ihm dann verziehen, doch er stand unbeweglich an der Reling und starrte den Beiden wutentbrannt nach. Sie saßen in einem Restaurant in einem Viertel der Stadt, das sie bisher nicht gekannt hatte. Hier war es sauber und gediegen. Es kam einem vor, als wäre hier eine vollkommen andere Stadt. Verstohlen linste Kim über den Rand der Speisekarte und musterte den Arzt. Er hatte dunkles Haar. Seine Augen hatten ein dunkles braun, um sie herum waren ein paar Lachfalten am entstehen. Die Lippen waren nicht sehr voluminös, und seine Nase war auch nicht sehr groß. Alles in allem schätzte Kim ihn auf Mitte, bis Ende dreißig. Als er bemerkte, dass sie ihn musterte, lächelte er ihr zu und sie vertiefte sich erschrocken wieder in ihre Karte. Alles hier war äußerst teuer und die meisten Gerichte kannte sie nicht. Schließlich entschied sie sich für etwas Teures, ohne zu wissen was es war und bestellte sich dazu ein Wasser. Der Arzt lächelte ihr zu und fragte: „Sag mal, wie ist eine hübsche, junge Frau, wie du eine bist, denn darauf gekommen Pirat zu werden?“ Kim zuckte mit den Schultern und antwortete ruppig: „Ich wüsste nicht, was Sie das anginge!“ Er hob abwehrend die Hände und lachte: „Tut mir Leid, ich wollte ja nicht zu persönlich werden. Willst du mir dann vielleicht etwas über denjenigen erzählen, der die Wunde bei diesem Kerl von heute Morgen verarztet hat? Der muss wirklich Ahnung gehabt haben.“ Kim lief rot an und sagte kleinlaut: „Das war ich, Doktor O’Donnel.“ Seine Augen weiteten sich und er fragte: „Woher wusstest du denn, was du tun musstest?“ „Nun ja, als ich unserer Mamsell mal geholfen habe das Gemüse zu schneiden, habe ich mir aus Versehen den Halben Zeigefinger abgehackt, das war auch ne schöne Sache. Außerdem habe ich von meinen Kameraden schon einige solche Geschichten gehört“ Der Arzt lachte auf und die Falten um seine Augen kamen richtig zur Geltung. Kim mochte sein Lachen. Es schien das einzig Ehrliche an ihm zu sein. Gerade erzählte er, wie er einmal einem Piraten einen Arm amputieren musste, weil der sich die Wunde nicht richtig desinfiziert hatte und sich das Ganze so schlimm entzündet hatte, dass selbst er nichts mehr tun konnte, da wurde der erste Gang serviert. Als sie fertig mit dem Essen waren, bezahlte der Arzt und begleitete Kim zurück, bis vor das Schiff. Kim hoffte schon, er habe den Kuss vergessen, wollte schon auf das Schiff gehen und sagte: „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Doktor O’Donnel.“ Aber der Arzt ließ sich nicht so einfach abschieben. Er ergriff ihre Hand und zog sie Grob an sich heran. Er flüsterte: „Ich glaube mich daran erinnern zu können, dass ein Kuss vereinbart gewesen war, außerdem sollst du aufhören, mich ’Doktor O’Donnel’ zu nennen, das habe ich dir schon beim Essen gesagt.“ Sie schluckte, schloss die Augen und wartete darauf, was jetzt kommen mochte. Ihre Muskeln verkrampften sich, als sie spürte, wie er seine Lippen auf ihre legte und begann diese leicht zu liebkosen. Mit der Hand streichelte er ihr durchs Haar, mit der anderen zog er sie an der Hüfte näher zu sich. Kim stand stocksteif da und ließ es über sich ergehen. Unwillkürlich musste sie dabei an Leo denken, er küsste wesentlich besser. Doch als der Kuss immer leidenschaftlicher wurde, drückte sie den Arzt von sich und flüsterte verlegen: „Nein, nicht weiter, bitte.“ „Warum?“, fragte er und kam ihr wieder näher. Erneut wies Kim ihn zurück und sagte: „Ich möchte es nicht, es war ein Kuss vereinbart und den hast du jetzt bekommen.“ Ein obszönes Lächeln schlich sich auf die Lippen des Mannes und er entgegnete: „Na gut, ich halte mich an Abmachungen, aber es ist schade, dass du meinen Kuss nicht erwidertest, denn deine Lippen sind so weich.“ Damit steckte er die Hände in die Taschen, drehte sich um und ging. Kim ging in die entgegengesetzte Richtung, auf die Vengeance. Als sie in Eleonoras Kajüte kam, saß neben dem schlafenden Mädchen Terry. Etwas verwirrt fragte Kim: „Wo ist denn Edward?“ „Wir haben uns den Abend abgewechselt. Ich bin am Anfang ausgegangen und er ist jetzt aus.“ Kim nickte und wollte gerade wieder gehen, da fiel ihr ein, dass sie ihn noch etwas fragen musste, also begann sie: „Du, Terry, ehm, sag mal, könnte ich vielleicht bei euch im Zimmer schlafen? Bei Leo will ich nämlich nicht mehr.“ Verwundert schaute Terry auf, bejahte allerdings ihre Frage, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Heilfroh machte Kim sich auf den Weg, um sich ihren Schlafanzug zu holen und sich umzuziehen. Sie stand gerade oben ohne da, da öffnete sich die Tür und Laffite trat ein. Als er sie halbnackt vor sich sah, starrte er sie für einen Augenblick an, dann rief er, sich die Augen zuhaltend: „Mon Dieu! Sacre bleu! Qu’est-ce que c’est?“ Für einen Moment war auch Kim erstarrt, doch sie drehte sich rasch um und zog sich ihr Oberteil über, dann sagte sie: „Tut mir Leid, Laffite! Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich schlafe ab heute hier bei euch. Ist das OK?“ Er stieß verblüfft die Luft aus, sagte aber: „Oui, oui. Pourquoi pas? Mais pourquoi veux-tu dors chez nous?“ „Weil ich Abstand brauche.“, kam prompt die Antwort von Kim. Er fragte nicht weiter, sondern zog sich selbst auch aus, bis er in Boxershorts in sein Bett schlüpfte. Auch Kim stieg in ihr frisch bezogenes Bett. Das Licht hatte sie schon gelöscht. Im Halbschlaf murmelte sie: „Schlaf gut.“ „Toi aussi.“ In der Nacht, Kim vermutete, so um zwei, halb drei, wurde sie von lautem Gegröle geweckt. Garret war von seinen Wirtshausbesuchen zurück und stockbesoffen. Laffite, der anscheinend auch wach geworden war, fauchte entnervt: „Maul halten, oder du machst Bekanntschaft mit meiner Faust!“ Garret machte das Licht an, zog Laffite aus dem Bett und begann mit ihm durch das Zimmer zu tanzen. Dazu sang er schallend. Als Laffite jedoch endgültig der Geduldsfaden riss, brüllte er: „Wenn du nicht sofort die Fresse hältst und dich schlafen legst, kannst du an Deck schlafen!“ Für einen Moment schaute Garret ihn mit glasigen Augen an, dann begann er schallend zu lachen, legte seinen Arm um Laffites Schultern und prustete: „Was ist denn los mit dir? Habe ich dich etwa bei deinem Schönheitsschlaf gestört, Dornröschen?“ Ohne ein Wort zu sagen, öffnete Laffite die Tür und half Garret mit einem Tritt hinaus. Er löschte das Licht wieder und legte sich seufzend zurück in sein Bett. Doch gerade, als Kim hörte, wie er leise zu schnarchen begann, öffnete sich die Tür erneut und Garret machte das Licht zum zweiten Mal an. Laffite setzte gerade zum brüllen an, da legte Garret den Finger an den Mund und flüsterte: „Psst! Willst du das ganze Schiff aufwecken? Sei doch nicht immer so laut!“ Kim musste sich das Lachen verkneifen. Wer war denn eben grölend durch die Kajüte gejuckt? Auch Garret zog sich das Hemd aus, ließ die Hose allerdings an. Er wollte sich gerade in sein Bett legen, da bemerkte er, dass Kim darinnen lag und schrie erschrocken auf. Er machte einen Satz zurück, so dass er in Laffites Bett landete, der ihn allerdings angewidert wegschubste. Langsam rappelte er sich wieder vom Boden auf und fragte erstaunt: „Was machst du denn hier, Kim?“ „Schlafen. Genau wie ich, nur dass du uns daran hinderst.“, antwortete ihm Laffite an ihrer Stelle, doch Garret fragte verwirrt weiter: „An was hindere ich euch? Ich dachte, Kim würde nur mit Leo, oder habe ich da was missverstanden. Wenn das so ist, dann will ich aber auch mal!“ Er stand direkt vor Kim, die sich aufgesetzt hatte und ihm jetzt heftig mit dem Fuß in den Bauch trat. Garret musterte sie fragend und grinste dann: „Ich hätte dir gar nicht zugetraut, dass du auf so was stehst.“ Kim versuchte ruhig zu bleiben, zitterte aber schon vor Wut und brüllte schließlich, als auch das tief durchatmen nichts brachte: „Du spinnst wohl! Was gehen dich denn meine Romanzen an und außerdem woher weißt du denn, dass ich schon mit Leo geschlafen habe?!“ Er zuckte mit den Schultern und sagte gleichgültig: „Das hast du selbst heute an Bord rumgebrüllt, selbst schuld. Und wenn ihr hier eindeutig zweideutig sprecht, kann ich doch auch nichts dafür, schließlich habe ich auch schon ein paar Gläschen Rum gezecht.“ Laffite brummte griesgrämig: „Wohl eher ein paar Maß.“ Etwas lauter sagte er dann: „Garret, ich glaube, du solltest dich jetzt einfach schlafen legen.“ „Und in welches Bett? Kim liegt ja in meinem und wenn ich mich in Terrys lege, sorgt der dafür, dass ich nicht mehr aufwache.“ „Wozu haben wir eigentlich das vierte Bett im Zimmer?“ Laffite rollte genervt mit den Augen und nickte, als er das sagte, mit dem Kopf zu dem vierten Bett, das über seinem war. Etwas mürrisch legte sich Garret hin, machte aber, ob nun aus Trotz wusste Kim nicht, die Lichter nicht aus. Nach ungefähr zehn Minuten erbarmte sich Laffite und löschte sie. Kim lag noch eine ganze Weile wach, da sie nicht wieder einschlafen konnte. Garrets Worte hatten noch einmal den Streit mit Leo vor ihrem geistigen Auge hervorgerufen. Fröstelnd erinnerte sie sich an jedes Detail. An diesem Tag war so schrecklich viel geschehen. Wie sollte es nur weitergehen? Schließlich schlief Kim doch noch ein, trotz des Schnarchens Laffites und Garrets, die glatt einen ganzen Wald damit abholzen könnten. Am nächsten Tag schaute sie als Erstes nach Eleonora. Als sie sich erkundigte, wie es ihr ging, bekam sie jedoch nichts als ein Schluchzen zur Antwort. Kim setzte sich neben sie und sagte etwas verärgert: „Warum hast du denn auch nicht auf mich gehört?“ Eleonora stierte sie wutentbrannt an und sagte mit vor Zorn strauchelnder Stimme: „So? Dich dummes Bauernmädchen interessiert also nur, dass du Recht hattest? Ja, es ist schon toll, wenn man etwas besser wusste, als eine Dame der höheren Gesellschaft und die auch noch darunter leiden muss!“ Kim schnappte nach Luft. Hatte sie mit nur einem Wort erwähnt, dass sie sich an Eleonoras Unglück ergötzte? Sie wollte gerade sagen, dass Eleonora etwas missverstanden hätte, da sprach diese schon weiter: „Ich hasse so neureiche wie dich! Wahrer Adel bedeutet heutzutage nichts mehr, aber man sieht den Unterschied noch immer. Bauerntrampel bleibt nun einmal Bauerntrampel, auch über Generationen hinaus.“ Ohne ein Wort zu erwidern stand Kim auf. Sie ging zur Tür und gerade als sie sie wieder hinter sich schließen wollte, sagte sie noch: „Du tust mir Leid.“ Leise ließ sie die Tür ins Schloss fallen und begab sich an Deck. Eigentlich wollte sie sich zu Terry, Laffite und Garret gesellen, doch als sie Leo bei ihnen stehen sah, wild gestikulierend, ließ sie es lieber bleiben. Als Leo sie allerdings sah, hörte er schlagartig auf zu reden und starrte zu ihr herüber. Als die Anderen anfingen ihn zu schubsen, um weiterzuerzählen, schien er den Faden verloren zu haben. Mitten an Deck legte Kim sich hin und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. Sie konzentrierte sich auf die Wellen, die sie hörte, wenn sie gegen die Planken schlugen, den Wind, den sie spürte, wenn er ihr sanft über die Haut streichelte, das Wasser, dessen salziger Geruch ihr wohlbekannt in die Nase stieg und den salzigen Geschmack auf ihren Lippen. Es schien ruhig zu werden. Nicht nur um sie herum, sondern auch in ihrem Inneren. Ihre Gefühle hatten gekämpft, geschrieen und nichts hatte sie dagegen tun können. Doch jetzt spürte sie nichts. Keine Wut, keine Trauer, keine Verzweiflung, kein Glück keine Zufriedenheit. Sie war einfach nur da, lag an Deck und in irgendeiner Weise war es erleichternd. Aber wie so oft konnte sie es nicht genießen, den Jon platzte wütend an Deck und rief immer wieder nach ihr. Sie setzte sich seufzend auf und machte sich bemerkbar. Mit großen Schritten stampfte Jon auf sie zu und brüllte: „Komm mit!“ Etwas eingeschüchtert folgte sie ihm, was in anbetracht seiner wirklich enorm großen Schritte äußerst schwer war. Er ging in seine Kajüte. Diesmal bot er ihr nicht an, sich zu setzen, sondern setzte sich selbst. Einen Moment schaute er sie mit finstrem Blick an, wie sie dastand. Dann erhob er sich jedoch selbst wieder und ging unruhig auf und ab. Er begann leise zu sprechen, versuchte sich im Zaum zu halten: „Kim, Ich hoffe, ich habe mich verhört, als mir jemand erzählte, Eleonora sei dir Vorgestern ausgebüchst und dann vergewaltigt worden.“ Nervös schüttelte Kim den Kopf. Für einen kurzen Augenblick blieb Jon stehen, um dann allerdings seinen Weg sofort fortzusetzen. Er sprach weiter, während er immer lauter wurde: „Ich dachte, du hättest auf sie aufpassen müssen? Wie konnte so etwas nur passieren?! Sie ist jetzt keinen Penny mehr für uns wert! Hat sie noch andere heiratsfähige Schwestern, beziehungsweise Brüder?“ Kim nickte, denn sie konnte sich erinnern, dass Eleonora etwas von einem Bruder erwähnt hatte. Jon griff sich an die Stirn und begann sich die Schläfen zu massieren. Kim glaubte, dass er das tat, um ruhiger zu werden, doch trotzdem brüllte er: „Diese Snobs wissen genau, dass kein ehrbarer Mann mit gutem Einkommen sie auch nur anschauen wird. Denen liegt doch am Leben ihrer Tochter nichts, die wollen nur Geld und wenn ihre Tochter keine holde Jungfer mehr ist, dann müssten sie die Mitgift mindestens verdoppeln, damit ein Mann aus der Mittelklasse sie ehelichen würde! Wie konntest du nur so unachtsam sein?!“ Kim stand da und schaute ihn mit großen Augen an, dann begann sie: „Aber bei mir zu Hause, da…“ „Bei dir zu Hause? Du kommst aus Brasilien, dein ganzes Dorf legt keinen besonderen Wert auf einen großen Stammbaum, aber bei der Kleinen ist das anders. Sie kommt aus Europa, Herrgott noch mal! Außerdem würde es mich nicht wundern, wenn sie um fünf Ecken mit dem König verwand wäre, da ist so was verdammt wichtig!“, unterbrach er sie barsch. Sie sagte nichts mehr. Er sank auf seinen Stuhl und legte den Kopf in den Nacken, ein paar Mal atmete er tief durch, dann fragte er, träge an die Decke schauend: „Was sollen wir jetzt mit ihr machen? Hinrichten, verkaufen oder aussetzen?“ Ihre Augen weiteten sich und sie stotterte: „Was? Aber, warum?“ Jon lachte gequält auf und antwortete: „Was wollen wir mit einem zweiten Frauenzimmer an Bord, das gerade mal zwölf Jahre alt ist und dessen Blut blauer ist, als das Meer? Nein, das kommt nicht in Frage. Aber sei dir gewiss, ihr Schicksal liegt jetzt in deinen Händen.“ „Nein! Nein, Jon, ich kann das nicht! Ich könnte es nicht ertragen wenn sie sterben würde. Wohin würden wir sie denn verkaufen? An ein Bordell? An einen Sklavenhändler? In ihrem Stolz würde sie sich eher umbringen, als so etwas zu tun. Und wenn wir sie aussetzten? Wie soll sie da überleben? Bitte, übertrage nicht mir diese zu schwere Bürde!“ Jon verschränkte die Arme vor der Brust und schaute zu ihr. Nach einer Weile sagte er: „Nun gut, dann entscheide ich, dass wir sie aussetzen. Dann kann sie ihr Schicksal selbst entscheiden. Wir setzen noch heute Segel, ein oder zwei Stunden südlich von hier setzen wir sie aus. Und Kim, wenn sie dir wieder davonläuft, bis wir ablegen, wirst du dich an ihrer Stelle wieder finden!“ Als Kim bemerkte, dass Jon das ernst gemeint hatte, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter und sie nickte fröstelnd. Sie saß bei Eleonora im Zimmer, die kein Wort mit ihr wechselte, um sicherzugehen, dass sie nicht weglief. Als sie durch das Bullauge sehen konnte, wie sich der Hafen langsam entfernte, wurde ihr noch schwerer ums Herz. Sollte sie Eleonora sagen, was auf sie zukam? Gerade war sie soweit, da öffnete sich die Tür und Terry herrschte sie an: „Kim, du faules Stück! Wir brauchen deine Hilfe an Deck! Außerdem will Mack noch mit dir reden!“ Als der Name Mack fiel, leuchteten Eleonoras Augen auf und sie fragte: „Könnet Ihr ihn nachher zu mir schicken? Ich würde es sehr lieben, ihn zu sehen.“ Doch als sie es sagte, wurde sie sich ihrer Situation gewahr und sagte mit rotem Gesicht: „Oder lasst es lieber, ich will ihm nicht unnötig zur Last fallen.“ Kim und Terry warfen sich einen vielsagenden Blick zu, dann stand Kim auf und folgte Terry an Deck, um den Seeräubern zu helfen. Nach ungefähr einer Stunde Fahrt zog Mack sie in den Schatten des Achterdecks und flüsterte: „Stimmt es, dass Miss Roberts ausgesetzt werden soll?“ Kim nickte betroffen und Mack seufzte mutlos. Dann sagte er: „Ich werde den Captain überreden, dass ich mitkommen darf, wenn wir sie an Land bringen. Von dort werde ich sie begleiten, aber ich brauche Eure Unterstützung, um den Captain zu überzeugen, würdet Ihr mir helfen?“ „Natürlich würde ich dir helfen, aber ich glaube, der Captain ist momentan nicht so gut auf mich zu…“ „Ich danke Euch, Miss Merrylson! Ich danke Euch von ganzem Herzen!“ Mit diesen Worten zog er sie ins Innere des Schiffes, direkt in Jons Kajüte, der gerade ins Logbuch eintrug. Er sah nicht auf, sondern fragte so ruhig, dass Kim eine Gänsehaut bekam: „Mack, Kim, was gibt es?“ Mack begann sofort zu reden, während Kim verzweifelt versuchte, sich im Hintergrund zu halten. Die Drohung von vorhin saß ihr immer noch in den Knochen und sie wollte Jon nicht unnötig reizen. Er sagte: „Captain, ich würde gerne mit an Land kommen, wenn wir Miss Ro… ehm, das Mädchen aussetzen.“ „Und weswegen, wenn man fragen darf?“ „Natürlich, ich möchte mit, um mich von ihr zu verabschieden, schließlich kannte ich sie schon lange bevor sie das Schiff betreten hatte.“ „Verabschieden kannst du dich doch auch auf diesem Schiff.“ Hilfe suchend schaute Mack sich nach Kim um, die einen Schritt nach vorne tat und fieberhaft eine Ausrede suchte. Schließlich sagte sie: „Jon, vielleicht würde Eleonora sich ja dann wohler fühlen, schließlich ist sie es ja, die verletzt wurde, gönn es ihr doch.“ „Nein.“ „Aber warum?“, brüllte sie zornig. Jon klappte das Buch zu, legte den Stift beiseite und sagte leise: „Weil er sie begleiten will und wir auf keinen weiteren Mann verzichten können, schließlich haben wir erst kürzlich einen Drittel unserer Besatzung mit dem französischen Schiff verloren. Außerdem ist Mack ein recht passabler Kämpfer und außerordentlicher Stratege, den ich nicht missen möchte.“ Kim schlug mit den Handflächen auf den Tisch und versuchte es weiter: „Jon, versuch doch, sie zu verstehen, willst du ihre Liebe unbedingt zerstören? Muss er erst ein Verbrechen begehen, damit auch er ausgesetzt wird?“ Bei dem Wort Liebe errötete Mack und erwiderte hektisch: „Nein, nein, Ihr habt da etwas völlig missverstanden, Miss Merrylson, ich kann es nur nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn Miss Roberts etwas zustieße.“ Kim konnte sich das Lächeln nicht verkneifen und auch Jon huschte ein belustigtes Grinsen übers Gesicht, dann sagte er, sich erhebend: „Nun gut, wenn es denn unbedingt sein muss, soll er halt mitgehen, aber es gibt dann kein Zurück mehr!“ Gemeinsam gingen sie wieder an Deck. Terry und Laffite hatten die Kleine inzwischen an Deck gebracht und sie über ihr Schicksal aufgeklärt. Sie stolperte mit Tränen in den Augen auf die Drei zu und wandte sich als erstes an Kim: „Kim, bitte, du darfst nicht zulassen, dass man mich aussetzt, ich werde umkommen! Bitte, ich bin doch noch so jung!“ Doch Kim wandte sich von ihr ab und ging zu Garret, der mit Edward Karten spielte. Aus den Augenwinkeln konnte sie beobachten, wie sie sich nun an Mack wandte, der ihr über den Kopf strich und ihr wahrscheinlich sagte, dass er sie begleiten würde. Jon war auch gegangen und gesellte sich zu Leo, Terry und Laffite. Als es soweit war, ankerten sie und eine kleine Gruppe fuhr in einem Beiboot ans Festland. Es waren Jon, Mack, Kim, Leo, Laffite, Terry, Garret und natürlich Eleonora. Mit hochgekrempelten Hosenbeinen gingen sie an Land und begleiteten die Beiden noch ein Stück, dann verabschiedeten sie sich von der noch immer weinenden Eleonora und Mack und wollten sich gerade auf den Rückweg machen, da hörten sie eine ihnen wohlbekannte Stimme sagen: „So herzlos, Jon? Du warst doch immer so ein Muttersöhnchen. Und du, Kim, was ist denn mit dir und Leo passiert, hat er dich etwa betrogen? Warst du nicht gut genug? Was ist mit dir Laffite, warst du doch früher immer ein so friedliebender Mensch, und jetzt hast du deinen besten Freund eiskalt gefoltert und dann hingerichtet! Terry, mein Bester, markierst den harten Mann und schreibst Gedichte und dichtest Lieder, die jedes Frauenherz höher schlagen ließen. Zu guter letzt Garret, früher warst du doch immer so ein harter Bursche, bist vor nichts zurückgeschreckt, aber du bist verweichlicht, ein halbes Weib bist du geworden! Ihr habt euch verändert, aber nicht so sehr wie ich, denn ich bin tot.“ Aus dem Schatten eines Baumes trat Alice hervor. Sie sah so schön aus wie damals, doch hatten ihre Augen sich gewandelt. Sie schaute Kim an, wie in ihrer Vision und diese wich einen Schritt zurück, so erschrocken, dass sie nicht schreien konnte. Es war, als durchbohrte Alice sie förmlich. Die blonde, junge Frau grinste boshaft, so dass ihre weißen Zähne hinter ihren blutroten Lippen hervorstachen. Sie sagte: „Überlasst mir Kim, dann lasse ich euch lebend davonkommen!“ Doch die fünf Piraten stellten sich vor sie und zogen ihre Waffen, bereit zum Kampf. Alice schüttelte abfällig den Kopf, führte ihre Finger zum Mund und stieß einen lauten Pfiff aus. Innerhalb weniger Sekunden, kamen dutzende Untote herbei. Alice stand lässig an einen Baum gelehnt und schaute zu, wie die Piraten den nahezu aussichtslosen Kampf begannen. Einen kurzen Moment hoffte Kim, dass irgendjemand an Bord sie sehen konnte, doch sie waren zu weit an Land. Als einer der Untoten auf Kim zukam und diese nichts zum verteidigen hatte, als ihren kleinen Dolch, warf Terry ihr eines seiner Entermesser zu und schwang sein anderes, das er auf den Kopf von einem der Kerle niedersausen ließ. Kim fing das Entermesser auf, jedoch recht ungeschickt, so dass der Untote schon ausholte, um sie zu enthaupten, doch da rief Alice: „Lass das! Die Kleine gehört mir!“ Sie wollte gerade auf Kim losgehen, da sprang Mack dazwischen. Kim schaute sich um und sah Eleonora an einen Baum gedrängt, das Geschehen beobachtend. Auch Kim sah sich um. Sie wollte helfen. Leo hatte anscheinend am dringendsten Hilfe nötig, denn er blutete aus einer Wunde am Bauch und hatte vier Gegner. Etwas in ihr sträubte sich dagegen, ihm zu helfen, doch sie ignorierte dieses Gefühl und sprang neben ihn um ihm zu helfen. Als sie einen Untoten auf dem Gewissen hatte, fiel dieser zu Boden und verwandelte sich zu Asche. Sie kämpfte und kämpfte, aber sie konnte das Gefühl nicht loswerden, dass es immer mehr Untote wurden. Was sollte sie nur tun? Die Piraten konnten ihr nicht mehr helfen, als sie es schon taten. Sie hatte gerade den nächsten umgebracht, da hörte sie Eleonora schreien: „MACK!“ Dieser lag am Boden. War er tot? Eleonora rannte zu ihm hin. Sie stolperte und stürzte. Kim hörte auf zu kämpfen und auch die meisten Untoten sahen zu Eleonora, die sich am Boden zu Mack zog. Kim glaubte zu wissen, dass er sterben würde und auch Eleonora schien das zu wissen, denn sie umarmte ihn, küsste ihn zärtlich und sagte verzweifelt und gezwungen lächelnd: „Mack, du darfst nicht sterben! Wer hilft mir sonst beim überleben? Ohne dich wäre ich allein, außerdem… außerdem, … liebe ich dich.“ Gegen Ende des Satzes zitterte ihre Stimme. Tränen kullerten über ihre Wangen und tropften auf Macks schwer verletzten Körper. Mit letzter Kraft nahm er ihre Hand und sagte: „Miss Roberts, nein, Eleonora, ich empfinde das Gleiche, doch wird es niemals sein, da das nicht schicklich wäre. Von nun an musst du deinen eigenen Weg gehen.“ Kim starrte die Beiden an und ihr wurde schlagartig bewusst, dass fast alles war, wie in ihrer ersten Vision, die sie je gehabt hatte. Sie wich einige Schritte zurück und stieß gegen Leo, der seine Arme schützend um sie legte. Als sie sah, dass er nicht mehr atmete, seine Brust unbeweglich dalag, schrie Eleonora auf. Sie weinte bitterlich, doch versiegten ihre Tränen und ihr Blick wandelte sich in eine Entschlossenheit, die Kim das schlimmste befürchten ließ. Eleonora griff nach Macks Entermesser und hielt es gegen sich gerichtet. Kim wollte gerade auf sie zulaufen und sie davon abhalten, da sagte sie: „Wenn du nicht mehr da bist, hat mein Leben keinen Sinn mehr, ich werde nicht auf der Gosse enden, sondern in Würde neben dir sterben.“ Damit rammte sie sich den Säbel zwischen die Rippen. Kim fiel auf die Knie und war fassungslos. Sie konnte nicht glauben, was da eben geschehen war. Eine tiefe Trauer vermischt mit Zorn, dass sie es nicht früher bemerkt hatte, begannen, sie von innen zu zerfressen. Sie bekam kaum mit, dass die Untoten sich wieder zurückzogen, da sie jetzt das Opfer eines Mädchens hatten und Alice rief: „Wir sehen uns noch!“ Ihre Augen blieben trocken. Kim weinte nicht. Keine Einzige Träne lief über ihr zartes Gesicht. Sie wusste nicht, wie lange sie da kniete, bis Leo ihr eine Hand auf die Schulter legte und behutsam sagte: „Kim, ich glaube, es wäre besser, wenn wir jetzt gingen.“ Sie sah sich um und gewahrte die anderen schon in einiger Entfernung vorauslaufen. Langsam erhob sie sich und folgte ihnen. Auf dem Beiboot schwiegen sie und Leo hatte seinen Arm um sie gelegt. Auf Deck küsste er sie dann auf die Stirn, was ihr allerdings zu viel wurde und sie stieß ihn zornig von sich. Verärgert brüllte sie: „Lass mich in Ruhe! Vorgesternabend lagst du doch noch in den Armen deiner ach so geliebten Kathleen! Denk nicht, dass ich die Ersatzfrau spiele!“ „Aber Kim, Es gibt kein Indiz, dass ich wirklich bei ihr war. Mag sein, dass ich mich nicht mehr an den Abend erinnere, aber ich war ganz sicher nicht bei ihr, bitte glaub mir!“ Jon, der das Ganze mitgehört hatte, sagte plötzlich: „Vorgesternabend? Da war ich bei ihr.“ Mit düsterem Gesichtsausdruck fragte Kim: „Den ganzen Abend?“ Etwas eingeschüchtert nickte Jon. Dafür musste er ja eine schöne Summe hingelegt haben. „Und warum weißt du das noch so genau?“ „Ehm, nun ja, weißt du… Was geht dich das eigentlich an? Bei wem ich war und warum ich da war, hat dich ja wohl nicht zu interessieren!“ Mit diesen Worten schritt er sauer von dannen und ließ Leo und Kim alleine. Erwartungsvoll schaute Leo Kim an, doch diese kehrte ihm den Rücken zu, um sich zu Terry zu setzen, damit sie ihm aus Dank helfen konnte, seine Waffen zu reinigen. Später an diesem Abend saß sie allein in ihrer Kajüte, in der am selben Morgen noch Eleonora gelegen hatte. Bei schwachem Kerzenschein versuchte sie sich auf das Buch in ihrem Schoß zu konzentrieren, doch immer wieder schwirrten ihr die gleichen Bilder und Fragen im Kopf. Sie sah Alice und deren Blicke, wie Mack sterbend am Boden lag und Eleonora sich umbrachte. Sie fragte sich, warum sie damals Jon und sich in ihrer Vision gesehen hatte, es jetzt aber doch Eleonora und Mack getroffen hatte. Als sie bemerkte, dass ihre Gedanken vom Inhalt des Buches abschweiften, lenkte sie ihre Konzentration wieder darauf. Doch just in diesem Moment klopfte es und die Tür öffnete sich. Leo trat ein und fragte: „Darf ich?“ Als Kim resigniert seufzte und das Buch zuklappte, schloss er die Tür hinter sich und setzte sich zu ihr. Sie getraute es sich nicht, ihn anzublicken, geschweige denn, ihm in die Augen zu schauen. Da sie nichts sagte, ergriff Leo wieder das Wort. Langsam und sich seiner Sache nicht ganz sicher fragte er: „Wie geht es dir, Kim?“ Den Blick immer noch von ihm abgewendet, antwortete sie: „Ich hätte es wissen müssen. Das alles habe ich schon einmal gesehen, nur waren es damals Jon und ich. Es war gleich, bis ins kleinste Detail, warum habe ich es nicht bemerkt?“ „Es war doch nicht deine Schuld! Das ganze hätte auch vollkommen anders ablaufen können.“ Kim legte die Stirn in ihre Hand und versuchte vom Thema abzulenken: „Wie geht es denn deiner Hand?“ Stolz hob Leo seine Linke und präsentierte ihr die beiden Stümpfe, die nicht wie sonst von einem Verband verdeckt wurden. Erst wich Kim erschrocken zurück, doch dann schaute sie sich die Wunde genauer an und erkannte, dass sie enorm schnell verheilte. Gezwungen lächelte sie ihn an und sagte: „Sieht doch schon gut aus.“ Leo erwiderte ihr Lächeln nicht, er schaute ihr tief in die Augen, kam ihr immer näher. Ihre Lippen berührten sich fast, da entgegnete er flüsternd: „Mag sein, aber noch lange nicht so gut wie du, Engelchen.“ Seine Lippen legten sich auf die ihrigen, doch Kim schob ihn von sich und sagte: „Leo, bitte, ich brauche Zeit.“ „Aber du hattest den ganzen Tag Zeit!“, brauste er auf, doch sofort wurde seine Stimme wieder sanft: „Ach Kim, ohne dich bin ich hilflos. Du bist mein Engel, erbarme dich meiner und komm von der Wolke herunter, auf der du stehst, auf mich herabsiehst, mich auslachst und mir dann den Rücken zuwendest.“ Mit sanfter Gewalt drückte er sie rücklings auf das Bett und legte sich auf sie. Erneut wollte er sie küssen und schob langsam seine Hand unter ihre Bluse. Kim versuchte vergeblich, ihn von sich zu schieben. Sie sagte leise: „Hör auf, bitte.“ Immer wieder wiederholte sie ihre Worte, bis sie schließlich, den Tränen nahe, brüllte: „Lass das!“ Noch einmal versuchte sie, ihn von sich zu stoßen, diesmal mit Erfolg. Kim wich in eine Ecke zurück, von der aus sie Leo beobachtete. Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn und begann zu lachen. Es war nicht das warme Lachen, das sie von ihm gewohnt war, sondern ein eher wirres, verrücktes Lachen. Sie erkannte ihn nicht wieder. Kurz darauf hörte es auf. In der Kajüte wurde es ganz still, bis er aufstand und das Holz unter seinen Schritten ächzte. Er ging auf sie zu und nahm ihr Kinn. Sie dachte, er wollte es wieder versuchen und flüsterte gebrochen: „Nein, bitte nicht.“ Leo schüttelte allerdings den Kopf, drehte ihr Gesicht zur Seite und küsste sie sanft auf die Wange. Melancholisch flüsterte er: „Es tut mir Leid, wenn du bereit bist, dann lass es mich wissen.“ Mit diesen Worten verließ er die Kajüte wieder. Noch lange saß sie zusammengekauert, mit weit aufgerissenen Augen in der Ecke und konnte nicht fassen, was Leo ihr gerade fast angetan hatte. Sie legten wahrscheinlich gerade wieder im Hafen an, da öffnete sich die Tür erneut und Jon kam herein. Er fragte vorsichtig: „Kim, ich will dich nicht stören, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.“ Als er sie in der Ecke sitzend sah, kam er besorgt auf sie zu, legte eine Hand auf ihr Knie und fragte: „Alles in Ordnung?“ Nicht fähig zu sprechen, schüttelte Kim den Kopf. Er strich ihr über die Wange, half ihr auf und geleitete sie zu ihrem Bett, wo sie sich wieder niederließ. Jon nahm sich den Stuhl, der in ihrer Kajüte stand und setzte sich ihr gegenüber. Er suchte den Blickkontakt zu ihr vergebens und fragte schließlich: „Was ist passiert?“ Kim schüttelte den Kopf und sagte die Fassung verlierend: „Was passiert ist? Weil ich nicht auf Eleonora aufpassen konnte, sind sie und Mack jetzt tot, Alice ist wirklich wieder zum Leben erwacht und Leo war kurz davor mich zu vergewaltigen, aber ansonsten ist alles in bester Ordnung! Ist ja nichts Gravierendes!“ Sie schaute auf und in Jons Augen, die kein Mitleid zeigten, kein Mitgefühl, weder Trauer, noch Schadenfreude. Er sah sie einfach nur an. Einen Moment lang hielt sie diesem Blick stand, doch schon bald schluchzte sie: „Es ist alles meine Schuld! Hättest du mich doch nur nie getroffen! Ich bringe dir nichts als Unglück, das Beste wäre, du würdest mich umbringen, dann könnte ich niemandem mehr schaden! Jon, warum geschehen den Menschen die ich liebe immer solche Dinge?“ Seine Miene wurde wärmer und er legte den Finger an die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. Anschließend nahm er sie in den Arm. Das war es. Seit Alice Tod hatte Kim dieses Väterliche an ihrem Kapitän gemisst. Er war ein vollkommen anderer Mensch geworden, viel härter. Doch jetzt schien all die Zeit, die seit damals, seit ihrer Schneeballschlacht vergangen war, wie vergessen und sie fühlte sich wie damals. Geborgen. Es war nicht dieselbe Geborgenheit, die sie bei Leo verspürte, nein, es war anders. Es war wärmer, es war, als würde sie bekommen, was sie nie bekommen hatte. Sie wollte Jon nie wieder loslassen, doch er löste sich von ihr, um aufzustehen und ihr eine gute Nacht zu wünschen. Damit verließ er ihr Zimmer. Ihr wurde kalt. Nicht, weil die Temperatur zu niedrig war, sondern weil sie sich allein fühlte, so allein, wie noch nie. Sie stand auf und tapste barfüßig über den Flur, bis sie vor einer Tür stehen blieb und anklopfte. Niemand antwortete, also öffnete sie die Tür und fand die Kajüte verlassen vor. Sie würde auf ihn warten. Schließlich würde er sicher bald zurückkommen. Müde setzte sie sich auf das Bett, schlief jedoch fast sofort ein. Als sie am nächsten Morgen wieder aufwachte, war er da. Er hatte seinen Arm um sie gelegt und schlief. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und schnappte nach Luft. Dafür war sie nicht gekommen. Gerade wollte sie den Raum wieder verlassen, da wachte er auf und fragte verschlafen: „Kim? Wieso gehst du denn schon wieder?“ Kim hielt inne und drehte sich zu ihm um. Er hatte sich aufgesetzt und blickte sie verständnislos an. Ruhig fragte sie: „Warum hast du mich nicht geweckt?“ „Wieso hätte ich das tun sollen, schließlich haben wir doch auch heute noch genug Zeit zum reden, außerdem, da wir ja jetzt wieder zusammen sind, können wir doch auch wie früher in einem Bett schlafen.“ Er stand auf, ging zu ihr und wollte sie küssen, aber Kim hielt ihn mit den Worten: „Es ist aber nicht wie früher.“ Zurück. Verwirrt fragte er: „Aber warum sollte es nicht so sein wie früher?“ „Weil ich nicht sicher bin, ob ich dich noch wirklich liebe.“ Sie schwiegen. Mit einer gewissen Verzweiflung in der Stimme keuchte Leo: „Das kann doch nicht sein! Vor nicht mal einer Woche hast du mir noch gesagt, dass du mich liebst! Hast du etwa gelogen? Wie lange denn schon?“ „Ich war mir sicher, dass ich dich liebte. Aber wenn es wirklich so war, warum habe ich dann Kathleen geglaubt und nicht dir? Und warum bin ich mir dann so sicher, dass ich das Richtige tue?“ In Wahrheit war sie sich nicht sicher, sie musste sogar an sich halten, um Leo nicht um den Hals zu fallen und ihn zu küssen, doch das wollte sie ihm nicht antun. Langsam fragte er: „Heißt das, dass es dein endgültiger Entschluss ist?“ „Ja.“ In ihren Augen standen Tränen und sie blickte schnell zu Boden, damit er es nicht bemerkte. Sie hatte sehen können, wie Leo förmlich zerbrach. Wie konnte sie ihm so etwas nur antun? Als er sich, fassungslos den Kopf schüttelnd, auf sein Bett setzte, hielt sie es nicht mehr aus, das mit anzusehen. Sie drehte sich auf dem Absatz um und verließ die Kajüte. An diesem Abend ging Kim mit Jon weg. Als sie gerade ihr zweites Glas Rum bestellen wollte, kamen Terry, Edward, Laffite und Leo zur Tür herein. Kim schnappte sich schon ihre Jacke und wollte gerade gehen, da hielt Leo sie am Handgelenk fest und sagte, ohne sie anzuschauen: „Hier ist doch wohl genug Platz für uns Beide.“ Er setzte sich mit den anderen zu Jon an den Tisch. Kim blieb einen Moment unschlüssig stehen, setzte sich dann aber doch dazu und bestellte sich ihren zweiten Rum. Etwas Zeit und viel Alkohol später, hatten sich auch ein paar andere Damen, von zweifelhaftem Ruf zu ihnen gesellt. Nach und nach verschwanden diese allerdings wieder, aber nicht, ohne Terry, Edward und Laffite mitzunehmen. Nun saßen Kim, Leo und Jon zu dritt da und schwiegen. Leo und Jon hatten die Gesellschaft einer solchen Dame abgelehnt und diese hatten sich rüpelhaft fluchend andere Freier gesucht. Auf einer Bühne aus Holz stand eine junge Frau, Kim schätzte sie auf ungefähr Anfang zwanzig, mit langen, hellbraunen Haaren, großen, schwarzen Knopfaugen, großen Lippen und von schlanker Statur, die ein langsames Lied sang. Als die Menge begann, sich zu beschweren, trat eine korpulente Frau auf die Bühne. Sie entschuldigte sich für das „Dürre Ding“ und begann selbst ein schwungvolles Lied zu singen, sehr zum Gefallen der Gäste. Kim beobachtete, wie die schlanke, junge Frau von der Bühne ging und der Wirt auf sie zukam. Er schlug sie mit der Handfläche auf den Hinterkopf und brüllte sie an. Kim gefiel die Art, wie der Mann mit ihr umsprang gar nicht, doch was sollte sie tun? Als die Frau sich ein Tablett mit Gläsern schnappte und an ihrem Tisch vorbeikamen, sagte sie, gerade so laut, dass diese es hören konnte: „Ich fand, du hast gut gesungen.“ Die junge Frau schenkte ihr zum Dank ein etwas trauriges Lächeln, blieb aber nicht stehen. Leo und Jon sahen sie mit großen Augen an und Jon fragte: „Was war das denn?“ Leicht abfällig antwortete Kim: „Wieso? Ich habe nur meine Meinung gesagt, ist das etwa verboten?“ Er winkte lachend ab und meinte: „Nein, nein. Es ist nur so, dass ich sie schrecklich fand.“ Kim fauchte: „Du Kunstbanause! Sie hat wundervoll gesungen, dir hat nur das Lied nicht gepasst!“ Er warf abwehrend die Hände in die Luft, sagte aber nichts, da die junge Frau, über die sie gerade gesprochen hatten, zu ihnen kam und Kim fragte: „Hat es dir wirklich gefallen?“ Das abfällige Schnauben Jons überhörend, lächelte sie: „Ja, sehr. Deine Stimme ist einfach wundervoll. Lass dich nicht unterkriegen, diese ganzen Betrunkenen Kerle haben doch keine Ahnung.“ Die Augen der dunkelhaarigen leuchteten auf und sie sagte, Kims Hände ergreifend: „Ich danke dir! Bis jetzt bist du die Erste, der mein Gesang gefällt, aber ich bin ja auch noch nicht lange hier. Darf ich fragen wie du heißt?“ „Mein Name ist Kim.“ „Kim? Einfach nur Kim? Nicht Kimberley? Hast du denn keinen Nachnamen?“ „Doch schon, aber der ist doch nicht von Bedeutung. Dürfte ich jetzt erfahren, wie du heißt?“ „Ich heiße Jennifer, aber alle nennen mich Jen. Mein Nachname ist Grundy.“, sagte sie leicht errötend. Kim achtete nicht darauf, sondern stellte die beiden Anderen vor: „Das ist Jon, er ist Kapitän auf der Vengeance. Und das ist Leo, mein Fr… ein Bekannter.“, verbesserte sie sich schnell. Beide Piraten erhoben sich und küssten Jens Hand, als sie erwähnt wurden. Anscheinend war Jen eine so höfliche Behandlung nicht gewohnt, denn zu Anfang zog sie die Hand erschrocken weg, doch Jon lächelte ihr freundlich zu und hielt diese fest. Kim fragte Jen, ob sie sich nicht zu ihnen gesellen wollte, doch diese lehnte dankend ab und meinte: „Nein, tut mir Leid, ich kann nicht. Schließlich muss ich noch arbeiten, aber vielen Dank für das Angebot.“ Sie wollte sich gerade umdrehen, da fragte Kim: „Willst du mich nicht morgen einmal besuchen? Wie gesagt, die Vengeance.“ Jen schüttelte den Kopf und meinte strahlend: „Morgen geht es leider nicht, da ich wieder arbeiten muss, aber übermorgen habe ich den ganzen Tag frei, da komme ich dich gerne besuchen.“ „Also dann, bis übermorgen.“ Jen antwortete nicht mehr, sondern drehte sich um und lief zum Barkeeper, der wild gestikulierend mit ihr sprach. An ihrem Tisch sagte keiner ein Wort und Kim fühlte sich zunehmend unwohl, da Leo sie mit seinen Blicken förmlich auszog. Schließlich sagte sie: „Lass uns gehen, Jon.“ Dieser erwiderte nichts, sondern nahm seinen Mantel und stand auf. Leo jedoch protestierte: „Bleib doch noch, sonst bin ich hier so alleine!“ Kim zischte: „Du hast doch deinen Alkohol und wenn der dir nicht reicht, gibt es hier genug andere Gesellschaft.“ Sie nickte zu Kathleen, die bei einem schlaksigen Kerl saß und stetig zu ihnen herüber sah. Wutentbrannt sprang Leo auf und knallte die Handflächen auf den Tisch. Dann brüllte er: „Verdammt Kim! Ich will sie nicht, alles was ich begehre bist du, warum verstehst du das denn nicht? Macht es dir einen solchen Spaß, das Schwert in der Wunde zu drehen? Salz hineinzustreuen?“ Kim wollte gerade ansetzen, um zurückzubrüllen, doch Jon legte ihr die Hand auf die Schulter und meinte leise: „Kim, wir sollten gehen.“ Leo setzte sich nicht wieder, sondern starrte ihnen zähneknirschend nach. Als Kim und Jon draußen standen und eine frische Brise ihre Haare zerstreute, stampfte Kim wutschnaubend los, Jon immer nur einen Schritt hinter ihr. Als sie gerade in eine enge, dunkle Gasse einbogen, konnte Kim zwei Männer flüstern hören. Sie standen mitten auf dem Weg. Kim versuchte sich galant an ihnen vorbei zu schieben, doch der Eine von Beiden packte sie bei der Schulter und drehte sie zu sich. Jon wollte gerade eingreifen, da keuchte Kim: „Doc O’Donnel? Was macht Ihr denn hier? Und wer ist das?“ „Das ist ein guter Freund von mir. Sag, könnte er nicht eine Weile bei euch Unterschlupf suchen? Er hat nämlich ein paar… sagen wir Probleme.“ Nun mischte sich Jon ein und fragte: „Was für Probleme?“ Ihm die Hand reichend, wich der Arzt aus: „Guten Abend, Mister…“ „Genitson, aber sie haben mir noch immer meine Frage nicht beantwortet.“ „Mister Genitson, ich bin sehr erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, aber ich denke nicht, dass diese Angelegenheit für Euch von größerer Bedeutung ist.“, sagte der Arzt geschwollen. Kühl antwortete Jon: „Nun ja, Doktor O’Donnel, ich denke etwas anders über die Angelegenheit, denn, was Ihr natürlich nicht wissen konntet, ich bin der Captain der Vengeance und ohne meine Zustimmung, kommt niemand an Bord.“ „Nun, mein lieber Mister Genitson, dann tut es mir natürlich Leid, ich wollte Euch keineswegs übergehen.“ Jon hob skeptisch die Augenbraue und Blake musste schwer schlucken, bevor er weiter sprach: „Es ist so, mein Freund, er heißt übrigens Aodh Macloughley und kommt aus einem Dorf in Irland, mit dem reizenden Namen Cill Bhriotain, ist eigentlich ein wirklich guter Kämpfer und auch als Schütze macht er sich gut, aber auf dem Schiff, an dem er anheuerte, hat man seine Macke nicht akzeptiert…“ Der Mann namens Aodh Macloughley schob Blake zurück und sprach selbst weiter: „Was mein guter Freund sagen will ist, dass diese Dilettanten mein wahres Ich nicht akzeptiert haben. Ich selbst würde es keineswegs als Macke, Verrücktheit, oder gar Krankheit bezeichnen.“ Jon und Kim warfen sich einen fragenden Blick zu, doch Jon sagte schließlich: „Nun gut, wir werden wahrscheinlich in drei Tagen wieder ablegen, bis dahin soll er sich bewähren, was sein Problem auch seien soll, doch ich will hiermit klarstellen, dass ich ihn jederzeit von Bord werfen kann, egal wann und egal wo.“ Blake schluckte, doch Aodh erwiderte: „Natürlich, vielen Dank.“ Zu viert machten sie sich dann weiter auf den Weg zum Hafen, doch Blake verabschiedete sich auf halbem Wege von ihnen. Jon wies Aodh in die Kajüte von Bartholomew und Hans. Kim aber zog ihn erst in die Kombüse und fragte freundlich: „Ihr habt doch sicher Hunger, was möchtet Ihr essen?“ Aodh fragte nur, das Licht einschaltend: „Habt ihr Karotten? Man muss ja schließlich auf seine Linie achten. Wie machst du das nur?“ Kim musterte ihn erstaunt. Er hatte ein markantes Gesicht, kleine grüne Augen und dunkle Haare, die recht kurz waren. Zwar wirkte er vom Äußerlichen her wie ein Mann, durch und durch, aber irgendetwas störte. Kim, nicht auf den Kopf gefallen, fragte immer noch etwas verwirrt: „Sagt, Mister Macloughley, ich will Euch auf keinen Fall zu nahe treten, oder Euch gar beleidigen, aber seid Ihr schwul?“ Der angesprochene schaute sie erschrocken an und fragte verblüfft: „Woher weißt du das denn?“ „Nun ja, da gibt es so ein paar Dinge, die für sich sprechen und geradezu Bände erzählen.“ Er lachte auf, legte den Finger an die Lippen und sagte: „Aber verrat es bloß keinem und nenn mich Aodh.“ Nicht viel später saßen sie an Deck und redeten über ihre Herkunft, als Leo, leicht schwankend das Schiff betrat. Er ging erst schnurstracks an ihnen vorbei, hielt dann aber inne und drehte um, bis er vor ihnen zum Stehen kam. Einen Moment musterte er Aodh, doch dann sagte er an Kim gewandt: „Kim, das vorhin tut mir Leid. Wirklich.“ Sie ignorierte ihn, doch er sprach unbeirrt weiter: „Bitte, überleg es dir noch mal. Ich kann nicht nur ein ‚Bekannter’ von dir sein. Ich brauche dich, begehre dich, du bist alles in meinem Leben! Du bist mein Engel, ohne den ich in die unendlichen Abgründe der Hölle falle, mein Meisterwerk, ohne das meine weiße Wand kahl und kalt ist, du bist mein Leben. Ich weiß, dass du mich noch liebst, tief in dir drinnen hegst du dieselben Gefühle für mich, wie ich für dich. Wenn du doch wüsstest, wie sehr ich dich liebe!“ Kim rieb sich über die Oberarme als wäre ihr kalt. Erst konnte sie nicht zu ihm sehen, doch dann sah sie auf und direkt in seine blauen Augen. Sie musste schlucken, als sie die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit, die tiefe Trauer darin sah. Etwas fröstelnd zog sie ihre Beine an sich und sagte, wieder wegschauend: „Ich habe es dir doch schon einmal erklärt, Leo, bitte versteh es doch.“ „Das versuche ich ja, aber ich kann es nicht begreifen. Ich dachte, du hättest mir etwas beigebracht, was ich für mein Leben brauche, aber jetzt würde ich all das Wissen hergeben, wenn ich dich nur verstehen könnte! Als du mir die Hand verarztet hast, dachte ich, wir wären uns näher, als je zuvor. Aber anscheinend habe ich falsch gedacht, das wäre ja nicht das erste Mal.“ Kim zog die Nase hoch und sagte gezwungen lächelnd: „Oh, wie unhöflich von mir, ich habe euch einander ja noch gar nicht vorgestellt. Leo, das ist Aodh Macloughley, er ist Ire und wird wahrscheinlich an Bord bleiben und Aodh, das ist Leo, ein Mannschaftskamerad.“ Aodh wollte gerade aufstehen und Leo die Hand reichen, da knurrte dieser: „Ach, so ist das also? Erst machst du, wegen einer äußerst fadenscheinigen Ausrede, mit mir Schluss und jetzt schleppst du schon den nächsten Kerl an. Na? Was ist an ihm so toll? Hat er einen erotischen Akzent, anziehende Muskeln oder sind es seine dunklen Haare? Bei Jon haben sie dir ja auch so gefallen.“ Zornig brauste Kim auf: „Jetzt mach aber mal einen Punkt! Ich kenne Aodh erst seit gut einer halben Stunde, außerdem ist er…“ Sie stockte und sah schuldbewusst zu dem Iren, der etwas verlegen lächelte. Leo schien ihr Zögern falsch zu deuten und brüllte: „Außerdem ist er was? Gut im Bett?“ Kim suchte fieberhaft nach einer Ausrede, denn sie hatte Aodh versprochen niemandem davon zu erzählen, doch er selbst sprach weiter: „Lass nur, Kim, besondere Situationen bedürfen besonderer Maßnahmen, aber nicht, dass es nachher das ganze Schiff weiß…“ Leo hob skeptisch eine Augenbraue, verschränkte die Arme vor der Brust und fragte argwöhnisch: „Was für Maßnahmen? Und was soll nicht das ganze Schiff erfahren?“ Lachend antwortete Aodh: „Ich bin schwul.“ Perplex wich Leo einen Schritt zurück und fragte entgeistert: „Schwul? Heißt das, … heißt das, du stehst jetzt auf mich?“ Der Ire lächelte ihn verschmitzt an und schlug verführerisch die Augen auf, woraufhin Leo noch weiter zurückwich, doch Aodh lachte: „Leo, richtig?“ Er nickte. „Sag, Leo, stehst du auf jede Frau, die dir über den Weg läuft?“ Nicht fähig zu sprechen schüttelte Leo langsam den Kopf. Aodh kam auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte: „Eben. Außerdem bin ich noch nicht so verzweifelt, dass ich mich an Minderjährigen vergreife.“ Er schien nicht wirklich beruhigt, doch als Kim ihm eine gute Nacht wünschte, erwiderte er ihren Gruß und verschwand im Inneren des Schiffes. Kim stand auf und entschuldigte sich: „Ach Aodh, es tut mir Leid, wie Leo sich verhalten hat. Er ist nie in den Genuss einer guten Erziehung gekommen.“ Aodh aber schüttelte den Kopf und meinte: „Im Gegenteil, meine Liebe, ich muss mich entschuldigen, denn durch mich bist du in falschen Verdacht geraten.“ „Aber…“ „Kein ‚Aber’, ich bin es gewohnt verspottet und verachtet zu werden und ich muss sagen, er hat es noch gut aufgenommen. Die meisten Piraten wollen mich umbringen, wenn sie davon erfahren. Aber sag mal, ist das eigentlich dein Freund?“ „Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, was dich das anginge.“ Sie erschrak selbst etwas über die harten Worte, die ihr da so achtlos über die Lippen geglitten waren, doch Aodh steckte nur die Hände in die Hosentasche und erklärte Achselzuckend: „Du hast Recht, eigentlich geht es mich nichts an und ich wollte dir gewiss nicht zu nahe treten, schließlich kennen wir uns ja erst seit einer halben Stunde. Lass dir allerdings eines gesagt sein, in ein paar Jährchen wird er ein richtiger Mann sein, also, pass auf ihn auf, sonst schnappe ich ihn dir dann noch weg.“ Kim errötete und wollte protestieren, doch Aodh schüttelte den Kopf, drehte ihr den Rücken zu und sagte im davongehen: „Ich hatte doch schon gesagt, kein Aber!“ Mit diesen Worten verschwand er im inneren des Schiffes. Kim blieb im ersten Moment verdutzt an Deck stehen, doch dann tippte ihr jemand auf die Schulter. Sie wirbelte herum und gewahrte Garret und Terry, die sie etwas verwundert fragten: „Sag mal, wer war das denn? Ist der neu?“ „Er ist bis zur Abreise auf Bewährung, dann will Jon darüber entscheiden.“ Mit dieser Antwort schienen sich die beiden Piraten zufrieden zu geben. Kim ging mit ihnen in den Bauch des Schiffes und verabschiedete sich von ihnen vor ihrer Kajüte. Selbst ging sie den Flur weiter entlang und ging in ihre eigene Kajüte. Dort ließ sie sich in ihr Bett fallen und es war ihr, als würde noch einmal der ganze Abend an ihr vorbeiziehen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, konnte sie den Regen hören. Sie drehte sich auf den Bauch und wünschte sich, dass dieser Tag gar nicht erst beginnen sollte. Am liebsten wäre Kim den ganzen Tag im Bett geblieben. Sie wollte nicht aufstehen, raus in den Regen gehen, irgendjemanden sehen, geschweige denn, mit irgendjemandem sprechen. Alles war ihr zuwider. Doch gerade hatte sie beschlossen, dass sie nicht aufstehen würde, da flog die Tür auf und ein gutgelaunter Garret, Laffite im Schlepptau, platzte herein und grölte: „Guten Morgen, Kim! Aufstehen, sonst bekommen wir nicht, was uns zusteht!“ Genervt knurrte sie: „Ist mir egal und jetzt raus!“ Etwas bedeppert dreinblickend stand Garret in der Tür und fragte verdutzt: „Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen? War Leo etwa schon bei dir?“ „Nein, trotzdem sollt ihr verschwinden.“ „Aber wir bekommen den Rest der Beute nicht, wenn nicht die ganze Mannschaft an Deck versammelt ist!“, beschwerte er sich. Kim bebte vor Zorn. Sie stand gefährlich ruhig auf und sog scharf die Luft ein. Dann ging sie auf Garret zu, der sie mit einer Mischung aus Skepsis und Neugierde musterte, legte ihre Hände auf seine Brust und begann, ihn aus der Tür zu schieben. Wütend knallte sie die Tür ins Schloss und brüllte: „Wenn mich noch einer stört, wird derjenige die Sonne nie wieder zu Gesicht bekommen!“ Um sich zu beruhigen, atmete sie noch ein paar Mal tief durch und ging anschließend wieder auf ihr Bett zu, um sich hineinfallen zu lassen. Aber nur wenige Minuten später klopfte es und als sie nicht antwortete, wurde die Tür langsam aufgetan. Sie setzte sich auf und fragte Terry: „Was willst du denn hier?“ Aufatmend, da er sie vollständig bekleidet vorfand, sagte er bestimmt: „Kim, du kommst jetzt auf der Stelle an Deck, oder…“ „Oder was?“ „Oder ich überlege mir doch noch mal, dich zu meiner persönlichen Mätresse zu machen. Ob nun freiwillig oder nicht.“ Wissend, dass Terry keine leeren Versprechungen machte, stand sie abrupt auf und wollte ihn hinausscheuchen, damit sie sich etwas überziehen konnte. Doch Terry schüttelte den Kopf und meinte: „Wenn ich dich hier alleine lasse, legst du dich nur wieder hin und ich will meinen Anteil jetzt! Folglich werde ich hier bleiben.“ Resigniert seufzend fragte Kim: „Hättest du dann wenigstens die Güte, dich umzudrehen, während ich mich umziehe?“ Als Antwort setzte er sich auf den Stuhl und schaute genervt zum Bullauge hinaus. Sie konnte ihn murren hören: „Mit Frauen hat man nichts als Ärger. In der Zeit hätte ich auch sinnvolleres machen können.“ Etwas beleidigt kommentierte Kim: „Wie zum Beispiel zu den Huren gehen? Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, Huren sind auch alles Frauen.“ Terry stöhnte genervt auf und drängte: „Jaja, nun hör schon auf zu reden und beeil dich gefälligst! Und wehe, du stehst noch eine halbe Stunde vor deinem Spiegel, du gehst schließlich nicht zu einer Modenschau. Es soll nur schnell gehen.“ Nun doch interessiert fragte Kim: „Warum eigentlich den Rest der Beute? Ich dachte, wir hätten schon alles aufgeteilt?“ „Unser guter Captain hatte endlich ein Erbarmen mit uns armen Mannschaftsmitgliedern und hat die Waren, die auf den Schiffen gelagert waren, verkauft. Jetzt gibt es mehr Geld! Außerdem hat er sich entschlossen, das britische Schiff, die Audrey, zu behalten. Er will sie umtaufen und einen Quartiermeister dafür vorschlagen, wir können abstimmen, wer es dann schlussendlich wird.“ „Fertig.“ Terry stand ruckartig auf und zog sie mit sich zu den anderen Piraten. Diese warteten tatsächlich nur noch auf sie. Wie immer wurde die Beute gerecht aufgeteilt. Dann erhob Jon die Stimme und sagte: „Wie ihr sicherlich wisst, habe ich mich dazu entschlossen das britische Schiff zu behalten. Allerdings werde ich es umbenennen in Satisfaction. Aber zuvor werden wir einen Quartiermeister für die Satisfaction suchen, ich nehme eure Vorschläge gerne entgegen.“ Auf Anhieb riefen ein paar, dass es Bartholomew werden solle und viele andere nickten zustimmend. Etwas erstaunt fragte Jon: „Gibt es noch andere Vorschläge oder beschließen wir einstimmig, dass Bartholomew der Quartiermeister der Satisfaction werden soll?“ Jetzt wurden alle Piraten still. Niemand schlug einen Anderen vor und Jon sagte schließlich: „Nun gut, dann ist es beschlossene Sache. Bartholomew, du kannst dir eine Truppe aussuchen, die mit dir auf der Satisfaction segelt, aber sprich dich mit mir ab. Einen Steuermann und einen Navigator wirst du erst noch anheuern müssen, aber das wird kein Problem sein.“ Kim hoffte, dass sie bei Laffite, dem Quartiermeister der Vengeance und Jon bleiben konnte, da sie mit Bartholomew mehr denn je auf Kriegsfuß stand. Hatte er es doch gewagt, ihre Haare abzuschneiden. Doch es sollte anders kommen, denn schon kurz nach der Versammlung kam Bartholomew auf sie zu und raunte ihr ins Ohr: „Du wirst zu mir kommen.“ Kim versuchte ruhig zu bleiben und entgegnete: „Jon wird mich nicht gehen lassen, er wird es verhindern, dass du mir irgendetwas anhaben kannst!“ Bei diesen Worten musste Bartholomew grinsen, so dass Kim seine verfaulten Zahnstummel sehen konnte und sagte: „Im Gegenteil, er war geradezu begeistert von der Idee.“ Kim öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch Bartholomew ließ sie lachend stehen. Sie stand allein im Regen und würde am übernächsten Tag mit diesem fürchterlichen Kerl, ohne Jon, Garret, Laffite oder sonst jemandem, den sie mochte, auf einem Schiff segeln. Ihr bangte jetzt schon um ihre Ehre. Unter Bartholomews Aufsicht würde wahrscheinlich keiner an sich halten und die Moral voranschreiten lassen, aber der schlimmste würde trotzdem Bartholomew sein. Sie war schon auf der Vengeance ein paar Male mit ihm aneinander geraten, doch bis jetzt hatte ihn immer jemand zurückgehalten. Kim wusste, dass er, wenn er freie Bahn haben wollte, keinen ihrer Freunde auf die Satisfaction holen würde. Für einen Moment überlegte sie zu Jon zu gehen und noch einmal mit ihm darüber zu reden, doch dann rief sie sich noch einmal Bartholomews Worte in Erinnerung und ließ es doch bleiben, denn Jon war ja schließlich begeistert gewesen. Verwirrt legte sie sich, alle viere von sich gestreckt, an Bord und konzentrierte sich auf die Tropfen, die ihr ins Gesicht fielen. Nach einer Weile spürte sie sie nicht mehr und öffnete die Augen. Sie gewahrte Garret, der über sie gebeugt stand und sie skeptisch, mit hochgezogenen Brauen, musterte. Dann fragte er: „Was liegst du denn hier so allein im Regen? Du holst dir noch den Tod!“ „Und wenn schon, könnte euch doch egal sein.“ „Von wegen, es mag zwar sein, dass das Leben eines Einzelnen nicht wirklich zählt, aber bei dir ist das etwas völlig anderes.“ „Du Schleimer, was willst du denn?“ „Ich wollte dich lediglich fragen, ob du mit Terry, Laffite und mir etwas essen gehst. Ach ja, dieser Neue, der Ire will auch unbedingt mit. Der Kerl hängt schon die ganze Zeit an unserem armen Terry.“ „Na toll und wieso sollte ich mit euch kommen?“ „Weil wir gerne Damengesellschaft haben.“ „In den Pubs gibt es genug Huren für jeden von euch.“ „Du kannst doch unmöglich diese ungehobelten Bauerntrampel Damen nennen! Also, kommst du nun mit?“ Kim seufzte und rappelte sich auf. Ihr Haar und ihre Kleider waren vollkommen durchnässt, aber sie ging dennoch nicht noch einmal in ihre Kajüte, sondern gleich mit den vier Männern von Bord. Jon war anscheinend mit Bartholomew weg, um alles zu klären. Auf halbem Weg begegneten sie ihnen. Bartholomew grinste sie anzüglich an. Jon allerdings lief etwas rot an und gab ihr seinen Mantel mit den Worten: „Zieh dir doch etwas über, Lilay!“ Kim sah an sich herunter und erkannte jetzt erst den Grund, warum die Männer die ganze Zeit gelacht hatten. Ihre weiße Bluse war durch den Regen vollkommen durchsichtig geworden. Sie lief puterrot an, zog die viel zu große Jacke eng um sich und blaffte die anderen an: „Warum habt ihr mir denn nichts gesagt? Ihr seid vielleicht lustig, wer weiß, welcher Kerl sich heute Nacht in meine Kajüte schleicht und sich an mir vergreift?“ Laffite wischte sich die Tränen weg und lachte: „Je crois que ce ne va pas être un problème. En somme tu as nous, nous allons protéger toi.“ Nicht wirklich überzeugt, meinte Kim: „ Na toll und ihr werdet dann also die ganze Nacht vor meiner Kajüte Wache stehen.“ Terry nickte eifrig und sagte bestimmt: „Natürlich, schließlich soll sich doch kein anderer als wir an dir vergreifen.“ Die umstehenden lachten auf. Kim allerdings fand das gar nicht lustig. Sie ignorierte sie und fragte an Jon gewandt: „Willst du nicht mit uns kommen? Der einzige gebildete Mensch zu sein, kann unter solchen Hohlköpfen wirklich schwer sein.“ Das Lachen verstummte und Terry wollte schon protestieren, da sagte Jon schmunzelnd: „Ich danke dir für die Einladung und das Kompliment, aber ich war gerade mit Bart etwas essen, außerdem habe ich noch viel zu tun.“ Etwas enttäusch entgegnete Kim: „Schade, aber was soll man machen? Also los, Jungs, lasst uns gehen.“ Laffite und Terry warfen sich einen vielsagenden Blick zu, kamen dann auf sie zu, legten ihre Arme um ihre Schultern und sagten beim losgehen: „Kim, ich glaube, das mit dem Mann werden, müssen wir dir noch mal erklären. Ich glaube nämlich fast, du hast da etwas Wesentliches in der Schule verpasst.“ Laffite ergänzte: „Oui, il est vrai. Nous ne sommes plus des garçons. Ne plus depuis de beaucoup de temps.“ Sie rollte mit den Augen, ließ sich aber mitschleifen. Nicht viel später standen die Fünf vor einem Lokal, in das Terry und Laffite sie hineinzogen. Erst als sie an einem Tisch in einer Ecke saßen, ließen sie von ihr ab. Sie wurden von einer greisen, griesgrämig wirkenden Frau bedient, die nicht viel Geduld besaß. Aodh saß neben Terry und versuchte immer wieder ein Gespräch aufzubauen, Terry jedoch schien sich etwas unwohl zu fühlen. Ob er wohl merkte, dass Aodh anders war? Kim fühlte sich etwas fehl am Platze, da Terry, Laffite und Garret sich fast pausenlos ungeniert über die Qualität der Allermannsliebchen unterhielten. Zu allem Überfluss war auch noch ihr Essen vollkommen versalzen und als sie sich beschweren wollte, warf ihr die Kellnerin einen solch mörderischen Blick zu, dass ihr die Worte im Halse stecken blieben und sie, sich schüttelnd, alles aufaß. Dazu kam, dass es immer wärmer und stickiger wurde, so dass sie sich genervt mit der Hand Luft zufächelte. Die Männer unterbrachen für einen Moment ihr Gespräch und Terry fragte grinsend: „Ist dir etwa warm? Warum ziehst du denn nicht Jons Mantel aus? Mir persönlich ist nämlich etwas kühl und ich könnte etwas Heißes gut gebrauchen.“ Kim zog den Mantel noch enger um sich und sagte frostig: „Das hättest du wohl gerne. Aber denk nicht, dass du bei mir eine Chance hast, nur weil ich nicht mehr mit Leo zusammen bin. Mit Greisen fange ich allgemein nichts an.“ Er lachte: „Hört, hört! Soll ich das als Herausforderung sehen? Na gut, dann bin ich jetzt also dran. Erstens, ein Greis bin ich mit Anfang dreißig noch lange nicht und man könnte es auch herumdrehen, denn je älter ich bin, desto mehr Erfahrung habe ich und je mehr Erfahrung ich habe, desto mehr Spaß könnte das für uns Beide bedeuten. Außerdem könntest du all die anzüglichen Bemerkungen auch als Komplimente auffassen, du solltest dich geschmeichelt fühlen. Und drittens, solltest du nicht aus jeder meiner Bemerkungen den Schluss ziehen, dass ich nur Augen für dich hätte, denn wenn ich wollte, könnte ich zehn Frauen an jedem Finger haben, die weitaus mehr zu bieten haben, als ein Gör, das noch nicht ganz trocken hinter den Ohren ist.“ Garret und Laffite johlten auf, aber Kims Miene blieb eisern und sie sagte ruhig: „Zu erstens, mit Anfang dreißig könntest du mein Vater sein und für mich ist das alt. Zu zweitens, natürlich könnte ich es als Kompliment auffassen, allerdings müsste es dann vom richtigen Mann kommen und nicht einem Möchtegern Casanova, wie du es einer bist. Ach ja und das mit den zehn Frauen an jedem Finger ist nicht schwer, insofern man genug Geld hat, um die hundert Dirnen, die sich um dich scharen würden zu bezahlen. Tja Terry, ich würde mich gerne weiterhin geistig mit dir duellieren, aber ich sehe, du bist unbewaffnet.“ Terry sah sie etwas beleidigt an und fragte: „Na toll. Wer ist denn bitte der richtige Mann für dich?“ Kims Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck und sie schwärmte: „Also, er muss groß und gut aussehend sein. Dazu sollte er auch die initiative ergriffen und Mut haben. Er sollte einiges an Schmerzen aushalten, denn er muss Pirat sein, weil ich nicht von der Vengeance, oder der Satisfaction, wie man es nimmt, gehen werde.“ Auf Terrys Gesicht hatte sich ein hinterlistiges Grinsen breit gemacht, während sie geredet hatte. Kim fragte sich gerade, was er wohl vorhatte, da packte er sie und begann, sie leidenschaftlich zu küssen. Laffite und Garret johlten auf. Aodh allerdings schien gar nicht davon begeistert zu sein, denn er starrte finster auf das Geschehen. Mit aller Kraft versuchte Kim sich gegen ihn zu wehren, ihn von sich zu schieben, doch war er zu stark. Garret und Laffite schien es auch nicht sonderlich zu kümmern, wie sie sich fühlte, sondern wollten nur ihren Spaß haben. Kim wollte, dass er aufhörte, von ihr abließ, nicht noch weiter ging. Als er begann, ihr über den Rücken und durch die Haare zu streichen, begann sie zaghaft den Kuss zu erwidern. Doch sie biss ihm in die Lippe, bis sie den eisernen Geschmack von Blut auf der Zunge hatte. Aber anstatt, wie sie erwartet hatte, von ihr abzulassen, begann er eine Hand unter den Mantel und auch unter ihre Bluse zu schieben. Jetzt biss sie richtig zu und er ließ, leicht verärgert, von ihr ab. Sie sprang sofort auf und lief zur Toilette. Sie starrte in den Spiegel und schluckte die Tränen hinunter. Sie fühlte sich benutzt, schmutzig. Hastig drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich das Gesicht mit dem klaren, kalten Wasser ab, aber das unbehagliche Gefühl verschwand nicht. Auch den Mund spülte sie sich gründlich mit Wasser aus, jedoch auch diese Maßnahme brachte nichts. Schließlich gab sie es auf und ging zurück zu den anderen. Als sie jedoch Terry, lachend und feixend, dasitzen sah, überkam sie eine Wut, die sie nur schwer unterdrücken konnte. Um sich etwas Luft zu verschaffen brüllte sie: „Terry, du verdammter Bastard! Was sollte das? Bist du denn völlig von Sinnen? Wie konntest du nur?“ Er sah sie achselzuckend an und meinte gelassen: „Nun ja, sieh es doch als Kompliment.“ „Hatte ich nicht gesagt, das geht nur beim Richtigen?“ „Aber deine Beschreibung von diesem ominösen Richtigen hat doch perfekt auf mich gepasst, gut aussehend, groß, ich habe Mut, halte Schmerzen aus, bin Pirat und habe die Initiative ergriffen. Das hast du dir doch selbst gewünscht.“ „Mag sein, dass du mich missverstanden hast, aber warum hast du denn nicht aufgehört, als ich es wollte? Warum musstest du so weit gehen?“ „Warum nicht? Hat doch Spaß gemacht, oder?“ Kim bebte vor Zorn. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte sie sich um und ging wütend aus dem Lokal. Garret kam ihr nachgelaufen und fragte: „Soll ich dich zum Schiff begleiten? Du weißt ja, wie Piraten sein können…“ „Nein danke, schlimmer als eben kann es gewiss nicht werden.“ „Ach Kim, nun sei nicht eingeschnappt. Das war doch nur Spaß. Glaub mir, ein fremder wird nicht so zärtlich mit dir umgehen, wie Terry, also hab dich nicht so und nimm doch die Hilfe an.“ „Nein, Garret, ich brauche deine Hilfe nicht. Vorhin hättest du mir mit Vergnügen beistehen können, aber du hast dich lieber mit Laffite über mich amüsiert. Du bist ein gemeiner Mistkerl!“ Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und hörte ihn noch brüllen: „Bitte, dann biete dich halt als Freiwild an, aber sag nachher nicht, ich hätte dir nicht angeboten, dich zu begleiten, oder dich gewarnt!“ Sie stapfte sauer durch die noch nassen Straßen, inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, als ein Mann auf sie zukam und fragte: „Wenn du doch gerade nichts zu tun hast, kannst du dir noch ein bisschen Geld dazuverdienen, na, wie wäre es?“ Kim blieb kurz stehen, und sagte dann: „Lass mich in Ruhe, du ekelhafter Flegel. Ich bin nicht die Sorte Frau, für die du mich hältst. Und selbst, wenn ich so flatterhaft wäre, würdest du für mich niemals in Frage kommen, denn du stinkst zum Gotterbarmen.“ Gerade wollte sie sich umdrehen und weitergehen, da hielt der Fremde sie am Handgelenk fest und sagte zornig: „Du kleines billiges Flittchen, spätestens, wenn ich dir alle Knochen einzeln gebrochen habe, wirst du es bereuen, so mit mir gesprochen zu haben.“ Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, doch schaffte sie es nicht. Er holte schon aus zum Schlag, da hörte sie eine Stimme aus nicht allzu weiter Entfernung, die rief: „Entschuldige die Verspätung, Schatz!“ Der Mann und Kim schauten auf den Kim völlig fremden Jugendlichen, Kim vermutete, er war 16 oder 17, der völlig außer Atem vor ihnen stand. Er trug eine Schuluniform, die Kims alter ähnelte. Auf der linken Seite der Jacke war ein Wappen gestickt. Der Mann schaute erstaunt zu Kim und der jüngere nutzte diesen Moment, um ihr zuzuzwinkern. Dann sagte er in gefährlichen Tonfall: „Was willst du mit meiner Freundin anstellen?“ Wie vom Donner gerührt, ließ der Fremde Kim los und stotterte: „Nichts, nichts, ich wollte sie nur gerade fragen, ob ich sie nicht begleiten soll. Ihr wisst ja sicherlich, was hier für Gesindel hausiert. Wenn da so ein außerordentlich hübsches Mädchen allein umherläuft, würden die noch unverschämt werden.“ Der Schüler hob die Brauen und sagte: „Wie überaus freundlich von dir, dass du sie vor dir selbst beschützen wolltest, aber jetzt bin ich ja da und deine Dienste sind nicht mehr von Nöten.“ Der Fremde sah fast erleichtert aus, als er sich umdrehte und eilig davon ging. Kim und der Junge warteten noch, bis er um die nächste Ecke verschwunden war, dann seufzte Kim: „Vielen Dank! Ohne Euch hätte ich das Tageslicht wohl nie wieder gesehen.“ Der Fremde schmunzelte und küsste ihre Hand, während er sagte: „Es ist mir eine außerordentliche Freude, Eure Bekanntschaft zu machen, Miss Kim.“ Etwas überrascht fragte Kim: „Woher kennt Ihr denn meinen Namen?“ „Nun ja, es ist mir ein Wenig peinlich, aber ich habe vorhin unweigerlich die Szene zwischen Euch und diesem Seemann mitbekommen, als ich mit ein paar Schulkameraden im selben Lokal saß. Aber lassen wir doch das ‚Ihr’ weg und duzen uns, schließlich sind wir doch noch jung, du 16, ich 17.“ „Ich bin nicht 16, sondern erst 14. Von mir aus können wir uns duzen, wie war doch gleich dein Name?“ „Oh, pardon, wo bleiben meine Manieren? Ich bin Robin O’Donnel, aber meine Freunde nennen mich einfach nur Rob. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“ „Sehr erfreut, ich bin Kimberley von Merrylson und wie du schon weißt, werde ich nur Kim gerufen.“ Plötzlich weiteten sich Kims Augen und sie fragte: „Doch nicht der O’Donnel? Ist dein Vater etwa Arzt?“ Etwas verwundert nickte der Junge. Jetzt fiel ihr auch auf, wie ähnlich er seinem Vater sah, seine Haare hatten dasselbe Braun, sie waren ein wenig kürzer als Leos. Auch die Augen sahen denen des Vaters zum verwechseln ähnlich, in ihnen leuchtete dieselbe Selbstsicherheit. Seine Lippen glichen einem Strich. Das einzige, das er nicht von seinem Vater hatte, war die Nase, denn bei ihm passte sie genau ins Bild. Plötzlich fühlte sie sich extrem unwohl in ihrer Haut. Wie sollte sie mit ihm umgehen? Sein Vater hatte sie geküsst. Schließlich fragte sie: „Ist dein Vater verheiratet?“ Noch verdutzter sagte er: „Nein, er ist seit ein paar Jahren Wittwer.“ „Oh, das tut mir leid.“ „Mir nicht. Sie war seine zweite Frau und ich konnte sie noch nie leiden. Meine leibliche Mutter starb schon bei meiner Geburt.“ Kim wusste nicht, was sie sagen sollte, doch das machte nichts, denn gerade in dem Moment, kamen noch mehr Jugendliche, Kim zählte fünf, um die Ecke. Es waren alles Jungs. Als sie Rob sahen, kamen sie auf ihn zu und begrüßten ihn herzlich. Kim hielt sich an eine Hauswand gedrängt, doch einer der Jungs entdeckte sie, kam auf sie zu und fragte: „Hey, kenn ich dich nicht?“ Im nächsten Moment ging ihm ein Licht auf und er brüllte: „Hey Leute, schaut mal, was ich entdeckt habe! Ist das nicht das kleine Matrosen-Flittchen?“ Aller Augen ruhten auf ihr und die Kerle rempelten sich lachend an. Hilfe suchend schaute sie zu Rob, der sofort reagierte und sagte: „Nenn sie nicht so, sie heißt Kim und ist kein Flittchen.“ Der Sprecher von eben grinste allerdings: „Na toll, Rob, du schnappst uns auch immer die besten Mädchen weg! Willst du mir die Kleine nicht mal borgen? Kriegst sie auch wieder zurück.“ Rob legte Besitz ergreifend seinen Arm um Kim und sagte trotzig: „Nichts gibt’s, Calisto! Die hab ich zuerst gesehen und ich teil sie mit niemandem.“ Sie entwand sich aus seinem Griff, wich ein paar Schritte zurück und sah Rob skeptisch an. Dieser lachte: „War doch nur Spaß, schließlich habe ich dich erst gerade eben kennen gelernt, aber ich muss sagen…“ Er musterte sie von oben bis unten und fuhr dann fort: „Ich könnte mir gut was vorstellen.“ Etwas erschrocken stotterte sie: „Ehm, ich glaube, ich sollte aufs Schiff, die anderen vermissen mich sicher schon.“ Aber Calisto legte einen Arm um ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Mag sein, dass Rob ein Gentleman ist, ich allerdings werde dich nicht so einfach gehen lassen.“ Etwas lauter sagte er dann: „Komm doch noch etwas mit uns, wir wollten gerade zu Rob.“ Dieser hob die Brauen und fragte, die Arme vor der Brust verschränkt: „Wollten wir das?“ Calisto ging nicht auf ihn ein, sondern setzte sich einfach, Kim mit sich ziehend, in Bewegung. Die anderen folgten ihnen. Es ging fast ausschließlich bergauf, bis sie schließlich vor einem größeren Haus stand. Es sah nicht sehr prunkvoll aus, aber unterschied sich dennoch stark von all den anderen Häusern der Stadt. Rob klopfte ein paar Male mit dem Türklopfer, dann öffnete ihm eine grauhaarige, etwas korpulentere Frau, die auf Kim allerdings einen sympathischen Eindruck machte. Sie traten einer nach dem anderen ein, nur Calisto wollte Kim nicht loslassen. Als sie drinnen waren, schaffte Kim es dann allerdings, sich aus seinem Griff zu befreien. Just in diesem Moment trat Robs Vater durch die Tür. Als er sich der Schar Jungs gegenüber sah, seufzte er: „Ach Robin, muss das sein?“ Der angesprochene zuckte mit den Schultern und meinte: „Ich kann nichts dafür, ich wurde überstimmt.“ Calisto schob sich in den Fordergrund, gab Blake die Hand und sagte: „Tag Mister O’Donnel. Na, wie geht es den Piraten heute?“ Dieser antwortete etwas abwesend: „Gut, gut. Nichts Größeres. Ach, Robin, könnt ihr dann wenigstens auf dein Zimmer gehen und leise sein?“ Rob nickte, hob den Daumen und grinste: „Klar Dad, kennst uns ja.“ Damit wollte er sich an den Jungen vorbeischieben, doch als er Kim erkannte, blieb er stehen und fragte erstaunt: „Kim? Was machst du denn hier? Hat mein reizender Sohn dich etwa aufgegabelt?“ Verlegen lächelte sie: „Hallo, Bla…, ehm, Doktor O’Donnel. Nun ja, Robin hat mich quasi gerettet, sonst könntet wohl selbst Ihr jetzt nichts mehr für mich tun und dann haben seine bezaubernden Freunde mich mit hierher verschleppt.“ „So? Und wie geht es diesem Blondschopf?“ Eigentlich wollte sie gleichgültig klingen, doch schwang Bitterkeit in ihrer Stimme mit, als sie antwortete: „Dem geht es prima. Er läuft jetzt schon wieder ohne Verband herum und präsentiert überall stolz seine Stümpfe.“ „Und was ist mit dem kleinen Mädchen? Eleonora hieß sie doch, nicht?“ Als der Name Eleonora fiel, musste Kim schwer schlucken. Bis jetzt hatte sie ihren Tod und dessen Umstände erfolgreich verdrängt gehabt. Sie lächelte gezwungen und versuchte das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen: „Sie ist tot.“ Er fuhr sich durch die Haare und sagte: „Ach herrje, wie ist das denn passiert? War sie etwa doch krank? Ich dachte, ich hätte sie vollkommen abgecheckt, warum hast du sie denn nicht noch einmal zu mir gebracht?“ „Oh nein, sie war nicht krank, es war auch kein natürlicher Tod, aber es zu erläutern, würde zu lange dauern.“ Sie versuchte mit allen Mitteln, nicht an das Mädchen erinnert zu werden, doch sie wusste, dass sie ihr jetzt nicht mehr aus dem Kopf gehen würde und sie fröstelte ein wenig. Blake schien ihr Unbehagen anscheinend nicht zu bemerken, denn er grinste: „Ach ja, Kim, wenn du mal einen Arzt brauchst, meine Praxis steht dir jederzeit offen, außerdem bin ich auch ein guter Gynäkologe, wie ich dir ja schon bei der Kleinen bewiesen habe.“ Nun wurde es Rob zu bunt. Vorwurfsvoll sagte er: „Dad, lass sie doch in Ruhe. Mit so einem Greis wie dir kann sie ganz bestimmt nichts anfangen!“ Bei diesen Worten errötete sie leicht, was jedoch nur Calisto auffiel, der skeptisch vom breit grinsenden Blake zur verlegenen Kim sah. Rob schob sie die Treppe hinauf und in eines der Zimmer hinein. Dort ging er zu der großen Stereoanlage und machte Musik an. Kim hatte sich auf sein Bett gesetzt und als sich Rob neben sie setzen wollte, warf sich Calisto neben sie und machte sich so breit, dass kein dritter mehr aufs Bett passte. Sichtlich genervt ließ sich Rob nun auf seinem Schreibtischstuhl nieder. Der Rest musste es sich auf dem Boden bequem machen. Kim achtete nicht auf das Geschehen um sie herum. In Gedanken war sie wieder an jenem Tag, an dem sie Alice wieder gesehen hatte. Sie fühlte sich elend. In diesem Moment wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie Leo mehr vermisste, als sie gedacht hatte. Wäre er jetzt da, würde er seine starken Arme um sie legen und sie trösten. Hin und wieder würde er ihr ein Küsschen auf die Wange drücken und ihr ins Ohr flüstern, dass alles wieder gut würde. Sie begann darüber nachzudenken, ihn um eine zweite Chance zu bitten, da wurde sie angestoßen. Sie schreckte auf und sah aller Augen auf sich gerichtet. Rob fragte: „Ist dir nicht warm? Zieh doch den Mantel aus.“ Gerade wollte sie den Mantel abstreifen, da erinnerte sie sich daran, dass ihre Bluse noch nass und somit durchsichtig war. Sie schaute etwas verlegen zu Boden und fragte: „Hättest du vielleicht ein T-Shirt für mich?“ Er bedachte sie mit einem verdutzten Blick, ging dann aber zu seinem Schrank, kramte eines heraus und warf es ihr zu. Dann sagte er: „Du kannst dich im Bad umziehen. Wenn du in Richtung Treppe gehst, die zweite Tür links.“ Kim stand auf und verließ schweigend den Raum. Gerade verließ Kim wieder das Bad, Robs T-Shirt war nicht so weit wie sie es erwartet hatte, da kam ihr Blake entgegen. Sie wollte sich elegant an ihm vorbeischieben, doch er ergriff ihr Handgelenk und zog sie zu sich. Dann drückte er sie gegen die Wand und sagte grinsend: „Sag, Kim, wollen wir den Kuss von unserem Rendez-vous nicht wiederholen, nur diesmal etwas weiter gehen?“ Langsam schüttelte Kim den Kopf. Blake allerdings kam ihr immer näher und kurz bevor sich ihre Lippen berührten flüsterte er: „Warum denn nicht? Es wird dir gefallen, glaub mir.“ Er streichelte ihr begierig über die Wange. Kim allerdings zischte: „Lass mich in Ruhe!“ Blake hingegen grinste überlegen und seine Lippen berührten die ihrigen, jedoch nur ganz leicht und flüchtig. Kim raunte: „Tu das nicht noch einmal, sonst schreie ich.“ Sie hatte bemerkt, dass in diesem Haushalt der Sohn mehr den Vater erzog, als umgekehrt und zu ihrer Erleichterung ließ er von ihr ab und betrat zornig dreinblickend das Bad. Kim ihrerseits machte sich schleunigst auf den Weg in Robs Zimmer. Als sie drinnen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich an sie und atmete tief durch. Sie schaute sich um und sah, dass die Jungs über einigen Büchern gebeugt am Boden saßen und angeregt diskutierten. Sie hatten alle ihre Jacketts ausgezogen, die Krawatten gelockert und den obersten Knopf der Hemden geöffnet. Nur Calisto lag auf dem Bett und musterte sie. Auch er hatte sein Sakko nicht mehr an. Aber anders als bei den anderen hingen die beiden Enden seiner Krawatte lose um seinen Hals und auch sein Hemd war viel weiter geöffnet, als die der anderen. Er rutschte etwas zur Seite, um ihr zu bedeuten, sich zu ihm zu setzen. Da sie keine Lust hatte, sich auf den Boden zu setzen, ging sie zu ihm und ließ sich neben ihm nieder. Er fragte sie leise: „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“ „14. Und du?“ „So jung? Ich bin 17. Bist du auf der Durchreise?“ „Könnte man so sagen. Übermorgen legen wir wieder ab.“ „Hast du einen Freund, da wo du herkommst?“ Sie überlegte kurz und sagte dann: „Nein, dort wo ich herkomme habe ich keinen Freund.“ Er grinste hämisch und fuhr fort, sie auszufragen. Nach und nach verabschiedete sich ein Junge nach dem anderen von ihnen, bis schließlich nur noch Rob, Calisto und Kim im Raum waren. Rob legte die Schulsachen beiseite und fragte: „Wann musst du eigentlich wieder zurück sein, Kim?“ Sie schaute auf seine Wanduhr und erschrak etwas über die vorangeschrittene Stunde. Sie stand auf und meinte: „Es tut mir Leid, aber ich sollte langsam wirklich zurück aufs Schiff, die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen.“ Auch Calisto erhob sich und meinte: „Ich glaube, ich werde auch gehen. Dann kann ich dich ja noch zum Hafen begleiten, Kim.“ Diese nickte erleichtert, da sie schon gefürchtet hatte, sie müsste alleine durch die dunklen Gassen zurücklaufen. Rob allerdings schien nicht sehr begeistert von der Idee zu sein, doch erwiderte er nichts. Kim ging noch einmal ins Bad und zog sich ihre, nun wieder trockene, Bluse an. Sie gab Rob, der mit Calisto vor dem Bad gewartet hatte, das Shirt und zog sich Jons Mantel über. Er begleitete sie noch bis zur Tür und verabschiedete sich dort von ihnen. Als sie vor der Vengeance standen, starrte Calisto ungläubig auf das Schiff. Er fragte: „Aber das ist doch ein Piratenschiff.“ Kim nickte schmunzelnd. Sie konnte es nicht mehr erwarten, auf das Schiff zu kommen, denn auf dem Weg hatte sie Calistos Geschichten nur mit halbem Ohr zugehört und in sich in Gedanken überlegt, dass sie noch diesen Abend zu Leo gehen würde, um sich zu entschuldigen. Sie wollte sich mit einer raschen Umarmung von Calisto verabschieden, doch der ließ sie so schnell nicht wieder los. Erst schaute er ihr tief in die Augen, dann kam er ihr immer näher und begann sie zärtlich zu küssen. Doch sie stieß ihn von sich und drehte sich, ihn nicht weiter beachtend um und rannte auf das Schiff. Als sie an Terry vorbeirauschte, hörte sie ihn rufen: „Kim, wo warst du denn? Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“ Sie brüllte allerdings nur: „Halt’s Maul, Terry!“ Als sie vor Leos Kajüte stand, holte sie tief Luft und trat entschlossen ein. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, doch was sie hier sah, hatte sie nicht erwartet. Mitten im Raum stand Leo, aber nicht alleine. Ihm gegenüber stand Kathleen, die ihn stürmisch küsste. Leo machte keine Anstalten, sie von sich zu schieben, oder sich zu wehren. Kim schossen die Tränen in die Augen. Hatte er sie schon überwunden? Sie schluchzte unterdrückt auf, aber Leo bemerkte es und schaute entsetzt zu ihr. Er schob Kathleen von sich und kam auf sie zu. Dann fragte er sie: „Kim? Warum weinst du denn? Hat dir jemand etwas angetan?“ Ihre Gefühle wandelten sich in reinen Zorn über seine Ignoranz und sie brüllte: „Ja und derjenige ist es nicht wert, dass ich ihn um eine zweite Chance bitte!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief wieder vom Schiff. Leo brüllte ihr noch nach: „Kim, was hast du da gesagt? Ich gebe dir eine zweite Chance, hörst du? Ich liebe dich!“ doch sie hörte ihn nicht. Er wollte ihr gerade nachlaufen, da schlang Kathleen von hinten ihr Arme um ihn und flüsterte etwas in sein Ohr, woraufhin sie im nächsten Moment vor der Tür stand und er ärgerlich die Tür ins Schloss warf. Kim lief von Deck und in die Richtung, in die Calisto vermutlich gegangen war. Und tatsächlich. Er saß, eine Zigarette in der Hand auf einer Bank und schaute müde in den Wolken verhangenen Himmel. Sie fuhr mit einer Hand durch seine Haare und begann stürmisch ihn zu küssen. Erst schien er überrascht, dann erwiderte er allerdings ihren Kuss. Als er über ihre Wange strich, spürte er jedoch ihre Tränen und fragte verwirrt: „Wieso weinst du denn?“ „Das ist doch unwichtig.“ Sie wollte ihn weiterküssen, doch er fragte weiter: „Wenn es unwichtig wäre, würdest du nicht weinen. Ist auf dem Schiff etwas vorgefallen?“ Da sie ihre Ruhe wollte, sagte sie: „Er hat eine andere geküsst.“ Calisto sprang auf und rief: „Was soll denn der Scheiß? Ich bin doch kein Mittelchen, um deinen Freund zu vergessen! Und überhaupt, ich dachte, du hättest keinen Freund?“ „Ich habe auch keinen, ich wollte mich aber gerade eben wieder mit ihm versöhnen.“ Calisto steckte sich eine neue Zigarette an und sagte, während er sich umdrehte und losging: „Na dann tu das mal, aber ich nehme keine, bei der ich Angst haben muss, dass mich am nächsten Tag ein Pirat skalpiert.“ Sie schaute ihm erschüttert nach, drehte dann aber auch um und ging niedergeschlagen auf die Vengeance zurück. Sie wollte doch noch einmal mit Leo reden und war kurz davor, wieder einfach hinein zu gehen, da dachte sie daran, dass sie Leo bei etwas stören könnte, was nicht für ihre Augen bestimmt war. Daher beschloss sie, solange zu warten, bis Kathleen herauskommen würde. Sie setzte sich auf den Boden und stützte den Kopf auf die Knie, die sie angezogen hatte. Doch sie schlief ein, noch bevor Kathleen herauskam. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fand sie sich in einem Bett wieder und jemand hatte den Arm um sie gelegt. Sie wusste sofort, wer es war und dazu hätte sie nicht mal die zwei Stümpfe sehen müssen, wo normalerweise der Mittel- und Ringfinger waren. Erst wollte sie aus der Kajüte laufen, doch in diesem Moment war es ihr egal, ob Leo sie liebte, mit ihr zusammen war, oder ob er mit Kathleen geschlafen hatte. In diesem Augenblick war es wie früher. Sie versuchte wieder einzuschlafen, doch auch Leo war aufgewacht. Er war froh, dass sie noch da war, küsste sie zärtlich in den Nacken und schmiegte sich noch enger an sie. Keiner von beiden machte Anstalten aufzustehen und so lagen sie da. Kim fragte sich, wie es jetzt wohl weitergehen würde. Gerade wollte sie aufstehen, da zog Leo sie zurück, mit dem Gesicht zu ihm gewandt. Als sie den Mund aufmachte, um etwas zu sagen, versiegelte er ihn mit einem Kuss. Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte und schob ihn von sich. Er flüsterte: „Bitte, Kim. Du hast das doch gestern ernst gemeint, außerdem bist du schon lange wach und bist trotzdem nicht gegangen.“ Erneut wollte er sie küssen, doch sie hielt ihn davon ab, stand auf und fragte: „Leo, was soll ich denn jetzt machen? Ich wünschte, du hättest gestern Abend nicht mit Kathleen geschlafen, aber…“ „Ich habe nicht mit ihr geschlafen, schon sehr lange nicht mehr und schon gar nicht, als ich mit dir zusammen war. Denn glaube mir, ich liebe dich mehr, als alles andere auf der Welt, mehr, als alle Schätze und auch mehr als mein eigenes Leben.“ „Aber wieso war Kathleen dann gestern bei dir? Außerdem habt ihr euch geküsst!“ „Sie ist einfach vorbeigekommen, hat gesagt, sie würde nur meine Narben sehen wollen und hatte etwas zum Trinken dabei. Als ich angetrunken war, hat sie dann angefangen mich zu küssen.“ Kim sah zu Boden und schämte sich ein wenig. Sie wäre am Vorabend so weit gegangen, dass sie sogar mit Calisto geschlafen hätte. Leo deutete ihr Schweigen allerdings falsch und verteidigte sich weiter: „Es tut mir Leid, könnte ich es rückgängig machen, würde ich es machen, glaub mir. Aber ich war frustriert und Kathleen weiß genau, wie man einen solchen Umstand ausnutzen kann. Aber nachdem du da warst, wurde mein Geist wieder klar und ich warf Kathleen im nächsten Moment vor die Tür.“ Sie hob ihren Kopf und schaute direkt in sein traurig lächelndes Gesicht. Leise sagte sie: „Ich glaube, ich liebe dich noch immer.“ Nun stand er auf und sich ihr gegenüber. Liebevoll streichelte er ihr durchs Haar. In ihrer Brust schlug ihr Herz immer schneller und heftiger und sie bekam Angst, es könne jeden Augenblick zerspringen. Er kam ihr noch näher, legte seinen anderen Arm um ihre Hüften und zog sie sanft an sich. Es überkam sie eine Gänsehaut und wie damals, als sie Leo kennen gelernt hatte, kribbelte es in ihrem Bauch. Ob sein Herz wohl auch so klopfte? Sie hob ihre Hand und legte sie auf seine Brust. Beide schauten auf sie und Kim spürte, dass Leo nicht minder aufgeregt war als sie. Ihre Blicke trafen sich erneut. Sie legte ihre zweite Hand auf seinen Oberarm. Jetzt beugte er sich langsam zu ihr hinunter und sie schloss erwartungsvoll die Augen. Im nächsten Moment spürte sie, wie seine Lippen ihre zart berührten. Jedoch nur für einen kurzen Augenblick, denn er ließ sofort wieder von ihr ab und suchte in ihren Augen nach der Antwort, ob er weiter gehen konnte. So leise es ging flüsterte sie: „Ich liebe dich.“ Ein erleichtertes Lächeln umspielte seine Mundwinkel und erneut küsste er sie. In diesem Moment war es ihr, als fiele eine zentnerschwere Last von ihrem Herzen und sie versank förmlich in dem Gefühl aus Glück, auf dem sie schwebte. Vorsichtig öffnete sie den ersten Knopf seines Hemdes, dann folgte der zweite, dann der dritte, der vierte, der fünfte, bis sie ihm das Hemd auszog und zärtlich seine nackte Brust liebkoste. Als sie gemeinsam an Deck kamen, schüttelten die Piraten nur den Kopf, denn bei den Beiden überraschte sie nichts mehr. Nur die, die neu angeheuert hatten, schauten ihnen mehr oder weniger verwundert hinterher. Kim kam sich vor wie frisch verliebt. War der gestrige Tag eine einzige Katastrophe gewesen, machte der heutige alles wett. Als Kim allerdings sah, dass Leo auf Terry und die anderen zusteuerte, wollte sie umdrehen, doch Leo zog sie mit sich und lachte: „Was hast du denn? Hast du schon vergessen, dass sie uns nicht beißen?“ Mehr an sich selbst gerichtet murmelte sie: „Stimmt, das übernehme ich.“ „Wie bitte?“ Hastig sagte sie: „Nichts, nichts, ich habe nur laut gedacht.“ Etwas skeptisch nickte er und sah sie eindringlich an, als würde er auf eine richtige Erklärung warten. Kim allerdings setzte sich wieder in Bewegung und setzte sich zu ihnen. Terry setzte gerade an, etwas zu sagen, da legte Leo von hinten seine Arme um Kim und diese legte den Kopf in den Nacken und wurde sanft von ihm geküsst. Etwas erstaunt fragte Garret: „War es zwischen euch nicht aus?“ Leo antwortete: „Eigentlich schon, aber was soll man gegen wahre Liebe tun?“ Er setzte sich neben Kim und wollte gerade einen Arm um sie legen, da legte sie sich hin, mit dem Kopf auf seinem Schoß. Ihn anlächelnd ergänzte sie: „Wenn man einmal den Richtigen gefunden hat, lässt man ihn nun einmal nicht mehr gehen, nicht wahr, Terry?“ Sie schaute ihn durchdringend an und er lachte: „Da hast du vollkommen Recht, meine liebe Kim. Außerdem sollte man ihm gegenüber stets ehrlich sein und keine Affären haben.“ Nun meldete sich Aodh zu Wort: „Findest du das wirklich? Ich denke ganz genauso, so ein Zufall!“ Terry musterte Aodh angewidert und drehte ihm dann, ohne ein Wort dazu zu sagen, den Rücken zu. Laffite seufzte auf und schwärmte: „ Ah, oui, l’amour. C’est la passion et la souffrance. Qu’est-ce que nous ferions sans l’amour?“ Kim lachte auf. Anscheinend hatte sie als einzige verstanden, was er gesagt hatte, denn sie war die einzige die lachte. Diese Tatsache außer Acht lassend sagte sie: „Hast du etwa deine poethische Ader entdeckt, Laffite, oder was redest du da von wegen Leidenschaft und Leiden?“ Laffite zuckte nur mit den Achseln und lenkte das Gespräch auf das ursprüngliche Thema, das sie gehabt hatten, bevor Kim und Leo aufgetaucht waren. Leo beugte sich zu ihr herunter, als wolle er sie küssen, flüsterte dann aber, gerade so laut, dass sie es verstehen konnte: „Glaubst du, Terry weiß es?“ Um ihre Tarnung zu halten, küsste Kim ihn zärtlich auf die Lippen und fragte: „Was?“ „Na dass der Ire,… dass der Ire,… eben anders ist.“, flüsterte er und küsste sie liebevoll. Kim machte ein ernstes Gesicht und sagte: „Ich bin mir nicht sicher, ob er genau weiß, dass er schwul ist, aber so wie er sich verhält, muss er wohl wissen, dass er mit Aodh keine normale Freundschaft aufbauen kann.“ Erneut küssten sie sich, doch als sie bemerkten, dass die anderen aufgehört hatten zu sprechen, sahen sie auf. Skeptisch fragte Terry: „Was habt ihr denn zu flüstern?“ Kim suchte fieberhaft nach einer Ausrede, um Aodh nicht zu verraten, da kam Leo ihr zuvor: „Darf ich meiner Freundin nicht zärtlich ins Ohr flüstern, wie sehr ich sie liebe? Wir wollten euch nur nicht stören.“ Die Piraten rollten genervt mit den Augen und wandten sich wieder ihrem Gespräch zu. Außer Terry. Dieser saß direkt neben Kim und Leo und sie befürchtete schon, er habe etwas von ihrem Gespräch mitbekommen, da begann er sich lebhaft an der Unterhaltung zu beteiligen. Sie berieten sich, wer wohl auf die Satisfaction gehen würde, denn an diesem Abend wurde es bekannt gegeben. Einen neuen Navigator und einen Steuermann hatte Bartholomew schon gefunden, sie waren, Kims Meinung nach, zwei sehr zwielichtige Gestalten. Auch so hatten viele Neue angeheuert. Kim musste daran denken, was Bartholomew am gestrigen Tag zu ihr gesagt hatte und sie bekam eine Gänsehaut. Leo bemerkte das und fragte leise: „Ist dir etwa kalt?“ „Nein, es ist nur, dass ich gerade daran denken musste, dass ich morgen auch mit der Satisfaction ablegen werde.“ „Was? Warum das denn?“, fragte Leo entrüstet. Und sie antwortete traurig: „Weil Bartholomew es wollte und Jon begeistert von der Idee war.“ Abrupt fasste er sie an den Schultern und richtete ihren Oberkörper auf, dann stand er selbst auf und half ihr vollständig aufzustehen. Mit seiner Rechten zog er sie hinter sich her und direkt zu Jon, der auf dem Achterdeck war und mit dem neuen Navigator der Satisfaction sprach. Diesen schubste er derb zur Seite und stellte sich breitbeinig vor Jon, der ihn erstaunt musterte. Als er sah, dass er Kims Hand hielt, fragte er lächelnd: „Haben sich eure Probleme wieder verflüchtigt?“ Leo allerdings entgegnete zornig: „Das ist jetzt unwichtig. Viel wichtiger ist, warum du von der Idee begeistert warst, dass Kim auf Barts Schiff geht?“ „Also erstens, ist es immer noch mein Schiff und zweitens war ich ganz und gar nicht davon begeistert, als er es mir gesagt hat. Er sagte, sie habe förmlich darum gebettelt von dir wegzukommen.“ Nun schaltete sich Kim ein und rief empört: „Das ist doch gar nicht wahr! Ich würde doch niemals freiwillig zu diesem widerlichen Kerl gehen!“ Jon entgegnete: „Na dann, es gibt da nur ein Problem, da du kein offizielles Mitglied der Mannschaft bist, reicht mein Wort, um dich auf die Satisfaction zu geben.“ „Aber Jack hat damals zu mir gesagt, dass ich durch das Medaillon zu einem richtigen Mitglied werde.“ „Das stimmt nur zur Hälfte. Zwar symbolisiert das Zeichen, dass du Pirat meiner Mannschaft bist, doch zu einem Mannschaftsmitglied, macht dich dieses Schmuckstück noch lange nicht.“ „Und wie kann ich zu einem offiziellen Mitglied werden?“ „Du musst dich in der Liste eintragen.“ Etwas erleichtert fragte Leo: „Und wo ist diese Liste jetzt?“ schwermütig erklärte Jon: „Sie befindet sich in Barts Gewahrsam, damit er weiß, bei wem er nur einen Antrag stellen kann und wen er sich einfach nehmen kann. Ich glaube, er ist momentan auf der Satisfaction, in der Kapitänskajüte.“ Leo fackelte nicht lange, sondern zog Kim mit sich vom Schiff und auf die Satisfaction, auf der er sofort nach Bartholomew fragte. Der Pirat, den er gefragt hatte, bestätigte verwundert, was sie schon von Jon wussten und Leo zog Kim mit sich ins Innere. Völlig außer Atem fragte Kim: „Sag mal, was soll denn das Ganze hier?“ Leo presste sie gegen eine Wand und hielt ihr den Mund zu. Dann flüsterte er: „Du wirst zu Bart in die Kajüte gehen und ihn ablenken, egal wie, aber pass auf, dass die Tür offen bleibt. Dann werde ich mich hereinschleichen und den Wisch holen. Wenn ich draußen bin, gehst auch du, aber du vergisst etwas in der Kajüte, damit du nachher einen Vorwand hast, um noch einmal rein zu gehen und somit die Liste unbemerkt wieder hineinbringen kannst.“ Kim nickte langsam und er nahm seine Hand von ihrem Mund und legte stattdessen seine Lippen darauf. Sie klopfte an und hörte eine mürrische Stimme „herein“ rufen. Verunsichert öffnete sie die Tür und ließ sie, wie Leo es ihr gesagt hatte, einen Spalt breit offen. Als Bartholomew sie sah erhob er sich schlagartig und fragte hämisch grinsend: „Kim? Was verschafft mir die Ehre?“ „Nun, ich habe gedacht, wenn ich doch jetzt unter deinem Kommando stehe, ist es sicherlich besser, wenn ich Frieden mit dir schließe.“ Sie sagte exakt die Worte, die sie sich noch einige Sekunden zuvor bereitgelegt hatte. Bartholomew kam auf sie zu und stellte sich breitschultrig vor sie, doch da er so die Tür direkt im Blick hatte, streichelte sie ihm über die nicht gründlich rasierte Wange und ging langsam in eine der Ecken. Sie hoffte, dass sie sich so nicht vollkommen ins verderben stürzen würde, denn so stand sie mit dem Rücken zur Wand, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie sie es erwartet hatte, folgte ihr Bartholomew grinsend und sie schaute angewidert auf seine Zahnstummel. Er fragte: „Soso, was verstehst du denn unter ‚Frieden schließen’?“ Verstohlen linste Kim zur Tür und konnte sehen, wie Leo sich geschmeidig ins Zimmer schlich. Anzüglich lächelnd meinte sie: „Nun ja, was ich unter Frieden schließen verstehe? Fast alles, was du dir wünschen könntest.“ „Und was schließt du aus?“, fragte er immer noch grinsend. Leo war inzwischen geräuschlos bis zum Schreibtisch vorgedrungen und suchte darauf. Hastig antwortete sie: „Wie kommst du darauf, dass ich etwas ausschließe?“ Sie versuchte Zeit zu schinden, damit Leo so lange suchen könnte, bis er die Liste gefunden hatte und sie sich selbst Bartholomew so lange wie möglich vom Hals halten konnte. Langsam verflog sein Lächeln und Kim befürchtete schon, er würde Verdacht schöpfen, da beugte er sich zu ihr runter und flüsterte: „Du hattest fast gesagt und fast bedeutet, dass du etwas ausschließt.“ Sie lächelte, den schlechten Atem Bartholomews ignorierend und sagte, ebenfalls sehr leise: „Nun ja, körperliche Dienste sind, vorerst, nicht drin, denn du musst verstehen, die Trennung von Leo zerrt noch immer an mir. Doch wer weiß?“ Mit ihrem Zeigefinger fuhr sie langsam und sanft seine Brust entlang und fuhr fort: „Vielleicht vergesse ich ihn schneller, wenn ich ihn nicht die ganze Zeit vor der Nase habe. So gesehen, ist es ein wahrer Vorteil, dass du mich auf die Satisfaction holst und Jon wird das sicher gewusst haben.“ Langsam wurde es Zeit, etwas in dem Raum zu lassen, so zog sie ihre Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl, der in der nähe des Schreibtisches stand. Als Bartholomew gerade sehen wollte, ob sie den Stuhl wohl getroffen hatte, nahm sie sein Gesicht in die Hände und streichelte ihm zärtlich durchs Haar. Er ließ von seinem ehemaligen Vorhaben ab, sondern strich ihr den Rücken entlang, bis er sie hart in den Po kniff. Erleichtert stellte sie fest, dass Leo wieder zur Tür schlich, mit einem Blatt Papier in der Hand. Doch hatte sie nicht mit Bartholomews folgendem Schritt gerechnet, denn im nächsten Augenblick küsste er sie. Sie ließ es so lange über sich ergehen, bis sie Leo draußen schätzte, dann schob sie den Quartiermeister der Satisfaction von sich und sagte, zur Tür gehend: „Es tut mir Leid Bart, aber wie gesagt, so weit bin ich noch nicht, etwas Zeit musst du mir noch lassen.“ Mit diesen Worten schob sie sich aus der Tür und schloss sie hinter sich. Angewidert spuckte sie aus. Leo musste etwas grinsen, als sie sich den schmerzenden Hintern rieb und fragte: „War er etwa nicht zärtlich genug?“ Kim lachte erbittert auf und witzelte: „Wenn das für ihn zärtlich war, will ich nicht wissen, wie er drauf ist, wenn es richtig zur Sache geht.“ Sie machte Anstalten Leo zu küssen, doch der schob sie von sich und grinste: „Du glaubst doch nicht, dass ich dich küsse, wenn dich diese Drecksau davor geküsst hat.“ Etwas beleidigt entgegnete sie: „Na toll, lass du dich mal direkt von ihm küssen und von ihm an den Hintern grabschen, dann reden wir weiter!“ Leo lachte kurz auf, gab ihr dann allerdings die Liste und einen Stift, den er ebenfalls hatte mitgehen lassen. Sie hielt den Zettel an die Wand und unterzeichnete irgendwo in der Mitte, damit Bartholomew nicht auf falsche Gedanken kam. Sie quetschte ihren Namen zwischen Leos und den eines Franzosen. Daraufhin ging sie noch einmal zurück in Bartholomews Kajüte, das Blatt hinter ihrem Rücken versteckt, und ging schweigend auf den Stuhl zu, auf dem ihre Jacke lag. Im vorbeigehen legte sie das Papier auf dem Schreibtisch ab und schnappte sich ihre Jacke. So schnell wie möglich ging sie wieder aus der Kajüte und zu Leo an Deck. Er schaute sie fragend an und sie nickte nur. Er hob sie hoch, wirbelte sie durch die Luft, jubelte und wollte sie gerade küssen, da legte sie ihm einen Finger auf die Lippen und grinste: „Also wirklich, willst du mich wirklich küssen, obwohl mich davor noch so eine Drecksau wie Bartholomew geküsst hat?“ Ohne etwas zu antworten, nahm er den Finger weg und küsste sie. Zärtlich streichelte er ihr über den Hintern, doch als er die Stelle berührte, die Bartholomew gerade berührt hatte, zuckte sie zusammen, weil es doch wehtat. Etwas besorgt fragte er: „War er wirklich so grob?“ Doch Kim lächelte nur: „Das ist doch jetzt völlig unwichtig, wichtig ist nur, dass ich Bartholomew so schnell nicht wieder näher kommen muss.“ Hand in Hand gingen sie zurück auf die Vengeance, wovor eine junge Frau Anfang zwanzig stand und unschlüssig an Deck starrte. Kim erkannte sie sofort wieder, lief freudig auf sie zu und umarmte sie schwungvoll. Jen wurde puterrot und sagte etwas verlegen: „Hallo, Kim, ich wusste nicht, ob ich einfach an Deck gehen sollte.“ Kim ging voraus und sagte: „Natürlich kannst du, bei der Vengeance schon. Bei Schiffen, wie der Satisfaction wäre ich da vorsichtiger.“ Leo, der sich an sie herangeschlichen hatte, schlug ihr geräuschvoll auf ihr Hinterteil und meinte: „Aber wieso denn? Die Besatzung ist doch äußerst wohlerzogen und hat eine reizende Art mit Frauen umzugehen.“ Vor Schreck und schmerz schrie Kim auf und funkelte Leo böse an, der ihr aber nur unschuldig zuzwinkerte. Jen, wieder errötend, fragte etwas verwirrt: „Seid ihr etwa zusammen?“ Kim wollte ihr schon antworten, da brachte Leo sie dazu, sich nach hinten zu lehnen, stützte sie mit seinem rechten Arm und küsste sie leidenschaftlich. Jen wurde noch roter und schaute verlegen weg. Kim schob Leo von sich und schlug ihm mit der Handfläche auf den Hinterkopf. Er fragte beleidigt: „Womit habe ich das denn jetzt schon wieder verdient?“ Als Antwort fauchte Kim: „Das weißt du genau und bring sie nicht noch einmal so in Verlegenheit!“ Kurze Zeit später saßen sie, Kim zwischen Leos Beinen und Jen den Beiden gegenüber, an Deck und redeten über allgemeine Themen, wie die Verdienste, die Jen als Kellnerin hatte. Sie wollte sich davon ein Medizinstudium finanzieren, doch würde es nie und nimmer reichen, besonders, weil Ausbildungsplätze für Frauen generell teurer waren, wenn es denn welche gab. Aber Jen zeigte sich optimistisch, für sie stand fest, dass sie das Geld auftreiben würde. Kim hingegen fand, dass Jen schon fast naiv war. So schlug sie vor: „Ich könnte vielleicht mal Blake fragen, ob er dich finanziell unterstützen würde, denn ich glaube, er könnte eine helfende Hand gut gebrauchen.“ Jen errötete erneut und winkte ab: „Nein danke, das schaffe ich auch so, irgendwann habe ich schon genug Geld zusammen.“ Kim wollte gerade etwas erwidern, da fragte Leo etwas irritiert: „Moment mal, wer bitte ist Blake?“ Erstaunt antwortete Kim: „Na der Arzt in dieser Stadt, du warst doch schon mal bei ihm, oder hattest du da noch so viel Alkohol intus, dass du dich nicht mehr daran erinnern kannst?“ Er hob eine Augenbraue und fragte skeptisch: „Und seit wann duzt du ihn?“ „Seit unserem Date?“ „Und warum hattet ihr überhaupt ein Date?“ Monoton antwortete sie: „Wegen Eleonora.“ Verwirrt wollte er wissen: „Was hat Eleonora denn damit zu tun?“ „Nun ja, in der Nacht, in der du dich betrunken hast, wurde sie ja brutal vergewaltigt und damit sie nicht so lange auf die Behandlung warten musste, habe ich seinen Vorschlag, Rendezvous gegen sofortige, kostenfreie Behandlung, akzeptiert.“ „Aber eigentlich wäre es egal gewesen, denn schon am nächsten Tag hat sie sich ja umgebracht.“ Er sagte dies mit einer solchen Gleichgültigkeit, die Kim rasend machte. Ihren Zorn unterdrückend sagte sie: „Ich finde es einfach wundervoll, wie sehr dir ihr Tod nahe geht. Es war auch gar nicht dramatisch und dass sie erst zwölf war, spielt dabei auch keine Rolle.“ Leo verteidigte sich: „Wieso sollte mir ihr Tod nahe gehen? Ich finde, sie hat genervt, außerdem hat sie ja entschieden, dass sie sich umbringt. Vielleicht ist sie ja jetzt glücklicher.“ Noch wütender brüllte sie: „In solchen Momenten hasse ich euch Piraten! Bei euch zählt das Leben des Einzelnen nichts! Ihr seid so ignorant, ihr verhaltet euch, als wären die gestorbenen nur entfernte Bekannte, um die es nicht schade ist!“ „Was sollen wir denn machen? Bei jedem Toten an Deck sitzen und heulen? Dann würden wir ja nur noch flennen. Wenn man Pirat wird muss einem bewusst sein, dass jeder Tag der letzte sein könnte.“ Beide waren aufgestanden und starrten sich giftig in die Augen. Kim holte tief Luft und brüllte: „Sie war aber kein Pirat und wollte auch keiner sein, sie war schließlich noch ein Kind!“ „Na und? Hast du etwa groß getrauert, als etwa ein drittel der Besatzung auf dem französischen Schiff umgekommen ist? Den Freunden der Toten musst du auch ignorant vorkommen.“ „Das ist doch etwas völlig anderes!“ Jemand räusperte sich und sie drehten sich um und gewahrten Jon, der die Brauen hob und zu Jen nickte, die immer noch dasaß und einen sehr eingeschüchterten Eindruck machte. Kims Gesichtszüge glätteten sich und sie sagte, freundlich lächelnd: „Tut mir Leid, Jen, dass du das mit ansehen musstest. Soll ich dich vielleicht etwas an Deck herumführen?“ Leo schnaufte verächtlich und meinte: „Wieso solltest du sie denn herumführen, du hast doch eh keine Ahnung von Piraterie.“ Daraufhin giftete sie ihn an: „Halt bloß die Klappe, nur weil ich anderer Meinung bin, was das mit dem Trauern angeht, heißt das nicht, dass ich von nichts hier eine Ahnung habe!“ An Jen gewandt sagte sie wieder freundlicher: „Also? Wie wäre es?“ Etwas rot im Gesicht stand diese auf, lächelte gezwungen und meinte: „Nein, vielen Dank, aber ich muss rechtzeitig wieder zurück sein, denn mein Chef hat mir noch eine Schicht reingedrückt.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und verließ hastig das Schiff. Kim funkelte Leo wütend an und zischte: „Bist du jetzt zufrieden? Wegen dir kann ich jetzt eine Freundschaft vergessen!“ Leo schüttelte genervt den Kopf und sagte: „Du bist doch selbst schuld, hättest du mir keine Vorwürfe gemacht, wäre die Situation nicht eskaliert.“ Kim wollte gerade wieder den Mund aufmachen, um etwas zu erwidern, da ging Jon dazwischen: „Jetzt ist aber Schluss. Ihr habt beide übertrieben reagiert und das, obwohl ihr euch doch heute erst versöhnt habt. Ein bisschen solltet ihr euch schon zusammenreißen, ansonsten überlege ich mir, ob ich Bartholomew erzähle, dass Kim bis eben noch kein offizielles Mitglied war.“ Kim starrte ihn mit großen Augen an und sagte erschüttert: „Das würdest du nicht tun!“ Jon lachte auf und nickte. Dann fragte Kim: „Aber warum solltest du das tun?“ Mit den Achseln zuckend antwortete er: „Denkst du, ich habe Lust darauf, jeden Tag euer Gezanke mit anzuhören? Nein, danke! Ich glaube, ich sollte gleich zu Bart gehen und ihm sagen, dass Kim auf sein Schiff geht, egal was auf der Liste steht.“ Kim klammerte sich an Leo und schaute hilfesuchend zu ihm auf. Er legte seine Arme beschützend um sie und fragte: „Spinnst du? Was denkst du denn, was die mit ihr anstellen? Da würde ich ja noch lieber gehen, als dass ich Kim auf diesem Schiff weiß.“ Jon allerdings schmunzelte: „Na also, jetzt seid ihr wieder glücklich vereint. Warum konzentriert ihr euch eigentlich nicht auf die Sachen, bei denen ihr einer Meinung seid?“ Kim sah erleichtert zu ihm, fragte aber dennoch unsicher: „Dann hast du das also gar nicht ernst gemeint?“ Er lachte: „Natürlich nicht, oder hast du im Ernst gedacht, ich würde es zulassen, dass du gegen deinen Willen auf dieses Schiff gehst?“ Kims Augen verengten sich zu schlitzen und sie sagte beleidigt: „Also dir würde ich ja so einiges zutrauen.“ Und so leise, dass Jon es gerade noch verstehen konnte, fügte sie hinzu: „Blödmann!“ Er schaute auf sie herab und fragte in einem Tonfall, der eines Kapitäns würdig war: „Wie war das gerade eben bitte?“ Kim lächelte unschuldig und sagte: „Was meinst du denn?“ Jon seufzte und schüttelte resignierend den Kopf, dann fragte er: „Wollt ihr eigentlich noch etwas besorgen, bevor wir morgen ablegen?“ Leo stülpte die Innenseiten seiner Taschen nach außen und meinte: „Ich habe kein Geld mehr.“ Kim musste nicht lange überlegen, bis ihr einfiel, wofür sie den Hauptteil ihres Geldes ausgegeben hatte. Drei viertel ihres Geldes waren für Leos Arztbesuch draufgegangen und den Rest hatte sie für Essen ausgegeben. Sie schüttelte den Kopf und meinte: „Ich hab auch so gut wie nichts mehr.“ Jon verschränkte die Arme vor der Brust und fragte: „Auch nichts mehr von dem, was ich auf dem Markt bekommen habe?“ Leo schüttelte den Kopf, Kim allerdings fiel ein, dass sie das Geld noch gar nicht angerührt hatte. Es lag gut verstaut, weit unten in ihrer Truhe. Ihre Augen leuchteten auf, in diesem Moment hätte sie Jon küssen können, doch sie beließ es lieber dabei, dass sie ihn halbherzig umarmte und, Leo im Schlepptau, in ihre Kajüte stürmte. Sie wühlte ungeduldig in ihrer Truhe herum, fand aber das Geld nicht. Als sie verwirrt zu Leo schaute, blickte dieser schuldbewusst zu Boden. Sie dachte sich nichts weiter dabei, sondern warf all ihr Zeug aus der Truhe, um sicherzugehen, dass es wirklich nicht darin war. Hatte es einer von den Piraten genommen? Nein, ausgeschlossen, niemand wusste, wo sie ihr Geld aufbewahrte und wenn jemand ihre Kajüte durchsucht hätte, hätte es viel chaotischer ausgesehen. Sie überlegte noch einmal und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie funkelte Leo wütend an und fragte: „Du hast mein Geld genommen, richtig?“ Den Blickkontakt mit ihr vermied er, sagte aber: „Nun ja, ich habe doch mal gewettet und verloren, aber ich hatte nicht genug Geld, um meine Schulden zu begleichen. Da habe ich gedacht, dass ich es dir doch sowieso wieder zurückgebe und du es doch sicher nicht brauchen wirst, weil du ja nie so viel Alkohol trinkst und dann habe ich mir etwas genommen.“ Etwas lauter als geplant sagte sie: „Etwas? Es ist gar nichts mehr da! Was hast du dir denn dabei gedacht? Ich habe doch schon die Arztrechnung für dich übernommen! Ich bin doch kein Geldautomat, bei dem man sich einfach so bedienen kann!“ „Es tut mir Leid.“ „Es tut dir Leid? Davon bekomme ich mein Geld auch nicht wieder. Komm jetzt, ich hab ja noch ein bisschen.“ Er wollte ihre Hand nehmen, doch sie ging schlichtweg an ihm vorbei, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Als sie an Deck waren und er sich den ganzen Weg entschuldigt hatte, wurde er langsam sauer und sagte: „Was willst du eigentlich? Ich habe mich doch entschuldigt!“ Sie blieb abrupt stehen und antwortete genervt: „Ich hätte mir nur gewünscht, dass du mich vielleicht fragst, aber nein, du gehst ja einfach an meine Sachen!“ „Du hast doch nicht mehr mit mir geredet, außerdem hättest du es mir sowieso nicht gegeben!“ „Und woher willst du wissen, dass ich dir nichts gegeben hätte?“ „Weil ich inzwischen ein halbes Jahr mit dir zusammen bin und dich kenne.“ Jon, der das Gezanke wieder mitbekommen hatte, kam zu ihnen, lehnte sich an Leos Schulter und fragte monoton: „Um was geht es jetzt wieder?“ Kim erwiderte aufgebracht: „Leo ist an meine Sachen gegangen und hat einfach mein Geld genommen.“ Er sah skeptisch auf Leo und sagte: „Das würde Leo doch nicht tun, oder?“ Dieser sah schuldbewusst zu Boden und Jon fragte erstaunt: „Du hast wirklich ihr Geld genommen? Dir ist klar, dass das Diebstahl ist, oder?“ Erschrocken sah Leo zu Jon und stammelte: „Nein, so war das doch nicht, ich habe es mir doch nur geborgt,…“ Kim sprach ruppig dazwischen: „Pah, nur geborgt, du hast es einfach genommen, ohne zu fragen und hätte Jon vorhin nicht davon angefangen, wäre es mir nicht aufgefallen und du wärst aus dem Schneider gewesen!“ Leise fragte Jon an Kim gewandt: „Würdest du es als Diebstahl bezeichnen?“ Etwas erstaunt über seinen Ernst sah sie von einem zum anderen. Leo hatte die Hände gefaltet, schüttelte den Kopf und sah sie flehend an. Jon hingegen hob eine Braue und wartete auf ihre Antwort. Langsam sagte sie: „Nun ja, also Diebstahl würde ich es jetzt nicht nennen, schließlich wird er mir das Geld ja wieder zurück geben.“ Jon warf Leo einen vielsagenden Blick zu, schlug ihn hart auf den Hinterkopf und zischte: „Dass mir so etwas nicht noch einmal zu Ohren kommt, denn sonst kommst du nicht mehr so ungeschoren davon.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und ging zu einer Gruppe Piraten, die lachend an Deck standen. Leo fiel der erstaunten Kim um den Hals und bedankte sich immer wieder. Verblüfft fragte sie: „Was wäre denn passiert, wenn ich gesagt hätte, dass du es gestohlen hättest?“ Er sah ihr direkt in die Augen und fragte: „Weißt du das denn nicht?“ Sie schüttelte den Kopf und er fuhr fort: „Jon hätte mich aussetzen müssen.“ Fassungslos keuchte sie: „Was? Aber das hätte er doch niemals gemacht!“ Leo allerdings lachte: „Er muss, so ist das Gesetz. Und das hast du nicht gewusst?“ Wieder schüttelte sie den Kopf. „Na da hatte ich ja echt Glück, stell dir vor, du hättest ja gesagt, dann wärst du mich jetzt los.“ „Aber ich will dich doch gar nicht los sein, schließlich liebe ich dich.“ Er flüsterte: „Ich liebe dich auch.“ Dann küsste er sie. Als sie, in einem besseren Viertel, in einem Buchladen waren und Kim durch die Regale stöberte, klingelte es und zwei Jungen, der eine dunkelhaarig mit dunklen Augen, der andere ein Spanier mit braungebrannter Haut, schwarzen, krausen Haaren und ebenfalls schwarzen Augen, traten ein. Beide trugen eine Schuluniform mit einem Wappen, auf dem drei Kronen waren, auf dem dunkelblauen Jackett. Sie versteckte ihr Gesicht schnell in einem Buch und hoffte, dass Rob und Calisto sie nicht erkannten. Leo, der bemerkt hatte, dass sie sich unwohl fühlte, weil die zwei Jungs hereingekommen waren, fragte leise: „Haben dir die beiden was angetan? Soll ich ihnen eine verpassen?“ Sie schaute erschocken auf und sagte hastig: „Nein, um Gottes Willen, der eine hat mich gestern gerettet.“ Skeptisch fragte Leo: „Gerettet? Wieso weiß ich nichts davon, dass du in Gefahr warst?“ Sie legte den Finger an die Lippen, da er etwas lauter geworden war, doch es war zu spät. Die beiden Jungs kamen schon auf sie zu und Calisto sagte übertrieben laut: „Ach ne? Doch ein kleines Piraten-Flittchen? Gestern dieser Kerl in der Kneipe, dann ich und jetzt diese Blondine!“ Leo verschränkte die Arme vor der Brust und fragte, herablassend die Nase rümpfend: „Was hast du denn mit meiner Freundin am Hut und warum nennst du sie Flittchen?“ „Deine Freundin? Ach, dann hast du also gestern Abend noch mit einer anderen rumgemacht? Nun ja, ihr passt ja schon irgendwie zusammen, schließlich hat sie gestern in der Kneipe einen Piraten geküsst und am Abend, nachdem sie dich mit deiner ominösen Affäre gesehen hat, mich.“ Leo wandte sich nun an Kim und sah sie fragend an. Sie sah schuldbewusst zu Boden und sagte leise: „Nun ja, gestern hat Terry ja schon die ganze Zeit so Andeutungen gemacht und in der Kneipe hat er mich dann geküsst. Aber glaub mir, ich wollte das nicht, da kannst du auch Garret, Laffite und Aodh fragen!“ „Und was ist mit ihm?“ Er nickte zu Calisto, der grinsend vor Rob stand, welcher genervt den Kopf über sein Betragen schüttelte. Mit etwas festerer Stimme fuhr Kim fort: „Das war, weil ich sauer auf dich war, da du Kathleen geküsst hast, aber glaub mir, es hatte nichts zu bedeuten!“ Rob musterte Leo und als er die beiden Fingerstümpfe an seiner linken Hand sah, fragte er verblüfft: „Ach, du bist der blonde Kerl, von dem mein Vater gestern gesprochen hat?“ Leo schaute zu ihm und knurrte: „Wieso sollte dein Vater mich kennen? Mit Snobs habe ich nichts zu tun.“ „Mein Vater ist der Arzt in dieser Stadt, O’Donnel.“ Leos Gesichtsausdruck verfinsterte sich bei diesem Namen. Er ging auf Rob zu und schubste ihn zurück, so dass er gegen eines der Regale fiel. Calisto wollte dazwischen gehen, doch Leo stieß ihn zur Seite und zischte: „Dann war das also dein Vater?“ Leo ging wieder auf Rob zu, doch Kim wollte ihn zurückhalten und flüsterte: „Leo, lass das besser, es ist doch jetzt egal.“ Dieser allerdings sagte nur: „Von wegen, der kriegt jetzt stellvertretend ein paar aufs Maul!“ In diesem Moment kam der Besitzer mit einem Wachmann, der die Vier kurzerhand vor die Tür setzte. Leo wehrte sich nicht großartig, denn draußen hatte er ohnehin mehr Bewegungsfreiheit. Er wollte gerade wieder auf Rob losgehen, da hielt Kim ihn am Arm fest und sagte gezwungen lächelnd: „Lass doch gut sein, komm schon, gehen wir lieber wieder zurück.“ Doch Leo riss sich los und brüllte: „Oh nein! Der kriegt jetzt ’ne Abreibung, dass ihm hören und sehen vergeht!“ Etwas zerstreut starrte Rob vom einen zum anderen und fragte verwirrt: „Was hat mein Vater denn wieder angestellt, dass du mich jetzt verprügeln willst?“ Leo lachte wirr auf und sagte: „Was dein Vater getan hat? Als ein kleines Mädchen vergewaltigt wurde, hat er Kim vor die Wahl gestellt, ob sie entweder mit ihm ausgeht, oder sie noch mindestens eine Woche auf die Behandlung warten soll. Und am Schluss hat er auch noch die Frechheit besessen, sie zu küssen! Sie ist 14 und wie alt ist er? 40? So ein Mistkerl!“ Robs Augen weiteten sich und er keuchte: „Was hat er getan? Deshalb die Anspielungen gestern.“ Leos Augen verengten sich und er fragte: „Welche Anspielungen?“ Rob, noch immer sichtlich erschüttert, entgegnete: „Das ist doch jetzt egal! Glaub mir, es tut mir Leid, was mein Vater getan hat. Ich verstehe dich, von mir aus, schlag mich, ich würde nicht anders handeln.“ Leo starrte verblüfft auf den anderen Jungen, der tatsächlich keine Anstalten machte, sich zu verteidigen. Einen Moment schwankte er, ob er einfach zuschlagen sollte, entschloss sich dann aber doch dagegen. Stattdessen legte er seinen Arm um Kim, setzte sich in Bewegung und raunte ihm im Vorbeigehen ins Ohr: „Spielverderber!“ Kim drehte sich noch einmal um und sah, wie Rob in die Knie ging, das Geicht gen Himmel gerichtet und sich bekreuzigte. Da sie wahrscheinlich nicht noch einmal in diese Buchhandlung gelassen wurden, musste Kim sich damit begnügen in die Hafenbuchhandlung zu gehen, deren Ausstattung allerdings recht spärlich ausfiel. Dafür waren die Bücher hier weitaus billiger, so dass sich Kim gleich drei Bücher, anstatt nur einem erwerben konnte. Zu einem von ihnen hatte Leo sie überredet. Es handelte von einem Kammerdiener eines Königs, der sich unsterblich in dessen Tochter verliebte. Das ganze spielte im Mittelalter, so wie die letzten beiden Bücher, die er kannte. Ferner hatte sich Kim noch einen Krimi und eine Komödie gekauft. Auf dem Weg zurück zum Schiff las Leo ihr vorfreudig immer wieder die Inhaltsangabe auf dem Buchrücken vor. Sie fragte sich schon, ob er sie inzwischen nicht schon auswendig können müsste, da sah sie zu ihm rüber und erkannte, dass er schon seit geraumer Zeit nicht mehr las, sondern das Buch in der rechten Hand hielt, ihr aber trotzdem immer wieder den Inhalt vortrug. Sie schüttelte resigniert den Kopf und sagte laut und bestimmt: „Leo, deinen Enthusiasmus in allen Ehren, aber allmählich gehst du mir gewaltig auf die Nerven. Ich weiß inzwischen, dass der Kammerdiener des Königs Walter heißt und die Prinzessin, Wilhelmine, liebt, was auf Gegenseitigkeit beruht. Auch weiß ich wohl, dass ihre Liebe keine Chance hat, weil sie aus völlig verschiedenen Ständen kommen und die Prinzessin schon verlobt ist. Aber was mich am meisten nervt, ist dieses verdammte „oder…?“ am Schluss. Also hör endlich auf meine kostbaren Nerven kaltblütig zu ermorden und halt die Klappe!“ Nach diesem Ausbruch war er tatsächlich ruhig und zwar, bis sie an Deck ankamen. Dort fragte er Kim, ob er es sich ausleihen durfte, weil es ja von ihrem Geld war und kurzerhand lächelte sie: „Weißt du was, Leo? Ich schenke es dir, aber wehe, du verlierst heute noch ein Wort darüber, sonst schnapp ich noch über!“ Er strahlte übers ganze Gesicht, drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sputete sich in seine Kajüte, damit er das Buch gleich dort unterbringen konnte. Kim vermutete, dass es sein erstes eigenes Buch war und schmunzelte ein wenig über seine Ungeduld. Als auch sie in ihre Kajüte wollte, um dort ihre neu erworbenen Bücher unterzubringen, passte Terry sie ab und zog sie grob in den Schatten. Anfangs war Kim zu erschrocken um sich zu wehren, doch dann zischte sie: „Wenn du noch einmal versuchst mich zu küssen, dann schreie ich!“ Doch er schleppte sie ohne einen Kommentar an eine ruhige, schattige Stelle. Dort raunte er: „Sei nicht immer so selbstgefällig, nur weil ich mir einmal die Freiheit genommen habe, dich zu küssen, muss das noch lange nicht heißen, dass ich es wiederholen möchte.“ „Ich bin mir da allerdings nicht so sicher.“ „Schluss jetzt! Darüber will ich gar nicht mit dir diskutieren.“ „Und über was dann?“ „Vorhin, was hast du da zu Leo gesagt?“ „Dass er das Buch geschenkt haben kann?“ „Nein, davor! Als ihr bei uns saßt und rumgemacht oder es zumindest vorgegeben habt. Da habt ihr doch über den Iren gesprochen und Leo meinte, dass er anders sei, nur habe ich nicht verstanden, was du sagtest.“ Kim schaute ihn mit großen Augen an und suchte nach einer Antwort, mit der sie Aodh nicht verraten würde. Gerade in dem Moment legte sich ein Arm um ihre Hüfte und Leo fragte: „Was willst du denn schon wieder von Kim? Und warum musst du das an diesem abgelegenem Fleck machen?“ Terry, von Leos kaltem Tonfall irritiert, entgegnete: „Holla, warum denn so übellaunig? Ich wollte sie nur fragen, was ihr vorhin zu tuscheln hattet.“ Leo sah zu Kim und fragte: „Stimmt das?“ Zu Boden schauend antwortete sie: „Ja, er sagt, wir hätten vorhin über Aodh geredet.“ Leo wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, da unterbrach ihn Terry: „Verdammt noch mal, jetzt gib doch endlich zu, dass der Kerl ne widerliche Schwuchtel ist!“ Kim stockte der Atem, doch Leo meinte: „Halt doch die Klappe, Terry, oder willst du, dass es die ganze Mannschaft mitbekommt? Und jetzt beruhige dich!“ Doch dieser beruhigte sich nicht. Kim glaubte schon, er wollte losstürmen und Aodh verprügeln, oder noch schlimmeres, da ging er in die Hocke, stütze den Kopf in die Hand und begann zu lachen: „Ich glaub’s ja nicht! Auf mich steht ne Schwuchtel und ihr habt auch noch davon gewusst! Wieso ziehe ich eigentlich immer diese abartigen Missgeburten an?“ Kim allerdings protestierte heftig: „Aodh ist doch nicht abartig und schon gar keine Missgeburt! Nur weil er nicht auf Frauen steht, warum habt ihr denn solche Probleme damit?“ „Das ist so nicht von Gott gewollt.“ Kim jedoch lachte laut auf und prustete: „Komm du mir nicht mit ‚von Gott gewollt’, Terry, du scherst dich doch sonst auch den Teufel, ob etwas von Gott gewollt ist, oder nicht!“ „Aber das ist abartig! Nicht normal, abnormal, eben so…“ „Für ihn ist eben das, was du als ‚normal’ bezeichnen würdest abartig und jetzt übertreib nicht so, schließlich ist er doch ganz nett. Gib ihm doch eine Chance.“ „Ich bin doch nicht schwul!“ „Ich meinte jetzt auch nicht als Liebhaber oder dergleichen, sondern als Freund, Kumpel, Kollegen.“ Terry sah hilfesuchend zu Leo, doch der sah pfeifend nach oben. In dieser Angelegenheit hielt er sich lieber raus. Eigentlich sah er es ja genauso wie Terry, aber noch einen Streit mit Kim wollte er nicht riskieren. Diese allerdings fuhr fort: „Und wenn du auch nur ein Sterbenswörtchen zu jemandem aus der Mannschaft sagst, dann werde ich…“ „Was wirst du dann tun?“, unterbrach er sie überlegen grinsend. „Mir wird schon noch etwas einfallen, sei dir dessen gewiss.“ Mit diesen Worten nahm sie Leo bei der Hand und ging zu Garret, Laffite und Edward, die, wie so oft, würfelten. Doch nach ein paar Schritten stockte sie. Sie hatte erst jetzt bemerkt, dass sie Leos linke Hand hielt und ließ sie blitzartig los, dann fragte sie erschrocken: „Oh mein Gott, habe ich dir wehgetan? Warum hast du denn nichts gesagt? Was wäre, wenn ich jetzt fester zugedrückt hätte? Es tut mir ja so wahnsinnig Leid!“ Doch Leo beschwichtigte sie: „Keine Sorge, wenn du mir wehgetan hättest, dann hätte ich schon etwas gesagt, außerdem kann ich auch nicht immer Rücksicht auf die Hand nehmen. Wenn wir morgen ablegen, werde ich auch beide Hände brauchen.“ Er lächelte ihr zu und strich ihr mit ebendieser Hand, an der der Mittel- und der Ringfinger fehlten, durchs Haar. Dann schob er sie zu den anderen. Ich hoffe doch schwer, dass ihr jetzt nicht völlig erschlage seid und bedanke mich auch bei dem Freischalter, der dieses Kapitel bekommen hat *verbeug* @__@ Das nächste Kapitel kommt schneller, ist auch "nur" 52 Wordseiten >__>" Also bis dann *alle knuddelt* Terrormopf =) Kapitel 4: Folkhorn & Charles ----------------------------- Seit einem dreiviertel Jahr war sie nun schon 17. Von der Crew damals waren nicht mehr viele Mitglieder an Bord. Laffite war noch immer Quartiermeister der Vengeance, Bartholomew auf der Satisfaction und Garret war zum Quartiermeister der Fortune bestimmt worden, Jons drittem Schiff. Mit Leo war Kim schon lange nicht mehr zusammen, er war auf der Fortune, was die Sache erleichterte. Terry und Aodh waren noch auf der Vengeance, genau wie Edward. Was aus dem alten Jack geworden war, wusste Kim nicht, er hatte sich, noch als sie damals in der Hafenstadt in Westafrika waren, zur Ruhe gesetzt. Manchmal dachte Kim noch an ihn und überlegte, ob es ihm wohl gut ging. Von Untoten waren sie nicht mehr geplagt worden und alles an diesen Dingen kam Kim vor, als hätte sie es damals nur geträumt, doch wenn sie sich dann ihr Armband besah, wurde ihr wieder bewusst, dass es real gewesen war. Es herrschte Flaute und die sengende Sonne schien auf ihre Häupter. Kim hatte ihre Bluse lässig unter der Brust verknotet und saß, mit hochgekrempelten Hosenbeinen und einem Kopftuch auf dem Haupt bei Silvestro, einem groß gewachsenem lustigen gesellen, der allerdings nicht mehr allzu viele Haare auf dem Kopf hatte, Chidi, einem schwarzen, der ehemalig als Sklave verkauft werden sollte, dessen Schiff sie allerdings gekapert hatten, und Pio, der sich einen Ziegenbart züchtete, da sein Idol, irgendein italienischer Musikant, erklärt hatte, dass dies der absolut letzte Schrei war. Pio war der Jüngste der drei, er war ungefähr 25. Silvestro und Chidi waren beide 29. Sie lachten gerade wieder über eine Silvestros Geschichten, da sagte Chidi, der ihrer Sprache noch nicht ganz mächtig war: „Dort unser Kapitän kommt, lasst uns ihn herüber winken.“ Mit diesen Worten winkte er Jon zu, der dem folgte und fragte: „Na? Was gibt’s neues?“ Silvestro salutierte und sagte: „Captain, melde gehorsam, wir haben tote Hose, kein Lüftchen wagt sich in unsere Segel.“ Jon massierte sich die Schläfen und sagte: „Ich wollte wissen, was es neues gibt, dass Flaute herrscht, weiß ich schon seit heute Morgen.“ Kim, die den vermeintlichen Scherz ebenso wenig lustig fand, schlug Silvestro leicht auf den Hinterkopf und sagte an Jon gerichtet: „Setz dich doch zu uns, wir können Karten spielen, wenn du Lust hast oder…“ „Wir können auch unter Deck gehen, die Frage ist nur, zu dir oder zu mir?“, beendete Pio den Satz für sie. Kim regte sich nicht sonderlich auf. Die drei stichelten immer ein wenig, da sie schon früh mitbekommen hatten, dass sie sich bemerkenswert gut mit ihrem Kapitän verstand. Sie strafte ihn lediglich mit einem verachtenden Blick und beendete ihren Satz selbst: „Oder wir können würfeln. Ich danke dir, Pio, dass du mir Arbeit abnehmen wolltest, doch reden kann ich immer noch für mich selbst.“ Jon allerdings nahm das nicht ganz so gelassen wie Kim, denn er sagte frostig: „Noch einmal so einen dummen Kommentar und du darfst allein das Deck schrubben.“ Bei diesen Worten verging ihm das Lachen und er entgegnete zähneknirschend: „Ai Captain!“ Jon nickte zufrieden und ließ sich neben Kim nieder. Jedoch nicht, ohne Silvestro einen strafenden Blick zuzuwerfen, da er Anstalten machte, einen Kommentar loszulassen, der ihm, angesichts dieses Blickes, allerdings im Halse stecken blieb. Wie Kim vorgeschlagen hatte, spielten sie Karten und sie war gerade am Gewinnen, da hörten sie Terry vom Krähennest aus rufen: „Land in Sicht!“ Waren sie schon in New Providence angekommen? Auf dem Schiff hatte Kim nahezu jegliches Zeitgefühl verloren. Genau wie die anderen stürmte sie nach vorne um nachzusehen, ob er wirklich die Wahrheit gesagt hatte und tatsächlich konnte sie dort am Horizont einen schmalen Streifen Land erblicken. Eine Weile blieb sie noch stehen und starrte voller Vorfreude auf das vor ihr liegende, dann ging sie wieder zu den Karten zurück und nahm ihr Blatt zurück in die Hand. Skeptisch fragte sie: „Wer von euch hat sich an meinem Blatt zu schaffen gemacht?“ Natürlich wanderte ihr Blick zuerst zu Silvestro, doch der schaute genauso verblüfft wie sie in seine Karten. Es war klar, wer es getan hatte, als sie auch in Jons und Chidis Gesichtern diese Verwunderung sehen konnte und sich auf Pios Gesicht ein breites Grinsen bemerkbar machte. Verärgert sagte sie: „Mensch, Pio, was soll denn das schon wieder? Ich war gerade am Gewinnen!“ Silvestro schaute vom einen zum anderen und fragte dann: „Warst du das, Pio?“ Dieser schüttelte entschlossen den Kopf, aber Jon meinte: „Und warum haben dann alle, außer dir, ein schlechteres Blatt als vorher?“ Pio zuckte die Achseln und Jon seufzte: „Solange es keine Zeugen gab, kann ich nichts tun, so gerne ich diese kleine Mistratte auch aussetzen würde. Lasst uns einfach noch einmal die Karten neu mischen.“ Also mischten sie die Karten erneut. Diesmal sah es nicht so rosig aus für Kim. Wie in den beiden Spielen davor verlor sie haushoch und als Silvestro gerade die nächste Runde geben wollte, erhob sie sich und lächelte: „Ich glaube, ich habe für heute genug Geld beim Spielen verloren. Ich mache mich fertig, schließlich will ich an Land gut aussehen, man weiß nie, wem man begegnet.“ Sie zwinkerte den vieren zu und ging unter Deck. Als sie an diesem Abend in einer Spelunke saßen und alle schon gut bei der Sache waren, gesellten sich einige Damen zu ihnen. Eine saß bei Terry, der immer wieder von Aodhs giftigen Blicken gestreift wurde, die ihn allerdings vollkommen gleich waren. Die nächste saß bei Silvestro, der sie so zum lachen brachte, dass die arme schon nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand. Eine dritte saß bei Pio im Arm, der seine Finger nicht vom ihrem Gesäß lassen konnte. Eigentlich wollte sich auch eine zu Jon gesellen, doch der wies sie, zu Kims Verwunderung, ab und kurz darauf lächelte er ihr zu. Nach und nach verschwanden sie, bis nur noch Kim, Jon, Aodh und Chidi, der keinen großen Wert auf diese Dinge legte, da er eine Frau und Kinder hatte, die in Amerika auf ihn warteten, dass er sie aus der Sklaverei befreite, da saßen. Wie immer, wenn Terry mit einer Frau alleine war, war Aodh übellaunig und antwortete nur teils. Die anderen drei wussten dies und redeten erst gar nicht mit ihm. Insgesamt wurde an ihrem Tisch nicht viel gesprochen. Allmählich wurde Kim müde und gähnte herzhaft, bevor sie sagte: „Ich glaube, ich werde mich schlafen legen, ich wünsche eine gute Nacht allerseits.“ Aodh und Chidi erwiderten ihren Gruß, Jon allerdings erhob sich und zog seinen Mantel an. Als sie ihn verwirrt anschaute, fragte er: „Was denn? Ich begleite dich natürlich oder denkst du, ich lasse dich alleine durch dieses Nest laufen?“ Dankbar lächelte Kim ihn an und gemeinsam verließen sie dann den Raum und traten ins Freie. Auf dem Schiff angekommen verabschiedeten sie sich, denn Jon musste noch ins Logbuch eintragen und Kim wollte noch ein Buch von Leo ausleihen, das er sich bei ihrem letzten Aufenthalt gekauft hatte. Also ging sie zur Fortune und fragte den erst besten, der ihr über den Weg lief, ob er wisse, wo Leo sei. Er rülpste und schallte: „Leo? Kenn ich nicht! Such woanders oder geh zurück in n Puff!“ Genervt schüttelte sie den Kopf und ging unter Deck, um zu sehen, ob sie irgendwo Garret finden konnte. Und tatsächlich, er saß in der Kapitänskajüte mit einer Flasche Rum in der Hand auf dem Bett und summte leise vor sich hin. Er erblickte sie und sprang freudig auf. Schwankend kam er auf sie zu und drückte ihr die Flasche mit den Worten „Hier, trink was! Die Schlacht neulich war hart und hat viele Verluste mit sich gebracht, aber wir lassen uns nicht unterkriegen, was?“ in die Hand. Kim allerdings stellte sie beiseite und fragte schlicht: „Sag mal, weißt du, wo Leo ist? Ich wollte mir ein Buch von ihm ausleihen, oder ist er in der Stadt?“ Garret sah sie erst mit großen Augen an und für einen Moment schien er die Luft anzuhalten. In diesem Augenblick war es still und Kim überkam ein ungutes Gefühl. Langsam flüsterte Garret: „Du weißt es noch gar nicht? Hat es dir noch niemand gesagt?“ Verwirrt schüttelte Kim den Kopf und sah Garret fragend an. Dieser schluckte schwer und fuhr dann fort: „Nun, also, weißt du? Wie gesagt, die letzte Schlacht war hart und außerdem, ach wie heißt das doch gleich? Ach ja, wir haben große und schwere Verluste zu beklagen. Und wie du weißt, kann man nicht bestimmen, wer bei solch einer Schlacht stirbt und wer am Leben bleibt…“ „Was willst du damit sagen?“ Eigentlich wusste sie genau, was er sagen wollte, doch sie konnte es nicht fassen. Verzweifelt klammerte sie sich daran, dass er etwas anderes meinen könnte, als das, was sie dachte. Doch es war genau das, denn Garret sah zu Boden und sagte leise, so, dass sie es kaum verstehen konnte: „Leo ist tot.“ Langsam schüttelte Kim den Kopf und ging rückwärts aus der Tür. Bedächtig ging sie zurück auf die Vengeance. Sie wollte sich schlafen legen, am nächsten Tag aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum gewesen war. Doch sie schaffte es nicht einmal einzuschlafen. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und stand auf. Auf Zehenspitzen schlich sie sich zu Jons Kajüte und öffnete vorsichtig die Türe. Sie trat in den dunklen Raum ein und setzte sich an die Bettkante. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Es war beruhigend. Ihre Augen waren schon längst an die Dunkelheit gewöhnt und so streckte sie ihre Hand aus und streichelte Jon durch sein verwuscheltes Haar. Er wachte nicht auf, sondern drehte sich und schmatzte ein wenig. Kim lächelte mild und stand auf. Gerade öffnete sie die Türe, da hörte sie ihn fragen: „Kim? Bist du das?“ Sie ging wieder zu ihm und nickte stumm. Er fragte weiter: „Was machst du denn hier? Ist etwas passiert?“ Leise, mit weicher Stimme, flüsterte sie: „Leo ist tot.“ Irgendwie hatte sie das Gefühl, als würde sie lächeln, konnte sich aber nicht erklären warum, denn zum Lächeln war ihr nun wirklich nicht zumute. Jon hingegen setzte sich auf, drückte sie an sich und flüsterte: „Oh mein Gott, Kim, das tut mir ja so Leid!“ Doch sie entgegnete: „Aber warum? Leo und ich sind doch schon über ein Jahr nicht mehr zusammen und er war die ganze Zeit auf der Fortune. Warum sprichst du mir dein Beileid aus?“ Jon hielt sie von sich und starrte ihr bestürzt in die Augen. Er fragte: „Warum ich dir mein Beileid ausspreche? Kannst du dir das nicht selbst beantworten?“ Kim lächelte: „Nein, ich verstehe es nicht, er ist mein Ex, wieso sollte ich da traurig sein? Ich habe ihn doch sowieso fast nie gesehen.“ Jetzt wurde Jon lauter, er schrie schon fast: „Was ist denn mit dir los? Ihr habt doch trotzdem in den Spelunken zusammen gelacht und habt zusammen getrunken, ihr habt euch ständig irgendwelche Bücher oder dergleichen ausgeliehen! Du solltest mir mal erklären, wie dich das so kalt lassen kann!“ „Warum mich das kalt lässt? Wir haben zusammen gelacht, weil Silvestro mal wieder eine seiner Geschichte erzählt hat, wir haben zusammen getrunken, weil er immer mit Garret gekommen ist und der mit dir und mir getrunken hat und die Bücher haben wir uns ausgeliehen, weil es sonst viel teurer wäre! Die meisten Mädchen hassen ihren Ex abgrundtief, warum sollte das bei mir anders sein? ... Warum sollte das bei mir anders sein?“ Ihre Stimme war leiser geworden, hatte begonnen zu zittern. Warum war es bei ihr anders? Warum hatte sie Leo nicht hassen können, wie jedes normale Mädchen ihren Verflossenen hasste? Dann würde ihr Herz jetzt nicht so schmerzen. Dann würde ihre Seele nicht zerreißen, wenn sie ihn verleugnete. „Warum bin ich anders?“ Eine Träne kullerte über ihre gerötete Wange, es folgte eine zweite. Erst langsam, dann glänzte ihr Gesicht von einem Schleier aus Tränen. Sie verbarg das Gesicht in den Händen und wehrte sich nicht gegen Jons Umarmung. Laut zu schluchzen traute sie sich nicht, doch nach einer Weile klammerte sie sich an Jon und suchte verzweifelt Halt in seiner Umarmung. Für einen winzigen Augenblick, für den Bruchteil einer Sekunde kam es ihr vor, als wäre es Leo, der sie da in den Armen hielt und versuchte, ihr Halt zu geben. Doch als ihr wieder bewusst wurde, dass es Jon war, tat sie einige Schritte zurück, wischte sich die Tränen, so gut es ging, aus dem Gesicht und lächelte: „Es geht wieder, danke. Ich denke, ich werde mich schlafen legen. Gute Nacht.“ Und bevor er noch etwas erwidern konnte, fiel die Tür ins Schloss und sie atmete, an der Tür gelehnt, tief durch. Langsam schlich sie in die Kombüse und holte sich eine Flasche Rum aus der Vorratskammer. Damit ging sie zurück in ihre Kajüte und setzte sich auf ihr Bett. Sie zog die Beine an ihren Körper und nahm einen kräftigen Schluck. Irgendwie schmeckte es anders als sonst. Es war bitter und brannte im Hals. Es war sogar noch schlimmer als damals, als sie ihren ersten Schluck Rum getrunken hatte. Weinend lehnte sie den Kopf an die Wand und fragte, die Augen geschlossen: „Ich dachte, du wolltest, dass ich glücklich bin, warum tust du mir das jetzt nur an? Wie kannst du nur?“ Als sie am nächsten Morgen aufwachte, sah sie, dass die Flasche über Nacht umgefallen und der Rum sich über ihr Bett verteilt hatte. Sie fluchte rüde, wie sie es von den Piraten gelernt hatte und stand auf, um die Matratze abzuziehen und zum trocknen aufzustellen. Jon würde sie nichts davon erzählen, der würde sich nur unnötig aufregen. Erstens wegen der Matratze, er würde sie zwingen eine neue zu kaufen, und zweitens, weil sie sich, ohne Erlaubnis, spät nachts, eine Flasche Rum stibitzt hatte. Sie fragte sich, warum sie überhaupt eine Flasche Rum bei sich hatte, sie trank doch sonst nicht alleine. Doch mit einem Schlag fiel ihr wieder ein, warum sie sich hatte betrinken wollen. Fast wünschte sie sich, dass sie gar nicht mehr aufgewacht wäre, aber andererseits, im letzten Jahr hatte sie Leo auch kaum gesehen. Einen so großen Unterschied würde es doch wohl nicht machen. Bei diesem Gedanken schmerzte es Kim in ihrer Brust. Und ob es einen Unterschied machen würde. Einen sehr großen sogar. Jetzt würde sie Leo nie wieder sehen. Er würde sie nie wieder freudig anlächeln, wenn sie sich an Land begegneten, er würde ihr nie wieder überheblich den Kopf tätscheln, er würde sie nie wieder fragen, ob man Schifffahrt mit drei „f“ oder nur mit zweien schrieb, er würde nie wieder da sein. Nie wieder. Er existierte nicht mehr, war einfach wie ausradiert. Sie stand auf und ging an Deck. Eigentlich wollte sie mit niemandem reden, niemanden sehen, doch ihre Füße lenkten sie zu Laffite, Terry und Aodh, die sie fröhlich grüßten. Eigentlich wollte sie lächeln, doch die drei musterten sie argwöhnisch und Laffite fragte, zu ihrem Erstaunen in ihrer Sprache: „Was ist passiert?“ Den Versuch zu lächeln noch nicht aufgebend, entgegnete sie: „Was soll denn passiert sein?“ Terry wich leicht zurück und meinte: „Wenn du so eine komische Grimasse schneidest, muss etwas Schlimmes passiert sein.“ Gerade suchte sie nach den passenden Worten, da legte ihr Pio, der mit Silvestro und Chidi unterwegs war, den Arm um die Schultern und fragte: „Hat es etwas mit einem Mann zutun? Doch nicht etwa mit unserem Kapitän, ich glaube, gestern Nacht mitbekommen zu haben, wie du aus seiner Kajüte gekommen bist.“ Jon, der anscheinend kurz zuvor geduscht hatte, da er noch nasse Haare hatte und sich ein Handtuch um die Schultern gelegt hatte und ein paar fetzen Pios letzten Satzes mitbekommen hatte, fragte: „Wer ist gestern Nacht in meiner Kajüte gewesen? Guten Morgen übrigens.“ „Na die Kleine hier, spät nachts noch einen Besuch beim Captain? Was habt ihr da nur gemacht?“ Pio grinste vom einen zum anderen und Jons Miene verfinsterte sich, bis er zischte: „Glaub mir, sie hatte einen triftigen Grund, zu mir zu kommen.“ Silvestro steckte die Hände in die Taschen und grinste: „Ich habe auch immer einen triftigen Grund, um die Huren in ihren Häusern zu besuchen und danach geht es auch mir viel besser.“ Jon sog scharf die Luft ein und hielt an sich, um nicht auszurasten. Terry und Laffite allerdings, die die beiden schon sehr viel länger kannten, als Pio, Silvestro und Chidi, die ja noch nicht mal ein halbes Jahr an Bord waren, musterten Jon skeptisch und fragten an Kim gewandt: „Nun sag schon, was los ist, wenn du Jon deswegen mitten in der Nacht besuchst, muss es wirklich wichtig sein und ich finde, wir haben ein Recht darauf es zu erfahren.“ Aodh schien hin und her gerissen, schlug sich letztendlich aber doch auf Laffites und Terrys Seite und unterstützte: „Er hat Recht, ich bin auch dafür, dass du uns erzählst, was los ist und nicht nur, weil wir deine Freunde sind.“ Kim versuchte die Fassung zu behalten und sagte: „Ich kann nicht.“ Pio nahm nun endlich den Arm von ihrer Schulter, musterte sie verwundert und fragte: „Warum nicht?“ Und bevor noch jemand sie drängen würde, platzte Jon heraus: „Leo ist tot.“ Aodh, Terry und Laffite tauschten einen bestürzten Blick, doch Pio, ungehobelt wie er war, fragte: „Wer ist krepiert? War der wichtig?“ Als er von den zornigen Blicken Jons, Terrys, Laffites und Aodhs gestreift wurde, zuckte er mit den Schultern und meinte: „Na und? Ist halt einer am Arsch, der wird ja wohl nicht wichtig gewesen sein, sonst hätte ich von ihm gehört. Der Typ hätte sich doch überlegen können, was er mit seinen Leben anstellt. So ein Idiot.“ Kim holte gerade aus, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen, da trafen ihn drei Fäuste hart ins Gesicht. Die erste gehörte Terry, die zweite Laffite und die dritte natürlich Jon. Blut tropfte auf den Boden und Pio, der sich die stark blutende Nase hielt, brüllte: „Habt ihr sie noch alle? Wir sind in einer Mannschaft und absolut nüchtern, schon vergessen?“ Kim kramte aus ihrer Tasche ein sauberes Taschentuch heraus, trat zu Pio, hielt es ihm unter die Nase und drückte ihre Hand auf seine Stirn, so dass sein Kopf unsanft nach hinten gedrückt wurde. Vollkommen außer sich, versuchte er um sich zu schlagen und brüllte: „Was machst du denn da? Ich bin doch nicht aus Knete!“ Monoton antwortete Kim: „Klappe. Du musst den Kopf zurück lehnen, das ist besser.“ Langsam beruhigte er sich und hielt sich selbst das Tuch unter die Nase. Silvestro und Chidi hatten sich inzwischen über Leo erkundigt und sprachen ihr ihr Beileid aus. Kim allerdings lächelte nur freundlich und nickte. Sie wollte es nicht hören. Denn so wurde es nur noch wirklicher. Als sie am nächsten Morgen alleine an Deck saß und in einem Buch las, trat jemand unsanft gegen ihren Fuß. Wütend sah sie auf und fragte den jungen Mann, der vor ihr stand: „Was willst du? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?“ Er begann zu lachen und sie musterte ihn eindringlich. Er war so um die 1,80 Meter groß, sein Haar war kurz geschoren und leuchtete in einem grellen orange, was in einem krassen Kontrast zu den kleinen eisblauen Augen stand, die sie belustigt anschauten. Er fasste sich wieder und fragte: „Ein Buch lesen nennst du Beschäftigung? Frauen! Aber sag, was macht eine Hure wie du auf einem Piratenschiff, wird dein Arbeitgeber nicht sauer? Oder bist du so etwas wie eine Schiffs-Mätresse? Du bist zwar nicht die hübscheste, aber in der Not der Stunde, würde ich dich gewiss nicht verschmähen.“ Erneut lachte er auf, als hätte er einen Witz gemacht. Kim allerdings erhob sich, verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete: „Ich bin weder eine Hure, noch eine Schiffs-Mätresse und selbst wenn es so wäre, dich Rotschopf würde ich ganz bestimmt von der Bettkante stoßen! Aber du bist doch bestimmt nicht an Bord gekommen, um mir gegenüber zynische Bemerkungen zu machen. Also sag schon, was willst du?“ „Immer sachte, Kleines. Wenn du nicht die Schiffs-Mätresse bist, möchte ich erstmal hören, was du sonst hier machst. Ich frage mich, warum die Crew ein Weibsbild wie dich nicht sofort von Bord wirft.“ „Vielleicht, weil ich eine von ihnen bin, hohe Kontakte pflege und sie dich von Bord werfen, wenn du weiterhin so respektlos mit mir sprichst. Wie heißt du überhaupt?“ Zwar trug er keinen Hut auf dem Haupt, tat aber trotzdem, als würde er ihn ziehen, deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an und antwortete: „Orpheus McQuilligan, angenehm. Und wie heißt die Dame, mit der ich spreche?“ „Ich warne dich, McQuilligan, hüte deine Zunge. Ich bin Kim und ich wüsste gerne, was du auf der Vengeance willst.“ „Bin ich hier im Kreuzverhör? Mit einem Gör wie dir werde ich das bestimmt nicht besprechen. Ich will…“ Weiter kam er nicht, denn Kim rief: „Chidi, der Kerl will Ärger machen, hilf mir mal!“ Orpheus verstummte prompt, angesichts des Schwarzen, der ungefähr anderthalb Köpfe größer und auch nicht so schmächtig war, wie er. Erst wurde er ein wenig bleich um die mit Sommersprossen gespickte Nase, dann lachte er allerdings wieder und prustete: „Eins muss man dir lassen, Kleine, gelogen hast du nicht. Aber wenn du mich von Bord wirfst, könnte das schlechte Auswirkungen für dich haben. Sagt mein Name dir denn gar nichts?“ Kim schüttelte den Kopf, überlegte aber angestrengt, ob sie sich nicht doch an irgendetwas erinnern konnte. Als ihr nichts einfiel, schaute sie der Andere fassungslos an und meinte: „Ich glaube, ich muss mal mit Genitson reden, seine Mannschaft müsste mal auf Vordermann gebracht werden. Erst finde ich hier ein Weib vor, um nicht zu sagen ein Gör und dann weiß das Ding noch nicht einmal, wer ich bin!“ Er schüttelte den Kopf und Kim fragte skeptisch, Chidi zurückhaltend, der dem Fremden am liebsten eine runtergehauen hätte: „Was hast du mit Jon zu schaffen?“ Gerade in diesem Moment kam Jon von unter Deck und als er sie sah, ging er schnurstracks auf sie zu, legte Orpheus einen Arm um die Schulter und meinte: „Wie ich sehe, habt ihr euch schon bekannt gemacht.“ Orpheus nahm Jons Hand mit zwei Fingern und hob sie von seiner Schulter, als wäre sie etwas Widerliches. Dieser allerdings lachte und rempelte ihn ein wenig an. Kim meinte skeptisch: „Ich weiß wie er heißt, aber nicht, wer er ist. Und da ihr euch anscheinend so gut versteht, würde ich mich sehr darüber freuen, wenn mich jemand aufklären würde.“ Jon sah sie verwundert an und fragte: „Du weißt seinen Namen aber nicht, wer er ist? Das ist Orpheus McQuilligan, Captain der Black Cross und noch drei weiterer Schiffe hast du wirklich noch nie von ihm gehört?“ Ihre Augen weiteten sich. Der Kerl war Kapitän von vier Schiffen und sie war so respektlos mit ihm umgesprungen. Sofort entschuldigte sie sich: „Oh mein Gott, Mister McQuilligan, es tut mir schrecklich Leid, dass ich Euch so respektlos begegnet bin. Bitte verzeiht meine Überheblichkeit.“ Der Angesprochene lachte auf und schnaubte: „Also sobald sie weiß, um wen es geht, hat sie ja doch Manieren. Es sind zwar nicht die Manieren einer feinen Dame der Gesellschaft, aber doch besser als die üblichen rüden Piratensitten.“ Jon, der verstanden hatte, dass Kim ihm nicht mit gebührendem Respekt begegnet war, sagte: „Sieh es ihr nach, sie hat erst kürzlich einen guten Freund verloren.“ „Ja, ja, das Geschäft ist hart. Apropos Geschäft, gerade darüber wollte ich mit dir sprechen, Ich konnte noch Stephens, mit der Revenge und Loft mit der Adventage für unsere Sache gewinnen. Wie steht es mit dir, Genitson?“ „Nur Dark Lou mit der Bane, aber lass uns das doch in meiner Kajüte besprechen.“ Orpheus nickte und sie gingen zur Treppe, die unter Deck führte. Eine Weile stand Kim verdutzt da. Chidi war, als Jon gekommen war, wieder von dannen gezogen. Gerade als Jon hinabsteigen wollte, hatte sich Kim doch wieder gefasst und rief: „Warte, Jon! Um was geht es denn eigentlich?“ Er hielt inne und meinte: „Das erfährst du schon noch früh genug.“ „Aber ich will es jetzt wissen! Wer sind Stephens, Loft und Dark Lou? Und für welche Sache konntet ihr sie gewinnen?“ „Kim, bitte, muss das jetzt…“ Aber Orpheus McQuilligan legte ihm eine Hand auf die Schulter, lachte Kim an und sagte: „Eigentlich hat der gute Genitson Recht, du wirst es noch früh genug erfahren, aber wenn du es unbedingt jetzt wissen willst, dann kannst du natürlich mitkommen.“ Jon schien nicht allzu begeistert von dem Vorschlag zu sein, denn er fragte ihn: „Bist du sicher? Ich denke, je weniger davon wissen, desto größer ist die Chance, dass alles glatt verläuft.“ Orpheus allerdings schlug ihm lachend auf die Schulter und sagte an Kim gewandt: „Hör nicht auf ihn, komm einfach mit.“ Diesen Worten konnte sie einfach nicht widerstehen und so folgte sie den Beiden in Jons Kajüte. Jon bot Orpheus den zweiten Stuhl an und nickte anschließend zu seinem Bett, um Kim zu bedeuten, dass sie sich draufsetzen sollte. Er selbst machte es sich auch bequem und sagte dann: „Also, du hast Stephens und Loft an Bord geholt, und ich Dark Lou, davor hatten wir schon Joel Grasser und Thomas Elbersaw auf unserer Seite. Weißt du eigentlich, wo sich der Kerl momentan aufhält? Ich habe nämlich gehört, dass er oft seinen Standort wechselt.“ „Nun ja, ich habe gehört, er soll auch hier in den Bahamas sein Unwesen treiben, schließlich sind in letzter Zeit verhältnismäßig viele Piratenschiffe verschwunden. Die meisten schieben es auf das Bermudadreieck, aber dann müssten auch andere Schiffe verschwinden, was seit kurzem allerdings nicht mehr der Fall ist.“ Nun mischte sich Kim ein, die kein Wort verstand: „Halt, stopp, Moment! Von wem oder was redet ihr eigentlich? Und was ist bitte dieses Bermudadreieck?“ Einen Moment musterte Orpheus sie verwundert, dann lachte er: „Nein! Sag mal, Genitson, weiß dieses Mädchen wirklich nicht, was das Bermudadreieck ist?“ Jon stützte die Stirn in die Hände und schüttelte resignierend den Kopf. Der andere kriegte sich nur schwer wieder ein und begann zu erklären: „Mann, Kleine, du willst Pirat sein und weißt noch nicht mal vom Bermudadreieck? Erbärmlich. Aber was soll’s. Im Bermudadreieck verschwinden einfach so Schiffe, aus heiterem Himmel. Niemand weiß wie oder warum, sie sind einfach weg. Wie vom Erdboden, oder besser gesagt, vom Meer verschluckt. Man findet keine Wracks oder Überlebende, beziehungsweise Leichen. Manche sagen, dass Seelenhändler dort ihr Werk verrichten, andere wiederum, dass es für all das logische Erklärungen geben muss, aber wenn du diejenigen danach fragst, passen sie. Vielleicht sind dort aber auch einfach enorm viele Meerjungfrauen und dergleichen, also sieh dich vor, wenn du in diesen Gewässern eine siehst, sie könnte das letzte sein.“ Sein Tonfall hatte sie ein wenig erschreckt und die ganze Angelegenheit an sich war so unheimlich, dass eine Gänsehaut sie überkam. Jon, der insgesamt ziemlich genervt war, sagte: „Meine Güte, McQuilligan, jetzt mach ihr doch keine Angst. Dafür gibt es eine logische Erklärung.“ Mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen, fragte dieser: „Und die wäre?“ „Ehm, nun ja, es gibt bestimmt Leute, die eine haben.“ Orpheus Blick wanderte zu Kim und sein Grinsen wurde noch diabolischer. „Siehst du?“ Kim, die nicht zugeben wollte, dass es sie gegraust hatte, fragte weiter: „Und von wem redet ihr, der auch hier in den Bahamas ist? Und was hat das Bermudadreieck mit ihm zu tun?“ Der Rotschopf hatte sein Grinsen gerade abgelegt, da zuckten seine Mundwinkel erneut und in Furcht einflößendem Tonfall fuhr er fort: „Glaub mir, Kleine, das ist kein Kerl, dem du bei Nacht und Nebel begegnen willst. Diejenigen, die ihn schon einmal gesehen haben, sagen, dass ihn eine unheimliche Aura umgibt. Es soll einem so kalt werden, dass man denkt, die Flammen der Hölle könnten vereisen. Außerdem waren Besagte nach der Begegnung wie ausgewechselt, sehr schreckhaft, schon fast paranoid…“ Jon, den das gesamte Gespräch ziemlich nervte, unterbrach ihn: „Bitte, McQuilligan, nimm es mir nicht übel, wenn ich dich korrigiere, aber ich glaube fast, du verwechselst den realen Folkhorn mit der Sage des Cornrocks. Kim, glaub ihm kein Wort, bis auf das mit dem Begegnen, denn als Pirat willst du ihm sicher nicht begegnen.“ Allmählich kam Kim sich verschaukelt vor und sie fragte nachdrücklich: „Und wer ist dieser Folkhorn jetzt?“ „Nun lass mich doch ausreden, Lilay. Also, dieser Folkhorn ist Freibeuter. Das bedeutet, er hat einen Kaperbrief von der Regierung. Normalerweise sind diese Kaperbriefe gegen Handelsschiffe feindlicher Nationen ausgestellt, um den Feinden auch in Friedenszeiten Schaden zuzufügen. Dieser Schweinehund hat ihn sich allerdings zu einem anderen Grund anfertigen lassen und zwar hat er damit die offizielle Berechtigung die Schiffe anderer Piraten zu kapern und wird dafür nicht zur Rechenschaft gezogen. Und da kommen wir ins Spiel. Uns passt es natürlich gar nicht, dass so ein Kerl gezielt Piratenschiffe versenkt und damit auch noch Erfolg hat. Deswegen schließen McQuilligan, ich und noch einige andere Kapitäne uns zusammen, um dem Lump den Gar aus zu machen.“ Kim ließ sich das ganze noch einmal durch den Kopf gehen und fragte dann etwas unsicher: „Und wie wollt ihr das machen?“ „Das wollten wir gerade besprechen.“, lächelte Jon. Als keiner der beiden Männer etwas sagte, da sie anscheinend nachdachten, fragte Kim: „Wie viele Schiffe, beziehungsweise Leute hat er denn?“ Jon und Orpheus warfen sich einen fragenden Blick zu, dann antwortete Jon: „Er hat nur ein Schiff und ich denke, es müssten so um die 50, 60 Mann Besatzung sein.“ „Hm, nicht unbedingt viel oder?“ „Mag sein, aber dafür sind in seiner Crew nur ausgezeichnete Kämpfer und Strategen. Außerdem ist sein Schiff unglaublich schnell und wendig. Er hat nun mal die Unterstützung der Regierung.“ „Und wenn er landet? Wohin geht er dann? Hat er ein festes, wie soll ich sagen, Hauptquartier? Oder wechselt er seinen Standort ständig?“ Jon wollte gerade antworten, da fiel Orpheus ihm ins Wort: „Warum willst du das eigentlich alles wissen, Kleine? Dir könnte das doch eigentlich egal sein.“ Mit der Zeit war sie von McQuilligan genervt und entgegnete: „Es ist mir nicht egal und ich will jetzt meine Antwort, McQuilligan.“ Als sie seinen Namen so respektlos ausgesprochen hatte, schnaubte er vor Wut und setzte schon an, zu Brüllen, da hielt Jon seinen Arm vor die Brust des Anderen, schüttelte leicht den Kopf und sagte an Kim gerichtet: „Auch wenn du McQuilligan nicht sonderlich sympathisch findest, solltest du ihm mit mehr Respekt begegnen, schließlich ist seine Mannschaft weitaus größer als unsere und nicht zuletzt ist er ein guter Freund meinerseits.“ Orpheus rollte nur mit den Augen und zischte: „Nicht sympathisch? Pah! Im Gegensatz zu manchen anderen Personen in diesem Raum bin ich äußerst anziehend.“ Natürlich hatte Kim diesen Kommentar nicht überhört und brauste auf: „Was willst du damit sagen? Gegen dich bin ich eine wahre Tropenschönheit!“ Nun wurde auch Orpheus laut: „Wer hat denn gesagt, dass ich dich meine?“ Kim sprang auf und brüllte zurück: „Du blödes Trampeltier, gesagt hast du es zwar nicht, aber dumm bin ich auch nicht! Und wo bist du denn bitte anziehend? Wegen deinen blauen Augen? Die sind nur so stechend, weil deine Haare orange, die Komplementärfarbe zu blau, sind. Und dein Körper lässt auch zu wünschen übrig, ich meine nämlich schon den Ansatz eines Bierbauches erkennen zu können!“ „Wo ist hier bitte ein Bierbauch?“ Er zog sein T-Shirt aus und präsentierte seinen muskulösen Oberkörper. Daraufhin grinste er: „Aber ich glaube, du hast ein paar fiese Speckröllchen zu viel auf den Hüften.“ Ohne ein Wort zu erwidern knöpfte Kim die Bluse von unten her so weit auf, dass man ihren flachen Bauch sehen konnte und drehte sich noch ein wenig. Schließlich knöpfte sie die Bluse wider zu und fragte: „Na? Zufrieden? Du blöder Idiot, nur weil du ein paar mehr Muskeln hast als ich, musst du noch längst nicht so grinsen!“ Immer noch grinsend antwortete er: „Wer sagt denn, dass ich deswegen grinse? Ich finde es nur schön, wenn sich eine Frau auszieht, ohne Geld dafür zu verlangen.“ „Igitt! Ekelhafter Perverser! Ohne, dass du Geld bezahlst kriegst du wohl keine Frau, was mich allerdings auch nicht sonderlich wundert!“ „Hey, ich bin zwar so einiges, aber mit Sicherheit nicht pervers! Und ich war schon verheiratet, ganze zweimal!“ „Was für hässliche Bauerntrampel haben sich denn überreden lassen, dich zu heiraten? Oder hast du ihnen einfach genug Alkohol eingeflößt?“ „Keinen Tropfen! Aber ich lasse nicht zu, dass du meine Ehen beleidigst, schließlich waren das die schönsten Jahre meines Lebens!“ „Die Frauen haben es wirklich mehrere Jahre mit dir ausgehalten? Müssen ja ziemlich zäh gewesen sein, die Guten.“ „Auf jeden Fall zäher als du, dich Klappergestell würde ja schon ein kleiner Klaps auf den Hintern umbringen oder dir zumindest sämtliche Knochen brechen.“ „Dann waren deine so hoch gepriesenen Ehefrauen also alle beide fett?“ „Wer redet denn hier von Fett? Ich habe nun einmal gerne etwas in den Händen und das müssen nicht unbedingt Knochen sein.“ Anstatt sofort zu antworten, streckte sie ihm zuerst die Zunge heraus und sagte dann: „Ob du mich attraktiv findest, ist mir ehrlich gesagt so was von egal!“ Bei diesen Worten stützte Jon nur noch den Kopf in die Hände. Er wusste, dass es jetzt zu spät war, um die Beiden auszubremsen, denn sie waren inzwischen richtig in Fahrt. Und wie zur Bestätigung brüllte Orpheus: „Das sollte es aber nicht, schließlich bin ich Captain der Black Cross, der Toxic, der Voluña und nicht zuletzt der Kimberley!“ Erst blinzelte Kim ihn ungläubig an, dann fragte sie: „Dein Schiff heißt so wie ich?“ „Was heißt so wie du? Vielleicht bist du ja giftig, aber dass deine Eltern dich deswegen gleich so nennen müssen? Armes Kind.“ „Ich heiße doch nicht Toxic, sondern Kimberley von Merrylson.“ „Was? Warum hast du mir nicht gesagt, dass die Kleine wie mein zweites Flaggschiff heißt, Genitson?“, fragte McQuilligan beleidigt. Jon seufzte: „Ich hielt das für irrelevant, Namen sind doch Schall und Rauch.“ Doch der Rotschopf protestierte heftig: „Von wem hast du das denn? Der Name macht die Kleine erst attraktiv, obgleich sie noch längst nicht so gut aussieht wie meine Kimberley.“ „Blödmann!“, kam es prompt von Kim und McQuilligan fragte: „Was hast du denn? Ich habe dir doch ein Kompliment gemacht.“ „Und was für eins! Aber von einem Kerl wie dir kann man wohl kaum mehr erwarten.“ Und so ging das Gezanke erneut los. Jons Schlichtungsversuche scheiterten kläglich und so sah er sich gezwungen McQuilligan von Bord und Kim aus seiner Kajüte zu werfen, damit er endlich seine Ruhe hatte. In dieser Nacht schlief Kim sehr unruhig, denn sie wurde immer wieder von Träumen an Leo geweckt. Als der Morgen graute wachte sie gerade wieder auf und setzte sich auf die Bettkante. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Schweißnasse Stirn und ließ den Blick durchs Zimmer streifen. Erst stockte ihr der Atem, dann holte sie tief Luft zum schreien, da legte er den Zeigefinger der linken Hand an die Lippen. Dort, in der Ecke ihr gegenüber, saß ein junger Mann; strohblondes Haar, Augen so blau und tief wie das Meer und er sagte, sich aufrichtend: „Nicht schreien, sonst wachst du noch auf. Ich habe dir nämlich noch etwas Wichtiges zu sagen.“ Kim fasste sich mit beiden Händen an den Kopf und schüttelte ihn heftig, dabei murmelte sie. „Nein! Nicht schon wieder so ein Albtraum! Verschwinde, Leo ist tot!“ Inzwischen war er an ihr Bett getreten und legte beruhigend seine Hand auf ihre Schulter. Langsam sagte er: „Ja, ich bin tot, aber dieses eine Mal kann ich noch mit dir sprechen, also hör bitte gut zu.“ Kim hob den Kopf und sah ihn sie milde anlächeln. „Und was willst du mir sagen?“ „Es geht um den Piratenjäger…“ „Was ist mit ihm?“, unterbrach Kim ihn rüde. Er schmunzelte und fuhr fort: „Du lässt einen einfach nicht ausreden, selbst wenn man tot ist.“ Auf ihre schuldbewusste Miene hin, fügte er allerdings hastig hinzu: „Aber das ist ja jetzt vollkommen egal. Noch einmal zu diesem Piratenjäger, keine Ahnung, wie der Kerl heißt…“ „Folkhorn.“, unterrichtete Kim ihn. „Was?“, fragte er etwas verwirrt, da sie ihn nun schon zum zweiten Mal aus dem Konzept gebracht hatte und sie erklärte: „Der Kerl über den wir reden heißt Folkhorn.“ „Ach so, danke. Also wenn ihr in einer Woche lossegelt und immer in Richtung Osten, werdet ihr zwei Wochen nach Verlassens New Providence auf ihn treffen. Er wird auf der Junivo sein und…“ „Warte!“ Sie sprang auf und ging an die kleine Kommode, um sich etwas zum Schreiben zu holen, doch Leo lachte: „Lass nur. Erstens hat das, was wir hier machen keinerlei Auswirkungen auf die Realität und zweitens sorge ich dafür, dass du morgen Früh noch alles weißt und nichts vergisst.“ „Und wie willst du das machen?“, fragte sie verwirrt und musterte ihn skeptisch. Seine Mundwinkel umspielte ein wissendes Lächeln, das Kim eine Gänsehaut bescherte und er meinte: „Lass das mal meine Sorge sein, aber ich wollte dir noch etwas erzählen. Und zwar, dass Jon mit seiner Schätzung ziemlich falsch lag. Folkhorn hat nämlich nicht nur ein, sondern drei Schiffe, die Delivery, die Fancy und die Junivo. Er hat auch ein paar mehr Besatzungsmitglieder als nur fünfzig. Um genau zu sein, befinden sich 104 Seelen auf den drei Schiffen. Ihr solltet euch auf jeden Fall an McQuilligan halten. Dark Lou, Grasser, Elbersaw und Loft könnt ihr auch vertrauen, aber bei Anderen würde ich Vorsicht walten lassen, denn wie heißt es doch so schön? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste und bei diesem Unterfangen könnt ihr keine Deserteure, Spione und Verräter gebrauchen, wobei ich mir bei Joel Grasser nicht so sicher bin, ob er euer Vorhaben bis zum Schluss miterleben wird. Und jetzt sorge ich dafür, dass du alles behältst und auch ja kein Detail vergisst.“ Er kam auf sie zu und langsam näherten sich seine Lippen den ihren. Doch sie schrak zurück und fragte verwirrt: „Was machst du denn da?“ „Ich will dich küssen.“ Erneut kam er ihr näher und erneut tat sie eine Schritt zurück und fragte: „Und warum? Wir sind schon über ein Jahr nicht mehr zusammen, du bist tot, beziehungsweise eine Vision und außerdem wolltest du doch gerade dafür sorgen, dass ich nichts von dem vergesse, was du mir gesagt hast!“ Er küsste sie sanft und lächelte: „Das tue ich doch gerade.“ Sie blinzelte verwirrt, denn in dem Moment, in dem sich ihre Lippen, wenn auch nur flüchtig, berührt hatten, hatte sie das Gefühl gehabt, als wäre ein Teil seines Wissens, seiner Erinnerung, seines Seins in sie übergegangen und es hatte sich schön angefühlt. Leo nutzte ihre Verwirrung und küsste sie. Sanft drückte er sie in die Laken ihres Bettes und sie fühlte sich gut. Als sie die Augen aufschlug und sah, dass ihre Kajüte von den Sonnenstrahlen, die durch ihr kleines Bullauge einfielen, erhellt war, sprang sie wie von der Tarantel gestochen auf. Alles, sie wusste alles, was Leo gewusste hatte. Etwas neben sich stehend griff sie in eine Schublade ihrer Kommode, holte ein Band daraus und zähmte damit ihre Haare, die ihr nach dieser unruhigen Nacht immer wieder widerspenstig ins Gesicht fielen. Langsam wurden ihre Gedanken wieder klarer und sie beschloss gleich mit Jon über ihr Wissen über Folkhorn zu reden. In kurzer Zeit hatte sie sich gerichtet und ging zu Jons Kajüte. Als auf ihr Klopfen hin allerdings niemand antwortete, trat sie ein und fand die Kabine leer vor. Kurz entschlossen ging sie an Deck und fragte Laffite, der ihr gerade entgegen kam, ob er wüsste, wo Jon war. Dieser grinste: „Er hat gesagt, dass er zu McQuilligan geht. Außerdem sollte ich dir das auf keinen Fall sagen und wenn du es doch herausfinden solltest, soll ich auf keinen Fall zulassen, dass du nachkommst.“ Kurz angebunden bedankte sich Kim und wollte gerade losgehen, da fragte Laffite: „Und wohin willst du jetzt?“ „Na zum guten alten Orpheus McQuilligan.“, lachte sie. Die Black Cross hatte gewisse Ähnlichkeit mit der Vengeance, doch brachte sie Kim dennoch nicht zum Staunen. Kim fand sich auf ihr relativ gut zurecht, da sie in etwa so aufgebaut war wie die Vengeance. Als sie zögerlich anklopfte wurde ihr geantwortet und sie öffnete schüchtern die Tür. Drinnen saßen um einen Tisch herum sieben Männer. Kim kannte nur Jon und McQuilligan, doch sie vermutete, dass die anderen fünf Stephens, Loft, Grasser, Elbersaw und Dark Lou sein mussten. Jon seufzte genervt: „Was willst du?“ Noch eingeschüchterter, da sie alle, außer McQuilligan, der ihr freudig zuwinkte, mürrisch musterten, sagte sie: „Ich muss dich sprechen, möglichst unter vier Augen.“ Leicht verstimmt erhob er sich und folgte ihr aus der Tür, die er hinter sich schloss. Er knurrte: „Ich hoffe, dass es wichtig ist, denn diese Besprechung ist es nämlich und…“ Er stockte, musterte sie skeptisch und fuhr mit dem Daumen seiner rechten Hand immer wieder über eine Stelle ihres Halses. Verwirrt fragte er: „Wo hast du denn den her? Es tut mir ja Leid, aber für Liebeskummer und dergleichen habe ich im Moment wirklich keine Zeit.“ „Wie kommst du denn darauf, dass ich Liebeskummer habe?“ „Wie komme ich wohl darauf? Allein der Knutschfleck an deinem Hals spricht Bände!“ „Knutschfleck?“ Verwirrt zückte sie ihren Taschenspiegel und stellte bestürzt fest, dass sie tatsächlich einen riesengroßen Knutschfleck hatte. Sie sog scharf die Luft ein und murmelte: „Dieser Bastard! Er hat doch gesagt, es hätte keinerlei Auswirkungen auf die Realität, dann hätte ich mir das ganze ja auch aufschreiben können…“ „Von was redest du eigentlich? War das alles, was du mir zeigen wolltest? Dann kann ich ja auch wieder reingehen.“ Sie fasste ihn am Handgelenk und rief: „Nein, warte! Das war nicht, was ich dir sagen wollte, mein Anliegen ist wirklich wichtig.“ „Dann komm endlich auf den Punkt!“ „Ich hatte eine Vision.“ Eine Weile lang schwieg er, dann fragte er: „Um was ging es?“ „Leo war da.“ „Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte er ungeduldig und wollte sich gerade wieder umdrehen, da umfasste sie sein Handgelenk noch fester und sagte: „Es geht um Folkhorn, wir müssen in einer Woche ablegen und dann…“ „Bist du dir sicher, dass das stimmt?“ Sie nickte. Jon legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Dann komm mit rein und erzähl es uns allen.“ Langsam schüttelte Kim den Kopf und auf Jons fragenden Blick hin erläuterte sie: „Ich rede nur mit dir, McQuilligan, Loft, Elbersaw und Dark Lou, von mir aus auch mit Grasser.“ Etwas verwirrt hinterfragte Jon: „Und warum nicht mit Stephens?“ hart sagte Kim: „Weil Leo gesagt hat, wir können nur McQuilligan, Loft, Grasser, Elbersaw und Dark Lou vertrauen.“ Jon überlegte kurz, dann öffnete er die Tür und donnerte: „McQuilligan, rauskommen!“ Dieser sprang wie vom Blitz getroffen auf und rief, stramm stehend, als wäre er bei der Marine: „Ai Sir!“ Bis ihm jedoch wieder einfiel, dass er Captain von vier Piratenschiffen war und längst keinem Offizier der Marine mehr unterstand. Knurrend, weil er sich lächerlich gemacht hatte, kam er zu den beiden und Jon schloss hinter ihm wieder die Tür, bevor er sagte: „Wir müssen Stephens loswerden.“ Leicht überrascht fragte McQuilligan: „Warum das denn? Bis jetzt war er doch sehr engagiert.“ „Der Schein trügt, vertrau mir einfach, ich weiß schon, was ich tue.“ McQuilligan hob die Brauen und entgegnete: „Ich glaube eher, sie weiß, was du tust.“ Er nickte zu Kim. „Vorhin warst du nämlich auch noch recht angetan von ihm und bevor ich irgendwen von meinem Schiff werfe, möchte ich einen guten Grund haben.“ Jon wollte gerade etwas sagen, da rief Kim aus: „Bitte, Orpheus, du musst uns einfach vertrauen! Wenn ich dir den Grund sagte, würdest du mir sowieso nicht glauben.“ Genervt gab er zurück: „Na Also! Mir ist es auch ehrlich gesagt völlig egal, weil Weiber hier ohnehin nichts zu sagen haben. Und Gören wie du schon gar nicht.“ Kim stieß die Luft aus und stierte ihn feindselig an. Doch er zuckte mit den Schultern und meinte: „Du brauchst gar nicht so böse zu schauen, das macht nur Falten. Und zu dir, Genitson, du kannst dich jetzt entscheiden, ob du wieder mit hereinkommst, oder du mit der Kleinen gehst. Aber sorg endlich dafür, dass du wieder die Hosen anhast!“ Kim allerdings protestierte: „Wenn du Stephens schon nicht rausschickst, dann komme ich mit rein!“ „Kommt nicht in Frage!“ „Oh doch! Ich bin ein Mannschaftsmitglied wie jedes andere und bei uns geht es demokratisch zu, also habe ich ein Recht darauf, bei dieser Besprechung dabei zu sein!“ „Aber…“ „Kein Aber! Ich komme mit rein!“ Jon schmunzelte und raunte McQuilligan beim Durchschreiten der Tür zu: „Wie war das noch gleich mit den Hosen?“ Dieser rollte mit den Augen und wollte sich gerade wieder setzen, da murmelte er: „Irgendetwas ist anders.“ Kim ließ sich kurzerhand auf McQuilligans Bett nieder und musterte die fünf Fremden skeptisch, da brüllte dieser: „Meine Uhr! Meine silberne Taschenuhr! Wer von euch hat sie genommen?“ Er funkelte jeden einzelnen der Anwesenden wütend an. Kim und Jon warfen sich einen fragenden Blick zu und als nächstes fiel Jons Blick auf Stephens. Er sah zu McQuilligan, der wutschnaubend vor ihnen stand und wieder zu Stephens, den das anscheinend ziemlich kalt ließ. Auch Kim schaute zu Stephens. Er war nicht sonderlich groß gewachsen, hatte dunkles Haar und genauso dunkle Augen. Sein Gesicht war recht markant, aber ansonsten sah er eigentlich freundlich aus. Kim fragte sich gerade, ob er wirklich ein Verräter war, da brüllte McQuilligan: „Leert eure Taschen! Den Inhalt legt ihr hier auf den Tisch!“ die Männer musterten ihn skeptisch, doch als er schrie: „Wird’s bald?“ leerten sie Einer nach dem Anderen ihre Taschen. Erst ein blonder Mann Mitte zwanzig, er hatte nur etwas Tabak, Papierchen, um sich Zigaretten zu drehen, Streichhölzer und eine recht gut gefüllte Geldbörse. Der nächste hatte schwarze Haare und stechend grüne Augen. In seinen Taschen befand sich zwar eine Taschenuhr, doch sie war golden und offensichtlich war es nicht die McQuilligans. Auch der Dritte, groß und schlaksig von der Statur und mit dunklen Ringen unter den Augen, hatte nur ein paar Utensilien zum Zigarettendrehen und seine nicht ganz so prall gefüllte Geldbörse. Als McQuilligan fordernd auf den Nächsten in der Reheinfolge sah, legte der, offensichtlich etwas nervös, eine Geldbörse und ein kleines Silbernes Kettchen mit einem aufklappbaren Anhänger in Herzform auf den Tisch. Jon hatte auch nur seine Geldbörse und ein besticktes Taschentuch bei sich. Stephens allerdings legte nicht alles aus seiner Tasche auf den Tisch, was allerdings nur Kim sehen konnte. Schnell fragte sie: „Und was, wenn einer von ihnen noch etwas einfach in den Taschen gelassen hat?“ Ruppig schallte McQuilligan: „Aufstehen!“ Kopfschüttelnd taten die fünf wie ihnen geheißen. Stephens allerdings wurde etwas nervös, denn er trat unruhig von einem auf den anderen Fuß. Orpheus befühlte bei jedem die Taschen, doch als er gerade bei Stephens beginnen wollte, sagte dieser: „Und was ist mit dem Mädchen? Sie hätte deine Uhr doch auch nehmen können.“ McQuilligans Blick fiel auf Kim, die müde lächelte, aufstand, zu ihm ging und sagte: „Durchsuch mich ruhig, ich habe rein gar nichts zu verstecken.“ Das ließ sich der Rotschopf nicht zweimal sagen und er begann sie abzutasten. Aller Augen waren auf sie gerichtet und als Stephens sich sicher fühlte, griff er in seine Tasche. In diesem Moment flüsterte Kim: „Wirf mal einen kurzen Blick auf Stephens, McQuilligan.“ Dieser hielt ihre Hände fest, damit sie, falls sie die Uhr hatte, sie auf keinen Fall einfach weglegen konnte und drehte den Kopf. Als er sah, dass Stephens seine Uhr in der Hand hielt und sie gerade zu den Sachen des blonden Mannes legen wollte, brüllte er: „Du Bastard! Dich bring ich um!“ Er wollte gerade losstürmen, da hielten Jon und der Schwarzhaarige ihn mit aller Kraft zurück. Der Blonde nahm ihm die Uhr ab und Stephens drehte sich so schnell er konnte um und stürmte aus der Kajüte. Kim grinste: „Na? Glaubst du mir jetzt endlich?“ Als Antwort bekam sie nur ein mürrisches Knurren und Jon und der Schwarzhaarige ließen ihn vorsichtig wieder los. Er setzte sich auf seinen Platz und als Kim wieder aufs Bett zusteuerte, murmelte er: „Setz dich doch zu uns.“ Mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen ließ sie sich auf dem Platz nieder, auf dem zuvor noch Stephens gesessen hatte. McQuilligan wurde wieder lauter und sagte: „Kim, das sind Dark Lou,“ Der schwarzhaarige stand auf und deutete eine Verbeugung an, auf die Kim mit einem Nicken antwortete. „Loft,“ Auch dieser stand auf und deutete eine Verbeugung an, die Kim abermals mit einem Nicken beantwortete „Grasser,“ der große Mann mit den Ringen unter den Augen stand auf „und Elbersaw.“ Nun nickte ihr der Mann zu, der eben noch so nervös gewirkt hatte, er hatte eine große Nase, große Kotletten, war insgesamt nicht gut rasiert und hatte dunkelblondes Haar. Dann fuhr Orpheus fort: „Und nun erzähl uns, was du weißt.“ Bevor sie begann zu sprechen musste sie noch einmal an Leo denken und schmunzelte leicht, doch schnell sagte sie: „Folkhorn hat drei Schiffe. Die Delivery, die Fancy und die Junivo. Insgesamt hat er 104 Mann an Bord der drei Schiffe und ich weiß auch, wie wir ihn erreichen können…“ „Und woher weißt du das so genau?“, fragte Loft misstrauisch. Kim, leicht vor den Kopf gestoßen, da sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, kam ins Stottern, bis Jon gelassen sagte: „Sie weiß es einfach und damit sollten wir uns zufrieden geben.“ Lofts Augen verengten sich zu Schlitzen und er zischte: „Und wenn sie nun auf zwei Seiten steht?“ Nun doch erzürnt erhob sich Jon, stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu Loft und zischte: „Willst du damit sagen, dass ich auf Seiten dieses Dilettanten bin?“ Der Blonde hob abwehrend die Arme und sagte: „Von dir war nie die Rede, ich würde es mir nie herausnehmen, etwas gegen dich zu sagen.“ „Aber Kim ist ein Mitglied meiner Mannschaft und wenn du einen von ihnen beschuldigst, beschuldigst du auch mich. Außerdem, wie hätte sie das denn anstellen sollen, schließlich war sie die ganze Zeit bei mir auf dem Schiff.“ Kim legte Jon die Hand auf den Arm und flüsterte: „Lass doch, im Prinzip hat er doch Recht, schließlich ist es schon merkwürdig, dass ich all das weiß.“ Starrköpfig brummte Jon: „Trotzdem!“ Kim allerdings überhörte diesen Kommentar und fuhr fort, während Jon sich wieder setzte. „Wie gesagt, zu seiner Crew zählen 104 Mann. Wenn wir ihn erreichen, wird er auf der Junivo sein, obwohl die Delivery sein Flaggschiff ist. Wir müssen in einer Woche ablegen und immer Richtung Osten segeln, dann werden wir ihn in drei Wochen haben.“ Erst waren alle Blicke ungläubig auf sie gerichtet, dann sahen sie fragend zu Jon und der, sich wieder angegriffen fühlend, knurrte: „Ich lege für die Richtigkeit ihrer Worte meine Hand ins Feuer.“ Nach diesen Worten begannen die anderen angeregt zu debattieren, was sie noch alles brauchten, wann sie es ihren Mannschaften eröffnen würden und alle diese Dinge. Jon und Kim allerdings hielten sich elegant im Hintergrund. Kim lächelte ihm dankbar zu und er klopfte ihr wortlos auf die Schulter. Es kam ihr vor, als ob die Woche gar nicht vergehen wollte. Immer wieder dachte sie an Leo und wie er sich wahrscheinlich auf den Kampf gefreut hätte. Ihre Freunde waren ihr auch keine große Hilfe um die Zeit zu überbrücken, denn immer wenn sie zu ihnen kam, kippte die Stimmung und sie warfen ihr nur noch mitleidige Blicke zu. Wenn sie abends in ihrem Bett lag, konnte sie kaum einschlafen, da sie immer hoffte, ihn noch einmal zu sehen und dieser Gedanke hielt sie dann meistens die halbe Nacht wach, was sehr unvorteilhaft war, da diese Woche noch unglaublich viel gemacht werden musste. Daher musste sie auch ziemlich früh aufstehen, was ihr natürlich gar nicht passte. An einem Tag mussten sie dann auch noch die Schiffe Kielholen, damit sie nicht irgendwann, mitten auf See, untergingen. Auch als sie ablegten wurde es nicht besser. Sie hatte das Gefühl, als stünde die Zeit und jede Minute würde eine Ewigkeit brauchen, um zu verstreichen. Doch wenigstens am letzten Abend der ersten Woche konnte sie sich von diesem ewig gleich bleibenden Trott lösen, denn Silvestro feierte in seinen 30. Geburtstag, was alle als willkommene Abwechslung zum sonst so rauen Leben auf dem Meer annahmen, denn ihr Kapitän, hielt im Großen und Ganzen nichts von Alkohol auf hoher See. Bei Geburtstagen allerdings machte er ab und an Ausnahmen. Kim zog es vor am Anfang noch nichts zu trinken, da sie sich nicht ganz wohl fühlte. Ein angenehmer Nebeneffekt dessen war, dass sie so nach nun mehr zwei Wochen endlich wieder etwas zum Lachen hatte, denn wenn die harten Männer Alkohol genossen, verwandelten sich die meisten von ihnen in lustige Kumpanen. Und waren sie sonst noch so berührungsängstlich, wurde hier der Eine umarmt und dort dem Anderen der Arm um die Schultern gelegt, ganz vorne mit dabei natürlich Aodh. Als einige von ihnen dann auch noch begannen Tango und Cancan zu tanzen, konnte sie nicht mehr. Ihr Bauch tat ihr schon weh vor lauter Lachen. Kim hatte sich gerade wieder gefasst und eine Lachträne weggewischt, da tippte ihr jemand auf die Schulter und als sie sich umdrehte, sah sie in das Gesicht eines der Neuen an Bord. Sie schätzte ihn auf Ende 18. Sein Haar war dunkel und gewellt, im Nacken bedeckte es das obere Ende seines Halstuches. Er hatte khakifarbene Cargo-Shorts und ein weißes Hemd an, das er nicht zugeknöpft hatte, sodass Kim seinen muskulösen Oberkörper sehen konnte, was bei Piraten allerdings nichts Ungewöhnliches war. Etwas verwundert fragte sie: „Ja?“ Die dunkelbraunen, fast schwarzen Augen des Jungen Mannes blitzten auf und er lächelte: „Ich wollte mich mal mit dir bekannt machen, ich bin Juanito.“ Immer noch leicht verwirrt entgegnete sie: „Hi, ich bin Kim, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, was das soll.“ Etwas verunsichert durch ihre abweisende Art sagte er: „Du bist mir schon gleich aufgefallen, als ich letzte Woche angeheuert habe. Kommst du auch aus Spanien? Deine Haut ist nämlich dunkler, als die der Briten oder Franzosen.“ „Nein, ich komme aus Brasilien. Kommst du aus Spanien?“ „Ja und nein. Ich habe in meiner Jugend bei meiner Mutter in Spanien gelebt, aber dann wollte ich nach Amerika, um meinen Vater zu suchen. Ich bin nämlich ein Bastard, musst du wissen.“ Sie nickte und er fuhr fort auf sie einzureden. Das ganze Gespräch über, das an sich nur einseitig existierte, nickte sie freundlich, war mit ihren Gedanken aber nicht bei der Sache. Wenn Leo gesehen hätte, dass dieser Juanito sie so dermaßen langweilte, hätte er schon längst eine Prügelei mit ihm angezettelt. Sie schnappte nur hin und wieder Fetzen dessen auf, was er da gerade von seinem Leben erzählte und stellte sich sonst lebhaft vor, wie Leo ihm die Nase brechen und auch einige Zähne aus diesem schleimigen Grinsen schlagen würde. Dann würde Juanito blutüberströmt dastehen und noch einen Tritt kassieren. Bei dem Gedanken musste sie schmunzeln und in dem Moment legte Juanito seine Hand auf die ihre und lächelte: „Hat dir schon mal jemand gesagt, wie schön du aussiehst, wenn du lächelst?“ Perplex wich sie einen Schritt zurück und rempelte aus Versehen einen anderen Piraten an. Er und sie drehten sich um, er um sie anzubrüllen und sie, um sich zu entschuldigen, da erkannte sie Laffite und ihre Chance, von diesem widerlichen Dauergrinsen erlöst zu werden. Sie fiel dem Franzosen um den Hals und seufzte: „Ach Schatz, da bist du ja, es ist schrecklich, dass du Quartiermeister bist, seitdem hast du gar keine Zeit mehr für mich.“ Kim küsste den vollkommen verwirrten Laffite auf die Backe und raunte ihm unmissverständlich zu: „Spiel mit oder erlebe den morgigen Tag nicht mehr!“ Leicht verkrampft legte er seine Arme um sie und sagte: „Tut mir Leid, Häschen, aber was soll ich machen?“ Laffites Hand haltend sagte sie zu Juanito, der inzwischen die Arme vor der Brust verschränkt hatte: „Darf ich dir meinen Freund Laffite vorstellen? Schatz, das ist Juanito, er ist neu an Bord und hat sich gerade mit mir bekannt gemacht.“ Juanito musterte Laffite geringschätzig und kommentierte: „Ihr seid niemals zusammen, du nennst ihn doch noch nicht einmal beim Vornamen und außerdem hab ich noch nie gesehen, dass ihr euch irgendwie nahe seid, geschweige denn, dass ihr euch geküsst hättet.“ „Oh, ich nenne ihn nur nicht beim Vornamen, weil das niemand tut, aber ich kann ihn dir auch gerne als Henry vorstellen.“ „Schön und gut, aber was ist mit meinem zweiten Punkt?“ Juanito legte den Kopf schräg und tippte mit seinem Finger immer wieder wartend auf seinen Oberarm. Laffite warf Kim einen scheuen Blick zu, die mit sich selbst rang, welches nun das kleinere Übel war. Doch endlich entschied sie sich für Laffite, schließlich hatte sie vor zwei Jahren auch noch diesen Arzt des afrikanischen Küstendorfs und Bartholomew geküsst, dagegen war Laffite geradezu ein Traumtyp. Und er hatte gepflegte Zähne. Letztlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und begann ihn zu küssen, was er natürlich erwiderte. Sie fragte sich nur, ob er es wegen ihrer Drohung, die wirklich ernst gemeint war, wegen ihrer Freundschaft oder aus einem anderen Grund tat. Als sie von ihm abließ und triumphierend zu Juanito sah, zog der sich knurrend zurück. Sie hatte es sogar geschafft, das dämliche Grinsen aus seinem Gesicht verschwinden zu lassen. Schadenfroh drehte sie sich wieder zu Laffite um, der sie fragte: „Was sollte das denn?“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und sie brummte: „Ich kann den Kerl irgendwie nicht ausstehen, der ist mir zu arrogant, aber da ich ja noch auf längere Zeit mit ihm auskommen muss, ist es so, glaube ich, am Besten.“ Laffite schüttelte resignierend den Kopf und wollte sich gerade umdrehen, um zu gehen, da fragte Kim: „Wo willst du denn jetzt hin?“ „Zu Terry und Aodh, vielleicht ist bei denen ja was Interessantes los.“ Er war gerade wieder drauf und dran die Kurve zu kratzen, da hakte Kim sich bei ihm unter und flüsterte: „Sieh nicht hin, aber Juanito beobachtet uns.“ Doch wie es bei allen Menschen ist, wandte er den Kopf und sah zu Juanito, der beleidigt bei einigen anderen jüngeren Mannschaftsmitgliedern stand und dessen Blick auf ihnen ruhte. Um Kim einen Gefallen zu tun, legte er seufzend seinen Arm um ihre Taille und führte sie durch die Horde betrunkener Männer zu Terry und Aodh, bei denen auch Jon stand. Als sie Arm in Arm bei ihnen ankamen, sahen die drei Männer sie verwundert an, bis dann Terry fragte: „Wie jetzt? Mit mir wolltest du dich damals nicht abgeben, aber jetzt gehst du mit dem Froschfresser?“ Laffite hob drohend eine Braue und Kim erläuterte: „Nein, wir sind doch nicht zusammen, das ist nur, weil…ich meinen Schatz so liebe.“ Sie drückte Laffite ein Küsschen auf die Backe und lächelte Juanito, der sich, während sie gesprochen hatte, zu ihnen gesellt hatte, affektiert zu. Jon, der anscheinend auch schon in den Genuss des Alkohols gekommen war, sah von Kim über Laffite zu Juanito und wieder zurück, dann fragte er verwirrt: „Seit wann seid ihr denn ein Paar?“ Kim trat ihm hart gegen sein Schienbein und sagte nachdrücklich: „Na schon ewig, hast du etwa schon so viel getrunken, dass du das vergessen hast?“ Langsam begriff Jon, was sie bezweckte und sagte: „Ach ja, tut mir Leid. Muss wohl daran liegen, dass Leo tot ist. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen, dass ihr beide hier noch Hand in Hand übers Deck spaziert seid und euch manchmal auch abends raus geschlichen habt.“ Na toll, jetzt hatte sie gedacht, sie könnte Leo wenigstens mal für diesen Abend vergessen und dann gab Jon einen so unsensiblen Kommentar ab. Sie atmete tief durch und schluckte die Tränen, die gerade wieder in ihre Augen schossen. Langsam sagte sie: „Ich glaube, ich werde mich hinlegen, schließlich habe ich letzte Nacht nicht viel geschlafen.“ Sie zwinkerte Laffite zu, wohl wissend, dass Juanito sie genau im Auge behielt und küsste ihn auf die Wange, dann ging sie unter Deck und in ihre Kabine, wo sie sich, vollkommen angezogen, auf ihr Bett fallen ließ. Starr gegen die Decke blickend, fragte sie sich, warum es ihr so wehgetan hatte, als Jon von ihrer Beziehung mit Leo gesprochen hatte. Hatte sie ihn denn noch immer geliebt? Die Antwort war ihr klar, aber irgendwie konnte sie es sich nicht eingestehen. Leo hatte die ganze Zeit über andere Frauen gehabt und sehr glücklich geschienen. Sie dagegen hatte gerade zwei schmähliche Beziehungen gehabt, die eine war nach zwei Wochen in die Brüche gegangen, die andere nach drei Monaten Sie strich sich die Haare aus der Stirn und fragte sich, wie Leo das geschafft hatte. Sie fragte sich, warum ihr erst jetzt klar wurde, dass sie Leo wirklich geliebt hatte. Antworten auf diese Fragen zu finden hatte sie aufgegeben. Die Augen geschlossen lag sie auf dem Bauch in ihrem Bett und schlief erst ein, als schon der Morgen graute. Schon als sie ihre Augen öffnete und hörte, dass es leise und gleichmäßig regnete, war ihre Laune im Keller. Sie schloss gerade wieder die Augen, da konnte sie vom Flur her Stimmen vernehmen, die sich heftig stritten und im nächsten Moment wurde ihre Türe unsanft aufgestoßen. Ohne irgendein Wort abzuwarten, knurrte sie: „Raus hier, aber schnell!“ Der eine, Kim erkannte Laffites Stimme sofort, entschuldigte sich prompt: „Excuse-nous. Je ne voulais pas te déranger, mais Juanito n’écoutait pas á moi.“ Kim jedoch ließ sich nicht freundlicher stimmen und knurrte: „Ce n’est pas important á moi. Je veux facilement ma tranquillité. Et c’est pourquoi, fiche-moi la paix!“ Eine andere Stimme jedoch, die sie nicht sofort zuordnen konnte, widersprach: „Ach, papperlapapp. Du musst jetzt aufstehen, schließlich müssen wir die Kanonen vertauen und das Deck auch sonst Wetterfest machen, also steh schon auf und spiel hier nicht den Morgenmuffel.“ Da dieser Befehl von Juanito kam, sie hatte seine Stimme jetzt erkannt, bewegte sie nicht mal den kleinen Finger und Laffite triumphierte, wenn auch nicht sonderlich glücklich darüber: „Ich hab’s dir doch gleich gesagt! Morgens darf man sie nicht wecken, oder stören, sonst ist sie für den restlichen Vormittag unausstehlich.“ Kim, die sich persönlich angegriffen fühlte, setzte sich auf die Bettkante und zischte: „Pass auf, was du sagst, Laffite, oder ich werde tatsächlich unliebsam.“ Noch bevor Laffite jedoch irgendetwas erwidern konnte, war Juanito an ihren Schreibtisch herangetreten, hatte einen Brief, der darauf gelegen haben musste aufgehoben und las vor: „An mein geliebtes Engelchen…“ Verwundert fragte er: „Unser Quartiermeister schreibt Briefe, die an sein ‚geliebtes Engelchen’ adressiert sind?“ Kim war bei dem Ausdruck Engelchen hellhörig geworden. Konnte es sein? War es denn möglich? Sie riss Juanito den Brief aus der Hand und die beiden Männer standen schneller vor der Tür, als sie gucken konnten. Mit klopfendem Herzen und zitternden Händen setzte sie sich aufs Bett, den Kuvert in ihren Händen anstarrend. Vorsichtig drehte sie ihn um und las, was dort mit viel Mühe geschrieben stand. Sie las es wieder und wieder. Und als sie den Umschlag öffnen wollte, zitterten ihre Hände so stark, dass sie sich zwang einmal tief durchzuatmen und sich zu beruhigen. Sie glaubte hören zu können, wie der Wind aufheulte, als er durch die Taue wehte und die Segel unruhig flackerten. Natürlich hatte sie Leos Schrift sofort erkannt. Anscheinend hatte er sich viel Mühe gegeben, konnte aber trotzdem nicht verbergen, dass er im Schreiben nicht geübt war. Sie erkannte es schon daran, dass er „geliebtes“ ohne „ie“ geschrieben hatte. Allmählich besann Kim sich darauf, den Brief zu öffnen und das tat sie, allerdings nicht wie sie sonstige Briefe aufmachte, indem sie sie einfach aufriss, sondern achtete penibel darauf, dass der Umschlag keinen Schaden davontrug. Als sie dann den Brief in der immer noch zitternden Hand hielt, traute sie sich fast nicht mehr, ihn zu lesen, aber ihre Neugierde war stärker. Es war, als würde alles was sie tat in Zeitlupe geschehen. So entfaltete sie den Zettel und begann zu lesen. „Mein gelibtes Engelchen. Ich weiß, ich sagte, dass das, was wir in der Vision tun keinerlei Auswirkungen auf die Realitet hätte. Ich habe dich angelogen, aber ich hatte einen guten grund. Des Weiteren habe ich auch gesagt, dass ich nur dieses eine mal mit dir sprechen könnte und so sehr ich es auch bedaure, habe ich in diesem Punkt die Warheit gesagt. Wenn du dich jetzt über den Brief wunderst, mus ich dir sagen, dass ich ja nicht mit dir spreche, aber leider Gottes ist das auch nur eine Einmalige Sache. Ich schreibe dir diesen Brief aus einem Grund. Ich möchte dir etwas sagen, was ich mich bei unserer letzten Begegnung nicht getraut habe und dafür entschuldige ich mich. Denn glaub mir, in diesem Moment würde ich alle Pein des Sterbens noch einmal auf mich nehmen, wenn ich dir jetzt persönlich gegenüberstehen könnte. Aber schweren Herzens musste ich erkennen, das ich diese Chance fertan habe und so möchte ich es dir jetzt auf diese Weise sage: Kim, mein Engel, ich liebe dich. Ich weiß, du fragst dich, warum ich das alles wohl so gut verkraftet habe und Eine nach der Anderen hatte, aber der Schein trügt. Die ganze Zeit versuchte ich das zu bekommen, was ich mit dir hatte, aber keines der Mädchen konnte es mir geben. Kein anderes Mädchen konnte mir die Geborgenheit, die Sicherheit, die Währme und die Liebe entgegenbringen, die du mich spüren liesest und mir war, als hätte ich verlernt gehabt zu lieben. Dabei habe ich die ganze Zeit über geliebt. Und zwar Dich. Ich frage mich, warum ich es erst jetzt, wo es zu spät ist, erkenne, denn wäre es mir schon damals klar gewesen, hätte ich dich nimals gehen lassen. Nun denn, schweren Hertsens muss ich hier aufhören zu schreiben. Fühl dich geküsst und gehertst, in ewiger liebe Dein Leo.“ Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Und schon fiel eine auf das Blatt, eine zweite folgte. Bei jedem seiner Rechtschreibfehler hatte sie schmunzeln müssen, so zum Beispiel als er „geherzt“ mit „tst“ und „in ewiger Liebe“ klein geschrieben hatte. Aber gerade in diesem Moment bildeten sich unter dem Abschiedsgruß, als würde Leo sie gerade erst schreiben, die Worte: „PS: Bitte weine nicht, schließlich liebe ich dich. Aber lass das keinen Grund sein, dein Leben lang schwarz zu tragen, tu was du willst, aber nicht mit Juanito. Ich will, dass du glücklich bist.“ Sprachlos starrte sie auf das Postskriptum, das vor einer Minute noch nicht dort gestanden hatte. Suchend schaute sie sich um, in der Erwartung, Leo doch irgendwo entdecken zu können, aber es war hoffnungslos. Er war tot. Als ihr die nächste Träne über die Wange kullerte und drohte, auf den Brief zu tropfen, rümpfte sie die Nase und wischte sich die Tränen aus den Augen. Für eine Weile saß sie still da und las den Brief mehrmals, bis die Tür aufsprang und ein Wutentbrannter Terry schnaufte: „Was muss ich mir da von Juanito und Laffite sagen lassen? Ich schicke sie, damit sie dich dazu bringen, deinen faulen Arsch an Deck zu bewegen um uns zu helfen und du setzt sie vor die Tür?“ Sie saß da. Schaute ihn an. Schloss die Augen und öffnete sie wieder. Ohne den Kopf zu drehen wandte sie den Blick von ihm, drehte dann aber doch das Gesicht von ihm weg. Sie war sich nicht sicher, wie sie sich verhalten sollte. Am liebsten hätte sie geweint, geschrieen, um sich geschlagen. Doch Leo hatte geschrieben, sie solle nicht weinen, also würde sie nicht weinen. So stand sie auf, faltete den Brief zusammen, steckte ihn zurück in das Kuvert und legte dieses auf ihren Schreibtisch. Dann ging sie auf Terry zu und als sie unmittelbar vor ihm stand, entschuldigte sie sich: „Es tut mir Leid, Terry, bitte verzeih mir, aber ich habe mich zu dem Zeitpunkt nicht in der Verfassung dazu gefühlt, an Deck zu arbeiten. Ich hoffe, du siehst es mir nach.“ Verwirrt schüttelte er den Kopf, als hätte sie in einer Fremdsprache gesprochen und fragte dann: „Sag mal, Kim, was laberst du da eigentlich die ganze Zeit? Red normal mit mir, das geschwollene Gerede versteht ein Pirat der ehemaligen Unterschicht nicht.“ „Ich sagte, dass es mir Leid tue und es mir nicht gut ging, als Juanito und Laffite da waren. Sei nicht böse auf mich.“ Ihr Gegenüber grinste: „Na also, geht doch. Und wie sollte ich böse auf dich sein. Dass du bei diesen Sachen nicht immer die erste an Deck bist, ist mir schon seit Jahren klar. Aber wieso ging es dir vorhin nicht gut? Hat das etwas mit dem Brief zu tun, den du vorhin hattest?“ Etwas härter als geplant antwortete sie: „Ich wüsste beim besten Willen nicht, was dich das anginge!“ Leicht beleidigt entgegnete Terry: „Ist ja gut, ich frage ja nur, Fräulein Unnahbar.“ Leise, aber doch so laut, dass Terry, der sich gerade umdrehte, es hören konnte, murmelte sie: „Im Gegensatz zu dir bin ich geradezu süchtig nach Zuneigung.“ Kim wusste genau, dass er gehört hatte, was sie ihm an den Kopf geworfen hatte, doch er ging wortlos aus der Tür und erwartete offensichtlich, dass sie ihm folgte, was sie auch tat. Doch bevor sie die Türe schloss schaute sie noch einmal zu ihrem Schreibtisch, auf dem der weiße Briefumschlag lag, dann schloss sie die Tür und ging Terry nach. Es nieselte nur leicht und auch Wind war kaum zu spüren. Lediglich eine schwüle Hitze entgegnete ihr, als sie auf Deck kam. An und für sich war schon alles getan und die meisten Männer saßen faul an Deck. Einzig und allein Laffite, Aodh, Silvestro und Chidi kümmerten sich noch um die Segel. Noch einmal tief durchatmend ging sie zu ihnen, begrüßte sie freundlich und packte mit an. Gerade waren sie fertig geworden, da konnte sie näher rückendes Donnergrollen hören. Zudem hatte es begonnen stark zu winden. Die Wellen wurden höher und klatschten bedrohlich gegen die Planken. Die Vengeance begann auf dem Meer zu schwanken, wie ein Spielzeugschiff. Jetzt konnte sie auch schon die ersten Blitze im Himmel zucken sehen und die Abstände von Blitz zu Donner wurden immer kleiner. In irgendeiner Weise erinnerte sie dieses Gewitter an jenes, als Leo gerade die beiden Finger an seiner linken Hand verloren hatte. An jenem schicksalhaften Tag hatten sie auch das französische Schiff mit einem Drittel der Mannschaft verloren. Kim hatte gerade wieder das Bild des brennenden Schiffes vor Augen, da rüttelte jemand an ihr und brüllte gegen den heulenden Wind: „Kim, jetzt komm endlich wieder zu dir und pass auf, sonst erwischt dich noch ne Kanone, die nicht richtig vertaut worden ist!“ Sie drehte sich um und fragte etwas konfus: „Tut mir Leid, ich habe dir nicht zugehört, was hast du gesagt, Jon?“ Dieser massierte sich die Schläfen und fragte: „Was ist heute eigentlich los mit dir? Kommst nicht, wenn du gerufen wirst, hilfst nicht mit beim absichern des Schiffes und stehst jetzt tagträumend in der Gegend rum. Kannst du mir mal verraten, was das soll?“ Sie wusste, an was es lag, doch wollte sie nicht mit Jon darüber sprechen, sie wollte mit niemandem darüber sprechen. Also zuckte sie die Achseln und wollte sich gerade wieder umdrehen, da packte er sie an der Schulter und sagte eindringlich: „Kim, du wirst jetzt mit mir reden, komm mit in meine…“ Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment kam Chidi angehetzt und erzählte etwas in seiner Muttersprache, da er anscheinend zu aufgebracht war, um die richtigen Worte in ihrer Sprache zu finden. Jon unterbrach ihn ruppig: „Ich verstehe kein Wort, sprich langsam und bitte in unserer Sprache.“ Dann wandte er sich an Kim: „Und du, Lilay, gehst in meine Kajüte und wartest dort auf mich, mit dir habe ich nämlich noch ein Hühnchen zu rupfen.“ Leicht beleidigt machte sich Kim auf den Weg zu Jons Kajüte, da sie wusste, dass er das nicht als ihr Freund, sondern als ihr Captain zu ihr gesagt hatte. Sie saß auf seinem Bett und starrte die gegenüberliegende Wand an, die dann und wann vom Licht eines Blitzes erhellt wurde. Es kam ihr vor, als wartete sie eine Ewigkeit. Langsam begann sie sich zu fragen, was sie Jon erzählen sollte, würde er es denn verstehen? Wahrscheinlich nicht. Sie verstand sich ja nicht einmal selbst. Das letzte Jahr über hatte sie Leo doch auch nur selten gesehen. Warum fehlte er ihr jetzt so sehr? Gerade fragte sich Kim, ob Leo wohl im Himmel war, oder aufgrund seines Daseins als Pirat in der Hölle schmoren musste, da wurde die Tür geöffnet und Jon trat ein. Erschrocken sprang sie auf und rief: „Oh Gott, Jon! Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?“ Seine linke Gesichthälfte war fast vollständig von Blut überströmt und sein Auge war leicht angeschwollen. Lachend winkte er ab: „Jaja, die Bäume sind auch nicht mehr so weich, wie sie mal waren.“ Kim ging auf ihn zu und nahm sein Gesicht genau unter die Lupe. Unter dem ganzen Blut war es recht schwer zu erkennen, wo die Wunde war, was noch erschwert wurde, da der Regen das Blut noch weiter verteilt hatte. Doch nach kurzer Zeit entdeckte sie eine kleine Platzwunde unterhalb seines linken Auges. Dann sagte sie schlicht: „Das muss verarztet werden.“ Jon wollte sie noch aufhalten, aber sie war schon aus der Tür gerauscht und in Richtung Vorratskammer. Sie holte etwas Alkohol, einen sauberen Lappen, einen Krug Wasser und suchte auch noch ein Pflaster, das sie nach einiger Zeit des Suchens auch fand. Damit bewaffnet ging sie wieder zurück in Jons Kabine. Als er sie sah, die Sachen auf ihm unerklärliche Weise in den Armen festhaltend, kam er ihr entgegen und nahm ihr etwas ab. Sie stellte die restlichen Sachen auf den Tisch und griff zu dem Lappen und zum Krug, dann herrschte sie Jon an: „Setz dich und lehn den Kopf zurück!“ Seufzend tat er, was Kim gesagt hatte und sie begann sein Gesicht zu waschen. Währenddessen sagte sie: „Wegen deinem Auge hätte ich dir gerne Fleisch gebracht, aber wir haben ja kein Frischfleisch an Bord.“ Und während sie den Lappen auswusch und etwas Alkohol darauf goss, erwiderte er grinsend: „Ich weiß nicht, was du hast, dieser Juanito scheint mir doch noch recht frisch zu sein.“ Ohne ein Wort zu erwidern drückte sie den Lappen unsanft auf seinen Wangenknochen, wo die Wunde war, was ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen entrückte. Und sofort entschuldigte er sich: „Tut mir Leid, das war nicht persönlich gemeint. Au!“ Lustlos tupfte sie auf seinem Wangenknochen herum und sprang nicht gerade liebevoll mit ihm um. Schließlich hielt er sie am Handgelenk fest und sagte drohend: „Ich glaube, die Wunde ist jetzt sauber genug.“ Sie verzog das Gesicht, weil er ziemlich fest zugepackt hatte und er ließ sie wie von der Tarantel gestochen los, dann sagte er: „Verzeih, ich wollte dir nicht wehtun.“ Ohne etwas zu erwidern griff sie zu dem Pflaster und klebte es so auf die Verletzung, dass diese möglichst schnell verwachsen konnte. Dies tat sie dann doch etwas gefühlvoller, als die Tortur mit dem Alkohol. Als sie fertig war, strich sie ihm noch einmal durch die nassen Haare und setzte sich ihm dann gegenüber. Sie zog ihre Knie eng an ihre Brust und legte das Kinn darauf, dann fragte sie: „Was willst du denn mit mir bereden?“ Aber noch bevor er antworten konnte, fragte sie mit einem Glitzern in den Augen weiter: „Glaubst du, in dem Hexenbuch gibt es einen Spruch, der Tote wieder zum Leben erwecken kann?“ Den Kopf schüttelnd seufzte Jon: „Also darum geht es, dachte ich’s mir doch.“ Verwirrt fragte Kim: „Was dachtest du dir?“ Jon stand auf und ging im Zimmer auf und ab, dann sagte er: „Dass es um Leo geht. Ach Kim, warum fällt es dir denn so schwer loszulassen? Du hast ihn doch schon über ein Jahr lang kaum gesehen.“ „Er hat mir geschrieben.“ Etwas verblüfft blieb Jon nun stehen und fragte: „Er hat dir Briefe geschrieben? Wie denn das? Soweit ich weiß, gibt es auf hoher See keine Briefkästen, geschweige denn Briefträger, die die Post zustellen könnten.“ Monoton entgegnete sie: „Nicht doch früher, heute Nacht.“ Noch verblüffter ließ er sich auf seinen Stuhl fallen und schüttelte den Kopf, als hätte er sich da gerade eben verhört. Daraufhin fragte er: „Was meinst du damit, er hätte dir heute Nacht geschrieben?“ Ein Blitz erhellte den Raum und gleichzeitig wurde die Kajüte vom lauten Grollen des dazugehörigen Donners erfüllt. Kurz darauf begann das Schiff noch gefährlicher zu schwanken, als es das ohnehin schon tat. Instinktiv stellte sie die Füße auf den Boden und griff an den Sitz des Stuhls, um nicht umzufallen. Auch Jon hielt sich mit einer Hand am Tisch fest und sagte, als das Schiff wieder verhältnismäßig ruhig schwankte: „Kim, wir müssen diese Unterhaltung auf einen anderen Zeitpunkt verschieben, aber jetzt müssen wir an Deck und unseren Kameraden helfen.“ Er stand auf und auch sie erhob sich seufzend. Sie hatte schon daran geglaubt, dem Gewitter auf diese Weise entgehen zu können, doch natürlich folgte sie Jon an Deck. Durch den vielen Regen war es aalglatt geworden und wie es kommen musste, rutschte sie gleich aus und fiel schmerzhaft auf ihren Po. Gerade wollte sie wieder aufstehen, da wurde ihr eine Hand angeboten. Eigentlich erwartete Kim, dass diese helfende Hand Jon gehörte, doch als sie lächelnd aufsah, musste sie sich zwingen, um das Lächeln auf ihrem Gesicht halten zu können, denn diese Hand war die Juanitos. Zögernd ergriff sie sie und ließ sich von ihm aufhelfen. Als sie wieder stand fragte er: „Was hast du denn eben beim Kapitän gemacht? Ich glaube, Laffite wird schon eifersüchtig.“ Er nickte zu Laffite, der bei Terry und Edward stand. Und tatsächlich sah er immer wieder missmutig zu ihr hinüber. An sich gab es nicht viel zu tun, da sie ja schon vorher alles Wetterfest gemacht hatten. Und langsam ließ das Gewitter nach. Schließlich tröpfelte es nur noch leicht und hörte endlich ganz auf. Zwar schien die Sonne noch immer nicht, doch würde höchstwahrscheinlich kein größerer Schauer mehr über sie kommen. Über das Gewitter war der Vormittag vergangen und jetzt saß sie, nass bis auf die Haut bei Chidi, Pio, Silvestro, Edward und Terry. Alle waren sie erschöpft und hätten schwören können, es wäre das schlimmste Gewitter gewesen, das sie jemals erlebt hätten, doch sagten sie das nach jedem Sturm. Die Schiffsjungen, einige noch jünger als Kim, mussten das Deck schrubben. Sie war gerade kurz davor, sich auch einen Schrubber zu nehmen und ihnen aus Solidarität zu helfen, da kam Laffite und setzte sich zu ihnen. Wäre er allein gekommen, hätte es sie nicht von ihrem Vorhaben abgebracht, doch hinter ihm kam Juanito mit zwei seiner Kumpanen, Benito und Gabriel, hergetrottet. Seufzend ließ sie von ihrem Vorhaben ab und winkte Laffite mit einem lächeln zu sich. Zur Begrüßung wollte er ihr, zu Juanito linsend einen flüchtigen Kuss auf die Backe drücken, doch als er sah, wie der die Augenbraue hob und sie scharf beobachtete, wurde aus diesem Wangenkuss doch ein zärtlicher auf die Lippen. Er setzte sich, sich immer noch gewahr, dass Juanito sie genau beobachtete, neben sie und legte seinen Arm um ihre Hüften. Kim sagte nichts und erwiderte auch keine seiner Gesten. Sie lehnte einfach nur erschöpft den Kopf an seine Schulter und schloss die Augen. Noch einmal ging ihr durch den Kopf, was Leo ihr geschrieben hatte, da schlief sie ein. Bis sie jemand sanft wachrüttelte. Verschlafen und auch etwas widerwillig öffnete sie die Augen, schloss sie jedoch gleich wieder, da ihr die Sonne stechend hinein schien. Sie legte die Hand an die Stirn und öffnete ihre Augen erneut. Langsam richtete sie sich auf und als sie vor sich Jon stehen sah, murmelte sie: „Jon? Was zur Hölle… Wieso weckt ihr mich?“ Jon gab ihr seine Hand um ihr aufzuhelfen und sagte währenddessen: „Ich wecke dich, weil wir unser Gespräch vorhin nicht beenden konnten und ich das jetzt gerne tun würde.“ Seufzend folgte sie ihm unter Deck, in seine Kajüte und setzte sich auf den Stuhl, auf dem sie auch schon diesen Morgen gesessen hatte. Allerdings musste sie ihn erst wieder aufrecht hinstellen, da er umgefallen war und auch nicht an dem Platz lag, an dem sie ihn verlassen hatte. Um genau zu sein, lag er am anderen Ende des Raumes. Auch Jon hob seinen Stuhl auf, setzte sich darauf und fragte: „Du wolltest mir gerade erzählen, wie ein Toter es geschafft hat, dir einen Brief zu schreiben.“ In seiner Stimme klang nicht wenig Spott mit, was Kim verletzte. Beleidigt verschränkte sie die Arme vor der Brust und entgegnete trotzig: „Woher soll ich denn wissen, wie er das gemacht hat, heute Morgen lag der Brief auf jeden Fall auf meinem Tisch.“ „Den hätte jeder schreiben und dort hinlegen können.“ „Erstens, wie viele Piraten hier an Bord können schreiben und zweitens ist es ganz genau seine Handschrift, inklusive seiner typischen Fehler.“ „Zu erstens muss ich dir Recht geben, es gibt nicht viele Männer an Bord, die schreiben können, aber diejenigen die es können, können auch Schriften Fälschen, womit wohl auch dein zweiter Punkt entkräftet sein müsste.“ „Aber es standen so persönliche Sachen darin. Davon wussten nur Leo und ich.“ „Und woher willst du wissen, dass nur Leo und du davon wissen?“ Aggressiv zischte sie: „Weil ich noch gar nicht wusste, dass andere Leute meiner Vision beigewohnt haben. Oh mein Gott, wie peinlich!“ Er rollte genervt mit den Augen und fragte dann: „Was stand denn in dem Brief, war es wichtig?“ Immer noch nicht richtig bereit zu kooperieren, entgegnete sie gähnend: „Kommt drauf an für wen.“ Erzürnt knallte Jon die Hand auf den Tisch und donnerte: „Jetzt komm schon, Kim, du weißt genau was ich meine! Du treibst mich noch in den Wahnsinn!“ Nicht minder erregt krallte sie die Finger in ihre Hose und brüllte: „Ist mir doch egal, ob du verrückt wirst, dann hätte ich wenigstens meine Ruhe! Und ich weiß nicht genau, was du meinst. Für mich war dieser Brief unbeschreiblich wichtig, aber ich glaube, für dich ist es nicht von großer Bedeutung, wenn Leo mir schreibt, wie sehr er mich liebt!“ Stille trat ein. Kim sah nicht ein, warum sie den ersten Schritt zu einem weiterhin freundlichen Gespräch machen sollte und anscheinend ging es Jon nicht anders. So saßen sie eine Weile da und starrten sich wutentbrannt an, da klopfte es an der Tür und auf Jons mürrisches „Herein“ wurde sie aufgetan. Ein trat Knoxville, der Steuermann an Bord. Als er Jons missgestimmten Blick und Kims verdrießliche Miene sah, nahm er als erstes den Hut vom Haupt und fragte dann vorsichtig: „Tag, Captain, Kim, störe ich?“ Doch Jon winkte ab: „Nein, was gibt es denn?“ „Nun ja“, begann Knoxville, den Hut vor die Brust haltend „Durch das Unwetter sind wir ziemlich vom Kurs abgekommen. Außerdem haben wir die Queen Anne und die Bane aus den Augen verloren. Sollen wir nach ihnen suchen oder versuchen auf unseren alten Kurs zurückzukommen?“ Jon kratzte sich am Kopf und antwortete dann: „Wir werden nicht nach ihnen suchen, irgendwie werden sie schon wieder zu uns stoßen. Und ansonsten würde ich sagen, dass wir weiterhin immer nach Osten segeln.“ Kim stieß abfällig die Luft aus und murmelte: „Die Queen Anne und damit Grasser würden wir eh nicht wieder finden und die Bane wird schon kommen.“ Jon, der hellhörig geworden war, fragte mit hochgezogener Braue: „Was brabbelst du da vor dich hin, von wegen, wir würden die Queen Anne nicht wieder finden und Dark Lou wird schon auftauchen?“ „Na Leo hat es mir gesagt. Und du solltest auf deine Mimik achten oder willst du, dass die Wunde wieder aufplatzt?“ Knoxville, die schlechten Schwingungen spürend, verabschiedete sich gezwungen lächelnd, setze seinen Hut nach einer Verbeugung wieder auf und machte sich so schnell es ging vom Acker. Kaum war er draußen und hatte die Tür hinter sich geschlossen, knurrte Jon: „Hat er es dir etwa in dem Brief geschrieben? Oder hat er es dir in der Vision gesagt? Aber was mich am meisten wundert, warum weiß ich noch nichts davon? Und außerdem kann es dir doch eigentlich ziemlich egal sein, was ich mit meinem Gesicht mache.“ „Er hat es mir in meiner Vision gesagt und bis jetzt habe ich auch nicht verstanden, was er damit meinte, als er sagte, dass er nicht sicher sei, ob Joel Grasser unser Vorhaben bis zum Schluss miterleben würde. Zudem empfand ich es als trivial. Aber du hast in einem Punkt Recht, was du mit deinem Gesicht machst könnte mir eigentlich ziemlich egal sein.“ Kim betonte das ‚könnte’ besonders und fuhr fort „Nur ist es das nicht.“ „Und warum nicht, wenn man fragen darf?“, fragte er, anscheinend immer noch erbost, doch schwang nichtsdestotrotz eine gewisse Verwunderung in seiner Stimme mit, die er auch durch seine Mimik nicht verbergen konnte. Nun milde lächelnd entgegnete Kim: „Weil ich mir um so einen Kindskopf wie dich Sorgen mache.“ Brummend wiederholte er den Kindskopf, bemerkte aber dann: „Seit du damals bei uns an Bord gekommen bist, hast du dich ganz schön verändert. Früher warst du ja recht weinerlich, um nicht zu sagen eine Heulsuse, ich muss sagen, im Moment bist du ziemlich hart im Nehmen. Das Leben auf See hat dich wohl abgehärtet.“ Empört rief sie aus: „Ich war doch keine Heulsuse!“ Jon allerdings grinste: „Wie komme ich nur darauf? Vielleicht, weil du die ersten drei Tage an Bord nahezu durchgeweint hast und auch in den folgenden Tagen nicht an Tränen gespart hast?“ Beleidigt schob sie die Unterlippe vor und schmollte: „Na und? Ihr habt mich auch brutal aus meiner Heimat verschleppt; außerdem war ich zu der Zeit noch ein Kind.“ „Das sahst du zu der Zeit, wie du es so schön ausgedrückt hast, aber ganz anders, nein, du warst mit stolzen 14 Jahren kein Kind mehr, sondern eine Jugendliche, wie du uns allen eingebläut hast.“, lachte Jon. Kim allerdings erwiderte nichts, sondern verschränkte die Arme vor der Brust und sah hochmütig auf ihn herab. Er hingegen konnte schon gar nicht mehr aufhören zu lachen, sondern prustete: „Und anscheinend hat sich daran auch nicht viel verändert, sieh die Welt nicht immer so ernst, sondern auch mal mit Humor.“ Humor! Wie sollte sie jetzt ans Lachen denken, jetzt, wo sie gerade schmerzlich hatte feststellen müssen, dass sie Leo noch immer liebte, das aber nichts brachte, da er tot war. Tot! Ihr Blick wandte sich gen Boden und die Haare fielen in ihr Gesicht. Jon hörte prompt auf zu lachen und fragte etwas verwirrt: „Was ist denn los? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Affektiert lächelnd sah sie auf, strich sich mit zitternder Hand die Haare hinter die Ohren und sagte: „Nein, nein, es ist nichts, rein gar nichts.“ Skeptisch fragte Jon weiter: „Und weil gar nichts ist, musst du mich jetzt auch so aufgesetzt angrinsen? Warum sagst du mir denn nicht einfach, was los ist?“ So leise, dass nur sie selbst sich hören konnte, murmelte sie: „Weil ich es selbst nicht weiß.“ Jon, der gehört hatte, dass sie etwas gesagt hatte, aber nicht verstanden hatte was, fragte: „Wie bitte?“ Kim richtete ihren Kopf auf und sah ihm direkt in die Augen, dann wiederholte sie langsam: „Weil ich es selbst nicht weiß. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Warum fällt mir erst jetzt, da es zu spät ist, auf, dass ich Leo die ganze Zeit über geliebt habe? Und warum vermisse ich ihn auf einmal so schrecklich? Das letzte Jahr habe ich ihn ja wirklich kaum gesehen und bin prima damit zurecht gekommen, aber jetzt ist jeder Schlag den mein Herz tut gleichzeitig ein Schlag in meine Seele, da ich jeden meiner Herzschläge von nun an ohne Leo erleben muss und irgendwie schlägt sein Herz in meinem Herz mit, ich fühle es, denn auf der einen Seite ist es befreiend zu wissen, dass er doch bei mir ist, in seinen Erinnerungen und allem, aber auf der anderen Seite belastet mich das Herz, es erinnert mich ständig daran, dass er nicht mehr da ist, kein Wort mehr mit mir spricht, mich nie wieder in seine Arme schließt. Es schmerzt so sehr, dass ich mir das Herz am liebsten herausreißen würde, aber die Erinnerungen an Leo darin halten mich davon ab, denn solange sich jemand an ihn erinnert lebt er weiter und niemand hat ihn so in Erinnerung wie ich, niemand wusste mehr von ihm, seinen Gefühlen. Vielleicht wusste ich nichts von seiner Herkunft, aber dennoch wusste ich stets wie er sich fühlte und mir hat er seine Liebe gestanden, niemandem sonst, nur mir. Er sagte mir, ich wäre das einzige Mädchen in seinem Leben gewesen, das es mit Liebe erfüllen konnte und ich hätte es gerne noch so viele Jahre mit Liebe angefüllt, aber nun geht das nicht mehr, er lebt nur noch in meinen Erinnerungen. Und ich frage mich, wofür ich lebe, wenn ich sein Leben nicht mit Liebe anfüllen kann, was ist dann der Zweck meines Daseins?“ Jon hatte ihr aufmerksam zugehört und hielt jetzt ihrem Blick, der nach Hilfe schrie, stand, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Was war nur los mit ihm? Vorhin hatte er sie doch noch förmlich dazu gedrängt, mit ihren Problemen zu ihm zu kommen und jetzt rührte er nicht einmal den kleinen Finger, sondern saß da auf seinem Stuhl, ihr gegenüber und schaute sie an, ohne dass sie irgendetwas aus seiner Mimik lesen konnte. Enttäuscht und traurig senkte sie den Blick, doch da erklang Jons Stimme: „Wende deinen Blick nicht ab. Sieh mir in die Augen und dann versprich mir, dass du nie wieder, wirklich niemals wieder an deiner Existenz zweifelst.“ Er hatte ganz leise gesprochen, doch kam es ihr vor, als hätte er sie angebrüllt und sie sah erschrocken auf. Seine Mimik hatte sich noch immer nicht verändert, doch hatte sie in seiner Stimme Zorn mitschwingen hören können. Sie verstand nicht ganz, was er von ihr wollte, da wiederholte er: „Hast du mich nicht verstanden? Ich möchte, dass du mir versprichst, nie mehr an deiner Existenz zu zweifeln.“ „Aber warum denn? Es ist doch so, was soll ich denn noch auf dieser Welt? In dieser Welt, in der Leo nicht mehr existiert, warum sollte ich dann existieren?“ „Hör auf!“ Jetzt hatte er wirklich gebrüllt und sie zuckte zusammen. Er stand auf und sagte, mühend, seine Stimme unter Kontrolle zu halten: „Ich will nicht, dass du so etwas sagst, ja nicht einmal denken darfst du das! Was sollten wir denn ohne dich machen? Wer würde denn noch Stimmung auf Deck bringen? Wem könnten die Männer nachschauen und hinterher pfeifen? Wen sollte ich sonst um Rat fragen? Ohne dich wären wir hier an Bord aufgeschmissen. Und jetzt reiß dich endlich zusammen. Da dachte ich doch tatsächlich, du seist härter im Nehmen als noch vor drei Jahren weil du nicht mehr ständig anfängst zu heulen und jetzt kommst du mir mit Selbstmordgedanken! Und solltest du dich wirklich umbringen, dann würde ich dich vor der Pforte des Himmels persönlich abfangen und dir mit einem Tritt in die Hölle verhelfen. Du wirst es überstehen, bisher hast du noch alles überstanden und was dich nicht umbringt, macht dich stark. Die Kaperungen haben aus dir ja auch eine einzigartige Kämpferin gemacht, die ich, aus geschäftlichen und persönlichen Gründen auf keinen Fall missen möchte.“ „Erstens kommen Selbstmörder nicht in den Himmel, zweitens würde ich nach meinem Dasein als Pirat sowieso nicht in den Himmel kommen und drittens kann ich vielleicht nicht stärker werden und diese Sache bringt mich um.“ „Oh nein! Und wenn ich dich nackt in einen leeren Raum sperren muss, damit du dich nicht umbringst. Wobei ich dir die Blicke der Männer durchs Schlüsselloch gerne ersparen würde, da das dann doch eine herbe Erniedrigung wäre. Glaube mir, ich kann verstehen, wie du dich fühlst, ich kenne den Schmerz den du durchleiden musst.“ Sie lachte verzweifelt auf, sah zur Seite, während sich ihre Augen mit Tränen füllten, und dann zur Decke. Um die Tränen zu schlucken schloss sie ihre Augen und blinzelte ein wenig. Dann lächelte sie gequält: „Ja, Jon, du bist der Einzige, der mich versteht. Der Einzige, der mich verstehen kann. Wie hast du das damals mit Alice überlebt? Diesen Schmerz, diese Hoffnungslosigkeit, diese Leere? Ich halte es nicht aus, mein Herz quillt über vor Schmerz, die Hoffnungslosigkeit frisst meine Seele und ich verirre mich in der Leere. Wie hast du es nur geschafft nicht aufzugeben?“ Er ging vor ihr in die Hocke, streichelte ihr liebevoll über den Arm und lächelte: „Ich habe nicht aufgegeben, weil du mich nicht aufgegeben hast. Der Crew wäre es egal gewesen, aber nicht dir, du hast mir damals die Kraft gegeben, weiterzumachen. Außerdem leben wir nur einmal und sollten dieses Leben als Geschenk ansehen, warum sollten ich oder du es wegwerfen? Das hätte Leo sicher nicht gewollt, oder hat er dir geschrieben, ‚Liebe Kim, ich liebe dich, bring dich deswegen schnellstmöglich um, ich danke dir für dein Verständnis, Leo.’? Diese Frage könnte ich dir auch beantworten, ohne den Brief gelesen zu haben.“ Sie stand langsam auf und auch Jon richtete sich auf. Dann fragte er: „Und? Willst du dich jetzt immer noch umbringen?“ „Gibst du mich denn auf?“ Er schüttelte lächelnd den Kopf und sie fuhr fort: „Dann gibst du mir die Kraft die Zeit durchzustehen.“ Sie umarmte ihn noch einmal dankbar und ging dann aus der Kabine, wovor Laffite, unschuldig pfeifend und seine Fingernägel betrachtend stand. Etwas verwundert fragte sie: „Was machst du denn hier? Hast du gelauscht?“ Erschüttert sah er auf und empörte sich: „Moi? Non, ne jamais. Euh, je passais seulement ici. Et toi? Qu’est-ce que tu faisait chez Jon?“ Etwas ruppig, da sie genau wusste, dass er gelauscht hatte, antwortete sie im Vorbeigehen: „Warum gibst du nicht einfach zu, dass du gelauscht hast? Und lass mich ein für allemal mit diesem blöden Französisch in Ruhe!“ Er lief ihr nach, wie ein aufgescheuchtes Huhn und rief: „Mon Dieu, Kim, s’il te plaît, bitte! Es tut mir Leid, das hätte ich nicht tun sollen, sei doch nicht böse.“ Kim allerdings blieb abrupt stehen, wirbelte herum und brüllte: „Verdammt noch mal, Laffite! Was denkst du dir eigentlich? Das war mehr als privat, das ging dich nichts an!“ Sie standen unmittelbar vor ihrer Kajüte, deren Tür sich öffnete und aus der Juanito den Kopf herausstreckte um zu sehen, was los war. Als er sie sah, öffnete er die Tür ganz. Als Kim jedoch sah, was er da gerade in seinen Händen hielt, stockte ihr der Atem. Hysterisch riss sie ihm Leos Brief aus der Hand und schrie: „Weiß denn an Bord dieses verdammten Schiffes niemand, was Privatsphäre ist? Das geht euch nichts an! Das waren meine Gefühle, Laffite und das war mein Brief, Juanito. Woher nehmt ihr euch das Recht an meinem Leben teilhaben zu wollen?“ Vor Wut und Erschöpfung rannen ihr jetzt doch Tränen die Wangen herunter und sie suchte vergeblich nach Worten, um ihrem Zorn Luft zu machen. Von dem Geschrei animiert kam Jon angelaufen und fragte aufgebracht: „Was ist denn hier los?“ Kim konnte nicht antworten, sie stand nur da und versuchte, sich zu beruhigen, aber ihre Antwort übernahm stattdessen Juanito: „Ich glaube, jetzt dreht sie durch.“ Sie sog scharf die Luft ein und sah finster auf Juanito, hasserfüllt zischte sie: „Ich bring dich um.“ Dann schrie sie schrill: „Ich bring dich um!“ Sie wollte auf ihn losgehen, doch Jon und Laffite schafften es gerade noch, sie zurückzuhalten. Dann fragte Jon noch einmal: „Was ist denn los?“ Und Kim schnaufte, den Versuch, sich Jons und Laffites Griff zu entwenden, noch immer nicht aufgebend: „Dieser verdammte Bastard hat in meinen Sachen rumgeschnüffelt und Leos Brief gelesen, obwohl der eindeutig an mich war und ich glaube fast, er wollte ihn mitgehen lassen.“ Laffite sah etwas erstaunt zu Kim, da er die Sache ganz anders im Gedächtnis hatte, doch als er das wilde Glitzern in ihren Augen sah, hielt er doch lieber den Mund. Jon sah verwundert auf den Neuling, der erschrocken rief: „Ich wollte den Brief nicht mitgehen lassen, bitte Captain, glaubt mir, Sir! Ich habe zwar den Brief gelesen, doch für mich hätte er keinerlei Bedeutung, da ich den Verfasser des Briefes ja noch nicht einmal kannte, ich bin mit dem Brief lediglich vor die Tür gekommen, weil ich sehen wollte, wer hier so rumbrüllt und Monsieur Laffite kann das sicherlich bezeugen.“ Diese höfliche Anrede hatte Laffite beeindruckt, noch nie zuvor war er von einem Piraten Monsieur Laffite genannt worden, doch als er spürte, wie Kims kalter Blick an ihm haftete, sagte er hastig: „Für mich sah es auch so aus, als wollte er den Brief stehlen.“ Juanitos Augen weiteten sich und er starrte verzweifelt von Kim, die seinem Blick trotzig standhielt, über Laffite, der demütig wegsah, zu Jon, der Laffite und Kim wohl auch nicht so recht glauben konnte. schließlich sagte letzterer: „Kim, ich glaube, du solltest dir das ganze noch mal überlegen, schließlich hätte es rechte Konsequenzen, wenn stimmte was du sagst und ich kann dir ehrlich gesagt nicht glauben, zumindest wenn ich sehe, wie du vor Wut schnaufst, weil er Leos Brief gelesen hat. Natürlich wird eine gewisse Strafe nötig sein, weil er an deine Privatsachen gegangen ist, aber wir können ihn deswegen nicht aussetzen, nur weil du ihn nicht leiden kannst oder dich gekränkt fühlst. Und du, mein lieber Laffite, bekommst auch noch eine Strafe, schließlich hast du Juanito beschuldigt, obwohl er nichts getan hat. Und nun entschuldigt mich.“ Er ließ Kim los und ging den Gang entlang. Diese schaute ihm entrüstet nach und rief noch einmal: „Jon, das kannst du nicht machen!“ Auch Laffite ging mit hängenden Schultern von dannen. Einzig Juanito stand noch da. Beleidigt fragte sie: „Und was willst du jetzt noch hier?“ „Ich möchte mich entschuldigen. Anscheinend liegt dir sehr viel an diesem Brief. Wer hat ihn denn geschrieben, darinnen steht, dass er jetzt tot ist?“ „Du hast doch keine Ahnung. Du rennst mit deinem Traumkörper und deinem ach so tollen Lächeln durch die Welt und könntest jede haben. Aber ich hatte nur diesen Einen, der mich geliebt hat.“ „Nun, ganz stimmt das aber auch nicht, denn dich könnte ich nicht haben. Aber sei doch mal ehrlich, du bist nicht wirklich mit Laffite zusammen. Er würde dir doch nicht reichen, denn so wie dieser Leo geschrieben hat, war er ja geradezu trunken vor Liebe, da kann Henry nicht mithalten.“ Kim schob sich an ihm vorbei in ihre Kajüte und sagte monoton: „Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“ Gerade wollte sie die Tür hinter sich schließen, da hielt er den Fuß zwischen Angel und Tür und sagte: „Stimmt, es geht mich eigentlich nichts an, aber ich wüsste trotzdem gerne mehr über diesen Leo.“ „Und ich möchte nicht darüber reden.“ Sie schlug die Tür möglichst hart gegen seinen Fuß, doch er ließ sich nicht davon beeindrucken und schob sich in ihre Koje. Dann fragte er: „Und warum möchtest du nicht darüber reden? Hast du seinen Tod etwa nicht überwunden?“ Verärgert ließ sie sich auf ihr Bett fallen und knurrte: „Du sagst das, als würde täglich ein Mensch sterben, der dir näher stand als jeder andere, der dich besser kannte als alle anderen und der dich mehr liebte als alle anderen. Wenn du das jetzt nicht verstanden hast, dann bist du wirklich dumm, aber da ich ja weiß, dass das der Fall ist, sage ich es noch einmal im Klartext: Nein, ich habe noch nicht überwunden, dass Leo tot ist und das werde ich auch nie.“ „War er denn so perfekt? Hatte er nur gute Seiten?“ „Was denkst du denn? Natürlich hatte er seine schlechten Seiten. Er war jähzornig und schlug schnell zu. Manchmal war er auch ein bisschen besitzergreifend, aber auf der anderen Seite war er so zärtlich, liebevoll und er stand immer zu seinen Gefühlen. Zwar hat er auch hin und wieder ganz gerne anderen Frauen hinterher geguckt, doch es war ihm nie ernst. Er war immer treu. Immer.“ Sie atmete tief durch, um sich zu sammeln und die Nerven zu bewahren, dann fragte Juanito weiter: „Und warum weinst du dann nicht? Jede normale Frau würde in einer solchen Situation weinen. Wenn du ihn wirklich so sehr geliebt hast, warum berührt es dich dann so wenig?“ „Ich dachte, du hättest den Brief gelesen, ich weine nicht, gerade weil ich ihn liebe oder liebte, schließlich hat er mich darum gebeten.“ Verwundert sagte er: „Aber in dem Brief wird in keinem Satz erwähnt, dass du nicht weinen sollst.“ „Doch natürlich, im Postskriptum, gleich hier…“ Sie stockte. Das Postskriptum existierte nicht. Zumindest stand nichts unter dem Brief. Entrüstet stellte sie fest: „Da ist tatsächlich kein Anhang.“ „Sag ich doch“, grinste Juanito selbstherrlich. Kim allerdings murmelte: „Aber heute Morgen, da war doch noch… wieso ist es jetzt nicht mehr da?“ Perplex starrte sie auf den Brief in ihrer Hand und fragte sich, ob sie nun wirklich überschnappte. Hatte sie sich das heute Morgen nur eingebildet? Nein, unmöglich! Es hatte da, blau auf weiß, gestanden, da war sie sich sicher. Aber warum stand es dann jetzt nicht mehr da? Juanito riss sie allerdings mit seinen nächsten Fragen aus ihren Gedanken. „Und wann hat er dir das geschrieben? Wusste er dass er sterben wird, denn er sagt ja, er sei jetzt tot und Tote können ja bekanntlich nicht schreiben. Und wann ist er gestorben und wie?“ Müde entgegnete sie: „Warum willst du das denn überhaupt wissen? Du kanntest ihn doch gar nicht, Juanito, wieso interessierst du dich dann so für ihn?“ Juanito ließ sich auf dem Stuhl, der in ihrem Zimmer stand, nieder und antwortete achselzuckend: „Warum nicht? Ist doch interessant. Also erzähl mal. Wie habt ihr euch denn kennen gelernt?“ „Ich will dir das aber nicht erzählen, das geht dich nichts an!“ „Ach komm schon, warum denn auf einmal so schüchtern?“ „Weil dich das nichts angeht! Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!“ Er drehte sich eine Zigarette, steckte sie sich an und pustete ihr den Rauch ins Gesicht. Dann flüsterte er: „Du musst mir nichts erzählen, du kannst es mir auch demonstrieren, glaub mir, auch wenn ich diesen Leo nicht kannte, besser als Laffite bin ich allemal.“ Kim seufzte genervt und wandte den Kopf zur Seite. Dann hielt Juanito ihr den Tabak unter die Nase und fragte: „Auch eine?“ Starr sah sie ihm in die dunklen Augen und sagte, affektiert lächelnd: „Danke, ich rauche nicht.“ Mit den Schultern zuckend steckte er den Tabak wieder weg und Kim fragte: „Und woher willst du wissen, dass du besser bist, als Laffite? Hast du es denn schon einmal mit ihm ausprobiert?“ Angewidert verzog er das Gesicht und widerlegte: „Gott bewahre, das habe ich nun wirklich nicht nötig. Aber du kannst ja entscheiden, ob der Franzose oder ich, der Spanier, besser bin.“ Das affektierte Lächeln noch immer nicht ganz aufgebend entgegnete sie: „Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich bin weder eine Hure, noch ein Flittchen oder dergleichen.“ „Du drehst mir die Wörter im Munde, ich sprach doch nicht von unkeuschen, verworfenen, wollüstigen, körperlichen Diensten. Ich sprach von einem Kuss, lediglich einer flüchtigen Berührung unserer Lippen und wenn es beliebt, und wirklich nur dann, kann es auch mehr werden.“ Er öffnete ihr Bullauge und warf die Zigarettenkippe daraus. Kim hatte das Lächeln nun doch aufgegeben und sagte, sich die Haare aus dem Gesicht streichend: „Ich glaube, du solltest gehen, schließlich ist gleich neun und wir wollen unseren guten Kapitän doch nicht verärgern, oder?“ Sie stand auf und ging zur Tür, die sie ihm aufhielt. Grinsend schloss er das Bullauge wieder und ging auf sie zu. Als er sich an ihr vorbei geschoben hatte, drehte er sich noch einmal um und in einem flüchtigen Augenblick streiften sich ihre Lippen. Kim überlegte nicht lange, sondern holte aus und ohrfeigte ihn kräftig. Dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Dieser Bastard, im wahrsten Sinne des Wortes. Wie hatte er es sich nur herausnehmen können, sie zu küssen? Langsam aber sicher begann sie diesen aufgeblasenen, eingebildeten, Möchtegern-Gigolo zu hassen. Aber je mehr sie versuchte, sich von ihm fern zu halten, desto näher kam er ihr. Ob Juanito das wohl als eine Art Fangspiel betrachtete? Er war der Jäger, sie das Häschen, das ein ums andere Mal einen Haken schlug, wenn er versuchte, es zu erlegen, was ihn allerdings nur noch mehr reizte? Sie wurde einfach nicht aus Juanito schlau. War er nun freundlich oder einfach nur gerissen? War er wirklich in sie verliebt oder wollte er sie nur einmal haben und dann fallen lassen? Mit dröhnendem Schädel legte sie sich in ihr Bett und versuchte zu schlafen, was ihr allerdings nicht so recht gelingen wollte. Also stand sie auf, zog sich etwas über und schlich an Deck. Erst stand sie an der Reling, dann beschloss sie ins Krähennest zu klettern. Als sie auf halbem Weg oben war, fiel ihr ein, wie Leo und sie damals dort oben gesessen hatten und sich geküsst hatten. In jener Nacht war Eleonora dazugekommen. Schmunzelnd erinnerte sie sich daran, wie sehr die Kleine Leo genervt hatte. Sie sah erst einmal über den Rand und flüsterte dann: „Einen guten Abend, Jon. Was machst du denn noch so spät hier?“ Erstaunt sah er auf und entgegnete: „Dir auch einen recht schönen Abend, aber ich könnte dich das gleiche fragen. Zumindest kann ich es mir leisten, schließlich bin ich der Captain des Schiffes.“ „Aber als Captain hat man eine gewisse Vorbildfunktion und man sollte sich an die Regeln die man aufstellt auch selbst halten. Und jetzt rutsch mal.“ Sie war über das Geländer gestiegen und ließ sich, als er ihr Platz gemacht hatte, neben ihm nieder. Dann fuhr sie fort: „Ich für meinen Teil konnte nicht schlafen und habe gedacht, ein bisschen frische Luft schnappen würde mich schon müde machen. Und jetzt sag schon, was du hier machst.“ „Soso, du konntest also nicht schlafen? Na gut, dann mach ich eben mal eine Ausnahme. Ich habe heute Nacht die Wache übernommen.“ Erst jetzt bemerkte sie, dass seine Finger die ganze Zeit mit einem Medaillon spielten. Wie gebannt sah sie darauf. Ob er es wohl bewusst tat? Plötzlich hielt er es in seiner Handfläche umklammert fest und fragte: „Ist was?“ Erschrocken sah sie auf und fragte: „Was ist das für ein Medaillon?“ Verwundert erwiderte er ihren Blick, hob die Hand, in der er es hielt und ließ es fallen. Sie glaubte, es müsste auf den Boden fallen, doch es blieb in der Luft stehen, als würde es schweben. Erst war sie etwas perplex, dann aber erkannte sie, dass es an einer Kette baumelte, die um seine Finger gewickelt war. Leise fragte er: „Das hier?“ Sie nickte stumm und er lächelte: „Erkennst du es denn nicht? Du hast doch das gleiche, Kim.“ Das stimmte! Wie konnte sie es nur vergessen? Schließlich war doch darauf Jons Jolly Roger und den hatte sie ja oft genug gesehen. Warum war es ihr nur entfallen? Wahrscheinlich war sie einfach nur zu müde. Eine Zeit lang saßen sie stumm nebeneinander, dann wandte sich Kim wieder an Jon: „Warum sind denn auf deiner Flagge drei Schwerter? Ich meine, normalerweise hat man doch höchstens zwei Schwerter.“ Er schmunzelte und sagte: „Dass dir das jetzt erst auffällt? Also, es ist so, als ich mich entschloss Pirat zu werden, tat ich das mit meinen Brüdern. Der Eine wurde gleich zu Anfang von einer Welle bei einem Sturm von Bord gespült, der Andere starb in einem Gefecht. Ich habe diese drei Schwerter genommen, um ihnen zu gedenken.“ Erstaunt fragte Kim: „Du hattest Brüder?“ „Warum denn so erstaunt? Du hast doch auch Geschwister. Aber ich kann dich beruhigen, das waren meine Freunde, seit wir allerdings die Blutsbruderschaft gemacht hatten, sahen wir uns auch als echte Brüder.“ Wieder schwiegen sie, dann fragte Jon: „Warum bist du heute Abend denn so schweigsam?“ Seufzend erwiderte sie: „Ich musste nur gerade daran denken, dass Leo und ich früher manchmal hier saßen und uns die Sterne angeschaut haben, mehr oder weniger.“ Er hob skeptisch eine Braue und fragte: „Mehr oder weniger? Was habt ihr denn hier oben getrieben?“ Lachend winkte sie ab: „Nicht doch was du denkst! Wir haben uns nur geküsst, nichts weiter.“ Resignierend schüttelte er den Kopf und seufzte: „Soso, nichts weiter?“ Kim hob die Hände in die Luft und sagte: „Ich schwöre!“ Einen Moment lang sahen sie sich ernst in die Augen, dann begannen sie schallend zu lachen. Jon allerdings hielt Kim den Mund zu und sagte, nach Luft schnappend: „Psst! Sei doch leise, sonst hört uns noch jemand und ich will nicht als inkompetenter Captain gelten, der sich nicht mal an seine eigenen Regeln hält.“ Am nächsten Morgen rüttelte Jon sie wach und flüsterte: „Kim, wach auf! Wir sind eingeschlafen, die ersten Männer sind schon an Deck.“ Mit einem Mal war Kim hellwach. Waren sie etwa immer noch im Krähennest? Sie fragte sich gerade, wie sie sich am Besten aus der Affäre ziehen konnten, da sah sie, dass Jon drauf und dran war, über das Geländer zu steigen. Kim hielt ihn jedoch am Hosenbein fest und fragte vorwurfsvoll: „Spinnst du? Die werden sonst was von uns denken!“ Jon lächelte nur und erwiderte: „Vertrau mir, spiel einfach mit.“ Zwar verstand sie seine Absichten nicht ganz, aber dass sie ihm vertrauen konnte, wusste sie und kletterte ihm nach, bis sie an Deck standen. Wie Kim es erwartet hatte, fragte gleich der Erste: „Wo kommt ihr denn her? Ward ihr etwa die ganze Nacht dort oben?“ Allgemeines Gejohle machte sich breit, Jon jedoch blieb ruhig und antwortete: „Wie kommst du darauf, wir seien die ganze Nacht in diesem engen Ding gesessen?“ Etwas eingeschüchterter entgegnete dieser: „Nun ja, es ist früher Morgen und ihr kommt aus dem Ausguck.“ „Red doch keinen Unsinn, Ben, was hätten wir denn die ganze Nacht tun sollen?“ „Es ist ja ziemlich nahe liegend, dass ihr…“ Kim, die ahnte was er meinte, unterbrach ihn barsch: „Mit meinem Kapitän? Wo kämen wir denn da hin? Ich hatte nur gedacht, ich hätte eine Insel gesehen, Jon hat mir dann allerdings gezeigt, dass das nur eine Wolke war die sich im Wasser spiegelte.“ Kim hoffte, er sei stumpfsinnig genug, um nicht weiter nachzuhaken und so war es auch. Mit dieser mehr als fadenscheinigen Ausrede schien er sich zufrieden zu geben und ging wieder. Auch Kim und Jon gingen unter Deck. In ihrer Kajüte legte sie sich gleich in ihr Bett und schlief wieder ein, da sie höchsten drei Stunden geschlafen hatte. Als sie das Deck wieder betrat, strahlte die Sonne und kein Wölkchen war am Himmel zu erkennen. Ächzend drängten sich die Männer im Schatten. Es wehte kein Lüftchen, was die Hitze noch unerträglicher machte. Schon bald spürte auch sie, wie die sengende Sonne ihr Haupt verbrannte und ging zu Laffite, Terry und Edward in den Schatten. Laffite wollte sie mit einem Kuss auf die Wange begrüßen, doch sie wich zurück und sah ihn verwirrt an. Etwas beleidigt fragte dieser: „Was denn? Hast du schlecht geschlafen? Lange genug ja allemal.“ Sie seufzte: „Ach, Laffite. Juanito ist doch nicht dumm.“ Laffite stand auf und zog sie in eine abgelegene Ecke, dort flüsterte er: „Na und? Ist doch egal! Mich für meinen Teil interessiert das eh nicht.“ Was war denn jetzt los? Hatte er sie etwa falsch verstanden? Leicht verlegen entgegnete sie: „Ach Laffite, ich mag dich ja schon, aber…“ Was sollte sie ihm nur sagen? Sie wollte ihn ja nicht verletzen. Noch leiser fuhr sie fort: „Es tut mir Leid, aber, du musst verstehen, das mit Leo…“ „Leo? Was hat der denn damit zu tun? Gut, ihr ward mal zusammen aber das ist doch schon lange her, außerdem ist er jetzt eh tot. Was hält dich also auf?“ Kim schwieg. Sie musste an den Brief denken, den er ihr geschrieben hatte, wandte sich von Laffite ab und sagte: „Ich kann eben nicht so leicht loslassen.“ Mit diesen Worten setzte sie sich wieder zu Terry und Edward. Laffite kam nicht mehr dazu. Erst stand er nur da und sah ihr verständnislos nach, dann ging er zu einer anderen Gruppe, in der auch Ben war. Dafür gesellten sich Pio und Silvestro zu ihnen. Ersterer grinste: „Na, Kim? Ich habe gehört, du seist die ganze Nacht mit dem Captain zusammen gewesen, im Krähennest?“ Mit einem Schlafzimmerblick im Gesicht beugte sie sich zu ihm vor, strich ihm durch die Haare, legte ihre Wange an seine und flüsterte: „Pio, du bist doch intelligent, schlau, gebildet, also…“ Ihre Hand fuhr zu seinem Ohr und sie zog kräftig daran, was ihn aufschreien ließ, Teils aus Schmerz, Teils, weil er überrascht war. Kim allerdings achtete nicht darauf, sondern sagte sauer: „Glaub nicht alles was du hörst und sag nicht alles, was du denkst, das könnte dir nämlich schlecht bekommen.“ Sie ließ ihn los und lehnte sich wieder zurück. Silvestro fragte: „Und? Habt ihr?“ „Herrgott noch mal, nein!“ Pio und Silvestro grinsten sich jedoch nur an. Terry rollte mit den Augen und meinte genervt: „Als wäre es so interessant, was Kim für Liebschaften hat, hier an Bord könnte sie sich ja sowieso jeden Tag einen anderen nehmen.“ Hinter ihn war Jon getreten und schmunzelte: „Eifersüchtig?“ Daraufhin rief Pio: „Ha! Also doch!“ Aggressiv fuhr Kim ihn an: „Du suchst wohl Streit? Ich habe dir doch gerade gesagt, dass …“ Beschwichtigend hob Jon die Hand, setzte sich auf den Boden und sagte gelassen: „Lass ihn doch denken, was er will. Ich habe zwar nicht nein gesagt…“ Wieder rief Pio triumphierend auf, doch Jon fuhr unbeirrt fort: „aber auch nicht ja. Ihr müsst uns nicht glauben, letztlich wissen nur Gott, Kim und ich die Wahrheit, aber ich sage nur soviel, dass Kim euch nicht belügen würde.“ Mit einer eleganten Bewegung ihrer Hand warf Kim sich gespielt hochnäsig die Haare in den Nacken und verschränkte dann die Arme vor der Brust. Noch machte sie sich keine Sorgen wegen des Windes, doch als sie schon über eine halbe Woche in der prallen Sonne lagen, ohne auch nur ein Lüftchen in den Segeln, begann sie zu zweifeln, ob Leo Recht behalten würde. Doch am fünften Tage der Woche füllten sich die Segel prall. Aber auch der Himmel zog zu; den ganzen Tag sahen die Männer besorgt gen Himmel, da es auch ein wenig tröpfelte und keiner von ihnen sich über einen Sturm freuen würde und sie hatten Glück, es zog kein größeres Gewitter auf. Als es gerade wieder aufklarte, einen Tag vor dem von Leo prophezeiten Zusammentreffen, stand Kim alleine an der Reling und schaute auf das Meer, die sanften Wellen und den Horizont. Doch da sah sie etwas Ungewöhnliches, dort, mitten im Wasser war eine Frau. Nein, ein Fisch. Kims Augen weiteten sich, war das eine Nixe? „Jon! Jon, komm mal schnell!“ Sie drehte sich um und suchte das Deck mit den Augen nach ihm ab. Er stand auf dem Achterdeck und unterhielt sich gerade mit Knoxville, der am Steuer stand. „Jon! Jetzt komm endlich! Bitte.“ Das ‚Bitte’ würde er wahrscheinlich nicht verstanden haben, doch er drehte sich genervt zu ihr um und rief: „Was ist denn? Hat das nicht Zeit?“ „Nein! Bitte komm jetzt!“ Den Kopf schüttelnd klopfte er Knoxville noch einmal auf die Schulter und ging dann zu ihr. Als er bei ihr angekommen war, zeigte sie auf das Wesen, das immer noch da neben ihrem Schiff her schwamm. Sie hatte grünliches Haar, perlengleiche Haut und eine grünlich schimmernde Flosse, anstatt den Beinen. Da sie inzwischen so nah neben der Vengeance schwamm, konnte Kim erkennen, dass sie Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte und als sie hoch sah, sah Kim ihre kirschroten Lippen und die eisblauen Augen. Die Nixe drehte sich auf den Rücken, so dass sie ihre blanke Brust sehen konnten, winkte ihnen mit einem kalten Lächeln auf den Lippen zu und tauchte dann unter. Es schauderte Kim und sie sah zu Jon, der kreidebleich geworden war. Leise fragte sie: „Jon? Was ist los? Jon?“ Da er nicht antwortete, zupfte sie am Ärmel seines Hemdes und fragte ihn erneut, was los sei. Den Blick nicht von der Stelle erhebend, an der die Nixe untergetaucht war, flüsterte er: „Hast du das auch gesehen?“ Langsam drehte er den Kopf zu ihr und in seinem Gesicht spiegelte sich die nackte Angst wieder. Kim fragte bang: „Was hat das zu bedeuten?“ Jon schluckte schwer und hauchte: „Schwierigkeiten.“ Just in diesem Moment fuhren sie in weißes Wasser. Leicht hysterisch schaute Kim sich um. Das ganze Meer um sie herum war weiß, nicht mehr grün oder blau. Nein, weiß wie Milch. Da rief Knoxville: „Captain, ich habe ein Problem mit dem Kompass!“ „Versuch einfach auf Kurs zu bleiben, so gut es geht, du schaffst das schon, Knoxville, altes Haus.“ Mit diesen Worten setzte er sich auf den Boden und auch Kim ließ sich neben ihm nieder. Sie schwammen nun schon seit ungefähr zwei Stunden durch diese milchige Brühe, da zog plötzlich ein grünlicher Nebel auf. Und es dauerte nicht lange, da konnte sie kaum drei Meter weit sehen. Kim rückte näher zu Jon und flüsterte: „Was ist hier los? Was hat das alles zu bedeuten?“ Ehrlich antwortete er: „Ich habe keine Ahnung, ich weiß nur, dass das sicher vorbeigehen wird, wart’s nur ab.“ Doch kaum hatte er das gesagt, hörte Kim etwas blubbern, oder eher brodeln. Sie sprang auf und sah über die Reling. Was sie erkennen konnte, ließ sie frösteln. Was da so brodelte war das Meer. Sie setzte sich wieder, klammerte sich an Jon und flüsterte: „Ich habe Angst! Glaubst du, das hat etwas mit der Nixe zu tun, die wir vorhin gesehen haben?“ Er nahm sie sanft in den Arm, streichelte ihr über den Kopf und den Rücken und sagte beruhigend: „Keine Angst, das geht vorüber. Wir können froh sein, dass dieses Wesen uns nicht einen Sturm auf den Hals gehetzt hat, sondern nur diesen komischen Nebel und diese brodelnde Brühe.“ Sonderlich aufgebaut fühlte sie sich zwar nicht, aber sie ließ ihn dennoch los, da Terry, Pio, Silvestro und Edward zu ihnen kamen und fragten: „Captain, was hat das Ganze hier eigentlich zu bedeuten? Erst das weiße Wasser, dann der Nebel und jetzt auch noch brodelndes Wasser. Wusstest du etwas davon?“ „Vergelt’s Gott! Hätte ich davon gewusst, hätte ich Knoxville gesagt, er solle den Kurs ändern. Aber auch ich wurde davon überrascht.“ Gerade hatte er den Namen des Steuermanns ausgesprochen, da rief dieser vom nicht mehr zu erkennenden Achterdeck: „Captain, der Kompass spielt völlig verrückt!“ Jon sprang auf und lief in den Nebel in Richtung Achterdeck. Kim, die nicht allein sein wollte, da Terry und die anderen wieder gegangen waren, stand ebenfalls auf und eilte Jon hinterher. Weil sie aber kaum sehen konnte, wohin sie lief, stieß sie mit jemandem zusammen. Sie musterte ihren Gegenüber eindringlich und entschuldigte sich dann: „Tut mir Leid, ich habe nicht gesehen wohin ich gelaufen bin.“ Er sah mit seinen stechend grünen Augen gleichgültig, fast herablassend auf sie, fuhr sich durch die schwarzen, stoppeligen Haare und sagte kühl: „Pass halt besser auf.“ Leicht verärgert, weil sich dieser Kerl doch auch hätte entschuldigen können, knurrte sie: „Du hättest doch auch aufpassen können.“ „Kim? Bist du das? Na was für eine Überraschung! Hast dich also schon mit Jack bekannt gemacht?“ Wie aus dem Nichts tauchte neben ihr Juanito auf und legte seinen Arm um ihre Hüften. Sie tat jedoch einen Schritt zur Seite und zischte: „Darf ich um Diskretion bitten, Juanito? Und bekannt gemacht habe ich mich gewiss nicht mit Jack, wir sind nur zusammengestoßen, aufgrund dieses verdammten Nebels.“ Juanito hob unschuldig die Hände und lachte: „Soso, dann werde ich euch eben bekannt machen. Jack, das ist Kim. Kim, das ist Jack.“ Sie meinte gezwungen lächelnd: „Sehr Erfreut, Mein Herr.“ Er küsste ihre Hand und sagte monoton: „Die Freude ist ganz meinerseits, Fräulein.“ Damit drehte er sich um und ging. Kim sah kopfschüttelnd zu Juanito und fragte verstimmt: „Was ist denn mit dem los? Ist der mit dem falschen Fuß aufgestanden?“ Juanito lachte: „Ach was, der ist immer so, lass dir von ihm nur nicht die Laune verderben.“ Gezwungen lächelnd entgegnete sie: „Ach was, ich doch nicht. Aber ich muss weiter, bis dann.“ Schnell ging sie in Richtung Achterdeck und zu Knoxville, bei dem auch Jon stand. Letzterer fragte den Steuermann: „Und seit wann spinnt er?“ „Seit das Wasser begann zu brodeln.“, antwortete dieser. Kim fragte verwirrt: „Wer spinnt, seit das Wasser brodelt?“ Jon entgegnete knapp: „Der Kompass.“ „Aber der hat doch schon nicht richtig funktioniert, als wir in diesen Nebel kamen“, bemerkte Kim verwundert. Jon stöhnte genervt auf und wollte gerade antworten, da kam Knoxville ihm zuvor: „Aber da hat er nur manchmal falsch ausgeschlagen, jetzt dreht er sich permanent.“ Und Jon fügte hinzu: „Das wäre ja an sich nicht weiter tragisch, doch kann man weder die Sonne, noch die Sterne sehen, dank dieses verdammten Nebels. Zum Teufel noch mal, dieses verdammte Wetter! Knoxville, du schaffst das schon. Halt einfach so gut als möglich den Wind im Auge; ich glaube, er kam gerade von Süden.“ Wie aus dem Nichts kam Sturcart, der Navigator, angelaufen und rief, völlig außer Atem: „Der Wind hat sich gedreht, er kommt jetzt von Westen!“ Laut rief Knoxville: „Großsegel Fieren!“ Und kurz drauf hörte Kim Fußgetrappel. Es war schon spät geworden und sie fuhren noch immer durch den Nebel. Auch das weiße Wasser brodelte noch und Kim kam es immer mehr so vor, als befänden sie sich auf direktem Weg in die Hölle. Die Piraten an Deck sprachen kaum; die Angst hatte auch sie gepackt. Als es neun Uhr war, gingen sie unter Deck und nur Sturcart und Knoxville blieben noch. Kim saß an die Reling gelehnt auf dem Achterdeck, starrte, die Beine angezogen, in den Nebel in Richtung Bug und sang leise für sich: „Der Rum erheitert unser Gemüt, hier ist die Stimmung nie getrübt!“ Jon, der bis eben noch bei Knoxville und Sturcart gestanden hatte, kam auf sie zu, hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen und sagte: „Auf, es ist schon nach neun. Geh jetzt schlafen.“ Leise fragte sie: „Was hat das alles eigentlich zu bedeuten? Ist das wegen der Nixe passiert?“ „Ach was. Von solchen Dingen berichten einige, die die Gegend hier passiert haben, also mach dir keine Sorgen.“ „Ich habe aber Angst, wer weiß, ob wir morgen früh wieder aufwachen werden? Wenn nun ein Seelenhändler auf unser Schiff kommt? Oder dieser Folkhorn uns bei Nacht überrascht?“ Er streichelte ihr über den Arm und sagte beruhigend: „Seelenhändler kommen nicht einfach so auf fremde Schiffe und dieser Bastard Folkhorn wird uns kaum überraschen, da Terry Wache hält. Und jetzt geh schlafen, keine Widerrede!“ Noch immer murrend ging sie dann doch unter Deck und legte sich in ihr Bett. Doch schlafen konnte sie nicht. Eine Weile wälzte sie sich hin und her, dann stand sie auf, schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang und trat in Jons Kajüte. Sie rüttelte ihn wach und auf seine Frage, was los sei, antwortete sie: „Ich kann nicht schlafen. Darf ich zu dir?“ Noch immer im Halbschlaf hob er seine Decke an und sie schlüpfte rasch darunter. An seiner Seite wurde sie ruhiger. Die Wärme unter seiner Decke ließ sie träge werden und, seinen Arm um sich legend, endlich einschlafen. Am nächsten Morgen wurde sie recht unsanft von Knoxville geweckt, der aufgebracht rief: „Captain, du musst an Deck kommen, schnell!“ Als er aber genauer aufs Bett sah, fragte er ungläubig: „Kim? Was machst du denn hier?“ Hinter sich spürte sie, wie sich Jon aufrichtete und er erklärte: „Sie hatte Angst. Was gibt es denn?“ Etwas skeptisch antwortete Knoxville: „Das Wasser ist wieder ruhig und sieht recht normal aus.“ „Und was ist mit dem Nebel und dem Kompass?“ „Der Nebel lichtet sich langsam und auch der Kompass hört allmählich auf, sich kontinuierlich zu drehen.“ „Wie viel Uhr ist es?“ „Kurz vor fünf. Meine Schicht hat gerade wieder begonnen. Wieso?“ „Weil du mich um kurz vor fünf geweckt hast, obwohl sich unsere Lage nicht verschlechtert hat. Nein, ganz im Gegenteil, es wird alles wieder normal. Also geh zurück auf deinen Posten und tu deinen Job, aber lass mich schlafen!“, donnerte Jon. Knoxville zog sich zurück wie ein geprügelter Hund. Da hatte er mal eine gute Nachricht, wurde aber nur gescholten. Gähnend sank Jon wieder zurück in die Kissen. Kim kuschelte sich noch ein bisschen an ihn und versuchte wieder einzuschlafen, doch konnte sie es nicht. Anscheinend konnte auch Jon nicht mehr schlafen, denn nach ungefähr einer halben Stunde stand er vorsichtig auf, da er glaubte, sie schliefe noch und sie nicht wecken wollte, und ging an seinen Schreibtisch. Dort holte er aus einer Schublade ein schwarz eingebundenes Büchlein, an dem mit etwas Schnur ein Stift befestigt war und begann darin einzutragen. Als er so dasaß und schrieb, kam es ihr vor, als wäre er ein ganz anderer Mensch. Er war ernst und konzentriert nichts falsch zu schreiben. Schließlich klappte er das Buch zu, legte es zurück in die Schublade und blickte zu ihr. Wie er sah, dass sie wach war und die Augen geöffnet hatte, lächelte er sie milde an und fragte: „Habe ich dich geweckt?“ Zurücklächelnd entgegnete sie: „Nein, das hat Knoxville schon erledigt. Aber ich konnte genauso wenig wieder schlafen wie du.“ Sie sah zu seinen Bullaugen, es dämmerte noch nicht einmal und trotzdem war sie hellwach, obwohl sie nur wenig geschlafen hatte. Sie reckte sich und stand gemächlich auf. Alles was sie trug war ein weißes, enges T-Shirt und kurze Hosen. Jon musterte sie mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte, jedoch fühlte sie sich nicht unbehaglich dabei. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und Sturcart brüllte: „Captain, am Horizont haben wir drei fremde Schiffe gesichtet. Sollen wir angreifen?“ Grinsend musterte er Kim, die da so knapp bekleidet vor ihm stand. Jon reagierte rasch und rief: „Ich komme sofort, geh schon vor.“ Sturcart schloss murrend die Tür. Jon kam langsam auf sie zu, drückte sie an sich, streichelte ihr durchs Haar und flüsterte: „Das wird er wohl sein. Also geh schnell in deine Kajüte und zieh dir was über.“ Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, doch nicht wegen Jon, sondern aus Angst vor dem Kommenden. Würden sie wohl gegen Folkhorn bestehen? Ohne ein weiteres Wort ließ Jon sie los und stürmte aus seiner Kajüte. Auch Kim machte sich auf den Weg, allerdings ging sie in ihre Kajüte, zog sich eine Jeans an und nahm ihre Steinschlosspistole, ihr Entermesser und steckte ihren Dolch in ihre rechte Socke. Ansonsten blieb sie wie sie war, zog sich aber noch einen Pulli über das leicht durchscheinende T-Shirt. Anschließend eilte auch sie an Deck. Alle standen am Bug des Schiffes und versuchten einen Blick auf die feindlichen Schiffe zu erhaschen, denn Jon hatte soeben angekündigt, dass sie den Kampf aufnehmen würden. Sie hatten alle gestern Abend zum letzten Mal ihre Waffen auf Fordermann gebracht. Genau wie die anderen Schiffe auf ihrer Seite hatten sie ihren Jolly Roger gehisst. Als die Piraten um sie herum das Grölen und Pfeifen begannen, griff sie nach dem Fernrohr, das gerade umging und sah den Grund für die Pfiffe. Das größte der drei Schiffe hatte auch einen Roger gehisst, dieser war allerdings rot und darauf war anscheinend ein Edelmann, der einen Säbel in die Luft streckte und den Fuß auf einem Totenkopf hatte, worunter in großen Lettern stand: APH. Kim verstand sofort, was das bedeutete. Sauer zischte sie: „A pirate’s head. Nun Folkhorn, unsere Köpfe bekommst du nicht!“ Und auch sie stimmte in die Pfiffe mit ein. Als die Schiffe gerade nahe genug waren, dass man auf das andere Deck konnte, stand die Sonne blutrot über dem Horizont. Das Gefecht dauerte schon ungefähr eine Stunde und Folkhorns Leute hielten sich gut, doch hatte Kim ihn noch kein einziges Mal gesehen, obwohl sie auf der Junivo kämpfte. Sie zog sich gerade in einen abgelegenen Winkel zurück, um ihre Pistole nachzuladen, da zerrte sie jemand am Arm aus dem Winkel, ein großer Kerl in einer Marineuniform. Er sah recht dümmlich aus, doch er grinste: „Was haben wir denn hier? Ein Mädchen? Sag, Mädchen, gehörst du zu den Piraten?“ „Worauf du Gift nehmen kannst!“, brüllte sie und wollte gerade den Dolch aus ihrem Socken ziehen, da zischte der Marinekerl: „Na, na, na, so was macht man aber nicht, ich will dir doch einen Handel vorschlagen.“ Als sie selbst eine kalte Klinge unter ihrem Kinn spüren konnte, richtete sich auf und fragte hasserfüllt: „Was willst du mit mir verhandeln?“ Er kam ihrem Gesicht ganz nahe, leckte genüsslich über ihre Wange und flüsterte: „Wie du siehst, bin ich ein hohes Tier in der Marine. Und ich möchte eine solche Schönheit wie dich nicht einfach so an den Tod ausliefern, also schlage ich dir folgendes vor: Wenn du dich mir hingibst, werde ich dich nur fürs Erste gefangen nehmen. Leider kann ich dich nicht laufen lassen, da du dich zu diesen Piraten bekennst und so etwas könnte meine Gönnerin, die Königin von England, nicht dulden. Na, was sagst du?“ Sie knabberte leicht an seinem Ohr, biss dann aber kräftig zu und riss so lange, bis der Widerstand nachließ. Der Uniformierte schrie auf und sie spuckte angewidert das Stückchen von seinem Ohr aus, das sie abgerissen hatte. Dann brüllte sie: „Nur über meine Leiche!“ Er sah das Blut an seiner Hand mit der er sich das Ohr gehalten hatte, geriet in Raserei und brüllte: „Das kannst du haben, Miststück!“ In blinder Wut stürmte er mit seinem Dolch auf sie zu, aber sie bückte sich, um ihren eigenen Dolch zu ziehen und er rannte über sie hinweg, mitten in einen Anderen, dessen stechend grüne Augen Kim sofort wieder erkannte, es war Jack. Mit bloßer Hand hielt er das Messer fest. Kim sah, wie sein Blut zu Boden tropfte und verzog das Gesicht vor Mitgefühl. Er hatte Glück, dass der Kerl es anscheinend nicht für nötig hielt, seine Waffen richtig zu pflegen, denn sonst hätte ein Dolch dieser Qualität durch seine Hand geschnitten wie durch warme Butter. Doch so war es nicht und Jack schlug mit der anderen Faust so hart zu, dass der Offizier nach diesem einzelnen Schlag zu Boden sank und bewusstlos liegen blieb. Kim hörte Jack noch knurren: „Und so was nennt sich hohes Tier bei der Marine.“ Dann hob sie ihre Pistole auf und zog sich weit in den Schatten zurück, wo sie sie aufs Neue lud. Doch wie sie sich kurz nervös umsah, sah sie, nicht viele Meter von sich entfernt, einen Kerl in prächtiger Kleidung und einem großen Hut in einer Ecke kauern. Ohne groß nachzudenken, wer das war, entsicherte sie und schoss ihm direkt in den Kopf. Sie wusste, dass er von der gegnerischen Partei gewesen war, doch wer genau er war, wollte sie jetzt herausfinden, da sonst niemand dieser Bande solch feine Kleider trug. Sie kroch auf allen Vieren zu ihm herüber, beachtete das Blut, das aus der Wunde an seinem Kopf quoll nicht und suchte in seinen Taschen nach irgendwelchen Indizien. Und da fand sie, in der Innentasche seines Mantels, ein Dokument. Sie faltete es auseinander und las was darauf stand. Ihre Augen weiteten sich. Das war der Kaperbrief, der dieses Gesindel legal machte und darunter konnte sie den Schriftzug der englischen Königin und den Folkhorns sehen. War dieser Kerl, den sie da gerade erschossen hatte, etwa Folkhorn? Sie schielte noch einmal auf den leblos scheinenden Kerl und musste grinsen. Sie lief zum nächst besten Piraten, den sie als Raucher kannte und bat ihn um Feuer. Dann stahl sie sich zum oberen Baum des Hauptmastes und rief: „Schaut her, Gesindel! Dort, unter dem Treppchen zum Achterdeck liegt euer großer Captain, den ich erschossen habe und der sich dort zusammengekauert versteckt hatte, mit eingezogenem Schwanz. Hier habe ich euren Kaperbrief“ Sie hielt das Papier in die Luft. „Und jetzt seht, was ich damit mache!“ Mit einem überlegenen Grinsen hielt sie das angezündete Streichholz darunter und beobachtete, wie es verbrannte. Als es ihr allerdings etwas zu warm wurde, ließ sie es fallen und schaute mit Genugtuung von einem bestürzten Gesicht der Freibeuter zum anderen. Die Piraten allerdings lachten schallend und nahmen den Kampf, der von diesem Augenblick an ziemlich einseitig war, wieder auf. Gegen Mittag war alles vorbei, die Gefangenen auf die Schiffe gebracht und die Verwundeten zum Großteil verarztet. Kim suchte nach jemandem, fand ihn aber nicht. Schließlich fiel ihr eine Gruppe junger Kerle ins Auge, unter denen sich auch Juanito befand und die sich anscheinend angeregt unterhielten. Sie ging auf sie zu und sah ihn da, im Schatten neben dieser Gruppierung, auf dem Boden sitzen. Schüchtern kam sie auf ihn zu und setzte sich neben ihn. Eine Weile lang sagte sie nichts und auch er sprach nicht. Doch dann fragte Kim: „Wie geht es deiner Hand?“ Monoton antwortete er: „Edward hat sie genäht und verbunden.“ „Ich wollte dir eigentlich danken, ohne dich hätte der Typ mich wahrscheinlich umgebracht.“ Gleichgültig entgegnete er: „Ich kann es nur nicht leiden, wenn sich ganze Kerle an kleinen Mädchen vergreifen.“ Irgendwie war dieser Jack komisch. Er war so abweisend, aber doch nicht unfreundlich. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie fand ihn sympathisch, aus welchem Grund auch immer, deswegen wollte sie auch das Gespräch nicht abreißen lassen und fragte: „Tut deine Hand noch sehr weh?“ „Nein.“ „Hat Edward es denn desinfiziert?“ „Ja.“ „Hm, glaubst du, es werden noch viele exekutiert?“ „Ja.“ „Wie viele schätzt du?“ „Alle.“ Sich nicht unterkriegen lassend lächelte sie: „Ich denke nicht, dass alle ihr Leben lassen werden, aber viele schon. Eigentlich können wir ja mitbestimmen, aber letztendlich bleibt es doch Jons Entscheidung. Was hältst du eigentlich von ihm?“ Er zuckte nur mit den Schultern und Kim fuhr fort: „Ich denke, uns hätte gar nichts besseres passieren können, als ihn zum Kapitän zu bekommen. Er ist gerecht, mutig und klug. Was will man mehr?“ Erneut zuckte Jack nur mit den Schultern. Sie sah zu ihm und erkannte, dass er seine Augen geschlossen hatte und versuchte, zu schlafen. Nun gab sie endlich auf und flüsterte: „Na dann schlaf schön. Und danke noch mal.“ Sie stand auf und wollte gerade gehen, da kam Juanito, der das ganze beobachtet hatte, auf sie zu und fragte: „Du wirst dich doch wohl nicht in unseren Jack verlieben? Halt dich doch lieber an mich, der Kerl ist so ein Emotionsloser Klotz.“ Vom Boden her hörten sie Jack knurren: „Das hab ich gehört, Halbblut.“ Juanito aber grinste: „Dann ist ja gut, dass du so gute Ohren hast.“ Kim hatte versucht, sich wegzuschleichen, um aus Juanitos Umfeld zu kommen, doch dieser bemerkte es rechtzeitig und fragte skeptisch: „Wo willst du denn hin, Kim?“ Verlegen lachte sie: „Nun, ich dachte, ihr würdet jetzt eine Diskussion beginnen und wollte mich da lieber raushalten.“ Gerade wollte er etwas entgegnen, da hörte sie lautes Stimmengewirr. Verwundert drehte sie sich zu der Richtung, aus der der Lärm kam und ihre Mimik verfinsterte sich. Mit großen Schritten ging sie auf den Uniformierten zu, der von zwei Piraten gehalten wurde, da er um sich schlug und trat. Kim allerdings stellte sich gerade vor ihn hin, worauf er ganz still wurde und alles um sie herum auf sie schaute. Sie holte aus und ohrfeigte diesen Unhold so kräftig sie konnte. Die Piraten johlten auf, der Marine Offizier aber zeigte keinerlei Regung, sondern grinste sie stattdessen an: „Soso, Kleine. Wenn ich schon sterben werde, willst du mir dann die letzten Stunden versüßen?“ Sie versuchte tief durchzuatmen, Ruhe zu bewahren, doch sie schaffte es nicht und schrie: „Du verdammte Drecksau! Mit dir in tausend Jahren nicht!“ Sie wollte gerade auf ihn losgehen, ihn noch einmal schlagen, da hielt sie jemand von hinten zurück und unterdrückte ihren Ausbruch. Ihr Gegenüber lachte nur, doch sie grinste kalt, als sie sich wieder beruhigt hatte: „Wart's ab, wer als letzter lacht. Du wirst heute noch sterben und kannst dich nie wieder mit einer Frau vergnügen. Ich hingegen habe noch mein ganzes Leben und viele Männer vor mir.“ Er hörte auf zu lachen und sie fuhr noch gehässiger fort: „Na? Was ist los? Da ist dir das Lachen wohl im Halse stecken geblieben! Was ist jetzt? Nimm mich doch fest, vielleicht wird die Königin ja Gnade walten lassen. Unser Kapitän allerdings nicht!“ Derjenige, der ihre Hände hinter ihrem Rücken bändigte, zog sie von ihm weg und flüsterte ihr ins Ohr: „Pass lieber auf, Kim, vielleicht lasse ich ihn gar nicht hinrichten und wenn er es dann auf dich abgesehen hat und schlecht auf dich zu sprechen ist, könnte es dir schlecht ergehen.“ Sie hatte schon erkannt, dass es Jon war, der sie da bändigte, da hatte er sie gerade erst festgehalten. Jetzt ließ er sie wieder los und drehte sie zu sich um, um sicher zu gehen, dass sie sich wieder beruhigt hatte. Sie starrte ihn jedoch nur mit großen Augen an und fragte: „Was meinst du damit, dass wir ihn nicht umbringen?“ „Damit meine ich, dass wir ihn wahrscheinlich am Leben lassen, also verscherz es dir nicht mit ihm, denn wir können nicht 24 Stunden am Tag auf ihn aufpassen.“ Sie wollte gerade noch etwas sagen. Da hörte sie einen lauten Knall hinter sich und drehte sich blitzartig um. Dort, schon fast hinter dem Horizont verschwunden, stand eines der drei Schiffe Folkhorns in Flammen. Es tat einen zweiten Knall und das Schiff links daneben explodierte. Das, was noch davon übrig blieb, trieb noch eine Weile auf dem Meer. Kim beachtete es nicht weiter, da alle Schätze schon auf ihren Schiffen waren. Sie wandte sich wieder an Jon und flehte: „Jon, bitte, das kannst du mir nicht antun! Der Kerl wird mich vergewaltigen, erwürgen, erschlagen, vierteilen, anzünden und dann ins Meer werfen, um die Beweise zu vernichten.“ Jon lachte kurz auf, als hätte sie einen Witz gemacht. Ihr war es allerdings ernst und erst recht, als sie noch einmal einen Blick auf den Uniformierten warf, der sie überlegen angrinste. Es lief ihr kalt den Rücken runter, als sie sah, wie die beiden Piraten ihn unter Deck schleppten, er sie aber stetig angrinste. Verzweifelt flehte sie: „Er kommt aber nicht in meine Kajüte, auch wenn es die einzige ist, die man abschließen kann. Wer weiß, was diese Type mit meinen Sachen anfangen würde.“ Jon lächelte nachsichtig: „Keine Sorge, der kommt zu unserem ehemaligen Marine-Mitglied, Jack.“ Jack war einmal Mitglied der Marine gewesen? Warum war er denn dann jetzt Pirat? Gerade wollte sie Jon fragen, da entschuldigte er sich und ging, um eine Streitigkeit zu klären. Mit hängendem Kopf ging sie zu Terry, Pio, Laffite und Edward, die, alle mit nacktem Oberkörper, im Schatten saßen und Karten spielten. Als sie Pio fragte, wo denn Silvestro sei, antwortete der, sich scheinbar vollkommen auf das Spiel konzentrierend: „Der Gute hat die Schlacht nicht überlegt. Dieser Waschlappen!“ Kim wurde still und sah ihnen zu, wie sie spielten und Terry, der eine Glückssträhne hatte, immer übermütiger wurde, bis er schließlich fast alles verlor und knurrend aufhörte zu spielen, bevor er noch Schulden machte. Sie würden nicht sofort wieder nach New Providence segeln, sondern in einer Bucht, nicht weit davon entfernt, das Schiff Kielholen, genau wie McQuilligan. Sie stieg in keines der kleinen Beiboote, sondern sprang, wie die Meisten, einfach über die Planke ins Meer um dann zum Strand zu schwimmen. Es war wie ein Sprung ins Paradies. Das Wasser war klar und herrlich kühl, eine willkommene Abwechslung zum heißen Deck. Während sie sprang quietschte sie vergnügt und landete geräuschvoll und möglichst viel Wasser verspritzend im Meer. Als sie schließlich den weißen Sand unter ihren Füßen und zwischen den Zehen spürte, entledigte sie sich ihrer nassen Kleider, sie hatte darunter einen Bikini an, und legte sich in den Schatten, eine kleine Siesta zu halten, bis die anderen das Schiff an den Strand geholt hatten. Doch aus der Siesta wurde ein tiefer und fester Schlaf, aus dem sie erst wieder erwachte, als lautes Stimmengewirr sie weckte. Es war schon dunkel und wahrscheinlich waren die Schiffe schon längst Kiel geholt worden. Am Strand, nur ungefähr zwanzig Meter von ihr entfernt, hatten die Piraten ein Lagerfeuer entzündet, saßen oder tanzten nun darum und lachten, tranken und sangen. Kim rieb sich den Schlaf aus den Augen, zog sich ihre Kleider an, die inzwischen wieder trocken waren und ging zu ihnen. Der erste dem sie begegnete musste allerdings gleich Terry sein, der sie anschnauzte: „Na, Dornröschen? Gut geschlafen? Wie schaffst du es nur immer wieder dich vor der Arbeit zu drücken?“ Er roch ziemlich nach Alkohol, genau wie McQuilligan, der Terry beiseite stieß und begann mit Kim herumzuwirbeln, was er anscheinend unter Tanzen verstand. Anfangs ließ sie sich noch von ihm mitreißen, doch mit der Zeit wurde ihr schwindelig und anscheinend ging es auch McQuilligan nicht anders, der stolperte und auf sie stürzte. Lachend lallte er: „Hättst du n paar mehr Kurven un n bissel mehr Fleisch aufn Rippen, würd ich dich glatt hinner die nächste Palme schleifen.“ Affektiert lachend schob sie ihn von sich und stand, leicht von ihm angewidert auf, um dann zu Pio, Chidi, Edward und Aodh zu gehen. Die saßen da beim Lagerfeuer, redeten, lachten und tranken. Kim tat es ihnen gleich und mit der Zeit hatten sich auch Terry und Laffite zu ihnen gesellt. Kim versuchte Laffites Blicke zu meiden, doch das war schwer, da er sie penetrant anstarrte und jedes Mal wenn sich ihre Blicke streiften, lächelte er ihr treudoof zu. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und schaute sich um, ob nicht noch andere interessante Gruppen zusammen saßen, doch ihr fiel nichts Besseres ins Auge, als die Juanitos und Jacks. Sie verglich gequält, was besser war, ein vertrottelter oder ein arroganter Verliebter. Letztlich entschied sie sich dafür, zu Juanito zu gehen, was nicht wenig damit zu tun hatte, dass Laffites Gesichtsausdruck immer verträumter geworden war und sie sich nicht vorstellen wollte, an was er gerade dachte. So ging sie hinüber zu Jack und Juanito, von deren Gruppe sie herzlich aufgenommen wurde, indem ihr eine Flasche Rum zugeworfen wurde. Auch Juanito starrte sie mehr oder minder an und schenkte ihr gelegentlich ein anzügliches Lächeln, doch sah er nicht aus, als würde er in Tagträumen versinken. Sie saß zwischen Jack und einem Kerl, sie schätzte ihn ein Jahr jünger als sich, der von allen Consot gerufen wurde. Juanito sprach sehr viel, insbesondere von sich, was sein Lieblingsthema war, wie Kim schon früh bemerkt hatte. Nach einer gewissen Weile hörte sie ihm nicht mehr zu, sondern unterhielt sich mit dem Jungen neben ihr. Eigentlich hieß er Jules und kam aus Frankreich. Was sein Alter anging, hatte Kim sich um ein Jahr verschätzt, denn er war erst 15. Als er ihr das gesagt hatte, nahm sie ihm aus Spaß die Flasche weg und sagte: „Pfui, schäm dich! Minderjährige dürfen keinen Alkohol trinken.“ Gelassen nahm er sie ihr aus der Hand, trank einen großen Schluck und sagte, überheblich lächelnd: „Na volljährig bist du ja wohl auch noch nicht, höchstens 18.“ „Nein, 17. Aber was mich noch interessieren würde, warum bist du Pirat geworden?“ „Das weißt du nicht? Ich bin zu euch gekommen, als meine Mannschaft vor sechs Wochen gegen deine verloren hat. Das war meine erste Fahrt auf See und auch mein allererster Kampf. Aber ich hab es geschafft einen umzulegen, so ein blonder Kerl, mit blauen Augen. War nicht leicht, aber er war schon total fertig und hat ziemlich stark geblutet. Außerdem glaube ich, dass er nicht mehr alle Finger beisammen hatte.“ Er lachte auf, als hätte er einen Scherz gemacht, doch Kim fröstelte und murmelte, während sie sich über die Oberarme rieb: „Leo.“ Juanito unterbrach sich, sah sie verwundert an und fragte: „Sag mal, Kim, friert es dich? Wirst du krank?“ Er legte seine Hände an ihr Gesicht und seine Stirn an ihre. Kim jedoch konnte diesen Körperkontakt gar nicht abhaben, stieß ihn von sich und brüllte: „Fass mich nicht an! Du bist nur ein eingebildeter, arroganter Sack, der andauernd nur von sich redet. Mehr kannst du gar nicht, also lass mich in Ruhe, du Bastard!“ Wütend sprang sie auf und ging weg von ihnen. Weg von diesem süffisanten Lächeln Juanitos, weg von Jacks unaufhörlichem Schweigen und weg vom Mörder ihres geliebten Leos. Schnaubend setzte sie sich an einen Platz etwas abgelegener und sah aufs Meer. Sie war so zornig wie schon lange nicht mehr. Hatte es dieser Knirps doch tatsächlich gewagt, Leo umzubringen. Dafür sollte auch er mindestens sterben, obwohl sie das noch zu gering fand. Doch schon bald sah sie ein, dass das wohl keine so gute Idee war, schließlich hatte sich der Kleine, der sie um fast einen Kopf überragte, ja nur gewehrt und sie zu viel Alkohol genossen. Gerade versuchte sie sich vorzustellen, wie wohl ihr Kampf ausgesehen haben mochte, da setzte sich ein Mann rittlings hinter sie. Er umfasste ihren Bauch, liebkoste zärtlich ihren Hals und flüsterte: „Willst du nicht mit mir kommen? Glaub mir, ich bin nicht rau oder ungehobelt.“ Sie versuchte, sich von ihm loszumachen, doch seine Umarmung wurde nur noch verlangender. Begierig knabberte er an ihrem Ohrläppchen und fuhr fort: „Sei doch nicht so prüde. Nur eine Nacht, ich habe es doch so vermisst, den weichen Körper einer Frau unter mir zu spüren. Und in diesem Kaff, New Providence, gibt es nur hässliche Vetteln. Aber du, du bist schön und anmutig. Erfülle einem armen Piraten - Mann - einen Wunsch. Erbarme dich. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich denken, du seist ein Engel, denn dein Antlitz scheint nicht von dieser Welt, es ist göttlich, wie das einer Amazone und deine Stimme macht mich toll, so weich und lieblich. Dein gesamtes Erscheinen, so feminin und doch heroisch mit den Haaren, die sanft im Wind wehen. Komm nur dieses eine Mal mit mir.“ Inzwischen hatte er den Träger ihres Tops von ihrer Schulter gestriffen und küsste nun auch diese. Sie versuchte zwar immer noch sich von ihm loszumachen, jedoch nicht mehr so bestimmt. Der Pirat hinter ihr schien das zu spüren und wurde etwas mutiger. Er streichelte ihr über die Innenseite ihres Oberschenkels und machte ihr immer mehr Komplimente. Schließlich drehte er mit seiner anderen Hand ihren Kopf zu sich und küsste sie sanft auf die Lippen. Er hatte nicht gelogen, denn er war weder rau noch ungehobelt. Da es aber dunkel war und er vom Lagerfeuer abgeneigt saß, konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Sie war hin und her gerissen zwischen ihrer Moral und ihrem Verlangen. Konnte sie es denn mit Laffite, Juanito und vor allem sich selbst ausmachen, wenn sie sich jetzt diesem Fremden hingab? Aber irgendwie schien ihr Herz ihm zuzustimmen, sie fühlte sich bei ihm wohl, so sicher und geborgen. So hatte sie sich sonst nur bei Leo gefühlt. Als sie bemerkte, was für einen Vergleich sie da aufgestellt hatte und wie richtig dieser war, wandte sie ihr Gesicht wieder zu ihm und küsste ihn zärtlich. Als sie aufwachte, spürte sie, wie das Schiff wieder von sanften Wellen geschaukelt wurde und in ihrem Kopf pochte ein dumpfer Schmerz. Was war eigentlich geschehen nachdem sie bei Juanito und Jack gesessen hatte? Einen Moment überlegte sie angestrengt, dann brachten die Kopfschmerzen sie davon ab und sie schloss wieder ihre Augen. Doch im nächsten Augenblick öffnete sie sie schlagartig wieder. Das war nicht ihre Kajüte, in der sie da war! Und auch nicht ihr Bett, in dem sie lag. Außerdem hatte sie keinen Schlafanzug oder dergleichen an. In ihr machte sich eine Befürchtung breit und sie drehte sich bedächtig um. Ihr stockte der Atem. Da neben ihr lag ein Mann und er hatte, genau wie sie, nichts an. Aber was sie noch mehr aus der Fassung brachte war, dass dieser Mann Leo so ähnelte, dass sie im ersten Moment geglaubt hatte, er läge leibhaftig neben ihr. Als sie vorsichtig aufstehen wollte, bewegte sich der Fremde, legte seinen Arm um sie und drückte sie an sich. Gerade versuchte sie sich aus seinem Griff zu befreien, da wachte er auf, küsste sie zärtlich in den Nacken und flüsterte: „Bleib doch noch da. Wir kommen erst gegen Nachmittag in New Providence an.“ Doch sie setzte sich verstört auf, ihre Blöße mit dem Laken bedeckend und fragte: „Wer bist du? Was mache ich hier und wo bin ich hier?“ Etwas verwundert fragte er: „Weißt du das etwa nicht mehr?“ Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und stand auf. Als sie seinen Blick im Rücken spürte, fauchte sie: „Schau weg! Ich will mich anziehen!“ Doch den Gefallen tat er ihr nicht und grinste: „Warum sollte ich? Nach der Nacht?“ Sie war schon halb angezogen, da stand auch er auf und zog sich etwas über. Sie wollte sich gerade die Haare zusammenbinden, da sagte er lächelnd: „Lass sie doch offen, das steht dir so gut.“ Sie überlegte einen Moment, ob sie ihm den Gefallen tun sollte, da band sie sich doch einen Zopf. Anschließend setzte sie sich auf die Bettkante und fragte erneut: „Wer bist du eigentlich und wo bin ich?“ Er setzte sich hinter sie, begann ihr den Nacken zu massieren und sagte: „Du bist auf der Black Cross, Captain McQuilligans Schiff. Und ich bin Charles.“ Er hielt inne und stellte dann fest: „Irgendwie komisch, sich vorzustellen, wenn man sich schon einmal vorgestellt und mit dem Anderen geschlafen hat.“ Seinen letzten Satz, ob nun absichtlich oder nicht, überhörend, fragte sie: „Und warum bin ich nicht auf der Vengeance?“ „Wahrscheinlich, weil dein Kapitän keine Lust hatte, zu warten, bis du aufwachst und wir in New Providence eh wieder zusammentreffen.“ „Also weiß Jon, dass ich hier bei dir bin?“ „Wer ist Jon?“, fragte Charles irritiert. Abwesend sagte sie: „Der Captain.“ „Du nennst ihn beim Vornamen?“ Sie antwortete nicht. Er hörte auf sie zu massieren, sondern legte seine Arme um ihren Bauch und seinen Kopf auf ihre Schulter. Eine Weile schwiegen sie und Kim überlegte, was Jon wohl jetzt von ihr halten würde. Würde er denken, sie wäre ein billiges Flittchen geworden? Dieser Gedanke schmerzte sie und um ihn zu verdrängen fragte sie: „Sag mal, Charles, warum bist du so,… so… freundlich, so zärtlich?“ Leise sagte er: „Ich weiß nicht, normalerweise bin ich gar nicht so, aber du bist anders als andere Frauen, ganz anders. Du kommst mir außerdem so bekannt vor.“ Ihre Hände auf seine legend sagte sie: „Du erinnerst mich auch an jemanden. Jemanden, den ich sehr geliebt habe. Er hatte die gleichen Haare wie du und auch seine Augen sahen deinen so ähnlich.“ „Warum sprichst du von ihm im Perfekt?“ „Er ist tot.“ „Warum?“ Etwas irritiert fragte sie: „Was warum?“ Und nachdrücklicher entgegnete er: „Na, warum er tot ist, will ich wissen. Wie ist er gestorben?“ Sie schwieg und er verstand wohl, dass sie nicht über seinen Tod sprechen wollte und fragte deshalb: „Und warum erinnere ich dich so an ihn? Blonde Haare und blaue Augen haben doch viele Männer.“ Sie lehnte sich zurück an seine Brust und erzählte leise: „Ich weiß auch nicht, aber etwas ist an dir, was er auch hatte, du ähnelst ihm in jeglicher Hinsicht, soviel ich bis jetzt weiß. Deine Art dich zu bewegen, mich zu massieren, die Zärtlichkeit deiner Berührungen, deine Sprache, deine Stimme. Auch deine Züge sehen ihm so ähnlich und deine Augen. Sie sind genau wie seine. Leo hatte auch diese tiefen blauen Augen; wenn man in sie schaut, denkt man, man könne hineinfallen, so tief sind sie und auch so klar. Einfach alles an dir erinnert mich an ihn.“ „Ist es dann nicht schmerzhaft für dich bei mir zu sein?“ „Ich weiß es nicht. Einerseits lässt es wieder die Erkenntnis, dass er tot ist bewusst in mir aufsteigen und nicht mehr mit ihm zusammen sein zu können tut sehr weh, aber andererseits sind alle meine Erinnerungen an ihn glücklich und wenn ich mich an seine Liebe zu mir erinnere, dann wird mir warm ums Herz und ich bekomme Schmetterlinge im Bauch, wie bei seiner ersten Berührung. Aber was erzähle ich dir das? Liebe interessiert dich wahrscheinlich sowieso nicht, du magst lieber Affären, die für ein oder zwei Nächte halten. Die Leidenschaften einer Frau interessieren dich doch nicht.“ Sie schalt sich selbst, dass sie ihm so viel von sich erzählt hatte. Sie hatte eine Affäre mit ihm gehabt und kannte ihn, nüchtern, erst seit ein paar Minuten. Warum also hatte sie ihm ihre Gefühle offenbart? Er lachte jedoch auf und meinte: „Ganz im Gegenteil, das Geschwärme einer Frau interessiert mich immer und auch eine Frau fürs Leben wäre sicher nichts Schlechtes, es müsste sich nur die richtige finden.“ Sie sagte nichts, schloss die Augen und atmete tief durch. Doch sie öffnete die Augen schlagartig wieder und es lief ihr ein Schauer über den Rücken. Auch sein Duft erinnerte sie an Leo. Es war schon direkt unheimlich, wie sehr sich die Beiden ähnelten. Hieß es nicht, jeder hätte einen Zwilling auf der Welt? Vielleicht war dies Leos. Verbittert musste sie auflachen. Sie hatte sich schon Gedanken gemacht, sie könnte ihn betrogen haben, weil sie sonst keine Bindung haben wollte, aber konnte sie ihn mit ihm selbst betrügen? Sie hatte etwas Angst an Deck zu gehen. Was würden die Fremden Piraten zu ihr sagen? Was würde McQuilligan sagen? Doch ihr knurrte der Magen so sehr, dass sie darauf bestand etwas zu essen. So ging sie, in einigen Metern Sicherheitsabstand, hinter ihm her in die Kombüse. Wo sie sich etwas zum Essen stibitzten. Als sie an Deck kamen, sahen die anderen Piraten in einer Mischung aus Neugierde und Begierde zu ihr und musterten sie. Charles ging zu seinen Kollegen und sie stand etwas verloren an Deck, den Blicken der Seeräuber schutzlos ausgeliefert. Doch jemand legte ihr den Arm um die Schulter, zog sie mit sich zu Charles und fragte ihn: „Sag mal, Charles, was findest du an der Kleinen? An der ist doch gar nichts dran. Ich hätte ja Angst, etwas kaputt zu machen, wenn ich sie richtig anpacken würde. Wie hast du das nur gemacht?“ Der Angesprochene schaute auf und entgegnete grinsend: „Nun, Captain, nicht jeder greift so kräftig zu, aber als Frau hätte ich bei dir auch lieber eine dicke Fettschicht.“ Der Mann, der neben ihm saß, stieß ihn kameradschaftlich mit dem Ellenbogen an und meinte feixend: „Woher weißt du denn, wie fest der Captain zupackt? Hast du es etwa schon mal ausprobiert?“ Aggressiv knurrte er: „Also so nötig hab ich’s ja nun auch wieder nicht und selbst wenn, du wärst der Letzte, dem ich es erzählen würde.“ McQuilligan, dem gar nicht passte, wie von ihm gesprochen wurde, fuhr den Anderen an: „Wenn du Charles irgendwelche Schwuchteleien unterstellst, dann von mir aus, aber der Spaß hört auf, wenn du mich da mit reinziehst! Morgen darfst du allein das Deck schrubben, merk dir das.“ Erst knurrte der Angesprochene eine Bestätigung, doch als McQuilligan dann brüllte: „Ich habe nichts gehört!“, sagte er lauter: „Ai, Sir!“ Der Kapitän sah noch einmal die ganze Runde an, dann drehte er sich um und ging. Der Kerl, der vorhin so frech gewesen war, salutierte heimlich, als wäre McQuilligan ein General, doch dieser drehte sich um und brüllte: „Du hast dir gerade eine ganze Woche eingehandelt, Matrose!“ Charles konnte sich das Grinsen nicht verkneifen und lachte ihn, genau wie die anderen, aus. Nur Kim lachte nicht mit ihnen. Irgendwie war es wie auf der Vengeance, aber doch ganz anders. Sie fragte sich, was wohl Laffite und Juanito in diesem Augenblick machten. Wahrscheinlich würden sie beide schmollen und mit keinem ein Wort wechseln. Sie musste ein wenig lachen und ihr Gegenüber, ein kleiner, stämmiger Kerl mit Bart fragte: „Was gibt’s denn zu lachen, Flittchen?“ Bei seiner Mimik verschlug es ihr schlagartig das Lachen und sie starrte ihn nur mit großen Augen an. Er sah so grimmig aus, wie ihr Vater, wenn er richtig wütend war und das war bis jetzt nur einmal vorgekommen und zwar, als er Sally erwischt hatte, wie sie mit einem 16 Jährigen Kerl, sie war damals gerade mal elf gewesen, auf ihrem Bett lag, halb nackt und sich heftig mit ihm geküsst hatte. Er war ausgerastet, hatte gebrüllt, getobt, sogar einen Teller gegen die Wand geworfen hatte er. Dann war er ganz ruhig gewesen, dagesessen und in den Garten gestarrt, mit exakt dem Ausdruck, den ihr Gegenüber hatte. Wie ein Vulkan, der jeden Augenblick wieder ausbrechen könnte, nur noch heftiger und wilder. Unwillkürlich wich sie zurück und sagte, gezwungen lächelnd: „Ich musste nur gerade an etwas denken.“ Anscheinend gab sich der Bärtige mit der Antwort zufrieden und Kim rutschte näher zu Charles, der, als er ihren ängstlichen, verstörten Gesichtsausdruck sah, verwirrt fragte: „Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du den leibhaftigen Teufel gesehen.“ Sie rutschte noch näher an ihn heran, bis ihre Schulter ihn berührte. Das war einer der schrecklichsten Tage ihres Lebens gewesen. Denn sie hatte damals, mit ihren zarten sieben Jahren, ein Bild gemalt auf das sie sehr stolz gewesen war und hatte darauf bestanden, es dem Vater zu zeigen. Doch der hatte in dem Moment andere Sorgen und als sie fort fuhr, ihn zu nerven, hatte er in seiner Wut ihr Bild genommen und zerrissen. Sie hatte bitterlich geweint und anstatt sie in den Arm zu nehmen, hatte ihr Vater sie angebrüllt, gefälligst leise zu sein und als sie nicht aufgehört hatte zu weinen, hatte er sie dermaßen geohrfeigt, dass ihr noch Tage später die Wangen gebrannt hatten. Er war immer ein ausgeglichener und ruhiger Mensch gewesen, doch an dem Tag war in so in Rage gewesen, dass er vor nichts mehr halt zu machen schien. Bei diesen Gedanken begannen ihre Wangen erneut zu schmerzen, als hätte er sie gerade eben erst geschlagen und sie hielt sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht. Charles, sichtlich beunruhigt, fragte: „Was ist denn los mit dir? Hast du Schmerzen?“ Sie keuchte und hatte einen Kloß im Hals. Ihre Backen schmerzten fürchterlich und wehmütig erinnerte sie sich an das Bild, das sie gemalt hatte. Sie hatte ihre ganze Familie vor ihrem Haus gemalt und bestimmt eine ganze Stunde daran gesessen, aber all die Arbeit hatte ihr Vater in ein paar Sekunden zerstört gehabt. –Ihre Wangen schmerzten noch mehr. Es wurde ihr beinahe unerträglich und Charles brüllte: „Was ist denn in Dreiteufels Namen mit dir los? Willst du dich hinlegen? Brauchst du etwas?“ Als sie nicht antwortete, ergriff er ihre Hände und zog sie von ihren Wangen. Er stockte. Er konnte nicht glauben, was er da sah. Auf ihren Backen waren deutlich Handabdrücke zu sehen, als wäre sie geschlagen worden. Vorsichtig berührte er ihre linke Backe, doch als sie aufschrie, zog er seine Hand ruckartig zurück. Sie jedoch ergriff seine Hände, legte sie sich auf die Wangen, ertrug den zusätzlichen Schmerz, der dadurch auftrat und erinnerte sich wieder, was ihr Vater am nächsten Tag gemacht hatte. Er hatte die Fetzen ihres Bildes aufgelesen, es zusammengeklebt und in einem Rahmen aufgehängt. Dann war er zu ihr gekommen und hatte sich entschuldigt. Sie hatte gespürt, wie arg es ihm gewesen war und hatte ihm verziehen. Dann hatte er ihr das Bild gezeigt und es in höchsten Tönen gelobt. –Ganz langsam ließ der Schmerz nach und auch ihr Atem wurde wieder langsamer. Sie ließ Charles Hände sinken und lehnte sich erschöpft an ihn. Beunruhigt, da die Abdrücke in ihrem Gesicht stärker geworden waren, fragte er erneut: „Was ist denn los? Wieso hast du auf einmal diese Abdrücke auf deinem Gesicht, als wärest du geschlagen worden?“ Verdutzt sah sie zu ihm auf und fragte: „Abdrücke? Was für Abdrücke?“ „Na die auf deinen Wangen, als seist du geohrfeigt worden, aber kräftig.“ Sie suchte hektisch in ihrer Tasche nach einem Taschenspiegel, doch hatte sie keinen dabei. Hatte sie tatsächlich Abdrücke? Warum nur? Sie hatte sich das ganze doch nur eingebildet… Zögernd antwortete sie: „Ich, ich weiß nicht, ich musste an eine Situation mit meinem Vater denken und dann hatte ich dieselben Schmerzen wie damals. Oder noch stärker, ich weiß nicht.“ Verwirrt fragte Charles: „Hat dein Vater dich geschlagen?“ „Nein, um Gottes Willen! Nur dieses eine Mal und es hat ihm schrecklich Leid getan. Aber warum musste ich gerade daran denken?“ Die letzte Frage war mehr an sich selbst gestellt, als an Charles, denn sie wusste ja, dass es ihr manchmal passierte, dass sie Erinnerungen noch einmal durchlebte, ob nun mit, oder ohne den Schmerzen und Verletzungen. Dennoch erwiderte er: „War vielleicht ein Kindheitstrauma?“ „Da waren meine Jugendtraumata aber schlimmer.“ „Jugendtraumata? Was ist denn vorgefallen?“ „Ist doch unwichtig.“ „Na wenn du meinst?“ Gerade landeten sie im Hafen und Kim wollte schon von Bord gehen, da hielt Charles sie fest, umarmte sie und fragte leise: „Sag mal, Kim, wollen wir heute Abend nicht zusammen ausgehen?“ Etwas verwirrt ließ sie die Umarmung über sich ergehen und fragte: „Warum willst du denn mit mir ausgehen?“ Er ließ von ihr ab, sah verlegen und etwas rot im Gesicht zu Boden und meinte schüchtern: „Nun ja, ich finde dich nett.“ Auch ihre Wangen röteten sich ein wenig und sie lächelte: „Von mir aus gerne, holst du mich um acht vor der Vengeance ab?“ Er nickte und sie ging, jedoch nicht, ohne ihm vorher noch einmal ein Küsschen auf die Wange zu drücken. Als sie auf der Vengeance ankam, war sie heilfroh, dass keiner auf sie achtete und sie ungestört in ihre Kajüte verschwinden konnte. Seufzend ließ sie sich auf ihr Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Hatte sie sich gerade wirklich mit Charles verabredet? Sie kannte ihn doch gar nicht richtig; eigentlich hatte sie ja schon mit ihm geschlafen, aber sie war betrunken gewesen. Sie wusste, dass das keine Ausrede war. Sie hatte noch nicht mal seinen Namen gekannt und war mit ihm im Bett gelandet. Oder hatte er ihr seinen Namen gesagt? Wieso war sie überhaupt mit ihm mitgegangen? Das tat sie doch sonst nie, selbst, wenn sie betrunken war. Warum also? Konnte es sein, dass sie schon am Abend gespürt hatte, wie unglaublich bekannt er ihr vorkam? Vielleicht hatte sie ja aus reinem Instinkt gehandelt. Sie drehte sich um und starrte an die Decke, ihr Kissen fest umklammert. Was sollte sie bloß Laffite und Juanito sagen, wenn sie sie sehen würden? Und was sollte sie Jon sagen? Vielleicht würde er sie ja gar nicht darauf ansprechen. Nein, ausgeschlossen, er würde sicher eine Zynische Bemerkung machen. Das tat er immer, wenn er sauer auf sie war, es ihr aber nicht ins Gesicht sagen wollte. Sie drehte sich auf die Seite und ihr Blick fiel auf den Briefumschlag, der auf der Mitte ihres Tisches lag. Langsam setzte sie sich auf und griff danach. Sie öffnete ihn erneut und las ihn sich durch. Sie hätte sich nicht auf dieses Rendezvous einlassen sollen, schließlich liebte sie Leo doch noch. Er war der Einzige, den sie jemals richtig geliebt hatte. Aber er war tot. Sollte sie ewig an ihm hängen? Vorsichtig legte sie den Brief wieder zurück und atmete tief durch. Sie musste über Leo hinweg kommen. Und sie durfte sich auch neu verlieben. Leo hatte ihr doch noch in dem Postskriptum geschrieben, sie solle nicht ihr restliches Leben schwarz tragen. Er wollte, dass sie glücklich war. Aber konnte sie mit Charles glücklich werden? Um kurz nach acht ging sie an Land, wo schon Charles auf sie wartete. Als er sie erblickte, stockte ihm der Atem. Seit langer Zeit hatte sie wieder einmal einen Rock an und hatte sich geschminkt. Ihre Haare fielen lockig über ihre Schultern. Auch hatte sie nicht, wie normalerweise, einfach eine Bluse an, sondern ein enges Top, das ihre Vorteile zum Ausdruck brachte. Etwas peinlich berührt, da er sie mit offenem Mund anstarrte und keine Anstalten machte, sie zu begrüßen, zischte sie: „Klappe zu! Das ist ja peinlich, so schrecklich sehe ich nun auch wieder nicht aus.“ Er schüttelte den Kopf, als erwache er aus einer Trance und stieß die Luft aus, die er für einen Moment angehalten hatte. Dann sagte er, sie auf die Wange küssend: „Nein, bei Gott, ganz im Gegenteil, du siehst umwerfend aus!“ Sie glaubte ihm nicht, denn sie fand, ihr war nahezu gar nichts gelungen. Weder das Zusammenstellen ihres Outfits, noch das Bändigen ihrer Locken, noch ihre Schminke. Kim hatte es lediglich geschafft die Handabdrücke, die ohnehin schon stark verblichen waren, zu überdecken. So schüttelte sie nur den Kopf und hakte sich bei Charles unter, der ihr bereitwillig seinen Arm anbot. Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, fragte Kim: „Sag mal, wohin gehen wir eigentlich?“ Er antwortete nicht, sondern schmunzelte nur und führte sie immer weiter zum Rande der Stadt. Vor einem großen Gebäude stoppte er und sagte: „Wir sind da. Ich hoffe, du magst Theater.“ Mit großen Augen fragte sie: „Theater?“ Er nickte lachend und sie ärgerte sich über sich selbst. Sie war zwar noch nie in einem Theater gewesen, aber musste sie deswegen gleich so große Augen machen? Charles holte ihnen Karten und sie setzten sich in eine der vorderen Reihen. Der rote Vorhang war noch zugezogen und Kim sah sich um. Es war kein großer Saal, aber dennoch größer als sie erwarte, dass dieses Dörflein einen hatte. Nach hinten hin war er erhöht und die Bühne stand auf einem Podest, vor dem, in einer Art Grube einige Musiker saßen und eifrig ihre Instrumente stimmten. Langsam füllte sich der Saal und Kim fragte: „Du, Charles, um was geht es in dem Stück eigentlich?“ Hämisch grinsend meinte er: „Um Piraten, aber aus der Sicht gewöhnlicher Leute, ich sage dir, das wird ein Spaß. All diese Klischees mit den Holzbeinen, den Papageien, den Schatzkarten und Hakenhänden. Und die meisten Leute schenken all dem auch noch Glauben. Glaub mir, wir werden ordentlich was zu lachen haben.“ Er drückte leicht ihre Hand, die sie auf die Lehne ihres Stuhls gelegt hatte und hielt sie fest. Gerade fragte sich Kim, wie das Stück wohl aufgebaut war, da gingen die Lichter aus und der Vorhang öffnete sich. Zum Vorschein kam eine junge Frau, die mit kräftiger Stimme sang: „Mädchen hör zu, was ich sage ist wichtig, Tu es nicht ab als wäre es nichtig Junge hör zu, halte halt deine Ohren gespitzt Das, was ich erzähle, das ist kein Witz Sie tun ihr Tageswerk zu der Marines Trutze Tun rein gar nichts zu unserem Schutze Rauben die Frauen, verkaufen die Männer, Selbst beim Feilschen sind sie wahre Könner Denn sie sind Piraten Und ich kann dir nur raten Halte dich von ihnen fern In ihrem Innern haust ein sehr harter Kern Und zeigen sie sich auch von der Schale her weich Siehst du die Wahrheit, so wirst du schneebleich Glaub keinem der sagt, „Ich liebe dich“ Schon am nächsten Tag hängt an ihrer Galeone dein hübsches Gesicht Ich kannte einen von ihnen, ich muss es wohl wissen Ich liebte ihn, hab sehr drunter gelitten Am einen Tage wollt er mich lieben Am andern Tage von der Planke schieben Am folgendem wollt er mich ehelichen Hatte damit doch nur eine Wette beglichen Mädchen hör zu, was ich sage ist wichtig, Tu es nicht ab als wäre es nichtig Junge hör zu, halt deine Ohren gespitzt Das was ich erzähle, das ist kein Witz Mutig und tollkühn, listig und schlau Das sind sie gewiss nicht nur den ganzen Tag blau Auf ihren Schiffen, da fühl’n sie sich wohl Mit ner Pulle voll Rum oder sonst’gem Alkohol Du denkst sie sein Stilvoll und sehr gut erzogen Du hast dich geschnitten, sind doch nur hoch geboren Unter ihnen ist die Sprache recht rau Und nach nem kleinen Streit ist manches Auge blau Manierlich und zuvorkommend sind sie sicher nicht Auch Hygiene scheint für sie wahres Gift Piraten, die sind mit dem Teufel im Bunde Sitzen mit ihm in gemütlicher Runde Trinken und spielen und lachen vergnügt Doch erst wenn Blut fliest ist der Teufel begnügt Im warten jedoch ist er nicht sehr geduldig Legt Fallen und sagt dann ein And’rer sei schuldig Von manchen Piraten möchte aber selbst er nichts wissen Und auch in der Hölle will er sie missen Jetzt, in dieser unsrigen Zeit Tun mir diese armen Tröpfe schon Leid Können nicht in den Himmel, nicht mit dem Teufel verhandeln Müssen ewig als Geister auf Erden herwandeln Doch dafür gibt es genügend Grund Zu viele Schiffe liegen wegen ihnen am Meeresgrund Ehrbaren Frauen Stehl’n sie die Ehre Nicht einer hilft ihnen, dass sie sich bekehren Mit Alkohol vertrösten sie Mangel und Schmerzen Doch wird’s immer schwärzer in ihren Herzen Mitleid ist bei ihnen nicht mehr als ein Wort So begeh’n sie gewissenlos einen um’n ander’n Mord Geld ist für sie ihr Lebenszweck Doch nur an einem Abend ist meist alles schon weg Die Huren verdienen sich an ihnen dumm und dämlich Das gilt auch für and’re, die Wirte der Spelunken und Kneipen nämlich Also Mädchen sei schlau und auch stets gerissen Vertrau immer auf dein reines Gewissen Drum Junge sei, nicht wie sie, stets listig Denn was ich erzähle, das ist nicht witzig.“ Es waren während dem Lied noch ein kleiner Junge und ein junges Mädchen auf die Bühne gekommen und begannen über den Inhalt des Liedes zu diskutieren. Das eine oder andere Mal konnte Kim es sich nicht verkneifen unterdrückt aufzulachen, obwohl die Stimmung des Stücks eher gedrückt war. Doch nahezu all das, was dort geschildert wurde entsprach so gar nicht der Wahrheit. Zum Beispiel war der Kapitän des viel zu großen Schiffes als alt und verbittert dargestellt und das einzige Wesen zu dem er eine Beziehung aufbauen konnte, war ein Papagei namens Bonney, der andauernd Kekse wollte. Am Schluss trat noch einmal die Frau auf, die das Anfangslied gesungen hatte und sagte mit schauriger Stimme: „Ihr Mädchen, die ihr hier versammelt seid, ihr Jungen, die ihr beisammen seid, ihr Alten und Jungen, ihr Weisen und Dummen. Das Leben ist hart, uns bleibt nichts erspart. Dort unten im Hafen, da lauern die Wölfe in Pelzen aus Schafen. Meidet den Ort und euch wird nichts geschehen, geht ihr dort hin wird’s euch übel ergehen. Wir zeigten euch was euch erwarten kann, Fordert das Schicksal nicht, ihr lauft gegen ’ne Wand. Sie rauben und plündern und morden gern und schrecken nicht zurück mancher Frau die Ehre zu nehm’n. Ich bitt euch allerherzlichst d’rum, seid weder stur, noch dumm. Die Piraten das sind gar Teufelsgesellen, tut ihr’s doch, werden sie’s sein, die euer Urteil fällen.“ Kim schauderte unwillkürlich. So grausam waren sie doch nun wirklich nicht. Gerade ging die junge Frau von der Bühne, da hauchte ihr Charles ins Ohr: „Buh!“ Sie schrak auf und fuhr ihn an: „Bist du noch ganz bei Trost? Ich habe mich zu Tode erschrocken!“ Belustigt meinte er: „Dafür wirkst du aber noch sehr lebendig.“ „Du blöder Pirat, gib’s zu, du willst mir doch nur die Ehre stehlen!“ Er lachte auf und grinste: „Das habe ich doch schon längst und würde es jederzeit wieder tun.“ Kim streckte ihm die Zunge heraus und stand auf. Außer ihnen war niemand mehr im Saal. Nun stand auch Charles auf und sagte: „Ach Kim, sei doch nicht beleidigt, das war doch nur ein Kompliment. Hätte ich sagen sollen, dass ich es nie wieder tun wollte, weil du so schlecht warst?“ Ihm den Rücken zuwendend schmollte sie: „Nein, aber du hättest auch einfach gar nichts dazu sagen können.“ Er schlang seine Arme um ihren Bauch und flüsterte schuldbewusst: „Tut mir Leid, Kim, ich wollte dich nicht verletzen. Sei bitte nicht böse.“ Sie entwand sich aus seinem Griff, drehte sich zu ihm um und grinste ihn an: „Ich bin doch nicht böse, geschweige denn verletzt, wenn’s dir gefallen hat, fühle ich mich geschmeichelt. Ich wollte nur wissen, was du sagen würdest, wenn ich das in den falschen Hals bekommen hätte.“ Er schaute sie gespielt beleidigt an und knurrte: „Miststück! Dafür sollte ich dich…“ Er kam einen Schritt auf sie zu und sie fragte süffisant: „Was solltest du mich?“ Er kam noch näher an sie heran und sagte noch leiser: „Dafür sollte ich dich…“ Kim sah in seine blauen Augen, die ihr immer näher kamen und er hauchte: „Sollte ich dich…“ Seine Lippen berührten ihre sanft und sie lächelte: „…küssen.“ Und das tat er, lange und leidenschaftlich, doch da rief eine Frauenstimme: „Könnt ihr euren Speichel nicht draußen austauschen? Ich muss hier nämlich abschließen.“ Kim, die sich persönlich angegriffen fühlte, knurrte: „Nein, können wir nicht, und jetzt lass uns in Frieden!“ Sie sah zu der Person, die sie angesprochen hatte und erkannte eine Frau, Anfang zwanzig, sie hatte langes, blondes Haar und braune Augen. Genervt zischte sie zurück: „Ich lasse euch aber ganz bestimmt nicht in Ruhe, weil ich sonst tierischen Ärger bekomme. Und wenn ihr hier nicht auf der Stelle verschwindet, dann bekommt ihr Ärger.“ Kim grinste sie überlegen an und fragte: „Sagt wer?“ „Das sage ich!“ „Als könntest du halbe Portion es mit uns aufnehmen. Also tu deiner Gesundheit einen Gefallen und verzieh dich.“ Sie wedelte mit der Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie verschwinden sollte und wollte sich gerade wieder Charles zuwenden, da rief die junge Frau: „Richard! Da sind zwei, die machen Ärger!“ Kaum hatte sie das gerufen, da kam der Kerl in den Saal, der bei der Aufführung den starken Marinesoldaten gespielt hatte, der von allen jungen Frauen umschwärmt wurde, aber doch von einem Piraten bezwungen worden war. Er brüllte: „Raus hier, aber schnell!“ Kim, die langsam die Geduld verlor, brüllte zurück: „Pass auf, was du sagst, Freundchen, meine Geduld ist bald am Ende.“ Zornig fragte Richard: „So? Deine Geduld ist bald zu ende? Dann zeige ich dir mal, wie geduldig ich bin: und zwar gar nicht!“ Er kam mit großen Schritten auf sie zu und wollte sie am Arm packen, da stellte Charles sich ihm und den Weg und sagte: „Hey, hey, hey! Man vergreift sich nicht an wehrlosen Frauen.“ Wütend donnerte Richard: „Dann musst eben du dran glauben!“ Blitzschnell zückte Charles sein Messer, das er immer bei sich führte, hatte Richard beim Kragen gepackt, hielt es ihm an die Kehle und zischte: „Ich würde an deiner Stelle nicht so viel reden, sondern Taten folgen lassen. Sonst ergeht es dir vielleicht noch heute Abend wie in diesem Theaterstück.“ Er stieß Richard von sich und steckte sein Messer wieder weg. Dieser fiel unsanft auf den Boden und griff sich ängstlich an den Hals. Die Frau eilte zu ihm und schrie hysterisch: „Was hast du getan? Er blutet ja!“ Ruhig antwortete Charles: „Tja, ich bin nun mal ein Pirat und mein Hobby ist es, Menschen umzubringen und ihre Seelen dem Teufel zu verkaufen.“ Kim verstand sofort die Anspielung auf das Theaterstück, doch die Frau keuchte: „Pirat? Was? Wieso bist du hier?“ Er lachte: „Na selbst wenn ich Pirat bin, werde ich mir doch wohl hin und wieder einmal ein Theaterstück ansehen dürfen und wenn ich es nicht darf, ist es auch egal, da Piraten sowieso gesetzlose Gesellen sind, die mit dem Teufel im Bunde sind.“ Die junge Frau wich vor ihm auf dem Boden zurück und Charles seufzte genervt: „Jetzt krieg dich mal wieder ein, ich will dich nicht vergewaltigen oder so.“ Kim rollte mit den Augen und dachte sich, dass er sie so wohl nur noch mehr in Panik versetzte. Sie kam langsam auf die Frau zu, bot ihr Hilfe beim Aufstehen an und lächelte: „Achte gar nicht auf ihn. Wir sind zwar Piraten, aber deswegen werden wir dich jetzt nicht skalpieren. In Wahrheit sind wir ganz anders als in euerm Stück.“ Zögernd ergriff die junge Frau ihre Hand und fragte: „Und du bist auch Pirat? Du bist doch ein Mädchen, tun sie dir nicht Gewalt an?“ „Die, bei denen ich bin, sind alle ganz lieb und zahm. Aber wenn sie zu kämpfen beginnen, sieht die Sache ganz anders aus.“ Charles musste grinsen, als sie sagte die Piraten seien zahm, denn normalerweise waren sie das ganz und gar nicht. Nur bei Kim hielten sie sich einigermaßen im Zaum. Warum wusste er auch nicht so genau. Die junge Frau allerdings fragte: „Und warum wolltest du Pirat werden? Du konntest doch sicher nicht wissen, dass die Mannschaft, bei der du anheuertest so freundlich ist, oder?“ Kim lachte bestätigend: „Oh nein, das konnte ich nicht, schließlich haben sie mich entführt. Die ersten Wochen waren echt hart für mich, aber dann hab ich mich mit dem Captain angefreundet.“ Charles musterte sie skeptisch und fragte: „Was verstehst du denn unter ‚angefreundet’?“ Etwas verlegen meinte sie: „Nun ja, er ist eben ein guter Freund von mir.“ „Mehr nicht?“ Nun bestimmter sagte sie: „Mehr nicht!“ Der Mann, der inzwischen wieder aufgestanden war und sich gefangen hatte, fragte: „Ihr seid aber noch nicht lange ein Paar, oder?“ Verwundert sahen Kim und Charles zu ihm und letzterer fragte: „Ein Paar? Wie kommt Ihr darauf, wir seien ein Paar?“ Nervös meinte der Mann: „Na ja, ihr habt euch geküsst und das macht man doch nur, wenn man ein Paar ist.“ Charles und Kim warfen sich einen vielsagenden Blick zu und Kim lächelte: „Nein, nein, da habt Ihr etwas missverstanden, dies ist lediglich eine Verabredung, nichts weiter.“ Charles jedoch trat nähre an sie heran, küsste sie auf die Wange und flüsterte: „Daraus könnte aber vielleicht noch mehr werden, oder?“ Kim schob ihn von sich und zischte: „Nein, das ist eine Verabredung, es wird nicht mehr passieren, Lustmolch!“ Seinen beleidigten Blick ignorierend, wandte sie sich wieder dem Mann und der jungen Frau zu und sagte freundlich lächelnd: „Ich bin übrigens Kim und das ist Charles, er ist nicht auf dem selben Schiff wie ich.“ Die Frau entgegnete schüchtern: „Ich bin Charline und das ist mein Verlobter Richard. Aber woher kennt ihr euch denn, wenn ihr nicht auf dem gleichen Schiff seid?“ Kim lächelte: „Unsere Kapitäne haben zusammen einen Coup durchgezogen und dadurch haben wir uns kennen gelernt.“ Richard wischte sich mit einem Taschentuch das Blut ab, das noch an seinem Hals klebte und Kim raunte Charles zu: „Na los, entschuldige dich!“ Dieser sah sie nur schräg von der Seite an und fragte trotzig: „Wieso sollte ich? Der wollte dich angreifen!“ „Na und? Ist doch egal, du hast ihn verletzt und seine Verlobte Todesängste ausstehen lassen, also tu was ich sage und entschuldige dich!“ Knurrend willigte er ein, ging auf Richard zu und murmelte: „Tut mir Leid.“ Kim, die fand, er könnte ruhig etwas höflicher sein, fragte laut: „Wie bitte? Ich hab nicht verstanden, was du zu ihm sagtest, sag es bitte noch einmal etwas lauter!“ Charles stieß wütend die Luft aus und sagte schließlich: „Tut mir Leid, dass ich vorhin so grob zu dir war, Richard, darf ich dich und deine Verlobte zur Entschädigung vielleicht auf ein Getränk unten im Hafen einladen?“ Richard warf einen fragenden Blick zu seiner Geliebten, doch als diese zögerlich nickte, sagte er: „Warum nicht? Uns soll’s Recht sein.“ Als sie auf dem Weg zum Hafen waren, liefen Richard und Charline hinter ihnen her und Charles knurrte: „Warum musste ich mich denn bei ihnen entschuldigen?“ Genervt zischte Kim: „Weil sie nette Leute sind. Und jetzt kein Wort mehr zu diesem Thema!“ „Dann versprich mir aber, dass du mich nachher noch einmal küsst und zwar richtig, egal wer zuschaut.“ Kim seufzte resignierend und lächelte: „Schon gut, wenn du unbedingt willst.“ Süffisant grinsend zwickte er ihr in den Hintern und raunte: „Deal.“ Erschrocken schlug sie seine Hand weg und sah ihn vorwurfsvoll an. Charline, die leicht außer Atem war, fragte: „Sind im Hafen eigentlich viele Piraten? Ich fühle mich nämlich normalerweise schon in Gegenwart von Matrosen unwohl, aber Piraten…“ Abrupt blieben Charles und Kim stehen, drehten sich um und sahen Charline ungläubig an. Schließlich fragte Charles: „Ihr seid noch nicht so lange hier, oder?“ Ihre Gegenüber schüttelten den Kopf und Charline sagte leise: „Wir sind auf der Durchreise und hier erst seit heute Mittag, wieso?“ Die beiden Piraten warfen sich einen vielsagenden Blick zu und Kim sagte: „Nun, es ist so, New Providence ist nicht irgendeine Hafenstadt. Es ist eher eine Art Piratennest. Und das wusstet ihr nicht?“ Das junge Paar wechselte einen nervösen Blick, doch Charline sagte mit zitternder Stimme: „Ist doch jetzt auch egal, lasst uns weitergehen.“ Gezwungen lächelnd meinte Kim: „Na wenn du meinst, aber wir übernehmen keine Verantwortung.“ Charline achtete jedoch nicht auf ihre Worte, sondern setzte sich mit steifem Gang in Bewegung. Richard beeilte sich neben sie zu kommen und Kim und Charles schüttelten nur den Kopf. Als sie in der Spelunke angekommen waren, in die Kim immer ging, war diese recht voll. Kim sah sich um, ob sie nicht doch noch einen freien Platz erhaschen konnte und da sah sie, dass an einem großen Tisch in einer Ecke Jon, Terry, Aodh, Laffite, Juanito, Jack und Edward saßen. Sie wollte noch versuchen, sich hinter Charles zu verstecken, doch Terry hatte sie schon entdeckt und winkte sie zu sich. Sie atmete tief durch, warf Charles einen wehmütigen Blick zu und drängte sich durch die Reihen von Piraten. Stets achtete sie darauf, dass Charles, Charline und Richard hinter ihr blieben und sie nicht verloren. Schließlich stand sie vor dem Tisch an dem noch genau vier Plätze frei waren, wenn man sich etwas quetschte. Gequält lächelte Kim: „Guten Abend allerseits. Wie geht es denn?“ Terry, der nicht wirklich gut gelaunt schien, wetterte: „Soso, geruht sich das Fräulein auch mal wieder zu ihren Kameraden und nicht zuletzt Freunden zu kommen?“ „Ja, Terry, das feine Fräulein hat sich entschlossen, euch jemanden vorzustellen.“ Sie zog Charles nahe zu sich, küsste ihn und sagte, mehr an Terry, als an die anderen gewandt: „Das ist Charles.“ Mit Genugtuung sah sie, wie er Charles zähneknirschend musterte und drehte sich erschrocken um, als sich jemand hinter ihr räusperte. Es war Richard, der Charline im Arm hielt, die sich ängstlich umschaute und sie fügte hinzu: „Ach ja, das sind Richard und Charline, sie sind verlobt und wir haben sie in dem Theater in dem Charles und ich heute waren, kennen gelernt, sie arbeiten dort.“ Jon, der genug von dieser Eifersuchtsmasche hatte, deutete auf die Plätze neben sich und sagte ruhig: „Setzt euch doch und trinkt etwas mit uns, die Nacht ist schließlich noch jung.“ Kim ließ sich das nicht zweimal sagen und ließ sich neben ihm nieder, Charles mit sich hinunterziehend. Auch das junge Paar setzte sich zögerlich und Charline beäugte skeptisch Laffite, neben dem sie saß, der aber nur Charles giftige Blicke zuwarf. Als die Bedienung kam, bestellten sich die vier je ein Bier und auch noch andere an ihrem Tisch beteiligten sich an der Bestellung. Nach einiger Zeit und auch einigem Alkohol später, lag Kim halb auf der Bank. Sie hatte ihre Beine auf Jons Schoß gelegt und sich an Charles angelehnt, den sie von Zeit zu Zeit zärtlich küsste. Richard unterhielt sich angeregt mit Edward und Charline leerte gerade ihren dritten Humpen Bier in einem Zug, wofür sie von Laffite begeisterten Beifall gespendet bekam. Jon jedoch klopfte Kim auf den Oberschenkel und sagte: „Kim, kommst du mit zum Schiff? Es ist schon spät.“ Sie gähnte herzhaft und nickte. Anschließend sagte sie zu Charles: „Ich gehe zum Schiff, kommst du mit?“ Er nickte verschmitzt lächelnd. So verabschiedeten sich die Drei von den anderen und machten sich auf den Weg zur Vengeance. Kim wollte sich schon bei Charles verabschieden, da meinte der: „Zeig mir doch noch deine Kajüte, bitte.“ Skeptisch fragte sie: „Warum?“ Eigentlich konnte sie sich denken, auf was er hinaus wollte, aber sie brauchte noch Zeit, doch er sagte nur: „Weil ich wissen will, wie deine Koje aussieht.“ Und schob sie an Deck. Jon beobachtete das ganze Geschehen etwas kritisch und warf Kim einen fragenden Blick zu, ob er eingreifen sollte. Doch sie schüttelte gequält lächelnd den Kopf und führte Charles unter Deck. Als sie in ihrer Kajüte ankamen, schloss er die Tür hinter ihnen ab und kam langsam auf Kim zu, um sie zu küssen. Sie allerdings schob ihn von sich und meinte: „Nein, lass mir Zeit.“ Verwirrt schüttelte er den Kopf und fragte: „Zeit? Du hast mich doch vorhin auch geküsst.“ „Ja, aber das war… zwanglos, es lief auf nichts hinaus. Aber hier sind wir allein, in einem Zimmer eingesperrt. Ich weiß, worauf du hinaus willst.“ Er hob unschuldig die Hände und sagte: „Bei Gott, ich will auf nichts hinaus. Man kann sich doch auch in einem Raum, wenn man nur zu zweit ist völlig zwanglos küssen.“ Verlegen entgegnete sie, sich die Locken hinter die Ohren streichend: „Ja schon, aber bei dir ist das anders, bei Piraten insgesamt ist das meist anders, da läuft es immer darauf hinaus. Und das weiß ich, also versuche erst gar nicht es abzustreiten.“ Auch er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Lachend ließ er sich aufs Bett fallen und meinte: „Ach Kim, dir kann man einfach nichts vormachen. Und wenn ich dir verspreche, dass nichts passieren wird außer einem Kuss?“ Sie überlegte kurz, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine Schublade und legte Leos Brief, der zuvor auf der Oberfläche gelegen hatte, hinein. Dann wandte sie sich Charles zu und fragte: „Du versprichst es? Hoch und heilig?“ Langsam stand er auf, ging auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Hüfte. Sein Gesicht näherte sich ihrem und ihre Lippen berührten sich, dann flüsterte er: „Piraten-Ehrenwort.“ Sie schloss die Augen und er küsste sie. Leidenschaftlich fuhr er durch ihre Locken und drückte sie aufs Bett. Als er jedoch seine Hand unter ihren Rock schieben wollte, drückte sie ihn von sich und sagte: „Du hast es versprochen.“ Er allerdings kam ihr wieder näher, versuchte erneut sie zu küssen und meinte: „Ist doch egal, gestern haben wir doch auch…“ Aber Kim stieß ihn nun heftiger weg und sagte aufgebracht: „Es ist nicht egal! Gestern war gestern und heute ist heute, außerdem war ich gestern betrunken und frustriert, glaube ich.“ Ärgerlich fuhr Charles sich wieder durch die Haare und sah zur Seite. Dann sagte er, versucht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten: „Ich verstehe dich nicht. Küssen und alles ist erlaubt, aber wenn es zur Sache geht, machst du einen Rückzieher?“ „Ich hatte es dir vorhin schon gesagt. Hör mir halt zu!“ „Du bist unfair. Warum darfst du bestimmen?“ „Weil es sonst Vergewaltigung wäre und du hingerichtet werden würdest. Und wenn dir das nicht passt, dann kannst du ja gehen.“, zischte sie zornig. Er schüttelte lächelnd den Kopf und äußerte: „Schon gut, schon gut. Ich mache ja nichts. Darf ich dich trotzdem noch einmal küssen?“ „Ich weiß nicht.“ „Bitte, nur ein kleines Küsschen. Mehr nicht, ich schwöre es.“ „Also auf deine Versprechen ist ja nicht wirklich verlass, was soll ich denn jetzt machen?“ „’Ja’ sagen?“ Sie musste schmunzeln und nickte schließlich mit dem Kopf, woraufhin er ihr näher kam und sie sanft auf die Lippen küsste. Sofort darauf ließ er auch wieder von ihr ab, wie er es versprochen hatte. Erleichtert schenkte sie ihm ein Lächeln und kuschelte sich an ihn. Träumerisch spielte Charles mit einigen Locken ihres Haares, bis er fragte: „Sag mal, wie stehst du eigentlich wirklich zu deinem Captain? Ihr seid doch niemals nur befreundet.“ Verblüfft fragte sie: „Wie kommst du denn darauf?“ „Nun ja, ich sehe es an der Art, wie ihr miteinander umgeht, miteinander redet oder lacht. Deine Weise mit ihm umzugehen ist so anders, als wenn du mit McQuilligan, oder Terry oder so jemandem zusammen bist.“ „Das musst du dir einbilden, Jon ist für mich nur ein Freund, ich bin nicht in ihn verliebt und er auch nicht in mich. Und wenn es so aussieht, als wäre da noch mehr, dann liegt das daran, dass er für mich so etwas wie ein Vater ist. Er sorgt sich um mich, tröstet mich. Aber das war’s.“ „Bist du dir sicher? Ich weiß nicht, meine Intuition sagt mir, dass da mehr ist.“ Sie richtete sich belustigt auf und kicherte: „Deine Intuition? Seit wann haben Männer Intuition? Höchstens ein Gefühl im Bauch, was man auch Hunger nennt.“ „Ha ha, sehr witzig. Nein, ich meine das ernst. Sei ehrlich, läuft da was?“ Süffisant grinste sie: „Eifersüchtig?“ Und er antwortete schlicht: „Ja.“ Überrascht von seiner ehrlichen Antwort sagte sie: „Ehm, nein, da läuft nichts und da kannst du auch die anderen fragen.“ Beruhigt ließ er sich aufs Bett fallen und schnurrte zufrieden, als sie ihren Kopf auf seine Schulter legte und mit ihrem Finger sanfte Bahnen auf seiner Brust fuhr. Um sie herum herrschte reges Treiben, denn es war Markttag in dem kleinen Hafenstädtchen. Sie bummelte nur ein wenig umher, da rannte ein kleiner Junge, höchstens fünf Jahre alt, in sie hinein, fiel zu Boden und sah sie mit großen Augen an. Im nächsten Moment begann er fürchterlich zu weinen und Kim, die sich schuldig fühlte, kniete sich zu ihm runter und entschuldigte sich: „Oje, tut mir Leid. Hast du dir wehgetan? Das wollte ich nicht. Soll ich dich zu deiner Mama bringen? Wo ist sie denn?“ Mit verheultem Gesicht sah er zu ihr auf und sagte: „Weiß nicht. Hab sie verloren. Ich will zu meiner Mama!“ Und er begann wieder zu weinen. Kim sah sich um, half dann dem kleinen Jungen auf und fragte: „Wie sieht denn deine Mama aus?“ Er ergriff ihre Hand und sagte: „Sie ist blond und hat eine weiße Bluse an. Und sie hat blaue Augen, wie ich.“ Sich umschauend fragte sie: „Soso. Sag mal, mein Kleiner, wie heißt du eigentlich?“ Mit strahlendem Gesicht antwortete er: „Leonard, aber meine Mama, mein Papa und mein Bruder und die anderen sagen immer Leo zu mir.“ Abrupt blieb sie stehen und musste unwillkürlich an ihren Leo denken. Doch sie riss sich zusammen und fragte weiter: „So, Leo, wo hast du denn deine Mama verloren?“ „Weiß ich nicht.“ Doch da rief eine Frauenstimme: „Leo! Leonard! Wo steckst du denn, Junge?“ Und der Junge rief freudig: „Ich bin hier! Hier Mama!“ Plötzlich kam aus der Menschenmenge vor ihnen eine Frau mit blondem Haar, blauen Augen, einer weißen Bluse und einem weiten, roten Rock. An der Hand führte sie einen anderen Jungen, auch blond und ungefähr sieben oder acht. Leo lief glücklich auf seine Mutter zu. Diese holte allerdings aus und ohrfeigte ihn kräftig, dann brüllte sie: „Mit euch Bälgern hat man auch nichts als Ärger! Erst lässt sich Charles beim stehlen erwischen und dann läufst du auch noch weg, Leo! Wenn euer Vater davon wüsste, aber er wird davon erfahren, darauf könnt ihr Gift nehmen und er wird nicht so gnädig mit euch sein wie ich. Der wird euch verdreschen, dass ihr drei Tage nicht mehr sitzen könnt! Und jetzt kommt endlich!“ Sie packte den Jungen, der inzwischen wieder angefangen hatte zu heulen, am Arm und zog ihn grob mit sich. Jetzt reichte es Kim. Sie rief: „Hey Ihr! Was soll das denn? Das sind Eure Söhne! Seid gefälligst nicht so grob, schließlich sind sie noch klein!“ Als sie allerdings nicht reagierte, wollte Kim sie an der Schulter packen und aufhalten, doch sie griff durch sie hindurch. Nur der kleine Leo drehte sich noch einmal mit einer roten Backe zu ihr um und Tränen standen in seinen Augen. Die Mutter ging schnell, selbst Kim hatte Schwierigkeiten nachzukommen. Sie fragte sich, wie die beiden Jungs da mithalten konnten, doch nicht viel später stand sie vor einem großen Schiff, ohne Flagge. Sie wusste, was das bedeutete - Piraten. Wie konnte die Frau nur zwei so kleine Jungen mit auf ein Piratenschiff nehmen? Doch sie musste sich beeilen, damit sie sah, wo die Frau die beiden hinschleppte. Schließlich blieb sie vor einem Mann mit grauem Haar und Drei-Tage-Bart stehen und brüllte: „Deine verdammten Söhne nehme ich nie wieder mit zum Markt! Der eine lässt sich beim Stehlen erwischen und der andere läuft einfach davon! Ich will, dass du sie bestrafst!“ Der Mann lächelte mitleidig und sagte ruhig: „Also erstmal sind es auch deine Söhne, Xante und zweitens glaube ich, hast du sie schon genug bestraft. Leos Backe ist ja vollkommen verschwollen und bei Charles sieht es nicht anders aus. Also lass mich in Ruhe und pack die Jungs nicht so hart an.“ Wutschnaubend stieß sie die Kinder auf ihn zu, drehte sich um und keifte im Gehen: „Du bist doch das allerletzte! Weich bist du geworden! Ein Waschlappen! Kein Wunder, dass die Jungs so verweichlicht sind, bei dem Vater! Wie konnte ich mich nur auf dich einlassen?“ Schadenfroh rief er ihr nach: „Das nennt man Liebe, meine Liebe!“ Leo, der inzwischen nicht mehr weinte, kam auf seinen Vater zu und erzählte freudig: „Ich habe heute ein Mädchen getroffen, Papa, sie war groß und wunderschön und ganz lieb. Sie hat mir geholfen Mama wieder zu finden. Wenn ich groß bin, will ich sie mal hochzeiten.“ Sein Vater lachte und meinte: „Heiraten, Leo, das heißt heiraten. Zum Teufel noch mal, warum werdet ihr Bälger auch so früh erwachsen? Hast dich also verliebt, Leo. Wenn du sie wieder triffst, lass sie nicht gehen, sondern stell sie mir vor, damit ich euch meinen Segen geben kann.“ Kim errötete leicht, da sie wusste, dass der kleine Leo sie gemeint hatte. Dennoch fragte sie lächelnd: „Hast du mich gemeint, Leo?“ Er drehte sich schlagartig zu ihr um und seine Augen weiteten sich. Strahlend rannte er zu ihr, nahm sie bei der Hand und zog sie vor seinen Vater. Dann sagte er: „Guck, Papa, das ist sie. Darf ich sie jetzt hochzeiten?“ Der Mann sah verwundert zu ihm und sagte dann: „Da ist niemand, Leo. Außerdem habe ich dir eben schon gesagt, dass es heiraten heißt.“ Das Lächeln verschwand nicht vom Gesicht des Jungen und er strahlte: „Siehst du sie denn nicht? Sie steht direkt hier neben mir. Ich will sie sofort hochzeiten.“ Noch bevor der Vater irgendetwas sagen konnte, lief Charles um ihn herum und Sang: „Leo wird beklo-hoppt! Leo wird beklo-hoppt!“ Der Vater jedoch drängte Charles zur Seite, kniete sich zu Leo herunter, legte ihm die Hand auf die Stirn und fragte: „Sag, Junge, hast du Fieber? Fühlst du dich unwohl?“ Wütend schnaubte Leo: „Nein, nein, nein! Warum seht ihr sie denn nicht? Sie steht doch direkt neben mir! Ihr seid blöd!“ Kim allerdings legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte lächelnd: „Psst. Du solltest nicht von mir sprechen, sie sehen mich nicht und könnten denken, du seist verrückt geworden.“ Gerade wollte der Mann Leo schütteln, da er nicht antwortete, da rief jemand: „Hey, Josh, ich glaube, deine Frau hat da gerade eine kleine Auseinandersetzung!“ Seufzend richtete sich der Mann auf und sagte noch: „Charles, pass auf deinen kleinen Bruder auf, ich bin gleich wieder da.“ Charles nickte brav und sein Vater eilte davon. Sofort darauf wandte er sich allerdings an Leo, schubste ihn, dass er zu Boden fiel und sagte gehässig: „Blöder Bastard! Zum Glück schnappst du jetzt über, dann sind wir dich los. Mama und Papa haben mich ja sowieso viel mehr lieb!“ Leo stand allerdings auf, streckte ihm die Zunge heraus und sagte trotzig: „Ist gar nicht wahr! Mama und Papa haben mich viel mehr lieb als dich, ich bin nämlich viel schlauer und ich hab bald meine eigene Frau!“ Charles, der anscheinend nicht mehr wusste, was er sagen sollte, rief beleidigt: „Warte nur, bis ich Mama erzähle, dass du heiraten willst! Die wird dich dann grün und blau schlagen!“ Mit diesen Worten rannte er lachend davon. Große Augen machend sah Leo ihm nach und fragte Kim ängstlich: „Glaubst du Mama wird wirklich böse auf mich? Ich mag nicht, dass Mama böse wird. Willst du mich wirklich hochzeiten?“ Vergnügt lachte Kim auf und sagte: „Wenn du deswegen Ärger kriegst, dann bestehe ich natürlich nicht darauf. Es war aber eine schöne Idee, nicht?“ Strahlend nickte er. Kim wachte auf und sah sich um. Es war dunkel und in ihrem Nacken konnte sie Charles gleichmäßigen Atem spüren. Hatte sie das geträumt? War das Zufall? Vorsichtig stand sie auf, um sich ein Glas Wasser zu holen. Gerade wollte sie die Tür öffnen, da fiel ihr auf, dass Charles sie ja abgeschlossen hatte. Etwas genervt ging sie zum Bett, rüttelte Charles unsanft wach und fragte ruppig: „Wo ist der Schlüssel?“ Überlegen grinste er sie an: „Du willst raus? Wieso? Willst du zu deinem Captain?“ „Wie kommst du denn da drauf? Ich will mir ein Glas Wasser holen, nichts weiter.“ Er drehte ihr den Rücken zu und sagte: „Nein.“ Wütend blaffte sie ihn an: „Geht’s noch? Du kannst mich doch nicht in meiner eigenen Kajüte einsperren!“ „Wie du siehst, kann ich doch.“ „Und warum? Ich werde nicht zu Jon rennen. Du bist doch bekloppt!“ - „Leo wird beklo-hoppt! Leo wird beklo-hoppt!“ - Warum kam ihr denn jetzt so etwas in den Sinn? Ach ja, das hatte ja der kleine Charles gesungen, als Leo gesagt hatte, dass er sie heiraten wollte. Stopp! Konnte es sein? Es müssten schon einige Zufälle sein, damit das nicht stimmte… Vorsichtig legte sie sich wieder zu ihm, sie wollte es ruhig angehen lassen, da sie nicht wusste, wie er auf die Sache reagieren würde. Sie kraulte ihm durchs Haar und überlegte sich, wie sie es am besten angehen sollte. Nach nicht allzu langer Zeit drehte sich Charles zu ihr um, küsste sie sanft und fragte: „Hast du jetzt doch Lust?“ Sich bemühend, nicht zu sehr genervt zu klingen, sagte sie: „Nein, tut mir Leid. Aber sag mal, ich weiß gar nichts von deiner Familie, erzähl mir doch was über sie. Wo kommst du her?“ Überraschend rüde gab er zurück: „Du musst auch nichts darüber wissen, ich weiß doch auch nichts über deine Familie. Also lass mich mit so was in Ruhe.“ Etwas gekränkt gab sie zurück: “Ich hab doch nur gefragt, also wenn du so weiter machst, kannst du das mit uns vergessen.“ Für einen kurzen Augenblick schien er zu überlegen, dann knurrte er: „Na gut, frag mich eben, was du wissen willst.“ Von seinem rauen Ton irritiert, fragte sie: „Bist du sicher, dass das OK ist? Wenn du gar nicht willst, ist das OK, du musst nur was sagen.“ Ziemlich gestresst zischte er: „Nun frag schon!“ „Aber du willst doch nicht darüber reden.“ „Ist doch egal, ich nehm so einiges auf mich…“ „Aber ich will dich nicht in Verlegenheit bringen oder so was.“ Er sog bebend die Luft ein und brüllte dann: „Jetzt frag endlich damit ich meine Ruhe hab!“ Sofort darauf konnten sie ein Klopfen an der Wand vernehmen, das aus der Kajüte nebenan kam und deren Insassen brüllten: „Ruhe da drüben! Wir wollen schlafen!“ Schuldbewusst rief Kim zurück: „Entschuldigung, kommt nicht wieder vor!“ Jetzt wieder ruhiger und lächelnd sagte Charles: „Also Kim, entweder du fragst mich jetzt, was du wissen willst, oder du lässt es bleiben und das Thema ist für alle Ewigkeit vom Tisch.“ Schwer schluckend raffte sie sich dann doch zusammen und fragte: „Hattest du einen Bruder?“ „Ja. War’s das?“ „N… nein, aber…“ Sie wusste nicht, wie sie ihre Frage formulieren sollte. Da fragte Charles: „Was denn noch? Mach doch mal hinne, das hält ja kein Mensch aus!“ Giftig zischte sie: „Tut mir ja Leid. Kann es sein, dass dein Vater Josh hieß?“ „Nein.“ Sie wollte schon traurig seufzen, da sagte er: „Er hieß Joshua.“ Ihre Augen strahlten auf und sie fragte weiter: „Und deine Mutter, sie hatte doch einen so seltsamen Namen, irgendwas mit x.“ „Xante. Mein Vater hat immer zu Leo und mir gemeint, das wäre eine Kurzform für Xanthippe.“ Er lachte auf, aber Kim fragte: „Dein Bruder war Leonard? Leo? Damals, als er fünf und du sieben warst, da hast du dich doch auf dem Markt beim Stehlen erwischen lassen und er hat eure Mutter verloren, oder?“ Fassungslos nickte Charles und Kim lief eine Träne die Wange hinunter. Er war Leos großer Bruder. Sein Bruder. Vorsichtig fragte er: „Woher weißt du das alles? Und warum weinst du jetzt?“ Sie ging nicht darauf ein, sondern forderte: „Gib mir den Schlüssel. Auf der Stelle!“ „Nicht, bevor du mir nicht sagst, was los ist. Kennst du Leo? Wo ist er jetzt? Wie geht es ihm?“ Sie legte die Stirn in ihre Hände, schüttelte den Kopf und murmelte: „Nein, das kann nicht sein, das ist nur ein Zufall. Du bist nicht Leos Bruder!“ Verwirrt fragte Charles: „Aber du hast doch eben noch gesagt, dass du meinen Bruder Leo kennst. Entscheide dich doch mal. Ist er nun mein Bruder oder heißt er nur so?“ Sie atmete tief durch und sah auf. Ihr Atem stockte, denn es war ihr, als säße da neben Charles Leo, der ihm zum verwechseln ähnlich sah, starrte sie an und nickte. Sie stand auf, wich zurück und keuchte: „Nein, bitte. Mit jedem, aber nicht mit seinem Bruder. Wie konnte ich nur? Warum ist es mir nicht eher aufgefallen?“ Langsam kam Charles auf sie zu, legte seine Hände auf ihre Schultern und fragte: „Was ist denn los? Was ist mit Leo?“ Und Kim schluchzte: „Ich liebe ihn! Nur ihn! Und jetzt ist er tot und du bist sein Bruder! Und ich habe mit dir geschlafen und dich geküsst. Warum habe ich es nicht eher bemerkt? Du siehst ihm doch ähnlich, als wärt ihr Zwillinge. Ich hasse dich!“ „Warte, warte. Langsam, ich verstehe kein Wort. Wer ist tot? Leo? Du hast ihn geliebt und hasst mich jetzt, weil du mit mir geschlafen hast?“, fragte Charles verwirrt und Kim rief: „Ja verdammt, ich hasse dich! Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich!“ Er antwortete nichts und nach einer Weile setzte Kim sich, verbarg das Gesicht in ihren Händen und flüsterte: „Nein, ich habe gelogen. Ich hasse dich nicht, ich hab dich lieb.“ Ein Schluchzer entfuhr ihr und er kniete sich zu ihr nieder, legte seine Hand auf ihr Knie und sagte: „Ist ja gut, es war eine Nacht, was hat eine Nacht denn zu bedeuten? Im Gegensatz zu all den Nächten die du mit Leo verbracht hast.“ „Eine Nacht ist eine zu viel! Er hasst mich jetzt bestimmt, zumindest hasse ich mich.“ Sie stand auf, ging zu ihrem Schreibtisch, holte Leos Brief und war kurz davor ihn zu zerreißen, da rief sie sich ins Gedächtnis, dass er von Leo war. Er hatte ihr geschrieben, dass er sie liebte. Sie konnte ihn nicht zerreißen, schließlich hatte Leo ihn aus Liebe geschrieben. Sie legte den Brief wieder beiseite und setzte sich erneut aufs Bett, neben Charles, der sich auch gesetzt hatte. Leise fragte er: „Was ist das für ein Brief?“ „Er ist von Leo, er hat mir geschrieben, dass er mich liebt und mich immer geliebt hat. Wenn ich es ihm doch auch noch einmal sagen könnte, doch jetzt hasst er mich bestimmt, weil du sein Bruder bist. Und du hasst mich, weil du denkst, ich würde dich nur als Ersatz nehmen, weil ihr euch so ähnlich seht. Alle hassen mich, mich eingeschlossen.“ Wütend brauste er auf: „Du weißt doch gar nicht, was Hass ist! Nimm dieses Wort nicht so leichtfertig in den Mund! Ich hasse dich nicht und Leo sicher auch nicht. Aber warum solltest du dich hassen? Du warst betrunken und ich habe diesen Umstand ausgenutzt. Und alles andere hat sich entwickelt, dafür kannst du nichts, so ist das Leben. Die Liebe kommt und geht. Sicherlich hat Leo dich geliebt, aber wenn er dich wirklich geliebt hat, dann will er nichts anderes, als dass du glücklich bist und wenn du um ihn trauerst und dich selbst fertig machst, dann kannst du nicht glücklich sein. Also sieh auf das was vor dir liegt, von mir aus lins über die Schulter, aber gehe stets voran und vertrau darauf, dass das Leben weiß, was gut für dich ist, denn irgendwie wird immer alles wieder gut.“ Mit großen Augen schaute sie auf ihn und lauschte seinen Worten. Dann musste sie sich lächelnd an Leos Postskriptum erinnern: Tu was du willst, ich will, dass du glücklich wirst. Sie bekam eine Gänsehaut und rieb sich über die Oberarme. Besorgt fragte Charles: „Ist dir kalt? Willst du mein Hemd?“ Doch sie grinste: „Du willst dich doch nur ausziehen.“ Sich trotzdem das Hemd ausziehend sagte er: „Findest du es hier nicht auch unwahrscheinlich heiß?“ „Und gerade eben fragt er noch, ob mir kalt wäre…“ Überheblich schlang er die Arme um sie und warf sie aufs Bett, wo er sich auf sie setzte und begann sie zu kitzeln, bis sie Bauchschmerzen hatte und sie drehte den Spieß um. Das ging so lange, bis der Morgen graute und sie vor Erschöpfung einschliefen. Als sie am nächsten Mittag das Deck betraten kam Jon auf sie zu und begrüßte sie erst einmal. Dann sagte er: „Kim, es tut mir Leid, dir das sagen zu müssen, aber deine Nachbarn haben sich beschwert, ihr seid zu laut gewesen. Was auch immer ihr macht, mir soll es Recht sein, aber tut es leise, ansonsten sehe ich mich gezwungen Konsequenzen zu ziehen.“ „Aber wir haben doch gar nicht…“, setzte Kim an, doch Jon unterbrach sie: „Ich sagte doch, es ist mir egal, was ihr macht, solange ihr es leise macht und ich dich nicht bestrafen muss, denn das würde ich gar nicht lieben.“ „Ai, Sir.“ Verblüfft sah er sie an und fragte: „Was ist denn mit dir los? Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden oder hast du deine Tage? ‚Ai, Sir’ hast du schon seit zirka drei Jahren nicht mehr zu mir gesagt, wenn nicht sogar noch länger.“ „Du lässt mich einfach nicht ausreden und das nervt mich. Ich wollte sagen, dass wir gar nichts getrieben haben. Wir haben uns nur unterhalten. Über einen Traum von mir, dass Leo sein Bruder war, über seine Eltern, seine Vergangenheit, eben so was..“ „Soso. Nur unterhalten? ... Moment! Dass Leo sein Bruder war? Er war Leos Bruder? Warum wusste ich denn noch gar nichts davon?“ „Bis heute Nacht wusste ich es doch auch nicht, aber nach diesem Traum war es eigentlich klar.“ Sie in die Seite pieksend fragte Charles: „Und warum war es dir dann nicht sofort klar, sondern erst nach einer halben Stunde Diskutieren?“ Sie streckte ihm die Zunge heraus und fragte Jon: „Sag mal, Jon, wo wollen wir eigentlich als nächstes hin? New Providence ödet mich an.“ „Ich weiß es noch nicht genau, wahrscheinlich Puerto Bello oder Cartagena oder so was in der Art. McQuilligan wird sich übrigens als Korsar versuchen, falls es dich interessiert, Charles.“ Das Gesicht verziehend meinte dieser: „Im Mittelmeer? Was will er denn da? Ist doch langweilig, da gibt es nur ein paar Spanier und Franzosen.“ Lächelnd schlug Jon vor: „Wenn du nicht ans Mittelmeer willst, dann schließ dich doch uns an, wir haben immer einen Platz frei.“ „Wo wolltest du noch gleich hin? Du wolltest in der Karibik bleiben, Genitson? Eigentlich keine schlechte Idee, was meinst du Kim?“ Beide sahen zu ihr, aber sie wusste nicht so recht was sie von dieser Idee halten sollte, war es wirklich vorteilhaft wenn sie Charles den ganzen Tag vor der Nase hatte? Dennoch lächelte sie: „Von mir aus, tut was ihr nicht lassen könnt.“ Jon gab Charles die Hand und begrüßte ihn: „Dann bist du angeheuert, du musst nur noch unterschreiben, aber das hat noch Zeit bis wir ablegen.“ Es war Abend und wie so oft saßen sie in der Kneipe. Kim in Charles Arm und bei Jon, McQuilligan, Dark Lou, Loft und Elbersaw, denen sie noch einmal genau beschreiben musste, wie sie Folkhorn erschossen hatte. Irgendwann meinte McQuilligan die Stirn runzelnd: „Und ich dachte, der wäre schlimmer als der Teufel. Dabei sitzt er nur zusammengekauert unterm Treppchen und fürchtet sich. Was für ein feiger Hund!“ Jon jedoch grinste: „Tja ja, McQuilligan, man sollte eben nicht allen Gerüchten trauen, die man so aufschnappt.“ „Und trotzdem verstehe ich nicht, warum er dann so gefürchtet war, seine Mannschaft zu schlagen war ja wohl mehr als einfach.“ „Vielleicht lag das daran, dass wir mindestens siebenmal so viele waren wie sie. Außerdem finde ich, dass es sehr danach aussah, dass ihnen bald der Proviant ausgegangen wäre, wahrscheinlich waren sie schon einige Wochen auf See.“ „Ich glaube, es lag einfach an unserem überlegenen Kampfstil.“, scherzte McQuilligan und spielte dabei mit seiner Pistole in der Hand. Die anderen lachten schallend und es wurde weiter getrunken. Kim jedoch zog Charles noch näher zu sich und fragte leise: „Hast du eigentlich schon mit McQuilligan gesprochen? Nicht dass er sich hintergangen fühlt, denn Jon will wegen so was sicher keine Probleme mit ihm.“ Er küsste sie neckisch auf die Lippen und grinste: „Lass das nur meine Sorge sein, ich werde morgen mit ihm reden und wegen so einer Kleinigkeit regt sich McQuilligan doch nicht auf.“ Kim war sich dabei nicht so sicher, aber sie widersprach ihm lieber nicht, da sie keine Lust auf irgendeine Szene hatte, die er sicher veranstalten würde, weil er auch schon ordentlich was getrunken hatte. Anfangs hörte sie den Männern noch interessiert zu, doch irgendwann begannen ihre Gespräche sie zu langweilen und sie schaute sich unbeteiligt in der Spelunke um. Es war niemand interessantes da, außer Laffite, Terry, Edward und die ganze Truppe, zu denen sie allerdings nicht unbedingt wollte, weil sie schon Damenbesuch hatten. Auch das Klavierspiel des Pianisten erheiterte sie nicht sonderlich, da sich für sie alle seine Stücke gleich anhörten. Also bestellte sie sich noch Rum und nippte daran, während sie versuchte, nicht ganz so teilnahmslos auszusehen. Sie tippte Jon auf die Schulter und fragte: „Hey, Jon, wann legen wir wieder ab?“ Er drehte sich besorgt zu ihr um und fragte: „Warum willst du eigentlich so schnell von hier weg? Ist irgendetwas vorgefallen?“ Verblüfft entgegnete sie: „Wie kommst du denn darauf?“ „Nun, es ist schon recht ungewöhnlich, dass du so schnell wieder auf See willst.“ „Nein, es ist nichts passiert, aber irgendwie möchte ich etwas Neues sehen, erleben und hier in New Providence geht das nicht.“ „Ach so? Was möchtest du denn neues erleben?“ „Keine Ahnung, ich will einfach Abwechslung, nicht immer die gleiche Stadt, die gleichen Gesichter. Es ist hier immer alles gleich!“ „Mag sein, aber ich kann mich nicht nur nach deinen Wünschen richten, du musst verstehen, die Crew hat auch gewisse Ansprüche und im Moment, glaube ich, fühlen sie sich ganz wohl hier.“ Er nickte zu Terry, der gerade eine der Huren küsste, Laffite, der anscheinend ziemlich betrunken bei einer im Arm lag, Edward, der seinerseits eine abgefüllt hatte, die jetzt in seinem Arm lag und den ganzen anderen, die sich anscheinend wirklich pudelwohl fühlten. Kim seufzte und erwiderte nichts. Charles allerdings ergriff sie bei den Schultern, zog sie zu sich nach hinten und fragte sie eifersüchtig: „Was hast du denn mit deinem Jonny-Boy besprochen?“ Verärgert entgegnete sie: „Er ist nicht mein Jonny-Boy, er ist mein Captain und hör endlich auf uns eine Affäre zu unterstellen. Außerdem habe ich ihn nur gefragt, wann wir ablegen… Lass das!“ Er hatte seine Hand etwas zu tief sinken lassen und sie sprang entnervt auf und brüllte: „Verdammt noch mal, lass deine Finger gefälligst da, wo ich sie sehen kann! Mir reicht’s, ich gehe!“ Wütend stapfte sie aus der Spelunke, das Gelächter der anderen Piraten ignorierend. Sie fror ein wenig, doch hatte sie keine Jacke dabei, die sie sich überziehen konnte. Kurzerhand ging sie zu einem Kerl, der da an eine Mauer gelehnt stand und sich eine Zigarette drehte. Aggressiv forderte sie: „Gib mir auch eine, aber mach hinne, ich hab nicht die ganze Nacht Zeit!“ Von ihrem rauen Ton irritiert, gab ihr der Mann die Kippe, die er sich gerade anstecken wollte und zündete sie ihr an. Sie tat einen kräftigen Zug und versuchte auch einen Lungenzug, doch sie musste anfangen zu husten und beließ es so fürs Erste beim Paffen. Cecile und Jackie hatten ihr einmal erzählt, dass Zigaretten beruhigend wirkten, doch sie fand, sie kratzten und ihr wurde davon schwindelig. Dennoch rauchte sie weiter, während sie zum Hafen lief. Plötzlich nahm ihr jemand die Zigarette aus der Hand, nahm einen Zug und trat sie dann aus. Anschließend sagte McQuilligan: „Lass das, hast du erst einmal angefangen, kannst du nicht mehr aufhören und beim Küssen schmeckt es grässlich.“ Die Hände in die Hosentaschen steckend ging sie weiter und murmelte: „Wenn du meinst.“ Ein Weilchen ging er neben ihr her und schwieg, dann sagte er: „Ich glaube, Genitson hat Recht. Du verhältst dich wirklich seltsam, was ist denn los?“ Sie kickte einen Kieselstein, der vor ihr auf dem Weg lag vor sich her und antwortete: „Nichts.“ „Ach komm schon, erzähl es mir doch. Ich segele sowieso zum Mittelmeer, also wirst du mich wahrscheinlich nicht mehr wieder sehen, von daher kann ich dir auch nichts vorhalten und im Prinzip müsste dir dann auch nichts peinlich sein…“ „Hat Jon dich geschickt, damit du herausfindest, warum ich so schlecht drauf bin?“ Erst druckste er verlegen rum, dann allerdings sagte er: „Ja, es stimmt schon, aber ehrlich gesagt, kannst du einem schon Sorgen machen. Wenn ich bedenke, wie du warst, als ich dich das erste Mal gesehen habe, du wirkst viel verschlossener.“ „Ich habe mit Charles geschlafen.“ „Na und? Wenn ich jedes Mal, wenn ich mit einer Frau geschlafen habe so melodramatisch geworden wäre, dann hätte die Crew schon längst gemeutert. Was soll’s? War eben ein Ausrutscher. So was passiert.“ Abrupt blieb sie stehen und sagte: „Nein, das darf nicht passieren. Es liegt aber nicht daran, dass es passiert ist, oder dass es mit ihm passiert ist, es liegt viel mehr daran, dass er Leos Bruder ist.“ Leiser fügte sie hinzu: „Oder war.“ Und ging weiter. „Was ist so schlimm daran, dass er mit Leo verwandt ist? Wer ist Leo überhaupt?“ „Ich habe dir doch schon mal von ihm erzählt, oder?“ „Nein, nicht soweit ich weiß und an solche Sachen erinnere ich mich für gewöhnlich.“ „Leo, er ist – war - der Einzige, den ich liebe. Der Einzige, niemanden werde ich jemals so lieben können wie ihn. Und nun macht sich Charles Hoffnungen und will sogar auf der Vengeance anheuern, aber er ist sein Bruder und ich kann doch nicht mit seinem Bruder; das wäre so- so falsch.“ „Das ist es also, es liegt an ihrer Verwandtschaft, die Wurzel allen Übels liegt in ihrer Bruderschaft.“ „Mach dich nicht über mich lustig.“ „Nun sei aber mal ehrlich, ein schlechtes Gewissen hättest du doch auch, wenn er nicht Leos Bruder gewesen wäre. Du suchst nur nach Ausflüchten dein schlechtes Gewissen zu begründen, aber du solltest es aufgeben, denn die Schlacht kannst du nicht gewinnen, schließlich hast du ein schlechtes Gewissen, weil du ehrlich bist. Aber das ist gut so. Und jetzt komm an meine Brust, damit ich dir gute Nacht sagen kann.“ Er wartete jedoch nicht, sondern schlang überheblich seine Arme um sie und quetschte sie zusammen, dass sie kaum noch Luft bekam. Als er Kim endlich wieder losließ und sie nach Luft schnappte, grinste er: „Ich wünsche dir eine gute Nacht und wunderschöne Träume. Aber mach dir nicht zu viele Gedanken, sonst kannst du nicht schlafen, außerdem ist Leo tot, der bekommt nix mehr mit.“ Sie winkte ihm nur noch leicht verwirrt nach und dachte sich, wenn der wüsste. Doch als sie sich hinlegte, konnte sie tatsächlich nicht einschlafen, weil ihr tausende Gedanken durch den Kopf schossen, einer ungreifbarer und schwachsinniger als der andere. Sie wälzte sich schon Ewigkeiten, so kam es ihr vor, hin und her, da hörte sie, wie die Türe geöffnet wurde. Schlagartig setzte sie sich auf und spähte in die Dunkelheit, den Fremden zu erkennen, doch da flüsterte Jon schon: „Scht, ich habe eben noch mal mit McQuilligan geredet, er meint, es wäre immer noch wegen Leo und jetzt auch noch wegen Charles…“ Er war näher an sie herangetreten und schnupperte leicht irritiert. Dann fragte er: „Hast du geraucht?“ Schuldbewusst bejahte sie und er wetterte: „Was fällt dir ein? Du fängst mir nicht das Rauchen an, ich bin sowieso gerade am Überlegen, ob ich es an Bord verbiete, was das für Gefahren sind! Da kann das Schiff so leicht Feuer fangen! Außerdem kannst du nie wieder aufhören, wenn du einmal mit dem Scheiß angefangen hast!“ Ruhig entgegnete sie: „Jetzt tu nicht so, ich weiß genau, dass du auch ab und zu mal eine rauchst, also spiel dich nicht auf, als wärst du mein Vater.“ Er lachte auf und sagte: „Hast ja Recht, Lilay. Was du nicht alles mitbekommst. Tut mir Leid, ich werde mich nie wieder aufführen wie dein Vater, ich verspreche es dir hoch und heilig, ich gebe dir darauf sogar mein Piratenehrenwort!“ Geringschätzig lachte sie auf und meinte: „Also auf Piratenehrenwörter kann ich echt verzichten, das musste ich schon mal feststellen.“ Sich auf den Stuhl setzend, zuckte er mit den Achseln und entgegnete: „Na wenn du meinst.“ „Ja, meine ich. Aber trotzdem danke, dass du dir Sorgen um mich machst. Auch wenn du dich aufführst wie mein Vater.“, kicherte sie. Auch er lachte auf, doch wurde er gleich wieder ernst und sagte: „Nein, wirklich, du weißt, ich bin immer für dich da. Und wenn dir einer ein Haar krümmt, dann kann der sich auf was gefasst machen. Das wollte ich dir eigentlich nur sagen.“ Sie lächelte mild und entgegnete: „Danke, das ist lieb von dir und ich weiß es zu schätzen.“ „Aber lass mich dir einen Tipp geben.“ „Von mir aus.“ „Gib Charles eine Chance. Vielleicht ist er ja ganz anders als Leo, wer weiß? Und vielleicht kannst du ihn sogar lieben, also lass es auf einen Versuch ankommen.“ „Ich weiß nicht so recht, vielleicht sollte ich es wirklich versuchen.“ „Genau. Und selbst, wenn es nicht funktionieren sollte, jedes Ende ist ein neuer Anfang, also Kopf hoch, es wird schon schief gehen.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von ihr und ging. Bis eben war sie noch hellwach gewesen, doch auf einmal war sie todmüde und schlief ein. Kapitel 5: Cartagena -------------------- Sie waren nun schon wieder ungefähr eine Woche auf See und Charles hatte bei ihnen angeheuert. Erst diesen Morgen hatte Jon Kim eröffnet, dass sie Cartagena in zwei Tagen erreichten. Und noch immer war sie sich nicht sicher, ob sie Charles jemals lieben könnte, doch war sie bereit ihm eine Chance zu geben. Da die Sonne schien und es nicht viel zu tun gab, saßen die Piraten, meistens ohne den Oberkörper bedeckt zu haben, an Deck und spielten, tranken, Jon hatte es, anlässlich eines Geburtstages erlaubt, oder redeten und lachten nur. Ebenso Kim, die ihren Kopf auf Charles Schoß gelegt hatte und bei Pio, Terry, Laffite, Aodh, Edward, Chidi und Jon saß. Wie immer verstand sie sich blendend mit Jon, was diesem einige eifersüchtige Blicke Charles einbrachte, die ihn jedoch völlig kalt ließen. Immer wieder beugte sich Charles zu ihr hinunter und küsste sie, streichelte ihr aber beständig durch die Haare. Kim genoss diese Zärtlichkeit und hörte größtenteils nur zu. „Und dann ist das Mädchen doch tatsächlich schwanger geworden.“, erzählte gerade Terry und Edward fragte: „Und was hat der Kerl dann gemacht?“ „Na der ist auf und davon, was will ein Pirat schon mit einem Balg am Hals? Ich wäre auch weg, also ein Frauenzimmer und ein Kind brauche ich nicht.“ Nun meldete Kim sich doch zu Wort und warf empört ein: „Also echt, Terry, man muss zu seinen Fehlern stehen! Was soll denn das Mädchen allein mit dem Kind machen? Die Eltern haben sie wahrscheinlich rausgeworfen, eine richtige Anstellung wird sie vermutlich auch nicht gefunden haben. Wer soll denn sie und das Kind ernähren? Wer finanziert die Ausbildung des Kindes und wer gibt ihnen auch nur ein Dach über dem Kopf?“ Genervt entgegnete Terry: „Was hätte er denn machen sollen? Sie mit auf sein Schiff nehmen? Da hätte die Mannschaft sie doch missbraucht und misshandelt, ohne irgendwelche Skrupel.“ „Er hätte ja bei ihr an Land bleiben und sich einen ehrlichen Beruf suchen können.“ Belustigt mischte sich Charles ein: „Das hätte er natürlich tun können, aber ich glaube, er ist ein echter Seemann, so wie wir. Und wenn dich das nicht überzeugt, dann stell dir Terry oder Laffite oder sonst wen mal als Bäcker, als Schuster oder als Schreiber vor, irgendwie würde das doch nicht passen, oder?“ Schadenfroh kicherte Kim: „Stimmt und außerdem müsste man als Schreiber schreiben können, was ja die meisten hier nicht können. Aber ernsthaft, irgendetwas hätte er sicher gefunden, wenn er nur gewollt hätte.“ Auch Jon lachte und meinte: „Du gibst auch nie nach. Aber ich muss dir Recht geben, für das, was man getan hat, sollte man immer gerade stehen, egal was es ist.“ „Da hört ihr’s, Jungs, euer Captain hat gesprochen!“ Mit diesen Worten sah sie lächelnd nach oben zu Charles, der allerdings nur missmutig aufs Meer starrte. Sie zog ihn an seinem Halstuch zu sich nach unten und fragte: „Was ist denn los?“ „Nichts.“ Er wollte sich gerade wieder aufrichten, da schob sie die Unterlippe vor, klimperte ein wenig mit den Wimpern und fragte zuckersüß: „Bekomme ich keinen Kuss von meinem Liebsten?“ „Nein.“ Im gleichen Ton fragte sie weiter: „Warum nicht? Hast du mich nicht mehr lieb?“ „Doch.“ Nun doch ein bisschen beleidigt fragte sie weiter: „Und warum dann nicht? Ich habe dich lieb, du hast mich lieb, wir haben uns alle lieb. Warum bekomme ich also keinen Kuss obwohl ich doch unbedingt einen will.“ Nun grinste er süffisant und meinte: „Sag: Bitte, bitte, oh großer, starker Charles.“ „Bitte, bitte, oh großer, starker Charles.“ Und gnädig wie er war, beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie. Zufrieden lächelte sie ihn an und strahlte anschließend in die Runde. Laffite schüttelte den Kopf und meinte: „Wenn doch nur alle Frauen so anspruchslos wären, gibt sich das Mädchen nach einem Kuss zufrieden und verlangt nichts mehr, keinen Schmuck, kein Geld, kein teures Essen. Warum sind nicht alle Frauen so wie du, Kim?“ Unschuldig zuckte sie mit den Schultern und blieb im Schweigen darüber, dass sie vor ungefähr einer Woche Charles ganze Ersparnisse für Kleidung, Essen und sonstiges geplündert hatte, natürlich nur, weil er es so gewollt hatte, versteht sich. Jon, vor dem Kim rein gar nichts verheimlichte, grinste auch nur ein wenig und sagte nichts dazu. Charles hingegen legte die Stirn in Falten, massierte sich die Schläfen, angesichts des verschwendeten Geldes und schüttelte resignierend den Kopf. Was hatte er sich mit Kim nur eingefangen. Ob sein Bruder auch seine gesamten Ersparnisse hatte opfern müssen? Wahrscheinlich. Er hoffte nur, dass es nicht so weiterging, denn schließlich musste auch er von irgendetwas leben. So in etwa verbrachten sie die nächsten beiden Tage, bis sie am Abend des zweiten Tages von Terry, der oben im Krähennest Dienst hatte, hörten: „Land in Sicht!“ Abrupt sprangen die Piraten auf und rannten zum Bug des Schiffes. Und tatsächlich, dort am Horizont konnte Kim einige Berge entdecken, nur ganz blass, doch sie wurden immer höher und ihre Farben immer kräftiger, bis sie schließlich auch, da es schon dunkel geworden war, die Blüse einer Stadt entdecken konnte. Als sie in den Hafen einfuhren war die Stimmung an Bord gespannt. Noch niemand von ihnen war je in Cartagena gewesen und die Erwartungen an die Stadt waren hoch. Auch Kim fragte sich, was sie hier wohl erwarten würde, denn Cartagena war kein typisches Piratennest, eigentlich waren hier gar keine Piraten außer ihnen. Sie war in ihrer Kajüte um sich etwas anderes anzuziehen und sich Schuhe zu holen, da platzte plötzlich Jon herein. Sie stand gerade nur in Cargo-Jeans und BH da und war kurz davor aufzuschreien, da besann sie sich, dass höchstwahrscheinlich sofort Charles angestürmt kommen würde und womöglich noch etwas Falsches denken würde. Also schluckte sie den Schrei hinunter und fauchte den wie zur Salzsäule erstarrten Jon an: „Dreh dich doch wenigstens um!“ Dieser schüttelte verwirrt den Kopf und tat wie sie ihn geheißen hatte. Sie zog sich rasch ihr T-Shirt über und fragte: „Was willst du denn eigentlich hier? Und warum kannst du nicht anklopfen? Du kannst dich wieder umdrehen, Jon.“ Etwas erleichtert wandte er sich ihr zu und erklärte: „Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass du dich unauffällig benehmen sollst, wenn du an Land gehst, schließlich sollte nicht jeder sofort erkennen, dass wir Piraten sind, wenn wir die Stadt plündern wollen.“ „Und deshalb platzt du hier rein ohne anzuklopfen?“ „Ich wollte dich eben noch erwischen, bevor du von dannen ziehst, entschuldige bitte, das ist mir mehr als peinlich, ehrlich, obwohl ich sagen muss, so peinlich muss es dir eigentlich nicht sein, du hast nämlich ganz schön was zu bie…“ „Jon!“, rief sie empört aus und er grinste: „Ist ja gut, ist ja gut. Es tut mir Leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen.“ Wütend fragte sie: „Und überhaupt, warum erzählst du das ausgerechnet mir? Ich benehme mich ja wohl nicht auffällig.“ „Nein, nein, ganz im Gegenteil. Es ist nur so, dass ich es jedem sagen muss und natürlich habe ich es schon der ganzen Crew gesagt, außer eben dir, bis eben zumindest. Also gut, ich gehe dann wieder. Vielleicht sieht man sich an Land.“ Er wollte schon die Tür aufmachen, da rief sie: „Warte, Jon, ich bin sofort fertig, dann können wir auch zusammen an Land gehen. Ich müsste an Deck nur noch schnell nach Charles suchen.“ „Charles? Der ist vorhin mit Juanito, Jack und Creetin an Land gegangen. Ich dachte nämlich, du würdest ihnen gleich hinterher wollen und bin deshalb hier so reingeplatzt.“ Creetin war der Marineoffizier den sie auf Folkhorns Schiff aufgegabelt hatten. Bisher hatte Kim es geschafft ihm erfolgreich aus dem Weg zu gehen, doch sie fragte sich, wie lange sie das noch schaffen würde. Verwirrt drehte sie sich von ihrem Spiegel weg, setzte sich bedächtig aufs Bett und fragte ungläubig: „Er ist schon gegangen? Wieso?“ „Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte er ja Angst, dass er wieder seine ganzen Ersparnisse opfern muss“, lachte Jon. Doch Kim sah zerstreut zu ihm auf und fragte: „Glaubst du?“ Erst jetzt sah er, wie sehr es sie doch traf, dass Charles einfach ohne sie an Land gegangen war und er kniete sich zu ihr nieder, legte seine Hand auf ihr Knie und sagte milde lächelnd: „Ach was. Vielleicht wollte er einfach mal was unter Männern unternehmen…“ Wütend brauste Kim auf: „Na toll! Und deshalb kann er mir nichts davon sagen? Dieser Idiot! Zum Teufel mit ihm, ich kann auch ohne diese hirnlose, egozentrische, satyriasistische Blondine meinen Spaß haben. Ich werde einfach mit euch an Land gehen, der Kerl kann mir gestohlen bleiben!“ Jon wich ein wenig zurück und fragte abgeneigt: „Meinst du das ernst mit dem satyriasistisch?“ Belustigt stand sie auf, stellte sich wieder vor ihren Spiegel, trug den Kajal vollends auf und schmunzelte: „Nun ja, bei mir kommt er auf jeden Fall nicht ran seit diesem einen Mal und für die nächste Zeit wird das auch so bleiben. Dann wird sich ja zeigen, ob ihm wirklich was an mir liegt oder ob er nur ein Satyr ist.“ Inzwischen hatte sich Jon auf ihrem Bett niedergelassen und lobte sie: „Braves Mädchen, ich bin stolz auf dich. Sich niemals einfach so einem Kerl hingeben ist extrem wichtig fürs Überleben einer Frau an Bord eines Piratenschiffes, das hat schon Alice mir früher immer erzählt.“ Kim hielt inne und drehte sich zu Jon um. Er lag halb auf ihrem Bett und starrte an die Decke. Verwirrt drehte sie sich wieder um und fuhr fort sich zu schminken. Das war das erste Mal gewesen, dass Jon von sich aus über Alice gesprochen hatte. Hatte er ihren Tod jetzt überwunden? Was war eigentlich mit Alice? Sie war doch zur Untoten geworden und hatte sie schon einmal angegriffen. Warum also nicht auch in den letzten drei Jahren? Ihr sollte es Recht sein, so hatte sie länger ihre Ruhe. Just in dem Moment in dem sie fertig geworden war, öffnete sich die Tür erneut und Terry sagte genervt: „Jon, wo bleibst du denn? Kim ist wahrscheinlich mit Charles an Land gegangen. Mach dir keine Sorgen, die wird schon nichts anstellen, also lass uns endlich gehen!“ Er sah sich um und stockte, als er Kim sah. Verwirrt fragte er: „Was machst du denn noch hier? Ich dachte, du seist mit Charles liiert und würdest alles mit ihm zusammen machen?“ Aber als er Jon auf dem Bett liegen sah, grinste er: „Ach so, störe ich etwa? Ich kann euch auch alleine…“ Sie schob seinen Oberkörper unsanft zur Seite und zischte: „Laber nicht so einen Scheiß!“ Etwas lauter fügte sie hinzu: „Jon, ich bin fertig, kommst du?“ Träge richtete er sich auf und stapfte ihr und Terry hinterher an Deck und an Land. Als sie das Hafen-Gelände verlassen wollten, kamen sie an einem grauhaarigen, unrasierten Mann vorbei, der sie alle grimmig musterte. Die Gruppe schob sich an ihm vorüber und er sagte nichts, doch als er Jon erblickte, der neben Kim das Schlusslicht darstellte, klarte seine Miene auf und er lächelte: „Guten Abend, Señor Son. Ihr seid noch so spät unterwegs? Na ja, ist ja kein Wunder, nach einer so langen Reise will man ja schließlich ein bisschen feiern, dass einen keine Piraten überfallen haben. Ihr könnt wirklich von Glück reden, hier in der Karibik treibt nämlich zurzeit ein ziemlich dreister Pirat sein Unwesen, er soll drei Schiffe haben, genau wie Ihr, und Genitson heißen, wenn Ihr wieder ablegt solltet Ihr Euch vor ihm in Acht nehmen, denn dem würde ich nicht gerne bei Dunkelheit über den Weg laufen.“ Jon warf Kim ein flüchtiges, selbstgefälliges Grinsen zu und sagte dann zu dem Hafenwärter: „Von dem habe ich auch gehört, der soll ja sogar ein Weibsbild an Bord haben, die soll selbst die Hölle wieder ausgespuckt haben und erst kürzlich habe ich in einer Spelunke aufgeschnappt, dass sie den berüchtigten und gefürchteten Captain Folkhorn ohne mit der Wimper zu zucken erschossen hat. Ein Teufelsweib sage ich Euch!“ „Recht habt Ihr, Señor Son, Recht habt Ihr. Ich wünsche Euch und Eurer reizenden Begleitung auf jeden Fall noch einen recht schönen Abend und genießt Euren Aufenthalt in Cartagena.“ Kim angrinsend legte er seinen Arm um ihre Schulter und rief dem Mann noch zu: „Ich danke Euch, Señor Rondinho und Euch auch noch einen guten Abend.“ Als sie außer Hörweite von ihm waren, fragte Kim ihn kopfschüttelnd: „Teufelsweib? Was sollte das denn? Und warum ist der Kerl so verdammt freundlich zu dir?“ Er wollte gerade antworten, da rief Terry von vorne: „Von dir hat er nur angefangen, weil unser ach so bescheidener Captain die Lorbeeren nicht alleine einheimsen wollte und der Kerl ist so verdammt freundlich, weil Jon noch ein paar Goldstücke zur normalen Hafengebühr draufgezahlt hat. Wohin wollen wir eigentlich gehen, Captain?“ „Ich hab keine Ahnung, aber der Hafenmeister hat mir vorhin erzählt, dass es hier eine Kneipe gibt mit dem Namen Nixenflügel. Die soll anscheinend nicht teuer sein, aber trotzdem einen hohen Standard pflegen.“ Etwas übermütig rief Aodh: „Also auf in den Nixenflügel, uns ordentlich besaufen! Schließlich müssen wir feiern, dass uns nicht dieser Genitson oder das Teufelsweib ausgeplündert haben, nicht wahr, Jon?“ Dieser lachte nur und fragte ihn: „Sag mal, Aodh, weißt du überhaupt, wo die Kneipe ist oder führst du uns hier einfach irgendwohin?“ Leicht verwirrt blieb Aodh, der sich an die Spitze der Gruppe gesetzt hatte, stehen und gab kleinlaut bei: „Nun ja, ich dachte ja, du würdest wissen, wo’s lang geht, Jon.“ Die anderen zogen lachend an ihm vorbei und klopften ihm auf die Schulter. Und Edward lachte noch: „Ein Glück, dass du nicht der Captain bist.“ Wütend brauste Aodh auf: „Ihr wisst doch wohl auch nicht, wie man in diese Kneipe kommt!“ Laffite aber lachte nur: „Mais nous n’avançons jamais. Et maintenant, Jon, dis donc, où est cet mastroquet?“ „Der Hafenmeister hat gesagt, immer nur geradeaus und dann auf der rechten Seite“, antwortete Jon. Im Nixenflügel war es recht angenehm. An der Decke und der Wand die zur Tür lag, waren Netze befestig, in denen künstliche Fische, Seesterne und solche Dinge hingen. Und auf der Wand gegenüber der Tür war ein Bild gemalt, auf dem einige Nixen, deren Brüste nur von ihren Haaren verdeckt wurden, auf einem Stein saßen und einem Schiff zuwinkten. Insgesamt war die Kneipe recht gut besucht, aber einen Platz zu finden hatten sie dennoch keine Probleme. Die Kundschaft bestand hauptsächlich aus Seeleuten, doch spürten diese wahrscheinlich, dass Jons Truppe keine ehrlichen Matrosen waren, denn als sie eintraten wurde es schlagartig still und aller Augen waren auf sie gerichtet. Kim fühlte sich ein wenig unwohl in ihrer Haut, doch die anderen schienen die Blicke kalt zu lassen, sie gingen zwischen den Tischen her, bis sie sich an einen der großen setzten. Anscheinend gab es keine Bedienung, so standen Terry, Laffite und Edward auf, um sich und den anderen etwas zu Trinken zu besorgen. Sie ließen nicht lange auf sich warten, sondern kamen schnell wieder, jeder mit zwei Krügen Bier in Händen. Wenig später, als jeder einen Krug vor sich stehen hatte, stand Jon auf, hob seinen Pokal und sagte laut: „Lasst uns anstoßen, auf dass uns nicht dieser Genitson, mit dem Teufelsweib und den drei Schiffen voller skrupelloser Piraten angegriffen hat. Und selbst wenn er es gewagt hätte, gegen uns wäre er nicht angekommen, darauf wollen wir trinken! Prost!“ Alle, die am Tisch saßen, standen auf, stießen ihre Krüge aneinander und prosteten sich zu, dann wurde getrunken was das Zeug hielt. Sie lachten und grölten durch die ganze Kneipe, doch mit der Zeit schwang die Stimmung auch auf die übrigen Besucher über, die auch schon einiges an Alkohol intus hatten. Kim jedoch konnte sich nicht von der guten Stimmung anstecken lassen. Sie war nach wie vor stinksauer auf Charles. Was sollte das nur? Da beteuerte er ihr doch tagtäglich, wie lieb er sie hatte und ging dann doch mit anderen an Land. An und für sich wäre ja das nicht relevant gewesen, doch er hatte es ihr nicht gesagt und sich nicht einmal verabschiedet. Jon, der neben ihr saß und ihren missmutigen Blick bemerkt hatte, fragte: „Was ist denn los mit dir? Du siehst irgendwie traurig aus.“ Sie wich ein wenig zurück, weil sie den starken Geruch von Alkohol, den er beim Reden verströmte, abstoßend fand und entgegnete: „Ich bin nicht traurig, ich bin wütend, weil Charles diese Kanaille, einfach mit Juanito, Creetin, Jack und den ganzen losgezogen ist.“ Er sah sie etwas verwirrt an und meinte dann: „Also das ist doch wohl nicht so schlimm, oder? Ich meine, soll er halt mal nur mit Kerlen was unternehmen, mit denen wird er dich schon nicht betrügen.“ Er lachte schallend, doch Kim zischte genervt: „Das ist es ja gar nicht, was mich wütend macht.“ Mit großen Augen musterte Jon sie und fragte verwirrt: „Und was dann? Hat er nicht die richtigen Kleider an?“ „Nein, es ist nur so, dass er mir nichts gesagt hat und sich noch nicht einmal verabschiedet hat. Sonst könnte er ja gerne was mit denen unternehmen, wenn er es mit ihnen aushält.“ Jon allerdings legte seinen Arm um sie und deutete mit dem anderen einladend in die Runde, dann grinste er: „Also wenn du es ihm heimzahlen willst, hier sind genug Männer, die sich ganz und gar nicht benutzt vorkämen.“ Sie schob ihn von sich und rief empört aus: „Jon, bitte! Ich bin kein Flittchen, was unterstellst du mir eigentlich damit?“ Unschuldig die Hände hebend beteuerte er jedoch: „Ich unterstelle dir gar nichts, das war nur ein gut gemeinter Vorschlag, weiter nichts.“ „Aber eigentlich solltest du wissen, dass ich so etwas niemals annehmen würde. Und so viel hast du ja nun auch wieder nicht getrunken. Was zum Teufel soll also der Mist?“ „Tut mir ja Leid, es war nur ein Spaß, nimm doch nicht alles so ernst!“ „Ein toller Scherz! Hörst du, wie ich lache? Ha ha ha!“ „Nun sei doch nicht gleich eingeschnappt, du kannst einem ja jegliche Stimmung vermiesen, sei doch mal fröhlich, auch wenn Charles nicht da ist, dann sprichst du eben morgen mit ihm. Aber jetzt feire doch ein bisschen mit uns, bitte.“ Resignierend schüttelte sie den Kopf und lachte: „Na von mir aus, dann soll mir Charles, für diesen Abend zumindest, egal sein.“ Übermütig hob Jon seinen Krug, der gerade wieder mit Bier aufgefüllt worden war, sodass ein Teil des Inhaltes überschwappte und rief: „Darauf müssen wir trinken! Darauf, dass Charles Kim heute Nacht egal ist!“ Alle anderen in der Runde prosteten ihr zu und Terry fragte anzüglich grinsend: „Was heißt denn egal?“ Aber Kim grinste süffisant: „Nicht das, was du denkst Terry, auf dieses Niveau begebe ich mich sicher nicht.“ Gerade wollte dieser etwas erwidern, da kam Juanito angestürzt, vollkommen außer Atem und keuchte: „Captain, wir haben ein… Problem!“ Jons Gesicht wurde ernst und er fragte: „Was?“ „Du musst mitkommen, … es ist wegen Charles.“ Als er seinen Namen erwähnte, warf er einen flüchtigen Blick zu Kim, die aufgehorcht hatte. Sie sprang auf und fragte: „Was ist mit ihm?“ Aggressiv zischte aber Juanito, der gar nicht mehr gut auf sie zu sprechen war, seit ihrer Affäre mit Charles: „Das kann dir egal sein, ihm geht’s noch gut.“ Etwas dringlicher fügte er noch an Jon gewandt hinzu: „Bitte, Captain, beeil dich!“ Missmutig stand dieser auf und folgte Juanito aus dem Lokal. Auch Kim lief ihnen hinterher, sonst allerdings niemand. Juanito eilte sich, zum Hafen zu kommen, von wo aus man schon von weitem Charles schallend singen hören konnte: „Kaperbriefe Überfälle Wir sind nicht dumm, nein wir sind helle So springt für uns am meisten raus Mit den unsrigen ist’s niemals aus! Denn wir sind Piraten Der Teufel und eure Herrscher haben uns beraten In Zeiten des Friedens erlauben sie’s uns Zu holen euer Gut und auch euern Grund Die Drecksarbeit, die erledigen wir Doch wir tun’s gerne für Fässer voll Bier!“ Jons Miene verfinsterte sich zunehmend und er überholte Juanito. Auch Kim lief immer schneller. Was dachte sich Charles nur dabei? Wenn irgendeiner der Anwohner Wind davon bekam, dass sie Piraten waren, konnten sie das Plündern der Stadt vergessen. Schließlich stand sie, ganz außer Atem, neben Jon, vor Charles, der sie anstrahlte und weiter das Piratenlied sang. Creetin versuchte, mehr oder weniger verzweifelt, ihn vom Singen abzuhalten, doch schaffte er es nicht. Jon, der vollkommen in Rage geraten war, brüllte Charles an: „Halt gefälligst dein verdammtes Maul, du Idiot! Willst du denn, dass die ganze Stadt weiß, dass wir Piraten sind?“ Charles jedoch zeigte keine Reaktion und sang munter weiter. Nun versuchte auch Kim ihr Glück, sie trat an ihn heran, umarmte ihn, küsste ihn auf die Wange und flüsterte: „Bitte, Charles, hör auf zu singen, ich will nicht, dass sie dir wehtun. Wenn du aufhörst, dann werde ich auch … alles tun, was du verlangst.“ Für einen kurzen Moment wurde er still und fragte: „Wirklich alles?“ Tief durchatmend nickte sie und Jon musterte sie erstaunt. Das hätte er ihr nicht zugetraut. Gerade wollte sie schon erleichtert von ihm ablassen, da begann er wieder schallend zu singen und genoss anscheinend die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde. Eine Weile versuchten sie noch auf ihn einzureden, dann platzte Jon der Kragen. Er packte ihn am Kopf und schlug diesen hart gegen die Hafenmauer, während er brüllte: „Charles, du dummes Schwein! Ich sollte dich erschießen! Halt jetzt endlich deine Fresse, oder ich werde richtig wütend!“ Und er schlug seinen Kopf noch einmal gegen die harte Steinwand. Kim schrie auf, rannte zu ihnen und versuchte Jon von Charles loszukriegen, der allerdings nur benommen zu Boden sank. Sie schlug ihm auf die Wangen und rief: „Charles! Charles, wach auf!“ Verzweifelt sah sie sich um, da bemerkte sie, wie eine Person, im Morgenmantel, mit einer Laterne auf sie zu gerannt kam. Gleich erkannte sie den etwas dicklichen Hafenmeister, doch sie erwartete nicht, dass er zu ihnen kam. Aber genau das tat er und fragte abgehetzt: „Was ist denn hier geschehen? Ich habe Gesang und dann Schreie gehört, was ist denn mit ihrem Kameraden passiert?“ Kim, den Tränen nahe, fragte sich, was Jon jetzt wohl antworten würde, doch er hatte schon längst die richtige Ausrede gefunden und sagte ruhig, ganz im Gegensatz zu seinem vorausgegangenem Temperamentsausbruch: „Genau wissen wir das auch nicht, doch bevor er das Bewusstsein verloren hat, hat er uns erzählt, dass zwei Kerle ihn angegriffen und seine Geldbörse entwendet hätten. Da sie davor noch diese Lieder gesungen haben, ist er davon ausgegangen, dass es Piraten waren und hat natürlich versucht, sie zu überwältigen, doch sie waren zu stark, haben seinen Kopf gegen diese Steinmauer geschlagen und sind lachend davongelaufen, mit seiner Börse.“ Der Hafenmeister wurde kreidebleich und fragte: „Wie viele sagte er waren es? Zwei? Und sie sangen Piratenlieder?“ Erstaunt, dass der Mann ihm die Geschichte so einfach abkaufte, nickte Jon. Der Hafenmeister jedoch murmelte: „Die Gebrüder!“ Kim war es nun genug und sie rief: „Ist doch egal, wer das war, er braucht jetzt einen Arzt! Wo ist hier einer?“ Abwesend antwortete ihr der Mann: „Die Straße entlang, dann die zweite links, beim Brunnen rechts und in der Labestraße auf der rechten Seite.“ Kurz bedankte sich Kim, dann versuchte sie sich Charles auf die Schultern zu laden und los zu marschieren. Jon, nun anscheinend doch von der Reue gepackt, sagte zum Hafenmeister: „Ich würde gerne noch einmal mit Euch über diese Gebrüder sprechen, vielleicht morgen. Ich wünsche Euch noch eine angenehme Nacht und entschuldigt bitte die Störung, Señor.“ Dann kam er Kim nach, die unter Charles Gewicht ächzte, legte sich einen seiner Arme um die Schultern und half ihr so, bis sie zu der Praxis kamen. Als beim ersten Klingeln keiner öffnete, begann Kim Sturm zu klingeln, da Charles stark aus einer Wunde am Kopf blutete. Nach einer Weile öffnete ein sehr verschlafen wirkender Mann in Morgenmantel und Pantoffeln, der sie mürrisch fragte: „Was ist denn so wichtig, dass Ihr um die Unzeit so penetrant bei mir klingeln müsst?“ Kim, völlig außer Atem, erklärte ihm: „Es ist wegen Charles, also wegen ihm. Zwei Kerle haben seinen Kopf gegen eine Wand geschleudert, jetzt ist er bewusstlos und blutet stark am Kopf.“ Langsam hob Charles den Kopf und fragte benommen: „Was? Wer ist bewusstlos?“ Der Arzt allerdings gähnte herzhaft und sagte dann: „Das wird aber Teuer, dass Ihr’s wisst, Señorita, aber gut, kommt herein.“ Er trat beiseite und gab so den Weg in das Haus frei. Anschließen schloss er die Tür hinter ihnen und rief. „Elisa, Cariño, komm runter, wir haben einen Patienten!“ Er bedeutete Kim und Jon Charles auf einem Stuhl abzusetzen und bot ihnen dann auch zwei Hocker an, auf denen sie sich dankbar niederließen. Kim musterte den Arzt skeptisch. Er brachte eine Saite in ihrer Erinnerung zum schwingen; die Haare kurz und Braun, die Nase etwas zu klein für sein Gesicht, Arzt… Inzwischen war seine Frau heruntergekommen, nicht im Morgenmantel, sondern nur im kurzen Nachthemdchen. So musste man es nennen. Sie schien recht jung, als Ehefrau des Arztes fast schon zu jung. Kim hätte fast geglaubt, sie sei seine Tochter, doch an ihrer rechten Hand trug sie, genau wie der Arzt einen goldenen Ehering. Ärgerlich flüsterte sie: „Kannst du nicht leiser sein? Robert, dein Sohn, hat morgen Schule und seine Eliteschule ist weiß Gott nicht billig, also lass ihm wenigstens seinen Schlaf, wenn er doch sonst so oft mit diesem Caliento zusammen ist.“ Robert? Caliento? Jetzt wusste Kim, an wen sie der Arzt erinnerte, an Blake O’Donnel von damals, in diesem afrikanischem Dorf. Aber diese Ähnlichkeit war wirklich verblüffend. Gerade wollte sie nach seinem Namen fragen, da stöhnte Charles auf und lenkte wieder die gesamte Aufmerksamkeit auf sich. Der Arzt drehte sich zu ihm und sagte zu seiner Frau: „Reichst du mir bitte mal die Tupfer, Schatz?“ Sie tat wie ihr geheißen und ganz ‚zufällig’ rutschte dabei der Träger ihres Nachthemdes. Sie warf einen flüchtigen Blick zu Jon, ob er es auch gesehen hatte und streifte ihn dann wieder über die Schulter. Kim warf ihr einen kurzen missbilligenden Blick zu, lenkte ihr Augenmerk dann aber wieder auf das Tun des Arztes. Was sie sah gefiel ihr. Mit größter Sorgfalt und beständig mit Charles redend, tupfte er die Wunde ab, um zu sehen, was für eine Wunde er hatte. Vollkommen mit den Gedanken bei Charles sagte er: „Gibst du mir bitte das Jod und die Binde, Schatz?“ Erneut gab sie ihm, was er verlangt hatte. Da es allerdings in einer Schublade ganz unten in einem Schrank war, bückte sie sich gerade so, dass Jon ihr Höschen sehen konnte. Ein kurzer Seitenblick zu ihm verriet ihr, dass er demonstrativ zur Seite schaute, was Elisa anscheinend in Rage brachte. Doch sie reichte ihrem Mann stillschweigend die Sachen und stellte sich in eine Ecke, Kim und Jon missmutig beobachtend. Ihr Mann hingegen tränkte einen der Tupfer mit dem Jod und tupfte dann damit über die Kopfwunde Charles. Dieser schrie auf und war kurz davor, den Arzt von sich zu stoßen, da brachte ihn ein Blick Kims zum Schweigen. War er doch immer noch betrunken und von Jons Schlägen benebelt, so konnte er sich wenigstens jetzt benehmen. Als der Arzt die Wunde so weit versorgt hatte, legte er Charles den Verband an und sagte dann an Kim und Jon gewandt: „Wer zahlt denn jetzt die Rechnung?“ Als Jon sich nicht rührte, stand Kim wutentbrannt auf und fragte den Arzt: „Wie viel kostet es denn?“ Als sie wieder vor der Tür standen, fühlte sich Kims Geldbeutel um einiges leichter an. Zornig fuhr sie Jon an: „Was hast du dir denn dabei gedacht? Du hättest ihn umbringen können!“ Gleichgültig entgegnete dieser: „Na und? Was denkst du, hätte ein anderer Kapitän mit ihm gemacht? Der hätte ihn gleich erschossen, ohne ein Wort mit ihm zu wechseln.“ Trotzig fuhr Kim allerdings fort: „Was heißt hier na und? Ich liebe Charles und du bist kein anderer Kapitän! Außerdem…“ „Du liebst mich?“, unterbrach sie Charles, der immer noch von den beiden gestützt wurde. Verwirrt fragte sie: „Was?“ „Du hast gesagt, du liebst mich.“ Ihr Herz rutschte ihr in die Hose; sie hatte es wirklich gesagt, doch stritt sie es weiterhin ab, bis Jon sagte: „Du hast es wirklich gesagt, du musst es gar nicht abstreiten.“ Verzweifelt versuchte sie sich rauszureden: „Nein, ja, ich meine… es ist mir so rausgerutscht, weil…“ „Red dich nicht raus, du hast es gesagt und auch so gemeint.“, unterbrach sie Charles erneut. Gesagt hatte sie es wirklich, aber ob sie es auch meinte, da war sie sich nicht so sicher. Aber schlussendlich waren es doch nur drei Wörter, drei kleine belanglose Worte. Sie könnte es einfach so sagen. Nein, sie konnte es nicht einfach sagen und seufzte: „Es tut mir Leid, Charles, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich dich liebe, es ist mir vorhin wirklich nur rausgerutscht.“ Traurig sah er zu Boden und Kim fragte sich, ob er gehofft hatte, dass sie es ernst gemeint hatte. Ihren letzten beiden Freunden war das egal gewesen, ihm anscheinend nicht. Sie ließ sich ihre Beziehung noch einmal durch den Kopf gehen. Doch liebte sie ihn noch nicht. Noch hing sie an Leo, konnte ihn nicht loslassen, ohne das Gefühl zu haben, ihn zu vergessen und davor fürchtete sie sich. Sie würde vergessen, wie er aussah, wie er sprach, wie er roch, sie würde alle Erinnerungen an ihn vergessen, bis sie nur noch seinen Namen kannte und, dass es schön mit ihm gewesen war. Sie hatte Angst ihn und damit einen Teil von sich selbst zu vergessen. Bis sie am Schiff ankamen, schwiegen sie. Kim hatte ein schlechtes Gewissen und fragte Charles: „Soll ich heute Nacht vielleicht bei dir bleiben? Falls du irgendetwas brauchst.“ Ihr nicht in die Augen schauend entgegnete er: „Was ich will, willst du mir sowieso noch nicht geben.“ „Es tut mir Leid, Charles. Glaub mir, es tut mir so Leid.“ Sie war den Tränen nahe. Sie konnte in seiner Stimme hören, in seinen Augen lesen, wie sehr sie ihn verletzt hatte. Ihre Stimme zitterte leicht, als sie sagte: „Komm, ich bringe dich in deine Kajüte.“ Jon war schon längst wieder an Bord gegangen, nur Charles und Kim waren noch schweigend davor stehen geblieben. Doch nun machten sie sich auf den Weg ins Innere des Schiffes. Als Kim Charles in seine Kabine geleitet hatte, umarmte sie ihn und gerade, als sich ihre Wangen berührten, lief eine heiße Träne über ihre Backe und berührte auch die Charles. Dieser sah sie verwirrt an und fragte: „Weinst du?“ Kim jedoch lächelte, wischte sich vergebens die Tränen weg und schüttelte den Kopf. Stutzig fragte Charles: „Warum weinst du denn?“ „Weil es mir so Leid tut, ich wollte dich nicht verletzen, bitte glaube mir, aber ich bin einfach noch nicht so weit. Verzeih mir!“ Verzweifelt suchte sie das Gesicht in ihren Händen zu verstecken, doch Charles hielt ihre Hände fest, sah ihr in die Augen und sagte: „Das ist kein Grund zu weinen. Wenn du meine Gefühle verletzen würdest, müsstest du doch nicht weinen. Warum weinst du also?“ „Ich weiß es nicht, ich möchte nicht, dass du verletzt bist und vorhin hatte ich eine Heidenangst, dass du sterben könntest, denn Jon hat wirklich hart zugepackt.“ Charles kratzte sich am Kopf und meinte: „Das erklärt dann auch die Kopfschmerzen, aber noch spüre ich nicht wirklich was, ich glaube, das kommt dann morgen, zusammen mit dem Kater.“ Sie musste ein wenig lachen. Charles wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und sagte dann: „Na siehst du? Lachend bist du viel hübscher.“ Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie zärtlich. Kim schloss ihre Augen und genoss diesen Kuss, frei von Verlangen, frei von Vorwürfen, frei von Verzweiflung. Aber doch so voller Gefühle, dass sie dachte, sie würde platzen. Und für einen Moment wurde es in ihrem Kopf ganz still. Da war nichts mehr. Keine Reue, kein Zorn, keine Erinnerung. Nichts, nur der Augenblick. Als er von ihr abließ, wurde ihr kalt, sie fröstelte und sagte schluckend: „Ich glaube, ich gehe schlafen.“ Gerade drehte sie sich um, da hielt er sie am Handgelenk fest, zog sie zu sich in seine Arme und fragte: „Willst du nicht bei mir schlafen? Ich glaube nämlich, ich liebe dich.“ Und da war wieder ihr schlechtes Gewissen. Aber wie als würde er es ahnen, fügte er schnell hinzu: „Keine Angst, ich kann warten, bis du es erwiderst. Ich will nur, dass du es weißt. Ich liebe dich, von ganzem Herzen und deswegen will ich, dass du meine Liebe erst erwiderst, wenn es auch wirklich von ganzem Herzen kommt, solange soll kein Wort von wegen Liebe über deine Lippen kommen. Kein Wort, versprich es mir.“ Verunsichert fragte sie: „Aber wenn du mich lie…“ anstatt sie ausreden zu lassen, versiegelte er ihre Lippen mit einem Kuss und flüsterte dann liebevoll: „Ich sagte doch kein Wort.“ Am nächsten Morgen wachte sie allein in seinem Bett auf. Sie sah sich um und fand ihn, sich den Kopf haltend, im Raum auf und ab gehend. Gähnend fragte sie: „Na? Wie geht’s deinem Kater?“ Er schrak auf und sagte dann wehleidig lächelnd: „Ich glaube, die Kopfschmerzen kommen nicht vom Alkohol, aber ich könnte etwas gebrauchen, das betäubend wirkt.“ Besorgt stand sie auf, sie hatte nur eins seiner T-Shirts und ihr Höschen an, ging zu ihm hin und sah sich den Verband an. Dann fragte sie: „Willst du nicht vielleicht doch noch mal zum Arzt?“ Lachend winkte er ab: „Und noch mehr Geld zum Fenster rauswerfen? Das geht schon vorbei. Apropos, wie viel schulde ich dir eigentlich für den Arztbesuch?“ Kim jedoch legte ihm den Finger auf die Lippen und flüsterte: „Ist doch egal, du hast mir in New Providence so viel gezahlt, da kann ich dir auch mal was spendieren und sei’s ein Arztbesuch.“ „Ach was, du musst doch nicht für meine Gesundheit aufkommen, das übernehme ich schon, also wie viel?“ Er drehte sich schon um und wollte nach seiner Börse greifen, da hielt sie ihn zurück und grinste: „Das sage ich dir nicht, deinem Bruder hab ich auch mal einen Besuch beim Arzt gezahlt und das war fast doppelt so teuer. Liegt bei euch irgendwie in der Familie, oder?“ Verwirrt drehte er sich wieder zu ihr um und fragte: „Wieso musstest du denn mit Leo zum Arzt?“ „Na so ein Franzacke hat ihm zwei Finger abgeschossen, das sah gut aus, sage ich dir.“ Traurig lächelnd fragte er weiter: „Du hängst immer noch an ihm, nicht wahr?“ Schuldbewusst sah sie zu Boden und schwieg eine Weile, dann sah sie wieder auf und nickte langsam. Noch immer ein bisschen melancholisch fragte er: „Habe ich denn eine Chance gegen ihn?“ Ehrlich antwortete sie: „Ich weiß es nicht. Ich brauche einfach Zeit, denn ich habe Angst Leo zu vergessen, seine Art, sein Aussehen. Es tut mir so Leid, bitte glaube mir.“ „Hat diese Beziehung dann überhaupt einen Sinn?“ Erschrocken erwiderte sie: „Natürlich! Ich will nicht nur trauern, zurück kommt er sowieso nicht.“ „Bin ich dann so was wie ein Ersatz? Weil ich ihm ähnlich sehe, sein Bruder bin?“ „Nein! Auf keinen Fall, du bist doch ganz anders als er, mag sein, dass ihr euch in mancher Hinsicht ähnelt, aber du bist doch kein Ersatz!“ „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“ Er nahm ihre Sachen und drückte sie ihr in die Hand. Vollkommen entmutigt verließ sie seine Kajüte und ging in ihre eigene. Dort zog sie sich an und konnte noch nicht wirklich verstehen, was passiert war. Bedächtig ging sie in Jons Kajüte, doch sie traf ihn nicht an. Niedergeschlagen kam sie an Deck und schaute sich um, da sah sie, wie Jon gerade vom Schiff ging. Sie lief zu ihm und umarmte ihn von hinten. Als sie wieder von ihm abließ und er sich umdrehte, fragte er verwirrt: „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“ Sie atmete tief durch und sagte: „Nein, nein, ich wollte dich einfach mal umarmen, darf ich das etwa nicht? Wohin gehst du denn so früh?“ „Ich wollte doch noch mit dem Hafenmeister über diese Gebrüder reden. Willst du mitkommen?“ „Darf ich denn?“ Lachend legte er ihr den Arm um die Schultern und sagte, sich in Bewegung setzend: „Warum denn nicht. Aber nachher erzählst du mir dann, was los ist, ja?“ Erleichtert nickte sie und ging neben ihm her, bis sie am Ende des Hafens auf den Meister trafen, der mit ihnen in ein Lokal ging. Erst musterte er Kim skeptisch, doch Jon fragte missbilligend: „Habt Ihr etwas dagegen, wenn mein Vizekapitän dabei ist?“ Ungläubig fragte Rondinho aber: „Eine Frau? Eine Frau ist Euer Vizekapitän?“ „Habt Ihr etwa ein Problem damit?“ Diese Aussage wurde mit einem so garstigen Blick Jons begleitet, dass der Hafenmeister schwer schlucken musste und lieber still war. Doch Jons Gesichtsausdruck wurde gleich wieder freundlicher und er fragte: „Nun, Señor Rondinho, was hat es mit den Gebrüdern auf sich? Ihr sagtet, sie sängen Piratenlieder? Sind es Piraten?“ „Nein, um Gottes Willen, Piraten hier in dieser Stadt… Nein, nein, ich glaube, sie waren einmal Piraten, aber nun ziehen sie hier in der Gegend umher und plündern die Leute aus. Wenn sie schon etwas getrunken haben, singen sie diese Lieder, ich glaube fast, sie kennen keine anderen.“ „Und wie heißen diese Scharlatane?“ „Der eine heißt glaube ich Maury und der andere Brian, das sind ganz üble Spießgesellen. Skrupellos und sie haben auch genauso wenig ein Gewissen, denen wollte ich nicht nachts auf der Straße über den Weg laufen.“ Jon blieb ruhig, doch hatte Kim gemerkt, wie er bei den Namen der beiden Kerle aufgehorcht hatte. Kühl fragte er: „Und wie sagtet Ihr doch gleich, hießen sie? Brian und Maury? Wisst Ihr wie sie aussehen?“ „Nein, tut mir Leid, aber ehrlich gesagt bin ich froh drum, denn ansonsten würde ich jetzt vielleicht nicht mehr leben.“ „Wie meint Ihr das?“ „Nun ja, Euer Kamerad gestern hatte wirklich Glück, denn sie schienen gut gelaunt zu sein. Für gewöhnlich bringen sie ihre Opfer um. Ihr solltet auch auf Euren Vizekapitän gut aufpassen, Señor Son, denn die Beiden rauben ab und zu auch gerne mal eine schöne Frau, die kommt dann nie mehr zurück.“ Er zwinkerte Kim zu, doch als er Jons missbilligenden Blick sah, rutschte er nervös auf seinem Stuhl hin und her. Für einige Zeit herrschte gespannte Stille, dann sagte Señor Rondinho: „Entschuldigt mich bitte, aber ich muss wieder zum Hafen, die Hafengebühr trägt sich ja nicht von selbst ein. Ich wünsche Euch noch einen schönen Tag, auf Wiedersehen.“ Er nickte den beiden noch einmal zu und verschwand dann hastig aus dem Lokal. Kim konnte sich das Lachen nicht mehr verkneifen, sie prustete: „Oh mein Gott! Hast du gesehen, wie nervös der Kerl war? Ich glaube, er hat geglaubt, du könntest ihn jeden Moment abstechen!“ Auch Jon lächelte etwas gequält, blieb aber still. Verwundert fragte Kim: „Was ist denn? Kennst du die Gebrüder etwa?“ Jon jedoch lächelte: „Ich weiß es nicht, ich müsste sie sehen. Aber das ist jetzt irrelevant, mich würde viel mehr interessieren, was vorhin mit dir war, du sahst so bedrückt aus.“ Nun war sie es, die sich zu einem Lächeln zwingen musste und sagte: „Nun ja, ich glaube, Charles, er… er will nicht mehr mit mir zusammen sein.“ Erst blinzelte Jon ungläubig, dann knallte er die Hände auf den Tisch und brüllte: „Was? Was fällt diesem Schmarotzer ein? Als hättest du auch so nicht schon genug Probleme am Hals! Ich habe ihn hier aufgenommen, damit er nicht mit ins Mittelmeer musste, du hast ihm deine Zuneigung entgegengebracht und gestern Nacht auch noch die Arztrechnung für ihn übernommen und jetzt will der Kerl von alledem nichts mehr wissen? Wie kommt er denn dazu? Na warte, wenn ich mit dem fertig bin, kann ihm kein Arzt der Welt mehr helfen!“ Kim allerdings legte den Finger an die Lippen und flüsterte: „Psst! Willst du denn, dass das ganze Lokal davon erfährt? Außerdem hat er doch eigentlich Recht, ich hänge noch an Leo und kann ihm nicht die Art Liebe geben, die er sich wünscht.“ „Na und? Das ist doch vollkommen nebensächlich! Nur weil du nicht mit ihm schlafen willst, oder was? Und dass du noch an Leo hängst, muss er doch wohl verstehen, schließlich hast du ihn geliebt und warst mehr als zwei Jahre mit ihm liiert, da kannst du doch wohl ein bisschen Verständnis und Geduld erwarten.“ „Das ist ja nicht das Einzige, er kommt sich ausgenutzt vor, er denkt, ich würde ihn nur als Ersatz für Leo nehmen, weil er ihm ähnlich sieht.“ „So ein ausgemachter Blödsinn! Wenn er dir zuhören würde, wüsste er, dass dem nicht so ist, denn du gehst davon aus, dass jeder Mensch anders ist, was ja auch richtig ist. Und er sollte sich glücklich schätzen, dass du dich überhaupt mit ihm abgibst, basta.“ Schwermütig seufzte sie: „Das hilft mir aber auch nichts, er ist nun mal eifersüchtig und…“ „Auf einen Toten eifersüchtig sein, Schwachsinn!“ „Lass mich doch ausreden, er ist doch nicht nur auf meine Liebe zu Leo eifersüchtig, sondern auch auf meine Beziehung zu dir, er fragt die ganze Zeit, ob da was läuft.“ „Sag mal, so langsam platzt mir wirklich der Kragen. Für was für ein Allermannsliebchen hält der dich denn? Na dem werd ich was flüstern, dass ihm hören und sehen vergeht.“ Kim aber ergriff seinen Arm und sagte lächelnd, mit Tränen in den Augen: „Nein, bitte Jon, tu das nicht, er hat auch so noch Schmerzen wegen gestern, außerdem habe ich ihn wirklich sehr lieb.“ Eine Träne kullerte ihre Wange hinunter. Jon nahm sie kopfschüttelnd in den Arm und fragte ruhig: „Tut es sehr weh?“ Sie schluchzte unterdrückt auf und sagte: „Ja, es schmerzt in meinem Herzen. Es ist, als würde es bersten, in tausend Teile springen. Warum glaubt er mir denn nicht? Warum nur? Warum tut er mir das an?“ Jon hielt sie fest und flüsterte: „Ich weiß es nicht, ich kann ihn beim beten Willen nicht verstehen. Er könnte sich glücklich schätzen, so jemanden wie dich lieben zu dürfen. Du bist freundlich, wunderschön, von Herzen gut. Und wenn ich sehe, wie er dich behandelt, dann steigt in mir eine Wut auf, dass ich ihn am liebsten verprügeln würde, dass er froh sein kann, dich noch einmal sehen zu dürfen.“ Melancholisch lachte sie auf und sagte: „Danke, dass du für mich da bist. Ohne dich würde ich verrückt werden.“ „Natürlich bin ich für dich da und du weißt auch, dass du immer zu mir kommen kannst, schließlich hab ich dich ja lieb, genauso wie die anderen und wenn die wüssten, wie Charles mit dir umgeht, dann gnade ihm Gott.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung, wischte sich die Tränen weg und lachte: „Ich bin schon ein dummes Ding, weine, nur weil dieser Kerl mich nicht mehr will.“ Nachsichtig schüttelte Jon den Kopf und lächelte: „Das ist überhaupt nicht dumm. Du hast so viel Leid und Schlechtes erfahren, da ist es gar nicht verwunderlich, dass dir das so nahe geht, schließlich dachtest du, dass er dich verstehen und dir Kraft geben würde. Aber dann enttäuscht er dich so und das tut weh, das ist eine herbe Erfahrung.“ Sie schwieg. Es war wirklich herb, aber sie konnte nichts dagegen tun. Zwar fühlte sie sich jetzt erleichterter, es drückte sie nicht mehr so, aber der Schmerz war noch immer der gleiche. Wenn sie ihn doch nicht wirklich liebte, warum tat es ihr dann so weh? Schließlich stand Jon auf und sagte: „Die Rechnung geht auf mich, lass uns noch ein wenig durch die Stadt bummeln, ich muss die Straßen erkunden und vielleicht gibt es hier irgendwo eine Karte zu erwerben.“ Sie nickte, wartete, bis er an der Theke gezahlt hatte und ging dann mit ihm zusammen hinaus. Es war ein trüber Tag und es nieselte, was sich aber bald in einen strömenden Regenguss wandelte. Da Kim und Jon ohnehin schon absolut durchnässt waren, gingen sie gemütlich durch die Gassen und genossen den warmen Regen schon fast. Cartagena war größer als Kim es erwartet hatte und nach einer geschlagenen Stunde des Laufens brauchte sie eine Pause. Sie war so viel Bewegung nicht mehr gewohnt, was durch die nassen und schweren Kleider auch nicht gerade erleichtert wurde. Jon war schon ein Stückchen weitergegangen und sie stand, an eine Wand gelehnt, in einer kleinen Seitenstraße und stützte sich auf ihre Schenkel. Gerade wollte sie Jon wieder hinterher, da spürte sie, wie ihr eine Pistole in den Rücken gedrückt wurde und jemand flüsterte: „Ein Mucks und du bist tot, Herzchen.“ Ihr stockte der Atem und ihr Herz raste, wer war das? Einer der Gebrüder? Doch kaum hatte sie sich das gefragt, da sagte eine andere Stimme: „Komm schon, beeil dich, sonst kommt er wieder und der sah nicht so aus, als würde er Scherze machen.“ Trotzig zischte sie: „Oh nein, die macht er sicher nicht und wenn Jon euch erwischt, dann könnt ihr froh sein, wenn er euch einen schnellen Tod beschert.“ Im nächsten Moment sah sie, wie ein Mann vor sie trat und sie heftig ohrfeigte, dann sagte er: „Maury sagte doch, du sollst still sein!“ Sie hatte sich auf die Lippe gebissen, doch das Blut spuckte sie Brian nur vor die Füße und fauchte: „Warte nur ab.“ Dann spürte sie, wie die Pistole aus ihrem Rücken genommen, dafür aber ein Messer an ihre Kehle gehalten wurde, aber so fest, dass sie spürte, wie es, als sie schluckte, ihren Hals fein einritzte. Sie machte ihren Hals so lang und dünn wie möglich, traute sich nun aber nicht mehr, irgendetwas zu sagen. Maury drehte sie unsanft um und führte sie vor sich her, da hörte sie hinter sich Jon. „Kim, kannst du wieder weiter? Was ist denn los? Ich dachte, du seist so sportlich? Jetzt mach mal hinne! Kim?“ Anscheinend hatte er bemerkt, dass diese beiden Kerle gerade dabei waren, sie zu entführen und sie konnte schnelle Schritte hören. Laut fluchte Brian: „Scheiße! Verdammt noch mal, das musste ja so kommen!“ Und Maury brüllte: „Na los, renn, wenn dir dein Leben lieb ist, Mädchen!“ Er zerrte sie am Handgelenk hinter sich her und sie schrie verzweifelt: „Jon, Jon, das sind diese,… diese Gebrüder! Hilf mir!“ „Halt die Klappe, Miststück!“, herrschte sie Maury an. Sie bogen um einige Ecken und als Jon immer noch hinter ihnen war, blieb Brian plötzlich stehen, zog eine Pistole, zielte und schoss. Doch zum Glück war er anscheinend kein guter Schütze, denn er traf nicht. Fluchend drehte er sich um und eilte sich, Kim und Maury einzuholen, von dem er sich gleich einen Tadel zu seinen Schützenkünsten anhören musste. Als Jon gerade noch hinter einer Ecke war und sie an eine Kreuzung kamen, liefen sie geradeaus und versteckten sich hinter einem großen Container, Kim wieder eine Klinge an den Hals drückend, um ihr zu bedeuten ja leise zu sein. Sie war vollkommen außer Atem und konnte nichts außer diesem hören oder wahrnehmen. Irgendetwas zu sagen hätte sie wahrscheinlich sowieso nicht geschafft, so überanstrengt wie sie war. Auch ihre beiden Entführer schienen sich völlig verausgabt zu haben, denn sie schnauften schwer und warteten länger, als eigentlich notwendig war, bis sie aus ihrem Versteck kamen. Kim wehrte sich nicht mehr großartig. Jetzt war ohnehin alles aus. Aber für was sollte sie sich eigentlich wehren? Wen würde es interessieren, ob sie zurück kam? Vielleicht Jon, Terry, Edward. Wahrscheinlich auch Garret und Laffite, aber der einzige, von dem sie es sich am meisten wünschte, würde ihr voraussichtlich nicht einmal ein müdes Lächeln schenken. Warum also sollte sie kämpfen, es hatte keinen Sinn. Nach gut einer halben Stunde waren sie aus der Stadt draußen und in einem Wald. Anscheinend wussten die Gebrüder genau, wo sie hin mussten, denn nicht ein einziges Mal zögerten sie und so kamen sie irgendwann an eine Höhle, in der es sogar halbwegs wohnlich aussah. Brian schubste sie auf eine der beiden Matratzen, die auf dem Boden lagen, und machte sich selbst daran, ein Feuerchen zu machen. Kim zog die Beine eng an ihren Körper und sah ihm zu. Maury war nicht da, er war eben wieder in den Wald gegangen. Kühl drehte sich Brian, als das Feuer brannte, zu ihr um und fragte: „Was ist eigentlich mit dir los? Eben hast du dich noch gewehrt, warst rotzfrech und jetzt sitzt du da wie ein Trauerkloß. Gib mir deine Kleider.“ Erschrocken fragte sie: „Wieso? Nein, ich werde mich nicht ausziehen, das kannst du vergessen!“ Gleichgültig stand er auf, zog sein Hemd und seine Hose aus, hing sie an einer Leine auf und sagte dann zu ihr: „Wenn du dich unbedingt erkälten willst.“ Kurz überlegte Kim, dann fragte sie: „Hast du vielleicht etwas, was ich mir, solange bis meine Kleider getrocknet sind, überziehen könnte?“ Er hatte etwas in der Hand, das er sich anscheinend gerade überziehen wollte, doch er warf es ihr zu und sagte: „Ich glaube, das T-Shirt müsste reichen.“ Sie fing es, stand auf, drehte sich um und zog sich bis auf die Unterwäsche aus, streifte sich gleich darauf allerdings auch das T-Shirt über. Sie setzte sich wieder und versuchte Brians Grinsen zu ignorieren, doch er sagte: „Weißt du eigentlich, dass du einen wunderschönen Rücken hast? Und ich glaube, die Frontseite würde mir noch besser gefallen.“ Er warf ihr zwinkernd einen Luftkuss zu und sie zog das Shirt noch weiter über ihre Beine. Doch Brians Grinsen verschwand von seinem Gesicht und er meinte: „Gib mir deine Sachen, damit ich sie aufhängen kann.“ Sie tat wie ihr geheißen und fragte dann: „Ihr seid also die Gebrüder?“ Brian stocherte etwas im Feuer herum und nickte stumm, doch Kim fuhr fort: „Und ihr ward Piraten? Zumindest kennt ihr ihre Lieder, mein Captain kennt euch, glaube ich jedenfalls.“ „Und wie heißt dein seltsamer Captain, der uns deiner Meinung nach kennt?“ „Jon. Jon Genitson, momentan Captain dreier Schiffe, der Vengeance, der Satisfaction und der Fortune. Außerdem Pirat, mit Leib und Seele.“ Ungläubig wandte Brian seinen Blick zu ihr und fragte: „Jon Genitson sagtest du? Das kann nicht sein. Der ist doch schon längst tot, wahrscheinlich kannte dein Kapitän ihn und benutzt seinen Namen jetzt als Künstlernamen. Aber sag, du bist Pirat? Oder Piratin, oder was auch immer?“ Selbstsicher nickte sie und sagte dann: „Also ich bin mir sicher, dass Jon Genitson sein richtiger Name ist, schließlich steht er mir sehr nahe und würde mir so etwas erzählen.“ Ihr Gegenüber grinste allerdings: „Wie nahe denn? Ist das eine Bezahlung, dass du an Bord sein darfst, oder was?“ Grimmig entgegnete sie: „Von wegen! Wir sind nur Freunde, gute Freunde, aber ich habe nie, niemals mit ihm geschlafen, nur einmal geküsst habe ich ihn und das ist drei Jahre her.“ „Und? Wie war’s?“ „Himmlisch, er kann küssen wie kein Zweiter, ich sage dir… Halt! Wieso erzähle ich dir das überhaupt? Das geht dich rein gar nichts an. Außerdem hast du dich noch nicht einmal vorgestellt, unverschämter Flegel.“ „Ach nein, wie unhöflich, dass ich mich, als dein Entführer, auch nicht sofort vorgestellt habe. Mein Name ist Brian Suffix aber du darfst mich auch gerne Gott nennen.“ „Ho, ho, jetzt geht’s los. Du weißt wohl nicht mit wem du hier sprichst. Ich bin nämlich immerhin eine Kimberley von Merrylson, also hüte deine Zunge und sprich mich nur mit Ehrwürdige an.“ „Nein! Verzeiht mir, meine Unverfrorenheit, ehrwürdige Kimberley von Merrylson, ich hatte ja keine Ahnung mit wem ich es hier zu tun habe. Aber lasst Euch eins gesagt sein: Besser macht dich das auch nicht. Namen sind Schall und Rauch, es bedeutet nichts, du bist eine wehrlose Frau, uns auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, also nimm dich in Acht. Und überhaupt, du sagst doch, du seist Pirat, wo hast du dann deine Waffen gelassen?“ „Auf dem Schiff. Doch wenn du mir nicht glaubst, ich kann dir gerne mein Amulett zeigen, hier.“ Sie war zu ihm gegangen, hatte ihr Amulett aus ihrem Ausschnitt gefischt und hielt es ihm unter die Nase. Er schnupperte ein wenig und bemerkte dann: „Hm, noch warm und wenn es mir gestattet ist, lass mich dir sagen, dass du ein wundervolles Parfüm verwendest.“ Im nächsten Moment packte er sie an ihrem Hintern und zog sie näher zu sich heran, sodass sein Gesicht an ihrem Bauch lag; er saß selbstverständlich. Ihr Atem beschleunigte sich und sie versuchte, ihn weg zu stoßen, doch schaffte sie es nicht und da hörte sie Maurys Stimme sagen: „Lass sie los, Brian, du kannst doch sehen, dass sie keine Hure ist, also verschreck das arme Ding nicht, dazu hast du in der Nacht noch genug Zeit.“ Enttäuscht ließ Brian von ihr ab, grinste sie allerdings noch einmal süffisant an. Kim stolperte rückwärts und ließ sich wieder auf die Matratze sinken. Doch Maury kam auf sie zu und setzte sich neben sie. Er erklärte: „Da ich nicht so stillos wie unser guter Brian hier bin, setze ich mich nicht einfach auf den Boden und du sitzt auf meiner Matratze. Aber bleib ruhig sitzen, dann weißt du schon, wo du heute Nacht schlafen wirst.“ Empört rief Brian: „Wieso darf sie bei dir schlafen? Das ist ungerecht! Ich wollte sie zuerst haben, vielleicht ist sie ja noch Jungfrau.“ Bei diesen Worten leckte er sich über die Lippen und schwelgte anscheinend in Erinnerungen, da meinte Maury gelangweilt: „Erstens wirst du sie gar nicht bekommen, zweitens werde auch ich sie mir nicht nehmen und drittens: sieh sie dir doch mal an, glaubst du im Ernst, die ist noch Jungfrau?“ „Aber du hast doch gesagt, sie sei keine Dirne. Apropos, sie hat gesagt, sie sei auf einem Piratenschiff angeheuert, dessen Kapitän Jon Genitson hieße. Merkwürdig, was?“ Maury musterte Kim eindringlich und sie fühlte sich extrem unwohl unter seinem scharfen Blick. Es war, als könnte er direkt durch sie hindurch sehen, als könnte er alles sehen, was in ihr vorging. Sein Blick war wie der Alice damals, als Kim sie wieder gesehen hatte. Dann fragte er kühl: „Stimmt das? Heißt dein Captain wirklich Jon Genitson?“ Sie schluckte schwer und nickte dann. Wie sehr hoffte sie, dass Jon kam und sie rettete. Da würde sie lieber mit diesem Brian schlafen, als neben diesem Maury. Aber wie sie vermutete, hatte der hier das Sagen und ließ sich von ihr in nichts reinpfuschen. Nun stand auch er auf und zog seine nassen Kleider aus, aber gleich zog er sich wieder etwas anderes über. Er musterte Kim noch einmal missbilligend und fuhr dann Brian an: „Hast du ihr absichtlich das knappste T-Shirt gegeben?“ Stolz nickte dieser und strahlte: „Ich finde es sehr erotisch.“ Maury aber ging zu ihm und schlug ihn hart auf den Hinterkopf. Anschließend sagte er: „Das ist bei ihr völlig egal, versteh es doch, sie ist keine gewöhnliche Frau, sie ist anders, ganz anders.“ „Aua! Warum ist sie denn anders? Sie hat ein hübsches Gesicht, zwei Arme, zwei Brüste, zwei Beine. Für mich sieht sie ganz normal aus.“ „Idiot! So etwas kann man nicht sehen, das musst du spüren, du musst es sehen! Mit deinen Augen kannst du natürlich nichts Ungewöhnliches erkennen.“ Es war schon lange dunkel geworden, aber neben Maury konnte und wollte sie einfach nicht schlafen. Gerade fragte sie sich, ob Jon wohl nach ihr suchte, da flüsterte jemand: „Hey, Kimberley, bist du wach?“ Sie setzte sich vorsichtig auf und sah vor sich Brian in der Dunkelheit stehen. Gerade wollte sie etwas erwidern, da sagte er: „Komm mit mir, ich will dir etwas zeigen.“ „Aber wenn dein Bruder…“ „Er ist nicht mein Bruder, zumindest nicht richtig, nur mein Blutsbruder. Und selbst wenn er davon Wind bekäme, was sollte er machen? Schlagen tut er mich eh.“ Mit diesen Worten half er Kim auf und gab ihr ihre Hose, die inzwischen getrocknet zu sein schien. Rasch zog sie diese an und folgte Brian aus der Höhle. Zu ihrem bedauern hatte er allerdings ein Messer und eine Pistole dabei, was eine Flucht nahezu unmöglich machte. Er ging schnell und hielt beständig ihre Hand. Einmal stolperte sie fast, doch er zog sie an sich, um ihr Halt zu geben. Etwas erleichtert bedankte sie sich und beobachtete, wie er leicht rot anlief. Irgendwann kamen sie an einer Klippe an, unter der das Meer rauschte. Brian ließ sich auf den Boden fallen und zog sie mit sich hinunter. Verwundert fragte sie ihn: „Was wollen wir denn jetzt hier?“ „Willst du nicht lieber bei mir schlafen?“ Er kam ihr vor, wie ein leicht verschüchtertes Kind, doch sie nickte etwas bedrückt und dachte an Maury. Gerade fröstelte sie, da spürte sie, wie er sein Gesicht an ihre Brust legte, schrak zurück und fragte: „Was machst du denn da?“ „Ich wollte deinen Herzschlag hören, darf ich?“ Sie hatte das ungute Gefühl, dass das nicht wirklich eine Bitte war und die Waffe in seiner Hand bestärkte das Gefühl noch weiterhin, also nickte sie gequält und ließ ihn gewähren, als er erneut sein Ohr an ihre Brust legte und dort verweilte. Schließlich sagte er: „Du bist erregt, nicht wahr?“ „Ich habe Angst.“, korrigierte sie ihn. „Aber wieso? Ich tue dir nichts, ich will nur hören, wie dein Herz schlägt, ob es so schlägt wie das meine.“ Nun hatte sie doch genug, drückte ihn von sich und sagte: „Daran hege ich keinen Zweifel.“ Beleidigt sah er zum Himmel auf, der nur von ein paar Wolken und nur teils bedeckt war und sagte: „Sieh nur, heute ist Vollmond, da kann ich nie gut schlafen, geht es dir auch so?“ „Mir ist egal, ob Vollmond, Neumond oder Sichelmond ist, schlafen kann ich immer.“ Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und sahen den Mond an, dann fragte er: „Darf ich dich küssen?“ Erschrocken wich sie erneut zurück und fragte: „Wieso das denn? Maury hat doch gesagt, du sollst die Finger von mir lassen, außerdem kannst du doch dafür auch eine viel hübschere als mich haben.“ Er kam ihr wieder näher und flüsterte: „Nein, jemanden hübscheres als dich gibt es nicht und Maury hat gesagt, ich soll nicht mit dir schlafen, von küssen war nie die Rede, also lass mich dich küssen, nichts weiter.“ „Aber was bringt dir das?“ Sie hörte unwillkürlich das Klicken der Sicherung seiner Steinschlosspistole und er sagte: „Bitte, ich habe noch nie eine Frau geküsst, ohne auf irgendetwas hinauszuwollen und ich habe noch nie eine geküsst, für die ich etwas empfunden habe.“ Er legte die Hand in der er seine entsicherte Pistole hatte auf ihren Schenkel und berührte sanft ihre Lippen. Aus der Berührung wurde ein verlangender Kuss und Kims Glieder versteiften sich. Sie konnte diesen Kuss bei Gott nicht erwidern und musste jede Sekunde an Charles denken. Warum war er jetzt nicht da und rettete sie? Zum zweiten Mal an diesem Tage lief ihr eine Träne die Wange hinunter und sie schluchzte unterdrückt auf. Verwundert ließ Brian von ihr ab und fragte: „An wen denkst du? Und warum weinst du jetzt? Hat es dir nicht gefallen?“ Sie schüttelte allerdings nur, die Tränen hinunterschluckend, den Kopf und sagte: „Bitte lass uns zurückgehen, ja?“ In dieser Nacht tat sie kein Auge mehr zu. Unentwegt dachte sie an den Kuss, den ihr Brian gegeben hatte. Hatte sie Charles damit betrogen? Ganz und gar am Ende saß sie da auf dem kalten Steinboden der Höhle und dachte an Charles und Jon. Ob sie sie wohl suchten? Und ob Charles wohl überhaupt nach ihr suchen würde? Aber selbst, wenn sie nach ihr suchten, wie sollten sie sie finden? Sie war hier irgendwo im Nirgendwo und wusste es selbst nicht. Erschöpft lehnte sie den Kopf an die Wand und schloss die Augen, doch im nächsten Moment schlief sie ein. Sie sah Jon. Er lief durch die Straßen Cartagenas und rief nach ihr, triefend nass vom Regen. Irgendwann gab er es auf und schlich zurück zum Hafen und aufs Schiff. Dort kam Charles auf ihn zu und fragte: „Captain, weißt du, wo Kim ist? Ich glaube, ich habe heute Morgen etwas Falsches zu ihr gesagt und jetzt ist sie sauer auf mich.“ Jon jedoch atmete tief durch, um nicht auszurasten, brüllte aber dennoch: „Zum Teufel noch mal, Charles! Sie ist nicht sauer, sie ist verletzt, tief traurig, melancholisch! Was denkst du dir eigentlich dabei, ihr eine Affäre mit mir zu unterstellen und ihr vorzuwerfen, dass sie noch immer an Leo hängt? Sie gibt sich selbst die Schuld an deiner verdammten Blödheit und macht sich jetzt fertig, hätte ich dich doch nicht mitgenommen, verdammter Bastard, ist dir eigentlich klar, wie teuer so ein Arztbesuch ist?“ Ungläubig starrte Charles Jon an und fragte dann: „Also weißt du, wo sie ist?“ Kim konnte sehen, wie sehr diese Frage an Jons ohnehin schon mehr als strapazierten Nerven zerrte und er zischte, immer lauter werdend: „Nein, verdammt, diese vermaledeiten Gebrüder haben sie verschleppt und ich habe sie verloren. In Cartagena können sie nicht sein, ich habe alles abgesucht, jetzt kann nur noch Gott uns ein Zeichen geben.“ Charles wurde kreidebleich und Kim glaubte erkennen zu können, wie seine Knie weich wurden und er sich nichts sehnlicher wünschte, als einen Stuhl, auf den er sich setzen konnte. Jon schnaubte vor Wut auf sich selbst und Charles, dem er die Schuld an alledem gab und suchte nach Worten. Schließlich sagte er: „Ich werde jetzt in den Wald gehen, dort nach ihr zu suchen, aber was mir die Anwohner erzählt haben, macht mir keine großen Hoffnungen.“ „Was haben sie erzählt?“, keuchte der Blonde. „Nun, zum Einen soll der Wald größer sein, als wir es uns ausmalen könnten und zum Anderen pflegen diese Delinquenten ihre Opfer gleich umzubringen, beziehungsweise Frauen erst zu schänden und dann umzubringen.“ „Was reden wir hier also noch? Lass uns in den Wald gehen.“ Wütend fragte Jon: „Was heißt hier wir? Denkst du wirklich, ich erlaube dir noch länger hier auf dem Schiff zu bleiben, geschweige denn, mit uns nach Kim zu suchen, nach dem was du ihr angetan hast? Niemals, pack deine Sachen und komm mir nie wieder unter die Augen, wenn dir dein Leben lieb ist.“ Nun war es Charles, der zornig brüllte: „Wenn das ein Befehl ist, dann werde ich eben auf eigene Faust nach Kim suchen, aber denk nicht, dass ich aufgebe, bevor ich sie gefunden habe! Apropos, wieso hast du es eigentlich nicht verhindert, dass diese Gebrüder sie verschleppen konnten? Bist wohl doch nicht so ein fähiger Captain, wie alle meinen!“ Mit diesen Worten stampfte er wütend von Deck und in Richtung Wald. Was hatte sich Jon denn dabei gedacht? Sie brauchte Charles! Was, wenn er im Wald umkommen würde? Sie mochte gar nicht daran denken, sondern folgte lieber seinen Schritten. Langsam wurde es dunkel und er stakste noch immer ziellos durch den Wald, auf der Suche nach ihr. Irgendwann jedoch hörte er ein Geräusch und versteckte sich abrupt hinter dem nächst besten Gebüsch. Von dort aus konnte er sehen wie ein Mann eine junge Frau hinter sich herzog, die anscheinend aber gar nicht davon begeistert war, sondern sich einfach nur von seiner Pistole beeindrucken ließ. Er erkannte Kim sofort und tat sich sichtlich schwer in seinem Versteck zu bleiben. Als er sich sicher war, schlich er den Beiden hinterher und beobachtete, wie der Mann sie an eine Klippe führte. Charles fürchtete schon, er würde sie hinunter stoßen, doch als er sah, wie er sich einfach nur hinsetzte und auch Kim lediglich zu sich hinunterzog, suchte er sich wieder ein geeignetes Versteck. Wutschnaubend beobachtete er, wie er seinen Kopf an ihre Brust legte, am liebsten wäre er eingeschritten, doch hatte er keine Waffe dabei und hatte das Klicken der Entsicherung nicht überhört. Solange es jedoch nicht zu weit ging, würde er nicht einschreiten. Als der Kerl sie dann küsste und Charles sehen konnte, wie eine Träne auf Kims Wange im Mondlicht glitzerte, wurde ihm ganz plötzlich bewusst, wie sehr er ihr wehgetan hatte und es war ihm, als gelte diese Träne ihm. Schließlich hörte er, wie Kim sagte, dass sie zurück wolle und wunderte sich, dass der Mann auf ihre Bitte einging. Wieder folgte er ihnen, diesmal zu einer Höhle, die gut versteckt hinter einigen Sträuchern lag. Eigentlich wollte er warten, bis der Mann eingeschlafen war und Kim dann mit sich nehmen, doch gerade noch rechtzeitig entdeckte er, dass Kim an eine Wand gelehnt schlief und gerade ein anderer Mann erwachte. Erschrocken zog er sich zurück und suchte sich ein geeignetes Versteck in dem er warten könnte, bis die Beiden nicht mehr auf Kim achteten und er mit ihr verschwinden konnte. In diesem Moment wachte Kim auf und konnte etwas zu essen riechen. Sie sah Maury, der am Lagerfeuer saß und eine Pfanne darüber hielt. Noch immer schlaftrunken fragte sie: „Was machst du denn da, Maury?“ Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Frühstück, magst du Toast?“ Sie sagte nichts, sondern blieb stumm an der Wand gelehnt sitzen. Er fuhr fort: „Wo warst du denn heute Nacht mit Brian?“ Etwas erschrocken entgegnete sie: „An einer Klippe, er… nein, ist egal.“ Nun drehte sich Maury doch um und fragte eindringlich: „Was hat er getan?“ Kurz überlegte sie, ob sie ihm erzählen sollte, was Brian getan hatte, entschloss sich aber doch dagegen und antwortete ihm: „Nichts, er hat nichts getan.“ Nüchtern entgegnete er allerdings: „Ich glaube dir nicht und wenn du mich belügst, dann werde ich andere Saiten aufziehen. Also, was hat er getan?“ „Wirklich nichts, wir haben uns den Vollmond angesehen und geredet.“ „Jetzt hör mir mal zu, Kleine, wenn du denkst, du könntest mir weiß machen, dass Brian nur dagesessen ist und mit dir geredet hat, dann hast du dich geschnitten und ich will jetzt endlich wissen, was du mit ihm getrieben hast, Herzchen.“ Er war nicht laut geworden, ganz im Gegenteil, er hatte fast geflüstert und doch wäre es Kim lieber gewesen, wenn er sie angebrüllt hätte, dann hätte sie wenigstens gewusst woran sie war, aber so konnte sie beim besten Willen nicht herausfinden, ob er wütend oder enttäuscht oder dergleichen war und auch seine Mimik gab ihr keinen Einblick. Er war zu ihr gekommen und hatte sich vor sie gekniet, aber noch immer beteuerte sie, Brian habe sich nur mit ihr unterhalten. Nun kam Maury ihr ganz nahe, sodass ihre Nasenspitzen sich fast berührten. Er hatte sein Messer gezückt, nahm mit der anderen Hand die ihre und flüsterte: „Ich würde es, um ehrlich zu sein, wirklich genießen, dich bluten zu sehen, deine Schmerzensschreie zu hören, dein warmes Blut zu fühlen und zu schmecken“, er leckte sich über die Lippen, „aber ich denke, das ist nicht unbedingt was du willst, also spuck schon aus, was du in Wahrheit mit Brian gemacht hast, das würde mich nämlich brennend interessieren.“ Ein boshaftes Grinsen umspielte seine Lippen, doch sie schüttelte erneut den Kopf in der Erwartung, er würde nur drohen. Aber sie hatte sich gewaltig getäuscht, denn im nächsten Moment zog er ruckartig die Handfläche ihrer rechten Hand zu sich und ehe sie überhaupt realisieren konnte, was er tat, ritzte er ganz langsam und genüsslich die Haut der Innenseite ihres Zeigefingers auf. Als sie das Blut hervorquellen sah, schrie sie entsetzt auf und jäh in dem Augenblick breitete sich ein unbändiger Schmerz in ihr aus, der langsam von dem Schnitt aus ihren Arm heraufkroch und sich von da ab in alle Winkel ihres Körpers zwängte. Er hielt noch immer ihre Hand fest und flüsterte ihr ins Ohr: „Wenn du nicht still bist, tue ich noch einmal das Gleiche, aber dann bei deinen Lippen.“ Er kicherte insgeheim und sie schluckte die Schmerzensschreie runter. Verzweifelt versuchte sie Maury von sich zu stoßen, doch er hielt ihr nun die Klinge an die Lippen und sie bewegte sich nicht mehr, getraute sich fast nicht zu atmen. Gehässig bleckte er die Zähne und grinste: „Na also, Herzblatt, geht doch.“ Langsam führte er ihre blutende Hand zu seinem Gesicht und küsste die Wunde. Als er wieder von ihr abließ, leckte er sich vergnügt ihr Blut von den Lippen und sagte: „Erzählst du mir jetzt, was Brian und du wirklich getan habt oder muss ich meine Drohung wahr machen und dein so makelloses Gesicht verunstalten?“ Gerade wollte sie ihm antworten, da hörte sie Brian sagen: „Ich habe sie geküsst, nichts weiter, also lass sie bitte in Ruhe und tu ihr nicht weh, du hast doch selbst gesagt, sie sei etwas Besonderes.“ Ihr die Wangen küssend grinste Maury: „Warum konntest du mir das nicht einfach sagen?“ Und stand auf. Kim schluchzte unterdrückt auf und besah sich die Wunde. Er hatte tiefer geschnitten als sie gedacht hatte, doch was sollte sie jetzt tun? Nähen konnte sie es schlecht und es blutete wie verrückt. Der Schmerz war kaum erträglich, da hörte sie Maury sagen: „Na toll, wegen deiner Sturheit ist jetzt der Toast verbrannt, dumme Gans.“ Brian aber ließ sich zu der zitternden Kim nieder, streichelte ihr über den Kopf, zog ihre rechte Hand behutsam zu sich und flüsterte, sodass Maury es auf keinen Fall hören konnte: „Keine Angst, ich werde es verarzten und du sollst auch einige Schlücke Rum gegen den Schmerz bekommen. Warte kurz.“ Sie war nicht fähig zu sprechen, sie hätte niemals gedacht, dass Maury Ernst machen könnte. Hasserfüllt sah sie zu ihm, wie er wieder am Lagerfeuer saß, die Pfanne in der Hand und ein Lied vor sich hin pfeifend, als wäre rein gar nichts geschehen. Aber just in dem Moment hörte sie einen Schuss und Maury ließ fluchend die Pfanne fallen, hielt sich den rechten Arm und schrie auf vor Schmerz. Im nächsten Augenblick konnte sie sehen, wie Jon vor den Eingang der Höhle trat, mit gezückter Waffe. Hinter ihm standen Charles, Terry, Garret, Laffite und Edward. Erschrocken fragte Brian, zu Maury eilend: „Verdammt, wer zur Hölle seid ihr?“ Angewidert ausspuckend entgegnete Jon: „Gestatten? Jon Genitson, Kapitän eurer Gefangenen, die ich gerne wieder hätte. Die da hinten sind Fußvolk.“ Sofort konnte Kim Gebrummel vom ‚Fußvolk’ vernehmen, doch ein Blick Jons brachte sie zum Schweigen. Brian starrte ihn mit großen Augen an und fragte ungläubig: „Bist du wahrhaftig der Jon Genitson? Wir dachten, du wärest tot, seit wir damals getrennt wurden, ich von einer Welle weggespült und Maury von Franzosen über Bord geworfen. Du bist jetzt Captain von drei Schiffen?“ Aber anstatt auf die Rührseligkeit Brians einzugehen trat er ihm in den Bauch und sagte, auf ihn herabsehend: „Ja, genau der, Brian, aber hoffe nicht, ich würde Gnade walten lassen, nur weil ich dein Blutsbruder bin, du hast einen unserer Kameraden verschleppt und sie verletzt, das wird normalerweise mit dem unverzüglichen Tod geahndet.“ Brians Augen weiteten sich und er suchte nach Worten, aber Maury kam ihm zuvor und sagte aufstehend: „Bitte, töte uns, wir haben es nicht besser verdient. Wir sind Gesindel; rauben, morden und misshandeln. Aber halt, das macht ein Pirat doch auch, nicht wahr? Ich bin bereit zu sterben, aber bist du es auch, wenn vor dir ein Marineoffizier steht, dir den Kopf abzuschlagen? Tu das, was nötig ist, aber vergiss meine Worte nicht, Jonathan.“ Erneut ließ ein Schuss die Vögel aufschrecken und Maury sank zu Boden, im nächsten Augenblick war er tot und Jon murmelte: „Niemand, absolut niemand nennt mich bei diesem Namen und lebt noch lange.“ Nun lag seine ungeteilte Aufmerksamkeit bei Brian, der auf dem Boden zu seinen Schuhen kroch und versuchte, sich bei ihm einzuschmeicheln, aber Jon herrschte ihn an: „Steh auf und stirb wie ein Mann!“ Brian jedoch rührte sich nicht. Er lag wie ein zitterndes Bündel zu Jons Füßen. Schließlich sagte Jon etwas zu Terry und Laffite, was Kim nicht verstehen konnte, aber kurz darauf traten sie an Brian heran, packten ihn bei den Armen und zerrten ihn auf die Beine. Jon schüttelte angesichts der Tränen in Brians Gesicht den Kopf und sagte: „Du konntest noch nie etwas verkraften; auch bei der Blutsbruderschaft musstest du natürlich anfangen zu heulen. Ich dachte wenigstens im Angesicht des Todes wärst du ein Mann, aber anscheinend habe ich mich in dir getäuscht.“ „Nein.“, flüsterte Brian. Jon horchte auf und fragte: „Was sagtest du? Nein? Doch ein Mann? Terry, Laffite, lasst ihn los.“ Die beiden taten wie ihnen geheißen, und entfernten sich einige Meter von ihm. Die nächsten Sekunden kamen Kim wie in Zeitlupe vor, Brian stand tatsächlich selbst vor Jon, doch zog er seine Pistole und schoss auf ihn. Jon allerdings schoss auch. Es war Kim, als könnte sie die beiden Kugeln während des Fluges sehen und ihr brach der kalte Angstschweiß aus. Eigentlich wollte sie die Augen schließen, aber dann hätte sie nicht sehen können, ob die Kugel Jon traf. Sie hielt die Luft an und sah, wie Brians Kugel Jon in die Schulter traf. Die Jons aber traf präzise in Brians Kopf. Er sank zu Boden und verendete neben Maury. Nun wurde alles wieder normal schnell. Jon schrie auf und hielt sich die Schulter. Sofort kamen die anderen auf ihn zu, er aber scheuchte sie weg und herrschte sie an: „Na los, sucht nach Kim!“ Hatte er sie etwa nicht gesehen? Wahrscheinlich, weil sie im Schatten und eng an eine Wand gedrängt saß. Nun kamen ihr die Wörter wieder und sie flüsterte, rufen konnte sie nicht: „Jon, Charles.“ Und als hätte er es gehört, kam Charles zu ihr und sah sie erleichtert lächelnd an. Sie wollte zurück lächeln, doch erneut durchzuckte sie ein stechender Schmerz. Besorgt kniete sich Charles zu ihr und fragte: „Was ist los? Haben sie dir etwas angetan? Ich habe dich schreien gehört, als ich mit Jon herkam.“ Er wollte ihre Hand ergreifen, doch sie zog sie verschreckt weg und streifte die seine nur. Auf ihre Hand schauend bemerkte er entsetzt: „Ist das Blut? Mein Gott, was haben die nur mit dir angestellt? Komm, ich helfe dir auf.“ Kim allerdings schüttelte den Kopf und flüsterte: „Ich kann nicht, meine Beine gehören nicht mir.“ Anscheinend wusste er, dass sie meinte, dass ihre Beine ihr nicht gehorchten. Er küsste sie sanft, doch sie zuckte zurück und musste unwillkürlich an den Kuss denken, den ihr Brian diese Nacht gegeben hatte. Beschämt sah sie zur Seite. Charles allerdings fragte nicht, was vorgefallen war, sondern drehte sich um und bot ihr an, sie huckepack zu nehmen, was sie dankbar annahm. Am Eingang der Höhle hatte sich Jon hingesetzt, den Rücken und Kopf an die Wand gelehnt und hielt sich die stark blutende Schulter. Als er Kim sah, lächelte er ihr milde zu und erhob sich. Sofort eilte Laffite an seine Seite und stütze ihn, was er nicht abwies. Die beiden Leichen zurücklassend marschierte die kleine Truppe in Richtung Cartagena, wo sie von den Passanten ziemlich verwundert gemustert wurden. Charles und Jon stoppten vor der Praxis des Arztes, bedankten und verabschiedeten sich vorläufig von den anderen und klingelten. Als ihnen der Arzt, nun mit einem weißen Arztkittel bekleidet, die Tür öffnete, weiteten sich seine Augen und fassungslos fragte er: „Um Himmels Willen, was ist denn mit Euch Geschehen?“ Nüchtern entgegnete Jon: „Die Gebrüder, aber die tun niemandem mehr etwas.“ Und trat, den Arzt zur Seite schiebend ein und in das Behandlungszimmer. Charles, mit Kim auf dem Rücken, die immer noch zitterte, ging ihm nach und lud sich Kim auf einem Stuhl ab. Er streichelte ihr behutsam über die Wange und wollte gerade einige Schritte zur Seite gehen, da hielt sie ihn fest, zog ihn noch einmal zu sich und küsste ihn liebevoll. Der Arzt wollte sich als erstes um Jon kümmern, da dieser offensichtlich schlimmer verletzt war und tröstete Kim damit, dass sie dafür einen Rabatt bekäme. Ihre Schmerzen linderte das trotzdem nicht. Gerade wollte sie den Arzt fragen, wie lange es noch dauern würde, da rief dieser in den Flur: „Rob, bist du das? Komm her, Junge, ich brauche deine Hilfe!“ Sie hörte, wie draußen eine Tasche zu Boden geworfen wurde und gleich darauf trat ein schwarzhaariger Junge mit braunen Augen ein und fragte: „Was willst du denn, Dad? Ich habe zu tun.“ Nüchtern sagte der Arzt, den Blick nicht von Jon abwendend, dem er gerade die Kugel entfernte: „Ich auch, aber zu zweit geht es schneller. Kümmere dich doch bitte mal um das Fräulein dort auf dem Stuhl, ihr rechter Zeigefinger muss genäht werden.“ Jon aber protestierte prompt: „Hat der Junge denn überhaupt eine Ahnung von Medizin?“ „Natürlich hat er die, schließlich hilft er mir schon von klein auf in der Praxis und wird jetzt Medizin studieren, da ist so ein bisschen Übung immer gut, also macht Euch keine Sorgen, Señor…“ „Son.“ Rob kam auf Kim zu, lächelte sie freundlich an und sagte: „Hallo, Señorita, mein Name ist Robert Noolden, darf ich mir Euren Finger mal ansehen?“ Missmutig streckte sie ihm ihre rechte Hand entgegen, dessen Zeigefinger gerade wieder aufgehört hatte zu bluten. Robert allerdings riss die Wunde wieder auf, sodass Kim die Zähne zusammen beißen musste und es wieder begann zu bluten. Abwesend entschuldigte er sich: „Oh, Verzeihung, ich wollte Euch nicht wehtun, ich werde es gleich betäuben und dann nähen. Aber sagt, wie ist das denn passiert? Die Wunde sieht nämlich ziemlich sauber aus, ist aber auch beträchtlich tief.“ Unverbindlich entgegnete Kim: „Das geht Euch nichts an, Señor Noolden.“ Kopfschüttelnd wandte er sich von ihr ab und ging zu einer Kommode an die oberste Schublade und holte dort ein kleines Gläschen mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt und eine kleine Spritze heraus. Er kam wieder zu ihr, mit der Flüssigkeit in der Spritze und fragte: „Habt Ihr Angst vor Spritzen?“ Angespannt schüttelte sie den Kopf. Normalerweise hatte sie tatsächlich keine Angst vor Spritzen, aber bei diesem Kerl war sie sich nicht sicher, ob es nicht doch besser verheilte, wenn sie sich jetzt davon machte. Aber sie blieb sitzen und ließ es über sich ergehen. Während er die Flüssigkeit neben die Wunde spritzte, spürte sie, wie ausgiebig Blut über ihre Hand lief. Hinsehen konnte sie nicht, denn sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen und wie als würde er es ahnen, fragte der Junge, als er die Spritze wegwarf: „Ist Euch Übel? Müsst Ihr Euch übergeben?“ Erneut schüttelte sie den Kopf und lehnte ihn gegen Charles Arme, der neben ihr stand. Nach einer kurzen Weile kam Robert mit Nadel und Faden an, setzte sich neben sie, legte ihre Hand auf ein Tischchen und begann sie zu nähen. Sie spürte rein gar nichts, aber bei dem grauenhaften Geräusch, das es machte, wenn er die Fäden festzog, fuhr es ihr durch Mark und Bein und sie drückte mit der anderen Hand die Charles. Parallel zu ihr wurde auch Jon verbunden, zog sich dann sein Hemd wieder über und fragte: „Was schulde ich Euch, Señor? Ich zahle auch für die junge Frau.“ Doch Charles trat neben ihn und sagte: „Nein, lass nur, das erledige ich schon, dann sind Kim und ich wenigstens wieder quitt.“ Tief durchatmend sagte der Arzt: „Ihr sagtet, Ihr hättet die Gebrüder zur Strecke gebracht? Nun, dann will ich Euch kein einziges Achterstück abnehmen.“ Robert protestierte jedoch: „Aber Vater, das kannst du nicht machen, selbst wenn sie die Gebrüder umgebracht haben, wir brauchen auch was zum überleben!“ Zornig fuhr der Arzt ihn an: „Robert, du verdammter Bengel, hüte deine Zunge und sei dir gewiss, dass wir genug Geld haben. Aber erinnere dich daran, wer deine Mutter tötete, nachdem sie sie geschändet und psychisch zerstört hatten.“ Betreten sah Robert zu Boden und sein Vater wünschte den Piraten noch einen angenehmen Tag. Auf dem Weg zurück zum Hafen sprach keiner von ihnen ein Wort, sondern sie gingen schweigend nebeneinander her, Charles den Arm um Kims Schulter gelegt und ihr hin und wieder ein Küsschen auf die Wange drückend. Zum Glück war der Hafenmeister zu diesem Zeitpunkt nicht da, sodass sie ihm nicht auch noch Rede und Antwort stehen mussten. So gingen sie an Bord der Vengeance, wo sie von der Crew aufs Herzlichste begrüßt wurden. Kim lächelte sie alle nur müde an und zog sich so schnell wie möglich in ihre Kajüte zurück, in der sie sich gleich aufs Bett warf und die Augen schloss, als könnte sie so das Geschehene und den Schmerz, der sich langsam wieder breit machte, vergessen. Aber so wurde sie nur noch mehr an Brians Anzüglichkeiten und Maurys Brutalität erinnert, weil sie noch einmal alles vor ihrem geistigen Auge sah. Also starrte sie an die Decke und versuchte weiterhin vergeblich das Geschehene zu verdrängen. Irgendwann jedoch klopfte jemand an ihre Tür und sie rief heilfroh: „Ja?“ Charles trat ein und schloss die Tür wieder hinter sich. Bedächtig setzte er sich neben sie auf das Bett und fragte zu Boden schauend: „Wie geht es dir?“ Lächelnd erwiderte sie: „Wieder ganz gut. Danke, dass ihr gekommen seid, ich glaube, Maury hätte mich noch umgebracht und wenn nicht er, dann hätte ich es getan.“ Er lachte nicht, sondern hüllte sich in Schweigen, was Kim allerdings stutzig machte und sie fragte: „Was ist los, Charles? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Er schwieg weiterhin, was sie leicht hysterisch werden ließ. Sie setzte sich auf, legte ihre Arme um ihn und fragte ihn erneut, was los sei, da antwortete er: „Nein, du hast nichts Falsches gesagt. Aber ich. Ich habe dich gestern so sehr verletzt, das wollte ich nicht, wirklich. Gäbe es irgendeinen Weg das rückgängig zu machen, dann würde ich es tun. Aber sei dir bewusst, dass ich dich liebe und sich daran nichts geändert hat. Und auch dass der eine dich geküsst und begrabscht hat ändert nichts daran. Glaube mir bitte, wenn ich dir sage, dass ich noch niemals zuvor in meinem Leben einem so wundervollen Menschen begegnet bin. Es tut mir wirklich Leid, wie ich mit dir umgegangen bin. Ich verspreche dir, dass ich mich ändern werde.“ Sie allerdings schüttelte den Kopf, küsste ihn und flüsterte: „Nein, ändere dich nicht. Ich liebe dich genauso, wie du jetzt bist.“ Ungläubig drehte er den Kopf zu ihr und sie lächelte: „Ja, Charles, du hast richtig gehört und ich meine das vollkommen ernst. Ich liebe dich.“ „Aber was ist mit…“ „Leo? Nun, ich denke, ich werde niemals ganz aufhören ihn zu lieben, aber durch seinen Tod stehen mir neue Möglichkeiten offen, zum Beispiel meine Liebe zu dir. Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich. Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Und mit jedem Mal, das ich es dir sage, werde ich sicherer, dass es wahr ist und ich fühle mich jedes Mal glücklicher und befreiter. Ich liebe dich.“ In seinen Augen konnte sie lesen, wie glücklich er war, dass sie genauso wie er empfand. Langsam schloss sie ihre Augen und gab sich seinem Kuss hin. Sanft drückte er sie in das Bett, fuhr ihr durch die Haare und sie knöpfte vorsichtig sein Hemd auf. Schließlich liebkoste sie seine Brust und flüsterte immer wieder, dass sie ihn liebe. Und jedes Mal, wenn sie es sagte, überkam die Beiden eine Gänsehaut. Was sie verband war so groß, dass es beängstigend, aber gleichzeitig auch behütend war. Nun zog auch er ihr das T-Shirt aus und öffnete ihren BH. Sie lag bei ihm im Arm und er kraulte ihr durch das lockige Haar. Sanft beugte er sich noch einmal über sie und küsste sie zärtlich, dann fragte er: „Kommst du heute Abend mit was trinken? Wir müssen doch feiern.“ Lächelnd nickte sie, sagte aber nichts. Ein bisschen war sie sauer auf Charles, dass er gesprochen hatte, damit hatte er die ganze Stimmung zunichte gemacht, aber jetzt war es auch egal und er grinste: „Willst du vielleicht deinen Jeansrock anziehen? Den finde ich echt toll.“ Ihn leicht in die Seite knuffend lachte sie: „Doch nur, weil er so verdammt kurz ist, aber wenn du willst, mein geliebter Charles, dann ziehe ich ihn an.“ „Geliebter Charles, das hört sich gut an, willst du mich ab jetzt nicht immer so ansprechen?“ Ihn von sich drückend und aufstehend, lachte sie: „Na das hättest du wohl gerne, Honigbärchen, aber das ist mir viel zu umständlich. Wie wäre es denn mit Sklave, oder ganz klassisch, Schatz?“ Er hielt sie am linken Handgelenk zurück zog sie noch einmal an sich, küsste sie und flüsterte, ihr ein wenig am Ohrläppchen knabbernd: „Also von mir aus kannst du mich auch Gott nennen.“ Lachend machte sie sich von ihm los, holte ihre Kleider aus ihrer Truhe und zog sich an, dann sagte sie: „Und was wäre, wenn wir einfach bei Charles und Kim blieben?“ „Charles, Gott, wo ist der Unterschied? Also von mir aus, ich hätte kein Problem damit.“ Schließlich stand auch er auf und zog sich an, damit sie gehen konnten. Als sie an Deck kamen, waren die anderen gerade drauf und dran zu gehen und sie schlossen sich ihnen unauffällig an. Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und sie ihren um seine Hüften. So gingen sie in den Nixenflügel, der besser besucht war, als sonst. Kim setzte sich zwischen Jon und Charles und prompt fragte Jon sie hämisch grinsend: „Na, Kim, was habt ihr schönes unter Deck getrieben?“ Zurück grinsend entgegnete sie: „Etwas, das dich eigentlich nichts angeht, mein lieber Jon.“ Aber da Charles gerade mit Terry redete, beugte er sich näher zu ihr und fragte leise: „Und wie war’s?“ Genauso leise antwortete sie ihm: „Ich hatte dir doch eigentlich gesagt, dass es dich nichts angeht, aber wenn du schon fragst, es war göttlich.“ Charles, der ihnen wohl doch mit einem Ohr zugehört hatte, wandte sich nun zu ihnen und grinste: „Soso, göttlich, aber Gott willst du mich nicht nennen?“ Schnippisch antwortete Kim: „Aber in Gottes Geboten steht, man solle keine anderen Götter neben ihm haben.“ Und ganz unschuldig schlug sie die Augen auf. Charles aber lachte: „Seit wann scherst du dich darum, was in Gottes Geboten steht und hältst dich auch noch daran?“ „Darf ich das etwa nicht, nur weil ich Pirat bin?“ Aber noch bevor sie es aussprechen wollte, hielten Jon und Charles ihr gleichzeitig den Mund zu. Jon sah sich skeptisch um und flüsterte: „Fängst du jetzt an wie Charles? Denk nicht, mit dir würde ich sanfter umgehen, als mit ihm, wenn es nötig wäre.“ Kim aber streckte ihm die Zunge heraus und meinte eingeschnappt: „Mit deiner angeschossenen Schulter kannst du eh nicht mehr gescheit zupacken.“ „Soll ich es dir beweisen?“, fragte Jon sie ernst. Charles jedoch nahm sie sogleich schützend in seine Arme und sagte: „An meine Kim lasse ich dich brutale Sau nicht ran.“ Jon lachte auf und prustete: „Brutale Sau! Das ist gut! Also so hat mich noch keiner genannt, ob nun aus Angst oder Kreativlosigkeit. Dir ist aber schon klar, dass ich dich dafür erschießen könnte?“ „Und wie klar mir das ist und ich hoffe dir ist klar, dass ich dich trotzdem nicht an meine Kim ranlasse.“ Unschuldig hob Jon die Hände und lachte: „Ich werde sie nicht anrühren, solange sie sich gut benimmt, versprochen.“ Nun meldete sich Kim wieder zu Wort: „Ihr fangt ja schon an zu handeln, als wäre ich irgendeine Wahre auf einem Bazar!“ Die beiden Männer sahen sich an und mussten schallend anfangen zu lachen, was Kim allerdings ein wenig aufregte, da sie das durchaus ernst gemeint hatte. Sie befreite sich aus Charles Umarmung, rutschte näher an Jon heran und flüsterte: „Sag mal, Jon, wann werden wir eigentlich anfangen zu plündern?“ Skeptisch rutschte auch Charles näher an sie heran und legte besitzergreifend seinen Arm um sie, was sie allerdings noch mehr aufregte, doch sie versuchte ruhig zu bleiben und Jon antwortete: „In zwei Tagen, am Abend des 19. Augusts um Punkt 23 Uhr werden wir beginnen. Morgen um 17 Uhr werde ich mich noch einmal mit Bartholomew, Garret und Laffite unterreden, damit alles glatt läuft und die Mannschaft gleichmäßig in verschiedene Distrikte der Stadt aufgeteilt werden kann. Aber nun genug übers Geschäft geredet, lass uns lieber feiern, dass Brian und Maury, auch bekannt als die Gebrüder, nicht mehr am Leben sind und dir nichts getan haben, Kim.“ Unter nichts antun verstand Kim etwas anderes, als jemandem den Finger aufzuschlitzen, aber sie wusste, dass Jon es in anderer Hinsicht meinte. Also hob auch sie ihr Glas und stieß mit den anderen auf ihre „Unversehrtheit“ an. Charles zog sie an sich und küsste sie leidenschaftlich, sie sah ihn trunken vor Liebe an und flüsterte: „Danke, dass du mich getragen hast, Charles, du bist wirklich der Beste und deswegen liebe ich dich.“ Am Ende des Tages, kurz vor Mitternacht, war sie nicht mehr nur vor Liebe, sondern auf vor Alkohol Betrunken und sie torkelte, Charles Hilfe abweisend, den Weg hinab zum Hafen entlang. Gerade standen sie an der Promenade, unmittelbar neben dem Wasser, da wurde ihr unwahrscheinlich übel und schnell drehte sie sich zum Wasser und übergab sich im nächsten Moment. Charles, auch nicht mehr ganz nüchtern, streichelte ihr über den Rücken und hielt ihr die Haare aus dem Gesicht. So schlecht war es ihr schon lange nicht mehr gegangen. Irgendwann ging es dann wieder und sie schleppte sich, nun dankbar für die Hilfe, auf Charles Schulter gestützt zurück an Bord. Dort wusch sie sich ausgiebig Hände und Gesicht und ging dann unter Deck zu Charles in seine Kajüte. Dieser lag schon auf seinem Bett und fragte auffordernd: „Na? Lust fortzusetzen, was wir heute Mittag begonnen haben?“ Doch sie schüttelte wehleidig den Kopf, hielt sich den Bauch und flüsterte: „Tut mir Leid, aber ich habe schreckliche Bauchschmerzen.“ Besorgt setzte er sich auf und fragte: „Woher das denn? Bekommst du deine Tage oder so was?“ Abwesend schüttelte sie den Kopf und sagte: „Nein, nein, die Bauchschmerzen sind ganz anders, die sind eher stechend, nicht krampfartig.“ Beunruhigt stand er auf, kam auf sie zu, legte ihr die Hand auf den Bauch und fragte: „Soll ich dir irgendetwas bringen? Was zu trinken, etwas zum Essen?“ Schwindelnd entgegnete sie allerdings nur: „Nein, danke. Aber bitte, halt mich fest, bitte.“ Und prompt schloss er sie in seine Arme und gab ihr ruhig atmend den Halt, den sie in diesem Moment brauchte. Sie war heilfroh ihn zu haben und darüber hinaus noch besänftigt, da er sie weder auslachte, noch sich sonst irgendwie über sie lustig machte. Schließlich löste sie sich aus seiner Umarmung und legte sich hin. Er legte sich neben sie, legte seinen Arm um sie und küsste noch einmal sanft ihren Nacken, bis sie einschlief. Mitten in der Nacht wurde sie unsanft von ihren Schmerzen geweckt. Sie setzte sich auf und krümmte sich unter der Pein. Nun wurde auch Charles wach und er fragte besorgt: „Was ist los? Tut es so sehr weh? Soll ich einen Arzt holen? Gibt es irgendetwas, was ich tun kann?“ Nach Luft schnappend, keuchte sie: „Luft… frische Luft!“ Abrupt schleuderte er die Decke weg, schnappte sich eine Jacke und trug Kim huckepack an Deck. Dort legte er ihr die Jacke um die Schultern und fragte hysterisch: „Wird es besser? Hören die Schmerzen auf?“ Aber die Schmerzen waren in diesem Moment ihr geringstes Problem, denn in erster Linie schnappte sie nach Luft, die allerdings nicht ihre Lunge füllte. Auch ausatmen konnte sie nicht mehr und so fiepte sie unverständlich: „Charles,… ich… ich ersticke!“ Er jedoch wurde kreidebleich im Gesicht, fasste sie an den Oberarmen, schüttelte sie und brüllte: „Nein, du erstickst nicht, das lasse ich nicht zu! Und jetzt ganz ruhig! Atme ein und wieder aus.“ Sie versuchte es, aber es ging nicht. Schließlich spürte sie, wie es ihr hochkam. Sie rannte an die Reling, beugte sich darüber und übergab sich erneut. Anschließend konnte sie wieder ganz normal atmen. Sie keuchte und genoss jeden Atemzug, den sie tun konnte. Auch Charles atmete auf und schloss sie erleichtert in seine Arme. Für eine Weile lehnte sie einfach nur vollkommen sorglos ihren Kopf an seine Brust und lauschte seinen immer noch erregten Herzschlägen, doch dann bekam sie wieder Bauchschmerzen und sie hielt sich den Bauch. Erschrocken ließ Charles sie los und fragte: „Hast du wieder Bauchschmerzen? Bekommst du noch Luft?“ Gerade hatte er das gesagt, da konnte sie wieder weder ein-, noch ausatmen. So stand sie vor ihm, röchelnd, sich an den Hals und die Brust fassend, als könnte sie es so lindern. Selbst keuchend drückte Charles sie kurz an sich und sagte dann: „Hör mir zu, du musst ganz ruhig durchatmen. Ein und aus und wieder ein…“ Sie versuchte es, ganz ruhig, doch es ging einfach nicht, sie bekam keine Luft und erneut breitete sich in ihr die panische Angst aus zu sterben. Aber sie wollte nicht ersticken, das war so ein unehrenvoller Tod, nein, das wollte sie nicht. Vorhin hatte es doch aufgehört, als sie sich erbrochen hatte. Erneut rannte sie zur Reling und steckte sich dort den Finger in den Hals, doch es brachte nichts. Sie konnte sich nicht mehr übergeben, ihr Magen war vollkommen leer. Was sollte sie jetzt tun? Noch einmal versuchte sie ruhig durchzuatmen, doch es funktionierte wieder nicht. So setzte sie sich an die Reling gelehnt auf die Planken und zog ihre Beine so eng es ging an ihren Körper. Ihr wurde plötzlich ganz schwummrig und sie musste sich an Charles festhalten, der sich gerade zu ihr runtergebückt hatte, damit sie nicht umfiel. Aber kaum hatte sie das getan, öffneten sich ihre Atemwege und sie bekam langsam wieder Luft, zum zweiten Mal in dieser Nacht. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals solche Todesangst gehabt zu haben, aber das war ihr jetzt egal, denn zum dritten Mal setzten die Bauchschmerzen ein. Hieß es nicht aller guten Dinge seien drei? Würde sie jetzt beim dritten Mal sterben? Und da bekam sie auch wieder diese Luftnot. Verzweifelt schnappte sie nach Luft und wollte die Hoffnung nicht aufgeben, da hörte sie Jon verschlafen fragen: „Was ist denn hier los? Was ist das für ein Lärm?“ Sich an Charles festhaltend sah sie zu ihm und sah, wie er mit offenem Mund stehen blieb und zusah, wie sie immer weniger Luft bekam. Noch einmal wollte sie es probieren, vielleicht funktionierte es diesmal. Sie ging, von Charles gestützt zur Reling, lehnte sich darüber und steckte sich erneut den Finger in den Hals. Es funktionierte nicht. Erneut versuchte sie es und tatsächlich kam etwas, aber es war lediglich die grüne Magengalle. Aber wie schon beim ersten Mal half es und sie bekam wieder Luft. Nun liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie barg das Gesicht an Charles Brust, der schützend seine Arme um sie legte. Sie hatte panische Angst, dass diese Schmerzen wiederkommen könnten und sog die Luft ein, als seien es ihre letzte Atemzüge. Sie füllte ihre Lungen mit so viel Luft, dass es sie schon schmerzte und ihr schwindelig wurde, aber noch niemals war sie dankbarer für die Luft zum Atmen gewesen. Nun kam Jon auf sie zu und fragte: „Was ist denn los? Geht es dir gut, Kim?“ Zornig blaffte ihn aber Charles an: „Natürlich nicht! Sie wäre eben fast erstickt und hat fürchterliche Bauchschmerzen, Idiot!“ Jon allerdings zischte: „Hüte deine Zunge, Charles, sonst hat sie noch einen Grund mehr zu weinen.“ Kim ihrerseits schluckte die Tränen herunter, lächelte Jon und dann Charles an und flüsterte, laut sprechen konnte sie nicht: „Nein, ich habe keine Bauchschmerzen mehr, es geht mir besser, danke. Aber ich will schlafen. Bitte, Charles, kannst du mich in die Kajüte bringen?“ Er nickte stumm und warf Jon, der ihr noch eine gute Besserung nachrief, einen wütenden Blick zu, bevor er mit Kim im Bauch des Schiffes verschwand. Behutsam setzte er sie aufs Bett und fragte: „Wie geht es deinem Bauch?“ Lächelnd entgegnete sie: „Wieder besser, danke. Danke, dass du da bist.“ Mit diesen Worten legte sie sich wieder hin. Charles legte sich neben Kim, legte wieder seinen Arm um sie, deckte sich und sie zu und schlief ein. Kim jedoch lag noch eine ganze Zeit lang wach, aus Angst, sie könnte nicht mehr aufwachen, doch anscheinend war alles wieder normal und endlich legte der Schlaf auch über sie seine Fittiche. Am nächsten Morgen wachte sie erst spät auf, es war schon eher Mittag und Charles war nicht mehr im Raum. Einerseits war sie heilfroh noch einmal aufgewacht zu sein, andererseits konnte sie nicht verstehen, dass Charles nicht da war. Immer noch nicht richtig wach stand sie auf, zog sich etwas anderes an und ging dann an Deck, wo Jon das Gespräch mit Terry und Laffite prompt fallen ließ, als er sie sah und auf sie zugestürmt kam. Sofort nahm er sie in den Arm und fragte aufgebracht: „Was war denn los? Als ich Charles vorhin noch mal zum Arzt geschickt habe, hat er gemeint, du seist dreimal fast erstickt und hättest davor starke Bauchschmerzen gehabt? Ein Glück, dass du noch Atmest, Kim! Hoffentlich kann uns Charles nachher sagen, was mit dir los war. Wie geht es dir denn jetzt?“ „Etwas schlapp, aber sonst okay.“ Liebevoll streichelte er ihr durch die Haare, zog aber wie von der Tarantel gestochen seine Hand weg, als er hinter sich Charles hörte, der rief: „Nimm deine Griffel von ihr, sie gehört mir!“ Kim, die fand, dass er zu weit ging, brüllte ihn an: „Jetzt langt’s aber! Wer seine Griffel an mir haben kann und wer nicht, entscheide immer noch ich!“ Und wie aus Protest zog sie Jon an sich und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. Jon lief leicht rot an, schob sie aber gleich von sich und Charles blieb schlagartig stehen, sodass der Arzt, der hinter ihm hergelaufen war, gegen ihn prallte. Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und tat, als hätte er es nicht gesehen. Unsicher sagte er: „Ich habe den Arzt mitgebracht, damit er dich abchecken kann, Kim, das ist wahrscheinlich besser.“ Der Arzt nickte bestimmt und sagte: „Ganz genau. Nachdem Señor Marou mir erläutert hat, was Ihr heute Nacht durchlitten habt, habe ich entschieden, dass ich Euch lieber noch einmal ganz untersuchen möchte.“ Skeptisch hob Kim eine Braue und fragte: „Was versteht Ihr unter ‚ganz untersuchen’, Doktor?“ Der Arzt aber lachte: „Nein, nein, nicht was Ihr denkt, Señorita, nur noch einmal die Reflexe testen, Fieber messen, die Brust abhören; nichts obszönes.“ Charles packte sie dennoch grob am Arm und raunte ihr zu: „Lass uns trotzdem in die Kajüte gehen, hier oben sind mir zu viele Gaffer.“ Bei den Worten warf er Jon einen missbilligenden Blick zu und Kim tadelte ihn, als sie, einschließlich dem Arzt, in seiner Kajüte waren: „Charles, du solltest dein Temperament zügeln, denke daran, Jon ist immer noch dein Captain und verfügt somit fast schon über dein Leben.“ Charles aber winkte ab: „Ja, ja, schon gut. Nun, Doktor, fangt schon an!“ Dieser stellte seine Arzttasche ab, holte das Stethoskop heraus und sagte zu ihr: „Könntet ihr bitte ihre Bluse öffnen, Señorita?“ Nicht wirklich begeistert tat sie, wie ihr geheißen und bekam eine Gänsehaut, als sie den kalten Kopf des Stethoskops auf ihrer Haut unter ihrer Brust spürte. Er hörte beide Brustseiten ab und dann auch noch den Rücken und immer sollte sie tief ein- und ausatmen. Schließlich packte er es weg, holte dafür ein verpacktes Holzstäbchen heraus und sagte zu Kim: „Würdet Ihr bitte den Mund weit öffnen und ‚A’ sagen, Señorita?“ Erneut tat sie was er sagte und streckte auch die Zunge heraus, als er es verlangte. Mit seinem Holzstäbchen drückte er ihre Zunge noch weiter nach unten und leuchtete ihr mit einem kleinen Lämpchen in den Hals. Als er ihr die Zunge so rabiat nach unten drückte, wurde ihr Würgereflex aktiviert und sie begann zu husten, was der Arzt anscheinend als gutes Zeichen abtat. Er legte nun auch das Stäbchen weg, die Lampe behielt er bei sich und kramte in seiner Tasche, bis er ein Fieberthermometer herauszog. Er steckte es ihr in den Mund mit der Aufforderung es unter die Zunge zu klemmen und sagte dann: „Würdet Ihr bitte den Kopf ein wenig zur Seite neigen, Señorita, ich würde gerne noch einmal in Eure Ohren sehen.“ Sie strich sich die Haare hinter die Ohren und drehte den Kopf so, dass er mit seiner Lampe hineinleuchten konnte, das tat sie auch beim zweiten Ohr und schließlich nahm er ihr das Thermometer aus dem Mund. Undeutlich murmelte er: „Hm, interessant, 38,3.“ Dann packte er alles weg, machte die Tasche zu und sagte: „Nun, Señorita Kim, ich denke, Ihr habt die Betäubung, die mein Sohn Euch gab, nicht vertragen. Das passiert zwar nicht häufig, aber wenn, dann sieht es genauso aus. Wegen des Fiebers würde ich mir keine Sorgen machen. Vielleicht solltet Ihr es die nächsten Tage einfach noch mal ruhig angehen und die Finger vom Alkohol lassen, dann renkt sich das schnell wieder ein. Ansonsten sehe ich keinen Grund zur Besorgnis und wünsche Euch noch einen schönen Tag. Señorita; Señor; adiós!“ Er nickte ihr und Charles noch einmal freundlich zu und verließ dann den Raum, ohne irgendetwas von einer Rechnung zu sagen. Charles setzte sich neben sie und wollte seinen Arm um ihre Schultern legen, doch sie wandte sich von ihm ab und fauchte: „Lass deine Finger von mir. Was soll denn das? Ich hätte keinen Arzt gebraucht, alles was er mir gesagt hat, hätte ich auch selbst diagnostizieren können und hätte mich dafür noch nicht einmal ausziehen müssen. Und das vorhin an Deck, Jon hat sich nur Sorgen gemacht, nichts weiter. Ich habe dir schon zig mal gesagt, dass da rein gar nichts läuft, glaub mir doch einfach, oder noch besser, vertrau mir nur mal, ansonsten kannst du die Beziehung gleich vergessen!“ Aber Charles brauste auf: „Was sagst du da? Ich habe mir Sorgen gemacht! Tut mir Leid, dass ich einen Arzt geholt habe. Und mit Jon, du hast ihn geküsst, richtig, auf den Mund!“ Nun drehte sie sich wieder zu ihm um, sprang auf und rief: „Na und? Nach deiner ganzen Eifersuchtsmasche musste das doch einfach mal kommen und wenn es nur war um zu beweisen, dass du mir vertrauen kannst!“ „Dadurch, dass du ihn küsst, beweist du mir, dass ich dir vertrauen kann? Tolle Taktik, erstklassig! Auf so eine bescheuerte Idee kannst auch nur du kommen!“ „Verdammt, Charles, versteh doch endlich, dass ich nur mit ihm befreundet bin, ich will nicht mehr von ihm als ab und zu eine freundschaftliche Umarmung, aber denke nicht, du könntest mir vorschreiben, mit wem ich befreundet bin…“ „Halt’s Maul, halt deine Klappe!“ „Ich kenne Jon seit nunmehr über drei Jahren und ich weiß, dass ich nicht in ihn verliebt bin, oder umgekehrt.“ Er hielt es nicht mehr aus. Er hasste Streit mit ihr und so versiegelte er ihren sich ständig bewegenden Mund mit seinen Lippen und küsste sie innig. Erst ließ sie sich überwältigen, doch dann drückte sie ihn von sich und flüsterte: „Denk nicht, dieses Problem ließe sich so einfach wegküssen, Charles. Im Leben ist nicht alles so einfach. Gerade die Liebe ist das Komplizierteste, was dir passieren kann, also tu mir den Gefallen und nimm es nicht so auf die leichte Schulter, bitte, tu es mir zuliebe.“ Verständnislos suchte er in ihren Augen nach einer Antwort und fragte, wie ein kleiner Junge, den man ohne Abendessen ins Bett schickte: „Kein Kuss?“ Traurig schüttelte sie den Kopf und wiederholte leise: „Kein Kuss. Ich kann nicht so tun, als würde es mich kalt lassen, wenn du so gemein zu bist Jon, nur weil ich ihn lieb habe und ich habe ihn sehr lieb. Aber ich kann nicht verstehen, warum du so eifersüchtig bist, wie gesagt, ich kenne ihn seit fast vier Jahren und noch nie ist etwas zwischen uns passiert und das wünsche ich mir auch gar nicht, genauso wenig wie er.“ „Aber ich habe Angst“, murmelte er. Kim, die es nicht verstanden hatte, fragte: „Was sagtest du?“ „Ich habe Angst dich an ihn zu verlieren. Du verstehst dich so gut mit ihm, du lachst mit ihm, weinst bei ihm, teilst alle deine Gefühle mit ihm und ihr habt schon so viel gemeinsam durchgemacht. Ich fürchte, dass ich da nicht mithalten kann, so sehr ich mich auch bemühe, ich habe das Gefühl, ich stehe immerzu in seinem Schatten und das Schmerzt mich und ich will auch so viel mit dir erleben wie er; ich will auch deine Gefühle teilen.“ „Ach Charles, ich teile meine Gefühle mit dir, heute Nacht zum Beispiel, wärst du nicht da gewesen, wäre ich wahrscheinlich qualvoll verendet und glaube mir, wir werden noch so viel zusammen erleben und erleben schon jetzt Dinge, die ich niemals mit Jon erleben werde, oder möchte. Ich liebe dich über alles und von ganzem Herzen und diese Liebe nimmt dir keiner, die ist dir sicher. Versuche einfach mir zu vertrauen, auch wenn ich weiß, dass es schwer ist.“ Nun war sie es, die ihn küsste, doch er schob sie nicht von sich, sondern zog sie noch näher zu sich, setzte sich auf die Bettkante und wollte gerade ihr T-Shirt ausziehen, doch hielt sie seine Hände fest und sagte, traurig lächelnd: „Bitte, Charles, so gerne ich jetzt auch würde, ich fühle mich noch nicht so gut, bitte hab noch ein wenig Geduld, mein Schatz.“ Er nickte nur etwas enttäuscht, fuhr aber fort sie zu küssen, zog sie trotzdem zu sich aufs Bett, kniete sich über sie und fuhr ihr leidenschaftlich durchs Haar, während er sie zärtlich küsste. Als sie aufwachte, strahlte die Sonne golden durch ihre Kajüte. Neben ihr lag Charles und schlummerte tief und fest. War sie etwa eingeschlafen? Wie peinlich! Moment, wie viel Uhr war es? Sie schaute auf die Nachttischuhr Charles und sah, dass es punkt fünf Uhr nachmittags war. Abrupt sprang sie auf und eilte aus der Charles in Jons Kajüte, wo Jon, Laffite, Garret und Bartholomew um einen Tisch herum saßen. Kim, nun etwas unsicherer, fragte: „Ehm, habt ihr was dagegen, wenn ich mich zu euch geselle?“ Jon, Laffite und Garret schüttelten den Kopf und Bart sah demonstrativ nicht zu ihr. Er hatte es ihr nie verzeihen können, dass sie ihn damals, als Leo ihm die Liste stibitzt hatte, angelogen hatte, aber ihr war das ganz recht, so ließ er sie wenigstens in Ruhe. Jon holte noch einen Stuhl der in einer Ecke stand und bot Kim an sich darauf zu setzen, was sie dankbar annahm. Auch er setzte sich wieder und erklärte: „Nun, Kim, wir wollten gerade beginnen. Hier habe ich einen Plan von Cartagena, den ich in vier Teile aufgeteilt habe. Jeder von uns wird ein Teil übernehmen, mit seiner Crew, versteht sich. Laffite wird eine Hälfte der Mannschaft der Vengeance bekommen, die andere nehme ich, außerdem werden wir uns noch von den zwei anderen Gruppen jeweils vier Mitglieder auswählen, wobei ihr natürlich auch ein Veto-Recht habt. Jetzt geht es erst mal darum, die Bezirke einzuteilen. Irgendwelche Vorlieben?“ „Ich habe eine Frage, Genitson, warum hast du auf das Viertel der besten Wohngegend schon deinen Namen eingetragen?“, fragte Bartholomew geringschätzig aber Jon antwortete, ohne eine Mine zu verziehen: „Ich bin der Captain und habe das Vorrecht zuerst zu wählen, Bart.“ „Soll’s der Teufel holen! Ich bin auch Captain auf der Satisfaction!“ Er war aufgesprungen und hielt Jon einen Dolch an den Hals. Laffite und Garret waren ebenfalls aufgesprungen und hatten ihre Entermesser gezückt, trauten sich aber nicht, irgendetwas zu tun, da Barts Messer in der Tat sehr scharf war. Jon aber führte die Klinge mit dem bloßen Finger von seinem Hals und sagte kühl: „Nun, Bart, vielleicht hast du das Kommando über die Satisfaction, aber das Schiff gehört noch immer mir und nicht zu vergessen, du unterstehst ebenfalls meinem Befehl. Also steck dein Messer weg und gib dich mit dem östlichen Hafenviertel zufrieden.“ Brummend tat Bartholomew tatsächlich wie ihm geheißen, steckte sein Messer weg, setzte sich und knurrte, die Arme vor der Brust verschränkend: „Ai, Sir.“ Laffite und Garret ließen ebenfalls die Waffen sinken und setzten sich wieder. Kim allerdings griff schon nach Jons Hand, dessen Finger blutete. Er jedoch zog sie weg und sagte: „Lass nur, ist nicht schlimm. Wie auch immer, Laffite, Garret, könnt ihr euch einigen wer das westliche Hafenviertel und wer das östliche Nobelviertel bekommt?“ Die Beiden mussten sich nur einen flüchtigen Blick zuwerfen, da sagte Laffite: „Ich nehme das Hafenviertel.“ Jon sah zu Garret und fragte: „Ist dir das recht?“ Er nickte nur und sagte: „Mir ist gleich welches Viertel ich bekomme, Hauptsache, da gibt es ein paar hübsche Juwelen, wenn ihr versteht, was ich meine.“ Er grinste in die Runde und bekam zur Antwort verständnisvolles Gelächter. Einzig Kim begann sich die Schläfen zu massieren. Waren denn wirklich alle Männer so? Wahrscheinlich, aber da konnte man nichts tun. Nun beschlossen sie noch, welche Männer der Satisfaction und der Fortune sich zu Jon und Laffite gesellen würden, Jon sagte noch einmal die Zeit, wann es losging und dann verabschiedeten sie sich. Kim blieb in Jons Kajüte und als die anderen draußen waren, fragte er: „Was hat der Arzt gesagt, Kim?“ „Er hat gesagt, dass ich die Betäubung gestern wahrscheinlich nicht gut vertragen hätte, vielleicht lag das aber auch daran, dass ich etwas zu tief ins Glas geschaut habe, mein Kopf bringt mich um!“ Er lachte schallend auf und sie fragte: „Sag, wie geht es eigentlich deiner Schulter, Jon, wird es denn morgen gehen?“ Eine wegwerfende Handbewegung machend meinte er: „Ach was, das ist nichts. Etwas Blei in der Schulter hat noch keinem geschadet. Und das morgen übersteh ich schon, die Adligen haben ihre Waffen meist nicht so direkt griffbereit wie der Pöbel im Hafen, also wird es schon gehen, außerdem nehme ich mir dich und Charles mit, dazu auf jeden Fall noch Terry, glaub mir, ich kriege Laffite noch überredet, dass er ihn mir überlässt.“ Skeptisch fragte Kim: „Und wie willst du das anstellen? Vorhin wollte Laffite ihn noch auf jeden Fall.“ „Tja, lass mich nur machen, das geht schon“, meinte er grinsend. Sie nickte nur mit hochgezogenen Brauen, da klopfte es und auf Jons Antwort trat Charles ein. Dieser schaute sich erst im Raum um und stierte dann Kim finster an, mit den Worten: „Kim, du solltest dich lieber wieder hinlegen, wegen deinem Fieber. Hey, Jon! “ Mehr sagte er nicht zu Jon, sondern zischte Kim zu, als die sich an ihm vorbei schob: „Wieso bist du schon wieder mit ihm allein?“ Sie drehte sich noch einmal zu Jon um und sagte: „Heute Abend komme ich wohl nicht mit in die Stadt, Charles hat Recht, ich sollte es langsamer angehen lassen. Aber halte du dich auch im Zaum.“ Er aber lachte: „Jetzt lass ich mir schon Gesundheitstipps von einem Weib geben, wie tief bin ich gesunken? Gute Besserung!“ Charles schloss hinter ihr die Tür und blaffte sie an: „Was sollte denn das? Als ich aufgewacht bin und du nicht da warst habe ich mir furchtbare Sorgen gemacht, an Deck hat dich niemand gesehen und als ich dann an Land auf Bartholomew getroffen bin, hat der irgendwelche komischen Andeutungen gemacht, dass du bei Jon seist und beschäftigt wärst…“ „Ach, sei doch still. Ich dachte, ich hätte dir schon einmal erklärt, dass du mir vertrauen kannst und was Bartholomew über mich sagt ist meistens gelogen, weil er mich nicht ausstehen kann. Also langsam bin ich es wirklich leid mit dir, ich hasse diese ständige Eifersucht!“ Sie war stehen geblieben und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Vorsichtig wollte Charles ihre Hand nehmen, doch sie zog sie weg, ging in ihre Kajüte und wetterte: „So brauchst du mir jetzt gar nicht zu kommen, erst tadeln dann streicheln, entscheide dich gefälligst!“ Unsicher fragte er: „Aber ich liebe dich doch…“ Noch einmal brüllte sie: „Halt deine verdammte Klappe, Charles, ich liebe dich auch, aber jetzt gerade nervst du mich, also lass mich meiner Gesundheit wegen in Ruhe, Idiot!“, dann schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu. Rasend vor Wut warf sie sich auf ihr Bett und verharrte dort, sich über Charles aufregend, bis es an ihre Türe klopfte und jemand eintrat. Ohne hinzusehen knurrte sie: „Raus hier, ich habe schlechte Laune und will niemanden sehen!“ Die Tür schloss sich wieder und sie dachte, der Störenfried sei gegangen, doch nicht viel später spürte sie, wie sich jemand neben sie aufs Bett setzte, drehte sich um und blaffte: „Ich sagte doch, du solltest raus gehen, Schwachkopf, warum tust du nicht, was man dir sagt?“ Als sie jedoch in Jons Gesicht blickte, verstummte sie jäh und er grinste: „Nun, ich dachte immer, der Kapitän gibt die Befehle, aber wenn sich das geändert hat, werde ich mich dem Willen des Volkes beugen.“ Sie aber setzte sich auf und druckste: „Oh Jon, du bist das, tut mir Leid, ich wusste nicht, dass du es bist. Ja, der Kapitän gibt noch immer die Befehle…“ Jon lachte nur, setzte sich auf den Stuhl, der bei ihrem Bett stand, legte die Füße auf ihr Bett und meinte: „Ach was, lass mal, ist doch kein Problem.“ Etwas ernster fügte er jedoch hinzu: „Du hast dich schon wieder mit Charles gestritten, nicht wahr?“ „Ja und deswegen ist es auch nicht so gut, wenn du hier drinnen bist, wenn Charles vorbeikommt, könnte er das falsch verstehen.“ „Mach dir da mal keine Sorgen, der ist vorhin mit Juanito, Jack und Creetin an Land gegangen. Außerdem hat er mir nichts zu sagen, schließlich bin ich immer noch sein Captain, glaube mir, stünde er nicht so in deiner Gunst, hätte ich ihn schon längst ausgesetzt, sei dir dessen versichert.“ „Es tut mir wirklich Leid, wie er sich dir gegenüber verhält…“ Er ließ sie nicht ausreden, sondern unterbrach sie: „Jetzt ist es schon so weit, dass du dich für ihn entschuldigen musst. Bei Leo war es nie so schlimm.“ Sie sah zu Boden und fühlte wieder die alt bekannte Leere in sich aufsteigen, die sie seit Leos Tod so oft umklammert hatte. Wieder musste sie an die Wärme in ihrem Herzen denken, die er verbreitet hatte und die Geborgenheit, die sie in seiner Nähe verspürt hatte. Bei Charles war das anders, sie fühlte sich zwar auch geborgen und warm in seiner Nähe, doch Leo war viel sensibler gewesen, auch wenn er schnell ausgerastet war, mehr als nur oft hatte er gewusst was sie fühlte, hatte das gleiche gefühlt oder war einfach nur auf ihre Stimmung eingegangen. Einige Sekunden besann sich Jon und meinte dann verlegen: „Verzeih, ich wollte dich nicht traurig stimmen, ich wollte nur sagen, dass du es nicht so weit kommen lassen solltest, dass du dich für Charles Verhalten entschuldigen musst.“ Sie nickte stumm und musste doch weiter traurig an Leo denken. Jon legte vorsichtig seine Hand auf ihr Knie und fragte leise: „Kim, ist alles in Ordnung? Ich wollte nicht…“ Er stockte. Anscheinend fehlten ihm die Worte, doch sie sah auf, lächelte und entgegnete: „Nein, nein, ist schon gut, alles in Ordnung. Aber glaubst du ich war zu hart zu Charles? Ich habe ihn vorhin einfach so vor die Tür gesetzt.“ „Na und? Das wird er schon überleben, außerdem hat er dich doch auch mal vor die Tür gesetzt, ich möchte dich nur an jenen verhängnisvollen Tag erinnern, an dem du auch Maury und Brian zum Opfer gefallen bist.“ Sie dachte einen Moment und fragte dann: „Waren die beiden deine Blutsbrüder, mit denen du zusammen Pirat geworden bist?“ Er nickte und erwiderte: „Ja, das waren sie, aber sie haben sich verändert und ich denke auch darüber nach den Jolly Roger zu verändern, denn ich habe das Gefühl, dass mich mit diesen Beiden nur die Vergangenheit verbindet und an der will ich nicht hängen.“ „Und wie willst du ihn ändern? Ich mag ihn eigentlich so wie er ist, außerdem finde ich, dass du Brian und Maury nicht in Erinnerung behalten solltest, wie sie zuletzt waren, sondern so, wie sie als Knaben waren, denn du hättest sie sicher nicht zu deinen Freunden erklärt, wenn sie auch damals so gewesen wären. Aber nebenbei, Maury hat mal zu Brian gesagt, er solle seine Finger von mir lassen, weil ich keine gewöhnliche Frau sei, sondern anders, glaubst du, er wusste es?“ Kurz überlegte Jon und kam dann zu dem Schluss: „Das könnte gut sein, er hatte schon immer einen Sinn für übernatürliches und hat schon als Kind in diesen Büchern über Mythen geschmökert. Aber sag, was ich dich eigentlich schon früher fragen wollte, haben sie Hand an dich gelegt?“ Entschieden schüttelte sie den Kopf und verneinte. Nach einem kurzen schweigen sagte sie dann leise: „Ich hatte aber eine Vision, als ich bei ihnen war. Darin hast du nach mir gesucht und dann mit Charles gestritten, du hattest ihn des Schiffes verwiesen, warum ist er wieder hier?“ Grinsend antwortete Jon: „Nun, ich weiß ja, dass du ohne einen Mann an deiner Seite nicht leben kannst und Charles ohne uns untergehen würde. Aber im Ernst, er hat dich gefunden, ist dann am nächsten Morgen zu uns auf die Vengeance gerannt und hat uns von der Höhle erzählt. Aus Dankbarkeit habe ich ihn dann doch wieder aufgenommen.“ „Aber was habt ihr gemacht, als Charles euch von der Höhle erzählt hat?“ „Na wir sind gleich dorthin gegangen und Charles hat dann kurzerhand Maury angeschossen, weil der Idiot ja nicht zielen kann. Den Rest des Liedes kennst du ja.“ Sie nickte und erinnerte sich nur zu gut, wie Jon Maury und Brian erschossen hatte. „Und sie haben dir wirklich nichts angetan? Außer das mit dem Finger? Warum hat, wer auch immer von den Beiden, das eigentlich getan?“ Nervös spielten ihre Finger mit dem Saum ihrer Bluse und sie entgegnete: „Das hängt alles irgendwie zusammen, In der Nacht konnte ich nicht schlafen und dann hat Brian mich mitgenommen zu so einer Klippe. Dort wollte er mich dann unbedingt küssen und ich habe es zugelassen, was nicht zuletzt an der Waffe lag, die er in der Hand hielt. Aber wir sind auch gleich wieder gegangen. Am nächsten Morgen dann wollte Maury wissen, was wir gemacht hätten und ich wollte es nicht sagen, dann hat er mir gedroht, aber ich dachte, er würde mir nur etwas vormachen, was er, zu meinem Leidwesen, aber nicht getan hat und dann hat er meinen Finger aufgeschlitzt.“ „Dann hat Brian dich also geküsst? Und weil du es nicht sagen wolltest, hat Maury dich verletzt? Mein Gott, Kim, das tut mir so Leid, glaub mir, früher waren sie ganz anders, sehr schüchtern und zuvorkommend. Ich habe immer geglaubt, sie wären tot.“ Betreten sah er zu Boden und versuchte dann abzulenken: „Wie geht es dir eigentlich? Hast du noch Fieber?“ Ohne eine Antwort abzuwarten legte er ihr die eine Hand auf die Stirn und seine andere auf die seine. Dann stellte er fest: „Hm, noch ein bisschen, aber nicht arg. Und wie geht es deinem Bauch? Hast du noch Bauchschmerzen?“ „Nein, nein, mir geht es gut, aber ich glaube, es ist trotzdem gut, dass ich heute Abend nicht weggehe, schließlich ist Alkohol in meinem Zustand nicht gut.“ Er nickte langsam und fragte: „Willst du schlafen? Wenn ich gehen soll, musst du es nur sagen.“ Entschlossen schüttelte sie den Kopf und lächelte: „Nein, ich will nicht, dass du gehst, ich finde es schön, dass du mal wieder bei mir bist, ohne dass ich Angst haben muss, dass Charles eifersüchtig wird.“ Er lachte auf und meinte: „Also ich würde das nicht aushalten, wenn jemand so gottverdammt eifersüchtig wäre, du bist wirklich bewundernswert!“ Es war kurz vor elf Uhr nachts und Kim, Charles, Terry, Edward und Jon standen vor einer Villa in der sogar noch um diese Zeit Licht brannte. Die anderen hatten sich in ihrem Bezirk aufgeteilt. Nun schlug die Turmuhr und Jon klopfte hart mit dem Griff seiner Pistole gegen die Tür des Hauses. Alle hatten sie ihre Waffen gezückt und Charles hatte Kim noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange gedrückt, bevor ein Diener öffnete. „Guten Abend, wir sind die Piraten, die die Herrschaften bestellt hatten“, grinste Jon und erschoss ihn in der nächsten Sekunde. Terry und Edward gingen ins obere Stockwerk und Kim, Charles und Jon gingen in das Zimmer in dem noch Licht brannte. Von innen hörten sie eine hysterische Frauenstimme rufen hören: „Nun geh schon nachsehen, Cariño! Ich könnte wetten, es war ein Schuss!“ Kim musste ein wenig lachen, glaubte ihr Gatte der holden Dame etwa nicht? Im nächsten Augenblick stieß Jon aber die beiden Flügeltüren auf und rief freudig: „Nun, mein bester Cariño, Ihr solltet auf Eure Gattin hören. Tut mir wirklich Leid, wegen dem Diener, aber er sah sowieso nicht wirklich vertrauenswürdig aus, hat zu oft im Hafen rumgelungert.“ Es war ein Wohnzimmer. An der Wand, im Kamin, loderte ein gemütliches Feuerchen und davor standen zwei Sofas. Gegenüber standen einige Regale, voll gestopft mit etlichen Büchern. Die Frau, sie war vermutlich um die dreißig, stand vor ihrem Mann, der auf einem der Sofas saß und Pfeife rauchte. Nun starrte sie vor Angst erstarrt auf die drei Personen die vor ihr standen. Kim hielt sich jedoch im Schatten und musterte das Ehepaar. Sie vermutete, dass sie nicht aus Liebe geheiratet hatten, denn der Mann war mindestens zehn Jahre älter als sie und hatte graues Haar und einen Vollbart. Sie hatte braune, glänzende Locken, die sie sich hochgesteckt hatte, wie es sich für eine Dame gehörte. Im nächsten Moment, als sie sich wieder etwas gefasst hatte, setzte sie zum schreien an, aber Jon, der ihren nächsten Schritt erahnte, kam auf sie zu und hielt ihr den Mund zu. Nun schaltete sich doch ihr Mann ein, er stand auf und brüllte: „Was erlaubt Ihr Euch? Das ist meine…“ Weiter kam er nicht, denn ein Schuss aus Charles Waffe tötete ihn. Wie ein Sack viel er wieder zurück auf das Sofa und färbte den einstmals makellosen weißen Stoff mit seinem Blut rot. Die Augen der Frau starrten entsetzt zu ihrem Mann und im nächsten Moment begann sie zu weinen. Doch Jon ging nicht darauf ein, sondern nahm ihr zunächst ihre rubinroten Ohrringe ab. Nun nahm er seine Hand von ihren Lippen und ließ sie los. Sie stürzte zu ihrem Mann, barg ihr Gesicht in seinem Schoß und schluchzte laut. Charles sah sich im Zimmer um und steckte ein, was er für wertvoll hielt. Jon allerdings kümmerte sich weiter um die Frau, zog sie auf die Beine und umrundete sie einmal. Er hatte sie scharf gemustert und küsste sie jetzt. Das ließ sie sich jedoch nicht gefallen und scheuerte ihm eine. Er rieb sich grinsend die Backe, zog seinen Hut, deutete eine Verbeugung an und grinste: „Verzeiht, Señorita, wo bleiben denn meine Manieren, ich habe mich noch nicht einmal vorgestellt. Mein Name ist Jon Genitson, aber ich bezweifle, dass Ihr schon einmal von mir gehört habt. Von Beruf bin ich Pirat. Und wie heißt Ihr, Teuerste?“ Kim gefiel die Art, wie er mit ihr umging, gar nicht, aber sie konnte nichts machen. Jon liebte es, seine Opfer ein bisschen zu necken und sie dann umzubringen. Sie hasste das, aber er war ihr Captain und seinen Befehlen hatte sie sich zu beugen, obgleich er auch ihr bester Freund war. Sie jedoch flüsterte angsterfüllt: „Mein Name ist Bernadette De L’Aubery, bitte tut mir nichts, Señor Genitson, ich habe zwei kleine Kinder, die eine Mutter brauchen!“ Wieder begann sie zu schluchzen und just in dem Moment kam Terry reingeplatzt mit zwei kleinen Kindern, einem zirka fünf jährigen Jungen und einem ungefähr zehn-jährigen Mädchen, die schrieen und heulten wie am Spieß. Als ihre Mutter sie sah, stürzte sie auf die Beiden zu, nahm sie in den Arm und flehte, zu Jon aufblickend: „Bitte, Señor, tut uns nichts, nehmt alles mit was wir haben, hier seht, meine Kette, nehmt sie, ich brauche sie nicht, aber lasst mich und meine Kinder unversehrt am Leben!“ Jon überlegte kurz und fragte dann: „Ich habe schon zwei meiner besten Freunde und eine Frau die ich liebte umgebracht, warum sollte ich dann nicht auch Euch erschießen, Señora Bernadette De L’Aubery?“ Die Frau zitterte wie Espenlaub, während ihre Kinder die Gesichter an ihrer Brust bargen und bitterlich weinten. Anscheinend suchte Señora De L’Aubery verzweifelt nach einer Antwort, doch nun trat Kim aus dem Schatten und sagte: „Weil ich nicht will, dass sie sterben.“ Mit zu Schlitzen verengten Augen musterte Jon sie und fragte: „So, Kim, willst du das?“ Entschlossen zischte sie: „Ja, Jon Genitson, das will ich, also sei nicht so hartherzig.“ Sie nahm der Frau die Kette aus der Hand, ging damit zu Jon, drehte sich um und sagte, sich die Haare aus dem Nacken streifend: „Willst du sie mir nicht umlegen?“ Mürrisch tat er, um was sie ihn gebeten hatte und sie spürte genau Charles missbilligenden Blick im Rücken, doch nun sagte Jon: „Nun gut, wenn du das so willst, dann werde ich noch einmal ein Auge zudrücken. Die Kette steht dir übrigens ausgezeichnet, meine Liebe.“ Als die Frau das hörte, rutschte sie auf Knien zu Jon, küsste seine Füße und rief erleichtert aus: „Habt tausend Dank, Señor, habt Dank!“ Jon aber tat einen Schritt zurück und meinte: „Steht auf, meine Liebe Bernadette, für eine Frau Eures Standes gehört es sich nicht auf Knien zu rutschen, gebt mir lieber einen Kuss zur Belohnung.“ Sie stand auf, näherte sich ihm aber in keinster weise. Schließlich fragte Jon etwas beleidigt: „Bin ich so abstoßend, dass Ihr mir noch nicht mal einen Kuss geben wollt, verehrteste Bernadette?“ Versuchend sich rauszureden stotterte sie: „Nein, ganz im Gegenteil, ihr wirkt sogar sehr anziehend auf Frauen, aber Ihr müsst verstehen, die Kinder.“ „Soso, die Kinder. Wie heißen denn Eure zwei Bälger?“ Terry war schon längst wieder gegangen und hin und wieder hörte Kim jemanden aufschreien und sie vermutete, dass Terry oder Edward gerade einem Diener die Kehle durchschnitten. Jon lud seine Pistole nach und wartete auf die Antwort auf seine Frage. Als diese allerdings ausfiel, sah er auf und erkannte, dass sie gebannt auf seine Pistole starrte. Lachend meinte er: „Habt keine Angst, Señora Bernadette, ich habe der guten Kimberley von Merrylson mein Wort gegeben und das breche ich nicht. Also, wie heißen Eure Kinder?“ „Camila und Paco.“ „Was für schöne Namen, habt Ihr oder Euer Mann sie ausgesucht?“ „Mein Mann, aber es sind in der Tat schöne Namen, Señor. Wann wollt Ihr uns denn wieder verlassen?“ Gehässig lachte Jon auf und grinste: „Also wenn es nach mir ginge, könnte ich die ganze Nacht mit Euch verbringen, Teuerste, aber ich glaube fast, dass meine Crew nicht so einverstanden damit wäre.“ „Dann seid Ihr also der Captain?“ Gerade wollte er antworten, da tippte ihm Charles auf die Schulter und sagte: „Wir sollten weiter, Captain, Terry und Edward sagen, hier sei nichts mehr.“ Jon nickte, erfasste die Hand Bernadettes und küsste sie. Diese atmete schon auf, da zog Jon sie an sich und küsste sie richtig. Sie traute sich aber nicht mehr, sich zu wehren, da sie seine Waffe an ihrer Seite spürte. Endlich ließ Jon von ihr ab und ging mit den anderen hinaus. Draußen tadelte Kim ihn sogleich: „Musst du denn immer diesen Bilderbuchpiraten spielen, Jon? Das nervt wirklich.“ Charles aber fuhr sie an: „Lass ihn doch eine Frau küssen, du wirst doch nicht eifersüchtig sein?“ Kim aber zischte: „Nein, weil ich dich liebe und ich, Gott sei Dank, nicht so bin wie du, Charles.“ In etwa lief es in den fünf Häusern in denen sie danach waren gleich ab, aber im letzten war der Mann mit einer Muskete bewaffnet und schoss auch. Aber anscheinend war er nicht geübt und schoss daneben. Im nächsten Moment fiel er aber zu Boden, getroffen von dem Schuss aus Terrys geübter Hand. Während sie durch die Straßen liefen, konnten sie vom Hafen her große schwarze Rauchwolken erblicken und sie liefen an brennenden Häusern und etlichen Leichen vorbei zum Hafen. Dort trafen sie auf Laffite und Garret, die gerade mit dem Hafenmeister beschäftig waren, der blutend am Boden lag. Als er Jon sah, rief er: „Bitte, Señor Son, helft mir, dieses Gesindel, es sind Piraten!“ Jon aber trat mit einem breiten Grinsen auf ihn zu, beugte sich zu ihm herunter und flüsterte: „Gestatten, Señor Rondinho, Jon Genitson, Pirat. Und hier bei mir sind meine Männer, allesamt mit dem Teufel im Bunde. Und das Mädchen, ich erzählte Euch von ihr, sie tötete Folkhorn, diesen Lump, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.“ Der Mann riss die Augen auf, doch im nächsten Augenblick durchtrennte Jon mit seinem Dolch die Kehle des Hafenmeisters und ging dann weiter in Richtung Schiff, von wo aus man die Piraten schallend singen hören konnte. Aus dem Hafen zu kommen hatten sie keine Probleme, da eine Sondertruppe der Piraten zuvor sämtliche Kanoniere gelyncht hatten. Anstatt sich jedoch sofort mit den anderen zu betrinken, stand sie an der Reling des Achterdecks und schaute zurück auf das einstmals so schöne Cartagena, das nun lichterloh brannte und nahezu niemand war mehr am Leben, um die Flammen zu löschen. Sie waren schon einige Meilen weit auf hoher See, da förderte Laffite eine völlig verängstigt dreinblickende Frau, mit einem Mantel über den zerrissenen Kleidern, an Deck und rief: „Wer zur Hölle hat die mitgenommen? Außer Schmuck nehmen wir keine Souvenirs mit! Captain, was sollen wir mit ihr anfangen?“ Er schleppte sie vor Jon, bei dem auch Kim und Charles standen, und ließ sie los, weshalb sie kraftlos auf die Knie sank, den Mantel enger um sich zog und leise schluchzte. Jon half ihr aufzustehen, lächelte sie freundlich an und fragte: „Wie heißt Ihr, meine Gute?“ Sie stockte, strich sich die braunen Locken aus dem Gesicht und schluchzte: „Erkennt Ihr mich denn nicht mehr? Ich bin Bernadette De L’Aubery und sie haben auch meine Kinder mitgenommen, Señor. Bitte, tut uns nichts, ich wurde schon geschändet, von zweien, nicht nur einem.“ Jons Miene verfinsterte sich und er rief durch die Reihen betrunkener Piraten: „Wer von euch Hohlköpfen hat sie mitgenommen und benutzt?“ Als sich niemand meldete, fragte er mit sanfter Stimme an die Frau gewandt: „Wisst Ihr noch wer es war? Könnt Ihr sie mir zeigen? Ich will sie bestrafen.“ Zögernd nickte sie und ging vorsichtig durch die Horde von Piraten. Schließlich blieb sie stehen und zeigte auf Juanito, der bei seinen Freunden stand und lachte. „War es Juanito? Nur er, oder noch jemand anderes aus der Gruppe?“, fragte Jon ruhig. Sie schüttelte verschüchtert den Kopf und zeigte als nächstes auf Ben, dann sagte sie: „Die Beiden waren es. Sie haben mich und meine Kinder hierher verschleppt und mich dann geschändet.“ Mit zornesrotem Gesicht ging Jon auf die Gruppe zu, Kim, Charles und Bernadette im Schlepptau und brüllte dann: „Juanito, Ben, stimmt es, dass ihr die Frau und ihre Kinder verschleppt und dann vergewaltigt habt?“ Grinsend und auch nicht mehr ganz nüchtern entgegnete Juanito: „Ist ja gut, ich gestehe, aber sie war noch lange nicht so gut wie die Huren, es war wahrlich kein Spaß, du kannst es ja selbst einmal probieren. Ich würde ja gerne mal Kim versuchen, aber die lässt ja außer Charles keinen an sich ran, das Miststück.“ Bevor Jon noch etwas sagen konnte, knurrte Kim: „Hüte deine Zunge, Juanito, sonst wird es dir schlecht bekommen!“ Gespielt ängstlich erwiderte er: „Oh mein Gott, ich zittere, was willst du kleines Flittchen mir denn antun?“ „Laffite! Komm und bring die Peitsche mit!“, rief Jon und schlagartig wurde es still. Nun wirklich angsterfüllt fragte Juanito: „Aber wieso das? Ich habe doch nichts getan!“ „Du hast die Regeln missachtet und Kim beleidigt, das ist Grund genug für zwanzig Peitschenhiebe und für Ben gibt es fünfzehn, da er die Regeln genauso missachtet hat, was meinst du, Laffite?“, fragte Jon. Laffite, der mit der Peitsche herangeeilt war, nickte stumm und herrschte Juanito an: „Zieh dein Hemd aus und dreh dich um!“ Murrend tat dieser wie ihm geheißen und hielt die ersten zehn Hiebe tapfer aus, dann aber begann er bei jedem Peitschenhieb vor Schmerzen aufzuschreien und zwei andere Piraten mussten ihn stützen. Sein Rücken blutete stark, nachdem Laffite mit ihm fertig war und nun kam Ben an die Reihe, der zuvor von Terry und Edward gehalten worden war, damit er sich nicht aus dem Staub machen konnte. Dieser hielt aber nicht so lange aus wie Juanito und musste schon nach dem achten von Terry und Edward gestützt werden. Währenddessen zog sich Juanito schwankend wieder sein Hemd über und ging durch die Menge der Piraten unter Deck, wohin ihm dann auch Ben folgte. Kaum war dieser nicht mehr zu sehen, ging das Singen und Trinken weiter und Jon sagte zu Kim: „Willst du Señora Bernadette nicht etwas zum Anziehen leihen, Kim?“ Sie nickte nur und führte die Frau vor ihre Kajüte. Doch Bernadette wollte nicht eintreten, bis sie ihre Kinder an ihrer Seite wusste. So gingen sie zuerst diese holen und dann in ihre Kajüte, wo Kim in ihrer Truhe nach Kleidung für die Frau suchte. Als sie ihr ein T-Shirt und einen weiten, langen Rock zuwarf, bedankte sich die Frau überschwänglich und fragte dann: „Hegt Ihr eine Beziehung zu Eurem Kapitän, Señorita von Merrylson? Ihr scheint mir so vertraut mit ihm.“ Verblüfft schaute Kim die Frau an und entgegnete dann: „Wie kommt Ihr denn darauf, Señora De L’Aubery? Die Beziehung zwischen dem Captain und mir ist rein platonisch, außerdem bin ich mit einem anderen Piraten hier an Bord liiert und den liebe ich von ganzem Herzen.“ „Dann tut mir diese Unterstellung wirklich außerordentlich Leid, Señorita von Merrylson, bitte verzeiht meine Torheit.“ „Mama, ich habe Angst!“, schluchzte der kleine Paco und lief auf seine Mutter zu. Diese nahm ihn in den Arm, streichelte ihm sanft über den Kopf und flüsterte: „Ich weiß, Paco, ich auch, aber wir werden das schon zusammen überstehen.“ Sich in der Kajüte umschauend fragte er: „Wo ist denn Papa? Durfte er nicht mitkommen?“ Nun trat Camila an ihn heran, schlug ihm hart auf den Hinterkopf und zischte: „Papa ist tot, du Dummkopf! Und wir sind hier bei Piraten, das überstehen wir niemals, spätestens morgen früh werden sie uns auch hinrichten!“ Bernadette De L’Aubery aber stand auf, funkelte ihre Tochter zornig an, ohrfeigte sie und brüllte dann: „Hör sofort auf deinem Bruder so einen Unsinn zu erzählen! Wir werden nicht sterben und ihr solltet eigentlich schon längst im Bett sein!“ An Kim gewandt fragte sie dann leise: „Wisst Ihr, wo ich mich mit meinen Kindern schlafen legen kann? Es war ein anstrengender Tag.“ Hastig antwortete Kim: „Ja, natürlich, Ihr könnt hier in meiner Kajüte bleiben, ich habe auch einige Bücher, falls Ihr Euren Kindern etwas vorlesen wollt. Ich hoffe nur, mein Bett reicht Euch.“ „Ganz im Vertrauen, Señorita von Merrylson, werden heute Nacht Piraten hier hereinkommen? Mir tun noch immer sämtliche Glieder weh und noch einmal würde ich so etwas nicht ertragen. Auch um der Kinder Willen.“ Kim jedoch schüttelte lächelnd den Kopf und entgegnete: „Ich werde abschließen, nachdem ich die Kajüte verlassen habe, macht Euch also keine Gedanken und schlaft Euch aus, eine gute Nacht wünsche ich Euch noch und schlaft gut.“ Mit diesen Worten verließ sie die Kajüte und schloss nach ihrem Verlassen ab. Am nächsten Morgen wachte sie in Charles Arm auf und verspürte einen seltsamen Heißhunger auf einen Apfel. So stand sie auf, schlich sich in die Kombüse und holte sich einen Apfel aus dem Fass. Gerade drehte sie sich um, da blickte sie in das aschfahle Gesicht Juanitos. Der Atem stockte ihr und sie wollte sich nervös an ihm vorbeischieben, doch packte er ihr Handgelenk, zog sie zu sich und flüsterte: „Wenn ich wollte könnte ich dich hier und jetzt haben, da der Rest der Mannschaft noch schläft. Aber wegen dir zieren noch fünf Striemen mehr meinen einst so makellosen Rücken. Nur wegen dir bin ich verunstaltet, dafür sollte ich dich umbringen! Eigentlich würde keiner davon mitbekommen, wenn ich dich einfach über Bord werfen würde. Aber dennoch kann ich es nicht. Du bist so schön, dass ich wünschte blind zu sein, aber selbst dann würde deine innere Schönheit mich noch davon abhalten, dich von Bord zu werfen. Du bist so perfekt, schön, intelligent, freundlich, nur manchmal ein wenig naiv. Aber sieh mich an, ich habe nur meinen Stolz, mein Aussehen und meine Selbstverliebtheit, ich bin verdorben, keine ehrbare Frau würde mich auch nur ansehen, ich bin Pirat, mit dem Teufel im Bund. Warum kannst du so perfekt sein?“ Sein Griff wurde immer fester und Kim keuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Du tust mir weh!“ Sofort ließ er sie los und erwartete anscheinend, dass sie davonlief, doch sie blieb stehen und sagte leise, sich das Handgelenk reibend: „Vielleicht solltest du dich bei Señora De L’Aubery entschuldigen, sie hat sehr viel durchgemacht.“ „Glaubst du denn, sie würde es annehmen?“ Seine Augen starrten in die ihren und sein einstmals so stolzer Blick war gebrochen. Die Augäpfel lagen tief in ihren Höhlen und dunkle Augenringe rankten sich darunter. Seine ganze Gestalt wirkte sehr gedrungen, nicht mehr so hochmütig wie früher und auch nicht mehr so selbstbewusst. Selbst seine Stimme zitterte fast, doch in ihr schwang immer noch ein wenig seiner ehemaligen Eleganz mit. Zu Boden schauend flüsterte Kim: „Ich weiß es nicht. Was sie durchlitten hat ist nicht so leicht zu verkraften und ich glaube, dass sie nicht die Art Mensch ist, die über so etwas einfach hinwegschreitet. Hätte sie ihre Kinder nicht, würde sie das alles nicht länger ertragen wollen, so habe ich das Gefühl.“ „Na du kannst einem ja echt Mut machen.“ „Tut dein Rücken noch sehr weh? Tut mir Leid wegen den Peitschenhieben, aber in gewisser Weise hast du es ja verdient.“, sie versuchte dem Thema auszuweichen, da sie wusste, dass es ihn nur noch mehr zermürben würde. Juanitos eingefallene Lippen umspielte ein selbstquälerisches Lächeln und er erwiderte: „Er schmerzt wie nach zwanzig Peitschenhieben und mein Hemd klebt mir am Rücken, als wäre es festgewachsen.“ Den Kopf schüttelnd antwortete sie: „Was hast du auch dein Hemd wieder angezogen, du Dummkopf. Komm, ich helfe dir, es von deinem Rücken zu bekommen, bei Leo habe ich es damals ja auch geschafft, als der Verband an seiner Hand festgeklebt war.“ Sie tat einen Schritt auf ihn zu und fügte noch hinzu: „Keine Angst, ich werde es nicht einfach herunter reißen. Hol mir nur schnell einen Krug Wasser, dann geht es besser.“ Seine Augen blitzten auf und er drehte sich um, einen Krug Wasser zu holen, wie sie ihn geheißen hatte. Als er wiederkam, drehte er ihr bereitwillig den Rücken zu. Erst jetzt konnte sie sehen, dass sein Hemd aus Kaliko von Blut durchdrungen war und musste schwer schlucken, wenn sie an die Schmerzen dachte, die er gehabt haben musste. Als er aus den Ärmeln seines Hemdes schlüpfte, wurde es von nichts anderem mehr gehalten als von der Kruste, die sich über seinen Wunden gebildet hatte. Nun begann Kim langsam Wasser darauf zu träufeln und es vorsichtig abzulösen. Einige Male stöhnte Juanito vor Schmerz unterdrückt auf, aber Kim entschuldigte sich jedes Mal prompt und beteuerte, dass sie wirklich ihr Bestes gäbe, doch er schüttelte jedes Mal nur den Kopf und erwiderte nichts. Nach einer ihr endlos erscheinenden Zeit hatte sie das Hemd ganz von seiner Haut getrennt und sagte ihm, dass er sich nicht rühren solle. Sie lief eilig in die Vorratskammer und holte eine Flasche Rum, von dem sie dann etwas über seinen Rücken laufen ließ, da die Verkrustung an einigen Stellen wieder aufgerissen war. Erschrocken schrie er auf, doch Kim sagte ruhig: „Scht, sei leise! Das ist, um die Wunden zu desinfizieren, also stell dich nicht so an, ich weiß wie es brennt.“ Eigentlich wusste sie es nicht, aber sie sagte es dennoch, weil sich jeder so anstellte, wenn sie eine Wunde desinfizierte. Er schnupperte ein wenig und fragte dann erstaunt: „Kippst du mir da etwa den teuren Rum über den Rücken?“ „Ja und jetzt stell dich nicht so an.“ Sie schaute noch einmal über den Rücken, ob er genäht werden musste, doch sie kam schnell zu dem Schluss, dass das nicht mehr nötig war. Also sagte sie: „Ich bin fertig, aber ich würde dir raten fürs Erste kein Hemd anzuziehen, das würde nur wieder festkleben.“ Mit diesen Worten biss sie genüsslich in ihren Apfel und wollte schon wieder gehen, da sagte er: „Danke, Kim.“ Sie nickte ihm noch einmal zu und ging dann in Charles Kajüte zurück. Als sie mit ihrem Apfel fertig war, legte sie sich wieder zu ihm, kuschelte sich an ihn, legte seinen Arm um sich und schlief wieder ein. Er streichelte ihr sanft über die Wange, wovon sie wach wurde. Als er sah, dass Kim verschlafen blinzelte, fragte er: „Wo warst du denn schon so früh am Morgen?“ Erst verstand sie nicht, was Charles damit meinte, aber dann begriff sie, dass er anscheinend bemerkt hatte, dass sie diesen Morgen schon in der Kombüse gewesen war. „Ich hatte Hunger auf einen Apfel“, murmelte sie. „Sag mal, weißt du eigentlich, wo wir als nächstes hin wollen?“ Unwissend schüttelte er den Kopf, richtete sich auf und meinte: „Aber ich glaube, dass Jon sich als erstes um die Frau kümmern wird, das würde ihm zumindest wieder ähnlich sehen.“ Auch sie setzte sich hin, lehnte den Kopf aber gleich wieder gegen Charles bloße Brust, da ihr von dem raschen Aufsetzen schwindelig wurde. Sie umarmend fragte er ruhig: „Was ist denn los? Du wirkst so matt.“ „Ach, ich weiß es auch nicht. Halt mich einfach nur fest, dann geht es mir besser.“ Sanft liebkoste er ihren Hals und flüsterte: „Ich liebe dich, Kim.“ Sie erwiderte nichts, sondern schloss die Augen und genoss seine Küsse. Nun schlang auch sie ihre Arme um seinen Oberkörper und schmiegte sich noch enger an ihn. Wie lange sie so dasaßen wusste sie nicht, aber in diesem Moment wollte sie ihn nie wieder loslassen, doch nur einen Augenblick später platzte Jon herein und fragte: „Kim? Hast du den…“ Er stockte, lief leicht rot an und fragte verlegen: „Störe ich?“ Kim ließ Charles los, stand auf und sagte, während sie in ihre Hose schlüpfte: „Nein, nein, was gibt es denn?“ Noch immer etwas rötlich im Gesicht fuhr er fort: „Ich wollte dich fragen, ob du den Schlüssel zu deiner Kajüte hast, denn Señora Bernadette und ihre Kinder werden sicher hungrig sein.“ Trocken antwortete sie: „Ja, habe ich, wartest du kurz draußen, dann ziehe ich mir was anderes an und komme.“ Er nickte nur und verließ die Kajüte. Gerade zog sie sich das T-Shirt in dem sie geschlafen hatte aus und stand mit nacktem Oberkörper da, da stand auch Charles auf, trat von hinten an sie heran, umarmte sie, legte seinen Kopf auf ihre Schulter und fragte: „Willst du wirklich gehen? Gib Jon doch einfach nur den Schlüssel und komm dann wieder ins Bett.“ Sie lehnte ihren Kopf an den seinen, kraulte ihm durch die blonden Haare und hauchte: „Nein, Charles, ich will mit zu Señora De L’Aubery, weil ich bei ihr noch ein gutes Wort für Juanito einlegen möchte.“ Augenblicklich hob er seinen Kopf und fragte verwundert: „Warum denn ausgerechnet für Juanito?“ Sie löste sich aus seiner Umarmung, schnappte sich ihren BH, legte ihn sich um und sagte: „Ich hab es ihm versprochen.“ Aufgebracht fragte Charles: „So? Wann denn? Gestern Abend wohl kaum, war er vielleicht dein Apfel oder was? Soll der Apfel eine Art Metapher sein, für Adam und Eva, welche die Sünde begangen hat?“ Gleichgültig entgegnete sie: „Nein, ich habe tatsächlich einen Apfel gegessen und in der Kombüse bin ich zufällig auf Juanito gestoßen.“ Mit diesen Worten hatte sie sich ihr T-Shirt angezogen und ging aus der Kajüte hinaus zu Jon, Charles keines weiteren Blickes mehr würdigend. Skeptisch fragte Jon, als sie neben ihm herging: „Habt ihr schon wieder Streit? Weswegen diesmal?“ Sie ging nicht auf seine Frage ein, sondern fragte selbst: „Was sollen wir ihnen denn zum Frühstück bringen?“ Er zuckte nur mit den Achseln und meinte: „Ich wollte sie fragen, unsere Vorräte sind ja noch ziemlich frisch. Hast du den Schlüssel denn dabei?“ Nun standen die Beiden vor der Tür zu Kims Kajüte, welche diese gestern noch abgeschlossen hatte, zum Schutze Señora De L’Auberys. Kim nickte stumm, zückte den kleinen Schlüssel, den sie in ihrer Hosentasche getragen hatte und öffnete damit die Tür. Señora Bernadette saß auf dem Bett, ihre Tochter zur Linken, ihren Sohn zur Rechten und las den Beiden aus einem der Bücher vor, die Kim ihr angeboten hatte. Als sich die Tür öffnete schrak sie auf und wartete angsterfüllt wer nun eintreten würde. Kim und Jon erblickend sah sie schon gleich ein bisschen beruhigter aus, jedoch noch immer sehr unsicher. Diese Unbehaglichkeit mit einem Lächeln überspielend fragte sie: „Señor Genitson, Señorita Kim, was verschafft mir die Ehre?“ Kim konnte ein leichtes Zittern in ihrer Stimme wahrnehmen, doch Jon redete sogleich drauflos: „Meine liebe Señora Bernadette, wir fragten uns nur, ob Ihr und Eure Kinder wohl hungrig seid, da Ihr ja nun schon sehr lange nichts mehr gegessen habt.“ Gerade wollte die Señora antworten, da zupften sie Camila und Paco an den Ärmeln und quengelten: „Mama, wir haben Hunger, wir wollen jetzt was essen und was trinken, lass sie uns etwas bringen.“ Die Lippen fest aufeinander gepresst wandte sie ihr Gesicht wieder den Beiden zu und nickte langsam. Dümmlich lächelnd fragte Jon: „Was hättet Ihr denn gerne, Señora?“ Gezwungen lächelte sie zurück: „Was habt Ihr denn an Bord?“ Sie zu sich winkend meinte er: „Nun, meine Gute, warum begleitet Ihr und Eure Kinder uns nicht einfach in die Kombüse? Irgendetwas wird sich schon finden, das Euch mundet.“ Verwundert sah Kim zu Jon, der pfeifend im Türrahmen zur Speisekammer gelehnt stand und Bernadette de L’Aubery ganz ungeniert musterte. Was war nur mit ihm los, so kannte sie ihn sonst nur, wenn er etwas getrunken hatte. So zog sie sein Gesicht nahe an das ihre und fragte: „Jon, hast du Alkohol getrunken? Sei ganz ehrlich, bitte.“ Verblüfft starrten seine glasigen Augen sie an. Mit ihrem wachsamen Blick brauchte sie eigentlich gar keine Antwort mehr, doch er flüsterte trotzdem: „Ich weiß ja, Kim, ich weiß, Alkohol ist schlecht, besonders weil ich der Captain des Schiffs bin und es offiziell eigentlich verboten hatte. Aber heute Morgen kam es irgendwie über mich, ich verstehe es auch nicht recht.“ Besorgt hielt sie seine Wangen in ihren Händen und sagte: „Aber Jon, pass bitte, bitte auf, dass du nicht abhängig von dem Zeug wirst, denn das ist wirklich nicht schön.“ Er nickte nur stumm und begann nun wieder ein plumpes Gespräch mit der Señora zu führen, während Kim sich um die beiden Kinder der Frau kümmerte. Was wollte Jon jetzt bloß mit ihr machen? Wahrscheinlich würde er sie aussetzen, das sähe ihm ähnlich. Später, wenn Señora De L’Aubery nicht da war, würde sie ihn fragen, was er zu tun gedachte und auch wegen der Kinder. Die Sonne stand schon fast im Zenit, als auch Charles sich geruhte an Deck zu kommen. Wie so oft ächzten die Piraten unter der Hitze und auch die Frau fächerte sich ungeschickt mit der Hand Luft zu. Kim hatte sich inzwischen umgezogen, sie trug nun eine kurze Hose und das T-Shirt hatte sie bis knapp unter der Brust hochgeschlagen. So lag sie rücklings, den Kopf auf Charles Schoß gebettet, auf den heißen Planken und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen, um nicht noch mehr Energie zu verbrauchen als irgend nötig. Ihr Blick war gen den strahlend blauen Himmel gerichtet, den nicht ein Wölkchen trübte. Ihr war so langweilig wie lange nicht mehr, die Sekunden schienen sich zu Stunden zu dehnen und mit Charles wusste sie nichts zu reden. Der saß einfach nur da, spielte etwas mit ihrem Haar und sah starr geradeaus. Was die Hitze noch unerträglicher scheinen ließ, war, dass noch nicht einmal ein kleines Lüftchen, eine sanfte Brise, sich in ihr Segel verirrte; sie hingen fest. Verdrossen überlegte Kim, wie lange die Flaute wohl diesmal andauern würde. Dies fragte sie auch Charles, doch der zuckte nur mit den Achseln, erwiderte nichts, schaute sie noch nicht einmal an. In diesem Moment fragte sie sich wirklich, warum sie ihn liebte. Warum nicht Terry oder Laffite oder gar noch Juanito oder Jack, warum ausgerechnet von den ganzen Piraten, die hier an Bord waren, musste es Charles sein? Einerseits verachtete sie ihn dafür, aber andererseits konnte sie ihn nur lieben, egal, was ihr Verstand verläutete. So ging das noch einige Tage, bis endlich wieder frischer Wind die Segel prall füllte und sie weiter konnten. Während dieser Tage hatte Kim mit Señora Bernadette noch einmal über Juanito gesprochen und er hatte sich auch entschuldigt, doch nur bei seinem Anblick begann sie das Zittern und nahm schier schreiend Reißaus. Kim ärgerte dieses übertrieben ängstliche Gehabe der guten Frau, doch Jon schien ihr augenscheinlich zu imponieren. Kim sonderte sich immer mehr zu Juanito und dessen Freundeskreis, weil sie es einfach nicht ertragen konnte, seine Augen zu sehen, wenn er einen flüchtigen Blick auf die Señora De L’Aubery warf. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen schienen gebrochen und Kim sah förmlich, wie es ihn zermürbte, wenn sie wieder begann mit Jon zu schäkern. Anfangs hatte sie noch versucht Jon dazu zu bringen, sie wie einen gewöhnlichen „Gast“ zu behandeln, dann versuchte sie ihn zu überzeugen, ihr die kalte Schulter zu zeigen, doch nun hatte sie genug. Er würde sie früher oder später verlassen müssen, spätestens wenn sie im nächsten Hafen einliefen. Gerade stand die Señora wieder einmal bei Jon, ihre Kinder lümmelten irgendwo an Deck herum, da reichte es Kim endgültig. Sie ging verärgert auf die Beiden zu, stieß Jon beiseite und wetterte: „Jetzt ist es genug, verehrte Señora Bernadette de L’Aubery, Ihr seid nun seit nicht mal einer Woche Witwe, habt zwei Kinder und steht hier an Deck eines Piratenschiffes und schäkert mit dessen Kapitän, obwohl noch dessen Männer Euch verschleppt und benutzt haben. Was denkt Ihr Euch eigentlich dabei? Habt Ihr kein Gewissen Eurem Mann gegenüber, oder Euren Freunden, Bekannten, von denen in jener Nacht so viele ums Leben gekommen sind? Na los, antwortet mir!“ Vorsichtig legte Jon Kim die Hand auf die Schulter und sagte leise: „Kim, lass doch…“, da blaffte Kim auch ihn an: „Halt du bloß deine Klappe, in letzter Zeit bist du ohnehin fast nur noch besoffen, außerdem rede ich mit Señora Bernadette und du brauchst nicht für sie einzustehen.“ Jon wollte wieder etwas erwidern, da mischte sich Señora Bernadette ein: „Was soll ich denn machen? Señor Genitson ist der einzig freundliche Mann hier an Bord und meinen Mann liebte ich nie, ich habe ihn geheiratet, weil er eine gute Partie war, nach meinen Eltern. Und diese Gesellschaft in Cartagena, ich weiß nicht, ob Ihr so etwas wisst, war nur aus Schein beisammen. In Wahrheit lästerte jeder über jeden, niemand konnte jemanden ausstehen, man saß beisammen beim Tee und unterhielt sich über oberflächliche Themen; in einer solchen Gesellschaft hat man keine Freunde. Aber um noch einmal auf deinen Kapitän zurück zu kommen, er scheint mir einen rechten Eindruck zu machen, ich werde einen neuen Gatten und Vater für meine Kinder brauchen, selbst wenn er Pi…“ Ungläubig riss Jon die Augen auf und fragte: „Ihr erwägt, mich zu Eurem Mann zu machen? Nie, niemals! Mit Euch ist es nicht mehr als eine anzüglich gestaltete Konversation, über Kinder denke ich noch nicht einmal nach, geschweige denn dass ich den Wunsch verspüren sollte, selbst welche zu haben. Und selbst wenn, Verehrteste, verzeiht mir meine Offenheit, aber Euch würde ich dafür sicher nicht wählen, bildet Euch nichts auf die Liebeleien mit einem Piraten ein, Señora, denn es sind und bleiben eben Liebeleien, einmalige Sachen die man erlebt hat und dann kein Wort mehr darüber verliert, da es sich in Gesellschaft nicht schickt über so etwas zu sprechen. Morgen sind wir an der Küste, dort werden wir Euch und Eure Kinder zurücklassen. Und nun geht mir aus den Augen, guten Tag.“ Erst starrte Señora Bernadette ihn mit offenem Mund an, dann blinzelte sie ungläubig, schüttelte den Kopf und wandte sich schließlich ab. Auch Kim musterte ihn fragend, doch er knurrte: „Frauen sind auch immer gleich, nicht wahr? Müssen alles über deinen Kopf hinweg bestimmen, verplanen dein ganzes Leben, ohne dass du auch nur ein Wörtchen mitzubestimmen hättest. Weiber sind wahrhaftig eine Plage, das einzige was sie können, ist kochen, putzen und Kinder gebären.“ Geringschätzig verschränkte Kim die Arme vor der Brust, warf einige Haare mit einem gekonnten Kopfschütteln aus ihrem Gesicht, hob die Brauen und sagte tadelnd: „Sag nicht, du hättest vergessen, dass ich eine dieser Plagen bin und direkt neben dir stehe, also bedenke deine Worte, oder es wird dich zu stehen kommen.“ Verblüfft drehte er sein Gesicht ihr zu und sagte: „Oh, Kim, verzeih, ich habe dir nicht zugehört, hast du etwas von Belang gesagt?“ Zornig fauchte sie: „Was zur Hölle soll das denn? Muss man sich dir als Frau nackt und willig um den Hals werfen, damit du einem halbwegs zuhörst?“ Grinsend entgegnete er: „Versuch es doch ruhig einmal, vielleicht hast du ja Glück, oder ich bin zu abgelenkt von etwas anderem.“ Völlig außer sich stampfte Kim schnaufend davon und würdigte ihn für den Rest des Tages mit keinem Blick mehr, was er bei Señora Bernadette nicht anders machte. Tatsächlich kam am nächsten Tag die Küste in Sicht und Bernadette de L’Aubery wurde, mitsamt ihren beiden Kindern, mit dem Ruderboot an Land gebracht. Keiner der Piraten sah zu, da sie die Frau als extrem uninteressant abgetan hatten, nur Juanito stand seufzend an der Reling und sah ihr nach. Kim trat an ihn heran, legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter und fragte leise: „Hast du sie gern gehabt?“ Sich von der Küste abwendend meinte er: „Ich kannte sie gar nicht.“ „Na und? Ist doch egal, es tut weh, nicht wahr?“ Stumm nickte er und sie fuhr fort, ihm über den Arm streichelnd: „Mach dir nichts daraus, es wird noch so manche Frau in dein Leben treten und die werden deine Vorzüge zu schätzen wissen.“ Ohne irgendetwas zu erwidern ging er an ihr vorbei und ließ sie allein. Niedergeschlagen sank sie auf die Planken und schloss müde die Augen. Plötzlich spürte sie, wie jemand ihr über die Haare strich und sie im nächsten Augenblick küsste, da riss sie die Augen auf und gewahrte Juanito, der vor ihr kniete und seine Lippen auf die ihren gelegt hatte. Abrupt stieß sie ihn von sich und sprang auf, ihn anfahrend: „Was fällt dir ein? Wage es nie wieder mich zu küssen, oder…“ Weiter kam sie nicht, denn nun war Charles bereits zur Stelle, der Juanito eine verpasste, dass dieser rücklings zu Boden ging. Er brüllte ihn an, packte ihn am Kragen, zog ihn hoch, schlug ihn noch einmal und noch einmal. Juanito war fast schon bewusstlos, da rief Kim: „Charles, lass ihn, bitte, er ist doch schon fast ohnmächtig!“ Mit gespreizten Fingern ließ Charles ihn los, wandte sich zu Kim, legte ihr den Arm um die Schultern und führte sie weg von dem Bastard. Als sie noch einmal über die Schulter zurückblickte, sah sie, wie Juanito sich an die Reling lehnte, aus der Nase und an der Lippe blutend und mit einem blauen, rasch anschwellenden Auge. Charles führte sie zu Laffite, Terry und Edward und wischte sich die Fäuste, an denen Juanitos Blut klebte, an seiner Hose ab. Keiner der vier Männer schnitt dieses Thema an und Kim sprach ohnehin nicht. Es war ein recht trübseliger Tag, die Stimmung gedrückt, der Himmel grau. Der nächste Tag, an dem sie in einer kleinen, namenlosen Hafenstadt ankerten, war verregnet und Kim saß allein in einem Café, trank einen heißen Tee und las ein Buch. Charles war mit den anderen Piraten in eine Kneipe gezogen, doch sie genoss es, endlich wieder nur für sich zu sein. Aber dieses Glück war ihr nicht lange vergönnt, denn mit einem Mal saß Jon ihr gegenüber und musterte sie lächelnd. Als sie ihn bemerkte erschrak sie fürchterlich und fuhr ihn an: „Spinnst du? Du kannst mich doch nicht einfach so erschrecken, ich hätte mich fast am Tee verbrannt.“ Er aber lächelte: „Tja, zum Glück nur fast, denn sonst wäre dein Zorn wahrscheinlich unhaltbar gewesen.“ Das Buch zur Seite legend und über den Rand ihrer Tasse linsend, während sie an dem Tee nippte, fragte sie: „Wieso bist du hier und nicht in der Kneipe?“ Nach der Karte greifend entgegnete er: „Gegenfrage: Wieso bist du hier allein und nicht mit Charles?“ Genervt rollte sie mit den Augen und stellte ihren Tee auf dem Tisch ab. Jon allerdings sagte hastig: „Nein, nein, Spaß beiseite, ich finde, in letzter Zeit habe ich genug Alkohol getrunken, denkst du nicht? Aber nun sag mir mal ehrlich, was in letzter Zeit mit Charles und dir los ist. Bist du dir denn sicher, dass du ihn liebst?“ Entschlossen nickte sie und antwortete: „Zur ersten und letzten Frage kann ich dir mit einem ausdrücklichem Ja antworten, bei der zweiten Frage bin ich mir der Antwort nicht gewiss. Ich weiß es auch nicht, aber ich denke, er ist noch immer so eifersüchtig. Ich kann ihm hundert Mal sagen, dass ich nur ihn liebe und niemals jemanden anderen auch nur anschauen würde, aber er vertraut mir einfach nicht. Ich hoffe wirklich, dass das mit der Zeit besser wird, denn ewig halte ich diese Streiterei nicht aus. Aber fürs Erste harre ich es aus, weil ich ihn wirklich liebe, mehr als alles andere auf dieser Welt, Jon, glaube mir.“ Er nickte stumm und winkte nach der Bedienung, um sich ebenfalls einen Earl Gray zu bestellen. Sie fragend anschauend griff er nach ihrem Buch und als sie zustimmend nickte, nahm er es sich und las die Beschreibung auf der Rückseite, besah sich den Buchumschlag und blätterte ein wenig darin. Schließlich legte er es wieder hin und sagte: „Falls du möchtest, ich habe mir über die Jahre auch ein paar Bücher angesammelt, zwar sind nicht alle in unserer Sprache geschrieben, aber ein französisches oder englisches Buch müsstest du doch lesen können, oder?“ Ihre Augen leuchteten auf und entzückt lachte sie: „Oh, Jon, du bist ein Schatz, natürlich möchte ich einen Blick auf deine Bücher werfen, dann muss ich nicht so viel Geld für neue ausgeben.“ Kaum hatte sie das gesagt, da kam der Kellner, stellte die Tasse, mit einem Sieb darüber, vor Jon und goss den Tee aus einem Kännchen in die Tasse, welches er anschließend daneben stellte. Damit ging er wieder, kam aber sogleich wieder und reichte ihnen ein wenig Gebäck. Genüsslich biss Kim in einen Keks und sah sich um. Der Raum in dem sie saßen war nicht sonderlich groß, dafür aber umso gemütlicher. Er hatte etwas Helles, Freundliches an sich, das einen förmlich zum Lächeln einlud. Eine Weile lang sprachen sie nicht, dann meinte Kim: „Ist doch recht nett hier, nicht wahr?“ Abwesend nickte er und entgegnete: „Hat etwas familiäres an sich, ist wahrscheinlich auch ein reiner Familienbetrieb. So was konnte ich noch nie verstehen, ich habe meine Familie immer gehasst.“ Skeptisch fragte Kim: „Wieso das denn?“ Den Blick starr auf seinen Tee gerichtet entgegnete er: „Nun, bisher wussten nur Maury und Brian darum bescheid und eigentlich wollte ich, dass es so bleibt. Und nun haben sie dieses Geheimnis mit ins Grab genommen, denn ich habe die Beiden umgebracht. Welche Ironie, schon damals bei Alice war es so, sie hatte mich verstanden und dann brachte ich sie um. Schon seltsam, nicht?“ Selbstquälerisch lachte er auf und nahm einen großen Schluck des Earl Grays. Kim starrte ihn mit großen Augen an und erwiderte nichts. Schließlich sagte er wieder: „Du bist die Einzige, die davon weiß. Und ich hätte gerne, dass das auch so bleibt, versprichst du mir das?“ „Ja, natürlich, Jon.“ Sie saßen noch lange da, redeten aber nicht viel. Der Himmel färbte sich schon rot, da bezahlte Jon für sie beide und verließ mit Kim das Lokal, um in die Kneipe zu gehen, in der auch Charles und die anderen saßen. Als sie jedoch gerade eintraten, stockte Kim der Atem, dort, in Charles Arm, lag eine fremde Frau. Wie angewurzelt blieb sie stehen, auch Jon schaute ungläubig zu ihm und der unbekannten Blonden, in dem roten Kleid. Selbst als Charles Kim sah, nahm er seine Finger nicht von der Frau, sondern winkte ihr nur mit dem anderen Arm zu. Abrupt drehte sie sich um und ging hinaus. Bedächtig ging sie der Abendröte entgegen zum Hafen. Dort ließ sie sich auf der Kaimauer nieder und starrte trübselig auf das offene Meer hinaus. Irgendwann, die Sonne war schon fast ganz im Meer versunken, setzte sich jemand neben sie, sprach aber kein Wort. Sie brauchte ihn nicht anzusehen, um zu wissen, dass es Charles war. Schließlich fragte sie: „Wer war sie?“ Leise antwortete er: „Eine Freundin.“ „Ach“, meinte sie und strich sich die Haare hinters Ohr, welche ihr durch den Wind, der wehte, ständig ins Gesicht fielen. Vorsichtig fuhr Charles fort: „Ich weiß, du wirst es mir wahrscheinlich nicht glauben, ich kann es selber kaum glauben, aber sie ist eine Freundin von mir, die ich eigentlich tot glaubte. Ich traf sie vor zwei Jahren, als ich noch nicht unter McQuilligans Flagge segelte, in einer kleinen Stadt, Puerto Bello. Die Mannschaft mit der ich damals segelte war der Marine zum Opfer gefallen und ich habe es gerade geschafft noch mal mit einem blauen Auge davonzukommen. Sie hat mir geholfen, zu McQuilligan zu kommen; hat ihre Beziehungen spielen lassen.“ Ohne ihn anzusehen fragte sie monoton: „Und die Gegenleistung?“ Sie spürte, wie er näher an sie heranrutschte. Vorsichtig legte er seine Hand auf ihre, die sie allerdings prompt wegzog und in ihren Schoß legte. Charles gab aber nicht so schnell auf, nun packte er sie fester an der Hand und sagte mit standhafter Stimme: „Sieh mich an, Kim, sieh mir in die Augen wenn du mit mir sprichst.“ Doch sie wollte ihn nicht anschauen, starrte auf ihre Füße. Da nahm er ihr Kinn in seine andere Hand und führte ihr Gesicht so, dass es dem seinen direkt gegenüber war. Kim aber sah ihm nicht ins Gesicht, suchte seinen Blicken auszuweichen. Da hörte sie ihn flüstern, so leise, dass sie ihn kaum verstand: „Bitte.“ Für einen Moment schloss sie ihre Augen, dann öffnete sie sie wieder und sah direkt in die Charles. Und es geschah genau das was sie hatte vermeiden wollen. In ihren Augen sammelten sich Tränen die heiß und dick über ihre Wangen rannen. Aber sie sagte nichts, veränderte ihre Mimik nicht, wartete auf Charles Antwort. Dieser lächelte sanft, strich eine Träne von ihrer Backe und sagte leise: „Es gab nie eine Gegenleistung und sie hat auch nie eine verlangt, von daher wird es auch nie eine geben, glaube mir, ich würde dich niemals belügen.“ Sie biss sich auf die Lippen, bis sie den eisernen Geschmack ihres Blutes auf ihrer Zunge schmeckte und als sie nicht antwortete fügte er hinzu: „Ich liebe dich, Kim, nur dich.“ Langsam schüttelte sie den Kopf, schluckte schwer und entgegnete mit zitternder Stimme: „Ich weiß, aber ich hatte Angst, ich hatte so Angst.“ Liebevoll legte er seinen Finger auf ihre Lippen und umarmte sie dann. Es war schon vollends dunkel geworden, da kamen sie wieder in die Kneipe in der auch die anderen waren. Die blonde Frau saß zwar bei den Piraten am Tisch, sah aber gelangweilt aus und beteiligte sich in keinster Weise am Gespräch. Als sie Charles jedoch erblickte, winkte sie ihm freudig zu und rutschte ein Stück, sodass Kim und er auch noch Platz fanden. Da sie neben Kim saß, diese hatte Charles nicht neben die Blondine sitzen lassen wollen, streckte sie ihr ihre Hand entgegen und lächelte freundlich: „Sehr erfreut, ich bin Salome Kormartar, Heiratsvermittlerin, sehr erfreut.“ Etwas verwirrt ergriff Kim die ihr angebotene Hand und entgegnete: „Kimberley von Merrylson, angenehm.“ Salome lachte hell auf und sagte: „Ich weiß, Charles hat mir schon so viel von dir erzählt, dass ich meine, dich eigentlich schon längst zu kennen. Vorhin, als ich ihm anbot, ihm eine schöne Braut zu besorgen, da wäre er nahezu ausgerastet und hat begonnen von dir zu erzählen.“ Kim lief leicht rot an und warf Charles einen vernichtenden Blick zu, doch der schaute nur schuldbewusst zu Boden. Schon zwei Tage später legten sie wieder ab und Kim nahm schweren Herzens Abschied von Salome, mit der sie sich blendend verstanden hatte. Am liebsten würde sie dableiben, doch wenn sie zu Charles sah, wusste sie, dass er um keinen Preis der Welt an Land bleiben wollte und ohne ihn würde auch sie nicht bleiben, außerdem würde sie ihre ganzen Freunde, besonders Jon, vermissen. Nein, so war es am Besten und das wusste sie auch. Dennoch stellte sie sich in den folgenden Wochen immer öfter vor, wie es wohl wäre, mit Charles ein normales Leben an Land zu führen. Mit ihm darüber zu sprechen getraute sie sich nicht, doch sie stellte es sich traumhaft vor. Sie würden ein kleines Haus haben, Charles würde mit ehrlicher Arbeit Geld verdienen und sie würde den Haushalt besorgen. Außerdem würden sie heiraten und vielleicht auch Kinder bekommen, aber so weit traute sie sich dann doch nicht zu denken. Wieder einmal döste sie an Deck und schwelgte in ihren Gedanken, da merkte sie nicht, wie sich der Himmel zunehmend verdunkelte. Es begann zu nieseln und der Wind wurde immer rauer. Sie hätte es wahrscheinlich auch weiterhin nicht bemerkt, hätte Terry sie nicht gegen ihr Bein getreten und gerufen: „Na los, faules Stück, hilf uns einmal in deinem Leben das Schiff wetterfest zu machen!“ Mit diesen Worten hob er sie auf die Beine und war im nächsten Augenblick auch schon wieder im Getümmel der Piraten verschwunden. Murrend machte auch sie sich nützlich, doch schon bald begann es in Strömen zu regnen und es stürmte wie sie es noch nie erlebt hatte. Auch war es stockfinster geworden, nur hin und wieder erhellte ein Blitz, der über den Himmel zuckte und von einem lauten Donnergrollen begleitet wurde, die Wolken. Hektisch suchte sie nach Charles, der sie beschützend in seine Arme nahm. Sie glaubte, der Himmel würde über ihnen zusammenbrechen und das Schiff unter ihnen sowieso, so sehr schwankte es. Kim war klatschnass, nicht nur wegen des Regens, sondern auch der Wellen wegen, die immer wieder eisig über das Deck schwappten und jedes Mal drohten, sie mit sich zu reißen. Das Meer, sonst so freundlich, schien sich gegen sie verschworen zu haben. Anscheinend hatten auch die Satisfaction und die Fortune zu kämpfen und gerade schaute Kim nach den beiden Schiffen, da war die Fortune plötzlich wie vom Meer verschluckt. Kim bekam eine Gänsehaut. Sie wusste, dass das Schiff nicht mehr auftauchte. Würde es ihnen vielleicht auch so ergehen? Kaum hatte sie das gedacht, hörte sie neben sich Jon gegen das Heulen des Sturms und das Grollen des Donners anbrüllen: „Ob wir wohl die Nächsten sind?“ Kopfschüttelnd rief sie zurück: „Nein, niemals, wir geben nicht auf!“ Doch als wollte das Meer ihr das Gegenteil beweisen, riss eine riesige Welle einen Teil der Reling an der Backbordseite heraus und rollte tosend über den Rest des Schiffes hinweg. Sie schluckte viel Salzwasser und als die Welle vorüber war und sie sich an der Reling, sie stand steuerbord, festklammerte, hustete sie erbärmlich, um das Salzwasser aus ihren schmerzenden Atemwegen zu bekommen. Wie hoch die Wellen wohl sein mochten? Bestimmt um die 15 Meter, denn sie reichten fast bis zur Spitze des Hauptmastes. Das Schiff schwankte nun seit gut einer halben Stunde zwischen den Wellen hin und her und es sah nicht aus, als würde es bald aufhören, ganz im Gegenteil, inzwischen war es schon finster wie in einer bewölkten Neumondnacht, dabei war es gerade um die Mittagszeit und das Schiff wurde nur noch heftiger durchgerüttelt; mit ihm die hilflose Mannschaft. Gerade hatte sie Charles wieder gefunden, da wurde sie von einer Welle gefasst und verlor für einen Moment den Boden unter ihren Füßen, doch Charles hielt sie an sich gedrückt fest. Als die Welle vorüber war, brüllte er: „Du zitterst ja wie Espenlaub und deine Lippen sind blau wie das Meer!“ Sie brüllte zurück: „Du zitterst doch auch, als hättest du den Leibhaftigen gesehen und das Meer ist gerade schwarz, nicht blau!“ „Ist mir einerlei, dir ist kalt und deine Lippen sind blau gefroren. Ich frage mich, wann das aufhört.“ Gerade wollte sie ihm antworten, da riss sie ungläubig die Augen auf, ließ ihn los und rannte zum Bug des Schiffes. Charles, der ihr nachgeeilt war, sah mit offenem Mund, was da auf sie zurollte. Es war eine riesige Welle, mindestens doppelt so groß wie die anderen um sie herum. Im Gegensatz zu der waren die 15-Meter-Wellen geradezu mickrig. Neben sich sah Kim, wie Laffite, bleich wie der Tod selbst, das Kreuz schlug und angsterfüllt auf die Welle starrte, an der vorne die weiße Gischt herunter lief, wie bei einem Tollwütigen der Schaum aus dem Munde. Charles schlang von hinten seine Arme um sie und sagte, das Gesicht ganz nah an ihrem Ohr: „Ich liebe dich, bis in den Tod, vergiss das nicht.“ Panisch schaute sie sich um. Keiner der Piraten wuselte mehr an Deck, alle standen sie jetzt am Bug und starrten schweigend, mit weit aufgerissenen Augen und den Blicken todgeweihter, auf diese gewaltige Monsterwelle, die rasend schnell auf sie zukam. Ein Schuss gellte gegen das Tosen des Meeres und das Grollen des Donners. Sie wirbelte herum. Es war Juanito, er hatte sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Angesichts des Blutes begann Kim panisch zu schreien und ließ sich nicht mehr beruhigen, auch durch Charles nicht. Erst als ein zweiter ihr eine Hand auf die Schulter legte, schloss sie ihren Mund und sah keuchend zu Jon auf, der gütig lächelnd vor ihr stand. Im nächsten Moment sank das Schiff in ein Wellental ab und Kim brüllte: „Charles, ich liebe dich auch, über alles!“ Nun war alles um sie herum still. Nicht einmal das Donnern vernahmen sie mehr. Vor ihnen das Weiß der tollwütigen Welle, hinter ihnen das Schwarz des Todes, der grinsend eine Hand nach ihnen ausstreckte. Da brach die Welle über ihnen zusammen. Kim fühlte sich, als würde sie erdrückt und spürte, wie die Planken unter ihren Füßen nachgaben und barsten. Verzweifelt klammerte sie sich an Charles Hand und hielt sich ungeschickt Mund und Nase zu. Doch gerade als sie glaubte, es ginge nicht mehr, spürte sie, wie ihr Kopf kalt wurde. Erleichtert schnappte sie nach Luft und sah sich, sich an einer Planke festklammernd nach Charles um. Jedoch sah sie ihn nicht; aber sie hielt doch noch immer seine Hand! Sie riss ihren Arm in die Höhe und ihre Augen weiteten sich entsetzt. Sie hielt zwar seine Hand und auch seinen Arm, aber mehr nicht. Panisch, Charles Hand dennoch nicht loslassend, schwamm sie umher, immer wieder von Wellen unter Wasser gedrückt, und suchte nach ihm. Aber sie fand ihn nicht. Plötzlich erhellte ein Blitz ihre Umgebung und sie bemerkte erstarrt, dass das Wasser, in dem sie schwamm, blutrot war. Ihre Augen brannten fürchterlich und sie wusste nicht, ob es vom Salzwasser kam oder von ihren Tränen, die völlig unkontrollierbar ihre Wangen hinunterliefen. Sie öffnete die Augen, musste sie jedoch sogleich wieder schließen, da ihr die Sonne unbarmherzig hinein schien. Moment! Sonne? Ruckartig setzte sie sich auf und fand sich auf einem weißen Sandstrand wieder. Sie wollte aufstehen, doch hielten ihre Beine dem nicht stand und sie fiel wieder, bäuchlings, in den Sand. Diesen ausspuckend stützte sie sich auf ihre Arme und setzte sich erneut auf. Dann würde sie eben noch einen Moment warten, doch im nächsten Augenblick fiel sie wieder in eine tiefe Ohnmacht. __________________________________________________________________________________ So, nach diesem Kapitel beginnt der Teil, den ich noch nie hochgeladen habe. Oder war das etwa auch dieses Kapitel? Egal, lG, Terrormopf Kapitel 6: Verheiratet ---------------------- Nun das erste Kapitel, das ich definitiv noch nie hochgeladen habe =) Hier ist ein Zeitsprung von fünf Jährchen dazwischen. Ich hoffe, ihr stört euch nicht daran =) Heute war ihr erster Hochzeitstag und Kim saß allein vor dem reich gedeckten Tisch, da ihr Mann noch geschäftlich zu tun hatte. Ihm gehörten einige Tabakplantagen und ein großes Anwesen. Die Kerzen waren schon gänzlich heruntergebrannt, das einstmals dampfende Essen eiskalt, da öffnete sich die Haustür und ihr Gatte kam herein, überströmt vom Regen und einen fremden Mann hinter sich. Als er sie sah, wie sie da allein im Esszimmer saß, vor einer reich gedeckten Tafel, die nicht einmal angerührt war, mit starrem Blick auf die Wand ihr gegenüber gerichtet, überreichte er schnell Paolo, einem Bediensteten, seinen Mantel, kam flink auf sie zu, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und sagte: „Alles Gute zum Hochzeitstag, mein Schatz.“ Im nächsten Moment hielt er ihr strahlend ein Kästchen aus schwarzem Samt, mit einer goldenen Schleife darum, unter die Nase. Doch sie rührte sich nicht, sondern fragte kühl: „Wo warst du, Emilio?“ Verunsichert lachte er auf und antwortete: „Bei den Plantagen, mein Liebling, wo sonst?“ Im selben Tonfall wie zuvor fragte sie: „Daran hege ich keine Zweifel, Emilio, aber ich will wissen, wo du danach hingingst?“ Nun sicherer entgegnete er: „Na ich ging nach Hause und brachte noch jemanden mit, wie du siehst.“ „Ja, ich sehe ihn, aber ich glaube dir nicht. Du riechst nach Alkohol und Frauenparfüm, gib doch zu, dass du einmal mehr trinken warst.“ Er seufzte auf und schritt zu einem der großen Fenster, zog den Vorhang zurück, um hinaus zu sehen. Nach einer Weile sagte er: „Es tut mir Leid, Schatz, bitte verzeih.“ Seufzend erhob sie sich, ging zu ihm, streichelte sanft über seinen Rücken und sagte: „Und schon wieder lügst du mich schamlos an, es tut dir eben nicht Leid, aber nun setz dich, Emilio, und iss etwas.“ Nun wandte sie sich zu dem Gast und lächelte ihn freundlich an: „Verzeiht bitte mein Verhalten Euch gegenüber, aber ich war gekränkt und verletzt. Und töricht, wie wir Frauen nun einmal sind, habe ich darüber auch mich selbst vergessen. Kommt, setzt Euch und esst mit uns. Wenn Ihr noch einen Moment warten wollt, lasse ich die Mamsell wecken, die soll dann das Essen wieder aufwärmen.“ Abwesend küsste er ihr die Hand und murmelte, sich zu Tisch bewegend: „Oh nein, bitte, wegen mir keine Umstände, ich bin Seemann und zu gutes Essen würde mich nur in Verlegenheit bringen.“ Nun ließ auch sie sich nieder, aß aber wiederum nichts. Sie musterte den Fremden neugierig und als er es bemerkte und ihr freundlich zulächelte, da sah sie verlegen auf ihren blanken Teller. Der Mann kam ihr seltsam vertraut vor, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht an ihn erinnern. „Schatz? Kimberley!“, rief Emilio nachdrücklich. Aus ihren Gedanken geschreckt sah sie ihn fragend an und er lächelte: „An was denkst du denn, dass du nicht hörst, wenn ich dich rufe?“ Zu dem Mann blickend, der sich ihr als Seemann vorgestellt hatte, antwortete sie: „Verzeih, Emilio, aber dein Freund kommt mir so bekannt vor. Darf ich Euch vielleicht nach Eurem Namen fragen?“ Der braunhaarige Mann lächelte: „Was für ein netter Zufall, denn mir geht es genauso. Mein Name ist Patrick Son.“ „Und Ihr sagtet, Ihr seid Seemann? Wie heißt denn das Schiff auf dem Ihr angeheuert seid?“ Belustigt lachte er auf und meinte: „Auf einen einfachen Matrosen wurde ich auch noch nicht heruntergeschätzt. Ich bin Kapitän der Miloké. Würdet Ihr mir bitte das Wasser reichen?“ Leicht errötend reichte sie ihm den Krug und Emilio lachte: „Der gute Patrick trinkt keinen Alkohol, schon vorher in der Kneipe hat er meine Einladung auf ein Glas Rum ausgeschlagen und wollte nur Wasser. Selbst hier sieht er unseren guten Wein nicht einmal an. Da haben wir einen solch edlen Tropfen aus Europa importiert und unser Gast weiß das einfach nicht zu würdigen.“ Sich das Wasser einschenkend sah er mit seinen braunen Augen für den Bruchteil einer Sekunde abschätzig zu ihrem Mann, sagte dann aber mit sanfter Stimme: „Oh, ich weiß euren Wein sehr wohl zu schätzen, aber ich machte die Erfahrung, dass Alkohol die Zunge beflügelt und das würde deine Frau gewiss abschrecken und sie dazu bringen, mich zu verachten, was ich sehr bedauern würde, da deine Gattin eine wahre Augenweide ist.“ Auf die Speisen blickend erwiderte Kim: „Sie schmeicheln mir, Mister Son.“ „Verdammt noch mal, Kim, er hat aber auch Recht! Zum Teufel mit Moral und Anstand, ich will dich küssen und das tue ich jetzt auch!“ Sogleich sprang Emilio auf, kam zu ihr und küsste sie leidenschaftlich. Einen Moment des Schreckens ließ sie es über sich ergehen, dann schob sie ihn von sich und sagte ärgerlich: „Mein Gott, Emilio, beherrsche dich, wir haben einen Gast und du bist so betrunken, dass ich schon nach einem Kuss das Gefühl habe ebenso besoffen zu sein wie du!“ Beleidigt entgegnete er: „Was ist denn heute Abend mit dir los?“ Zornig fuhr sie von ihrem Stuhl auf und brüllte: „Was los ist? Heute vor einem Jahr haben wir den heiligen Bund der Ehe geschlossen und du Gefühlskrüppel gehst mit einem Freund in die Kneipe und besäufst dich, aber damit nicht genug, hier fällst du auch noch beim Essen über mich her! Glaube mir, ehe du nicht wieder nüchtern bist, lasse ich dich keines Falls an mich ran. Mister Son, entschuldigt bitte mein Verhalten diesen Abend, aber mich widert das Verhalten meines ach so geliebten Gatten an. Ich glaube, es dauert nicht mehr lange, dann bringt er die Huren, mit denen er sich ohnehin schon vergnügt, auch mit nach Hause. Ihr seid gewiss ein guter Mann, Eurer Frau stets treu, das sehe ich in Euren Augen.“ Dieser winkte jedoch ab: „Ich danke Euch für das Kompliment, aber ich bin nicht verheiratet.“ Sich wieder setzend lächelte sie freundlich: „Als wahrer Seemann ist man auch nur mit dem Meer selbst und als Kapitän noch mit seinem Schiff verheiratet.“ „Da tun sie mir Unrecht, Ich wäre gerne verheiratet und hätte ebenso gerne eine Rasselbande, die ich mein Eigen nennen könnte. Dafür müsste ich jedoch erst die geeignete Frau finden.“ „Und wie müsste die sein?“ „Nun, als Erstes natürlich bildschön, dann sollte sie Charakterstärke haben und lieb sein, außerdem mag ich gebildete Frauen, sie sollte etwas von der Welt wissen und auch verstehen…“ Schallend lachend unterbrach ihn Emilio: „Nun hör schon auf, meiner Frau zu schmeicheln, Patrick, sonst wird sie noch arrogant, außerdem hat sie schon einen Gatten, und zwar mich.“ Zwar hatte er gelacht, aber doch konnte sie in seinen Augen lesen, dass er dies vollkommen ernst gemeint hatte. Kim glaubte, dass Patrick das gesehen hatte, doch er entgegnete grinsend: „Dann sei froh, dass ich kein Pirat bin, sonst würde ich sie ganz bestimmt mit mir nehmen.“ Jetzt begannen beide lautstark zu lachen und durch den Scherz war die Stimmung wieder entspannter. Als sie später am Abend noch allein mit ihrem Mann im Salon stand, beide ein Glas Rotwein in der Hand, fragte sie: „Woher kennst du den Mann eigentlich?“ Sich auf das Sofa setzend und sich zurücklehnend antwortete Emilio: „Patrick? Er kam gestern bei einer meiner Plantagen vorbei und hat nach dem Besitzer gefragt.“ „Und was wollte er von dir?“ „Er wollte, dass ich ihm die Stadt zeige. Das habe ich getan, vorhin, bevor ich nach Hause kam. Und in die Kneipe wollte er auch unbedingt, auch als ich sagte, heute sei mein Hochzeitstag und du erwartetest mich früh zurück.“ „Lüg mich nicht an!“ „Aber es war wirklich so, er kam gestern einfach so vorbei…“ „Das meine ich doch gar nicht, sondern dass du nicht in die Kneipe wolltest. Denkst du, ich merke nicht, dass du in letzter Zeit immer öfter betrunken und nach Frauenparfüm riechend nach Hause kommst? Ich mache mir Sorgen um dich, Emilio.“ Er zog sie zu sich herunter, legte seinen Arm um ihre Schultern. Kim lehnte ihren Kopf an ihn und seufzte. Leise sagte er: „Du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen, nur weil ich jetzt einmal öfter in der Woche in die Kneipe gehe als früher.“ Sie sagte nichts darauf, sondern schloss ihre Augen und genoss es, wie er ihr sanft über den Arm streichelte. An diesem Abend dachte sie noch sehr lange über diesen Patrick nach. Woher kannte sie ihn nur? Sie war sich gewahr, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, nur wo? Sie fühlte sich ihm verbunden, hatte das Gefühl, ihm vertrauen, ihm alles anvertrauen zu können. Sie würde ihn gerne noch einmal sehen, allein, ohne Emilio. Aber sie wusste genau, dass das nicht ging. Wie würde die Nachbarschaft über sie denken, wenn sie sich, ohne ihren Gatten, mit einem anderen Mann träfe? Und was würde Emilio sagen, wenn er davon erführe und er würde es erfahren. Er würde wahrscheinlich ausrasten. Toben, zürnen, wüten und seinen Frust im Alkohol ertränken und an ihr auslassen. Nein, das konnte und wollte sie ihm nicht antun. Mit diesen Gedanken fiel sie in den Schlaf. Da war ein Raum. Er erinnerte stark an eine Kapitänskajüte auf einem Schiff. Und in der Mitte standen vier Männer, der Eine war Patrick, der Zweite, zu seiner Linken, er erinnerte sie sehr stark an Laffite, der Dritte, zu seiner Rechten, hatte gewisse Ähnlichkeit zu Terry und den Vierten, ihm gegenüber, den kannte sie nicht. Ebendieser fragte mit einer sehr basslastigen Stimme: „Was hast du jetzt über die Stadt in Erfahrung bringen können, Captain?“ Mit arg gedämpfter Stimme antwortete der Gefragte, Patrick: „Ich würde noch mindestens zwei Tage warten, bis wir die Stadt plündern, Philipe, ich würde gerne noch etwas über die Frau von diesem Tabakplantagenbesitzer in Erfahrung bringen, sie erinnert mich an eine alte Freundin, die ich seit langer Zeit tot glaubte und sie heißt noch genauso, nur, dass sie offensichtlich geheiratet hat. Morgen Abend werde ich sie noch einmal besuchen gehen.“ Der Mann zu seiner Linken grinste: „Soso, sie erinnert dich also an wen? Gib doch zu, wenn du sie dir einfach nehmen willst, wir wissen doch, dass jede Frau deinem Charme erlegen ist. Aber was willst du mit ihrem Mann anstellen, während du sie mit deiner ‚bloßen Anwesenheit’ beglückst?“ Zurückgrinsend antwortete er: „Um den mache ich mir keine Sorgen, du musst wissen, Terry, heute vor einem Jahr sind sie auf den Tag genau verheiratet worden und er war mit mir in der Kneipe, ohne ein Wort über sie zu verlieren, ich denke, er ist ein rechter Säufer. Sie würde froh sein von dem ewig gleich bleibendem Eheleben mal davonzukommen, aber solche Absichten hege ich ihr gegenüber gar nicht, ich will nur Gewissheit, ob ihr Mädchenname nun ‚von Merrylson’ ist oder ob es Wunschdenken ist.“ Terry und der Mann zu Patricks Rechten stockten. Schließlich fragte der Kerl, der Laffite so ähnlich sah, mit leicht französischem Akzent: „Kim? Jon, du meinst Kim? Ich dachte, sie wäre damals bei unserem Schiffsbruch ums Leben gekommen?“ Jon! Das konnte nicht sein! Die ganzen fünf Jahre lang hatte sie gedacht, er sei tot, genauso wie Terry und Laffite. Ob wohl noch mehr Mitglieder der alten Crew überlebt hatten? Sie hatte immer in dem Glauben gelebt, dass sie die einzig Überlebende gewesen war. Im ersten Moment konnte sie ihr Glück nicht fassen, doch dann schämte sie sich fürchterlich. Wie bequem hatte sie die letzten Jahre gelebt? Sie war verheiratet, hatte viel Geld. Und sie hatte ihr Leben als Piratin schon fast vergessen; oder verdrängt. „Und wann willst du sie besuchen? Du musst bedenken, dass sie, als Frau eines Tabakplantagenbesitzers, wahrscheinlich eine breite Dienerschaft hat und so Waschweiber beginnen schnell zu tratschen, außerdem, stell dir vor, diese Kim wäre gar nicht unsere, wie willst du sie fragen, ohne uns zu verraten?“, fragte Terry und Jon antwortete mit gerunzelter Stirn: „Ich denke, ich werde so gegen elf Uhr nachts hingehen. Vielleicht war es heute nur eine Ausnahme, aber sie hat die Bediensteten früh zu Bett geschickt und ich glaube, dass sie das immer tut. Um die Nachbarschaft mache ich mir auch keine Sorgen, die Hecken um die Häuser herum schirmen alles ab. Und was Kim angeht, ich bin mir nun sicher, dass sie es ist. Von ihrem Temperament und ihrem Feuer hat sie nichts verloren, auch nach einem Jahr im Hafen der Ehe.“ Und wieder schämte sie sich. Jon hatte sie sofort erkannt und sie hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass ihr vermeintlicher Patrick auch nur im Geringsten etwas mit ihm gemein hatte. Naiv wie eh und je fragte Laffite: „Glaubst du, sie wird uns helfen oder gar begleiten?“ Terry aber lachte prompt: „Laffite, mein Bester, sie ist verheiratet und wieder eine Dame der Gesellschaft, sie wird den Teufel tun, einfach ihr Heim und ihre Familie zu verlassen und mit uns zu kommen. Vergiss nicht, Laffite und auch du, Jon, Kim ist jetzt eine Frau, Frauen brauchen einen festen Wohnsitz.“ „Aber früher…“, begann Laffite, doch Terry unterbrach ihn barsch: „Früher, früher! Jetzt ist jetzt. Und jetzt ist sie kein Mädchen mehr. Deshalb finde ich es auch nicht gut, wenn Jon morgen noch einmal zu ihr ginge, wer weiß? Vielleicht rennt sie gleich zu ihrem Mann und erzählt ihm, dass Piraten im Hafen liegen; ich bin dagegen, dass du gehst, Jon.“ Einen Moment lang überlegte Jon, dann meinte er nachdenklich: „Ich werde trotzdem gehen. Ich habe es im Gefühl, dass sie mit und nicht gegen uns arbeiten wird. Mitkommen wird sie nicht, da stimme ich mit Terry überein, aber verraten wird sie uns genauso wenig und zu viel werde ich ihr auch nicht erzählen, seid euch dessen gewiss.“ Philipe schien genervt von dem Thema und fragte: „Wird es sich denn überhaupt lohnen, die Stadt zu plündern?“ Lachend entgegnete Jon: „Ob es sich lohnen wird, fragst du? Lass mich dir sagen, dass die Menschen hier mehr Geld haben, als sie überhaupt ausgeben können.“ Bei diesen Worten streckte sich Terry und gähnte: „Na toll, dann leben hier wohl auch nur Edelhuren und ich hab nicht mehr so viel Geld. Du hast doch immer was, Jon, willst du mir nicht etwas borgen?“ Kopfschüttelnd entgegnete Jon: „Selbst wenn ich nicht wüsste, dass ich das Geld niemals wieder zu Gesicht bekäme, würde ich dir für so was nichts geben.“ „Och, warum denn nicht, Captain?“, nörgelte Laffite. „Was sollen wir denn die ganze Zeit machen? Sie aus der Ferne anstarren, während wir uns kaum noch unter Kontrolle haben? Gib uns doch etwas Geld, es braucht auch keiner zu erfahren…“ Bestimmt schüttelte Jon den Kopf und sagte: „Nein und ich sage es nicht noch einmal. Jetzt geht schlafen und lasst mich in Ruhe, ich muss nachdenken.“ Sich von ihm abwendend äffte Philipe ihn nach: „Ich muss nachdenken. Du solltest dir nicht von denen auf der Nase herumtanzen lassen, Captain, egal wie lange du sie schon kennst, andernfalls…“ Er war aus der Tür gegangen und hatte diese geräuschvoll zuknallen lassen. Von diesem Geräusch wachte Kim auf. Das war kein gewöhnlicher Traum gewesen, sie hatte es sofort gespürt. Vorsichtig befreite sie sich aus der Umklammerung Emilios, setzte sich auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe, die vor ihrem Bett bereitstanden, und ging zu dem Sessel, über dem ihr Morgenmantel hing. Diesen zog sie sich über und schlich aus dem kühlen Schlafzimmer. Eigentlich hätte sie gar nicht so still sein müssen, denn Emilio schnarchte so laut, dass sie ihn sogar noch durch die geschlossene Türe hören konnte. Dennoch war sie penibel darauf bedacht, bloß kein Geräusch zu machen, denn möglicherweise könnte Paolo oder sonst jemand ihres Dienerstabs aufwachen und dann peinliche Fragen stellen. So schlich sie sich in die Küche, wo sie sich einen Kelch aus dem Hängeschrank holte und ihn mit Wasser aus einem Krug füllte. Damit ging sie in den Salon und sah erst eine Weile aus dem Fenster in den Garten, dann setzte sie sich vor den Flügel, den seit Monaten niemand mehr gespielt hatte. Vorsichtig fixierte sie das Piano Pedal, legte die Tasten frei und drückte bedacht auf eine der Tasten. Es klang noch schön, obwohl der Flügel schon vor geraumer Zeit wieder hätte gestimmt werden sollen. Aber was hätte es gebracht? Emilio hatte früher einmal Klavier gespielt, doch mit ihrer Hochzeit hatte er es fallen lassen. Abwesend spielte sie die Tonleiter. Erst über eine, dann über zwei und drei Oktaven. Erst einhändig, dann beidhändig. Erst Synchron, dann individuell. Sie konnte es noch verhältnismäßig gut, dafür, dass sie nicht mehr gespielt hatte, seit Jon sie damals, drei Wochen vor ihrem 14. Geburtstag, entführt hatte. Nun spielte sie einige Akkorde und getraute sich sogar eine kleine, leichte aber eindringliche Melodie. Sie war so darin vertrieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Emilio ins Zimmer kam und sich neben sie setzte. Leise, um sie nicht zu erschrecken fragte er: „Seit wann kannst du denn Klavier spielen?“ Abrupt legte sie ihre Hände in den Schoß und krallte die Finger in ihren Morgenmantel, dann antwortete sie vorsichtig: „Ich weiß nicht, irgendwie ist es über mich gekommen. Vielleicht konnte ich es früher einmal und es hat sich in mir festgesetzt.“ „Früher? Meinst du, vor deiner Amnesie?“ „Ja. Verzeih mir.“ Sie sah schuldbewusst zur Seite. Sie hatte ihn von ihrer ersten Begegnung an angelogen. Sie hatte ihm nicht erzählen können, dass sie einmal Piratin gewesen war, deshalb hatte Salome ihr eingeschärft, dass sie jedem, der nach ihrer Vergangenheit fragte, erzählen solle, dass sie ihr Gedächtnis verloren habe. Emilio jedoch lächelte sanft: „Für deine Amnesie kannst du doch nichts. Ich bin nur froh, dass Salome dich fand und dich mir vorgestellt hat, sonst säßen wir jetzt gewiss nicht hier.“ „Da hast du wohl Recht.“ Auch er ließ seine Finger über die Tasten gleiten, nur dass es sich bei ihm weit besser anhörte. Sie kannte die Melodie, sie glaubte, sie war von Beethoven. Wie gebannt starrte sie auf seine Finger, die so anmutig und elegant über die Tasten flogen, da fragte er leise: „Sag, Kim, Liebling, hast du schon einmal über Kinder nachgedacht?“ Verwirrt sah sie zu ihm auf und fragte: „Über Kinder? Die aus der Nachbarschaft?“ Milde lächelnd schüttelte er den Kopf, den Blick auf den Tasten ruhend, und antwortete: „Nein. Ich meinte eigene. Die von dir und mir. Ich hätte gerne eins. Du nicht?“ Ihr kam es vor, als würde ihr Herz gleich stehen bleiben. Kinder! Er wollte Kinder! Das war das Letzte, was sie mit 23 wollte. Was sollte sie denn jetzt darauf sagen? Dass sie sich noch nicht bereit fühle? Er würde sagen, er sei bereit genug für sie beide. Dass sie keine Lust habe sich um irgendwelche Bälger zu kümmern? Er würde sagen, sie würden sich eine Kinderfrau anschaffen und er sei doch auch noch da. Dass sie noch ihr ganzes Leben vor sich hatte? Er würde sagen, dass sie eines Tages aufwachen würde und alt wäre und dann froh sei, Kinder zu haben, die sich um sie kümmerten. Aber sie wollte es versuchen, also sagte sie zögerlich: „Ich weiß nicht, irgendwie… fühle ich mich dafür noch nicht bereit, schließlich bin ich erst 23.“ Er stoppte sein Klavierspiel und lachte: „Das ist doch völlig belanglos, ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du für alles bereit bist. Und sollte es wirklich so sein, wäre ich bereit genug für uns beide.“ „Aber, ich will noch nicht den ganzen Tag hinter einem oder mehreren Bälgern hinterher rennen!“ „Mach dir darum mal keine Sorgen. Ich bin doch auch noch da, ich werde auch mit ihnen spielen, die Windeln wechseln und ich werde so oder so eine Kinderfrau einstellen, dann hast du so gut wie keine Arbeit.“ „Aber in meinem Alter hat man noch sein ganzes Leben vor sich…“ „Blödsinn, du hast du Blüte deiner Jahre erreicht, du solltest Kinder gebären, ehe du verwelkst. Außerdem, wenn du eines Tages dann aufwachst und feststellst, dass du alt bist, dann wirst du froh sein, wenn deine Kinder da sind um für dich zu sorgen.“ Sie hatte es gewusst, damit hatte er ihre Argumente entkräftet. Langsam näherte er sich ihr und kurz bevor sich ihre Lippen berührten, flüsterte er: „Na los, lass uns ein Kind zeugen, hier und jetzt. Es spricht nichts dagegen.“ Damit küsste er sie, doch sie wich zurück, bis sie vom Klavierhocker aufstand und sich an eine Wand drückend und sich auf die Lippen beißend, wimmerte: „Nein, bitte. Ich will noch kein Kind. Bitte zwing mich nicht, unserer Liebe wegen. Wenn du mir jetzt ein Kind machst, werde ich dich auf ewig hassen!“ Er jedoch kam zu ihr, hielt ihre Hände über ihrem Kopf an die Wand gedrückt und flüsterte: „Du wirst mich höchstens neun Monate hassen, denn wenn unser Kind dir dann das erste Mal in die Augen sieht, wirst du allen Ärger und allen Gram darüber vergessen und mich für das lieben, was ich nun tue.“ Damit zog er ihre Hände zusammen und umfasste ihre Handgelenke mit einer Hand. Mit der anderen öffnete er die Schlaufe ihres Morgenmantels und begann ihr Hemd aufzuknöpfen. Nun reichte es Kim. Den Tränen nahe zog sie ihre Knie nach oben und als er sich nahezu vor Pein krümmte und seinen Griff lockerte, da riss sie sich los, stieß ihn von sich und flüchtete aus der Tür in die Eingangshalle und rannte aus der großen Einganstür. Ungeschickt band sie wieder ihren Morgenmantel und lief, barfüßig, da die Hausschuhe sie zu stark behindert hätten, durch die dunklen Straßen der Stadt. Es regnete und bald waren ihr Mantel und ihre Beine vom Schlamm der Straße bespritzt. Sie traute sich nicht, sich umzuschauen, aus Angst, Emilio könne ihr folgen. Sie lief zum Hafen. Wie hatte Jon gesagt, hieß sein Schiff? Miloké, aber wie sah es aus? Als sie da, in einer engen Seitenstraße stand und auf die Schiffe starrte, hätte sie alles dafür gegeben, wenn Jon noch die Vengeance besäße. Aber diese lag in tausend Teile zerschellt auf dem Grunde des Meeres. Kim wusste, dass hier regelmäßig Soldaten des Königs patrouillierten, also musste sie sehr vorsichtig sein, da diese sie wahrscheinlich für eine Bettlerin hielten und sie somit in den Kerker sperren würden. Vorsichtig lugte sie mit ihrem Kopf aus der Seitenstraße. Sie schaute nach links und rechts, doch konnte sie nur das dumpfe Licht der gewöhnlichen Straßenlaternen sehen, nicht das einer Laterne eines Soldaten. Auf Zehenspitzen huschte sie zu dem Steg, der ihr am nächsten war. Sie hatte eine Heidenangst, da der Boden auf dem sie ging, nass und schlammig war und bei jedem Schritt den sie tat geräuschvoll schmatzte. Sie lief auf dem dunklen Steg vor und zurück und suchte nach der Miloké. Was hätte sie jetzt für eine Laterne getan, aber es musste so gehen. Leider war auf dem ersten Steg keine Spur des Schiffes. Vielleicht auf dem Steg etwas weiter links. So lief sie los, als sie plötzlich eine Stimme hinter sich vernahm, die herrisch rief: „Heda, wer seid Ihr? Bleibt stehen, wendet Euch uns zu und weist Euch aus!“ Für einen Moment blieb sie wie angewurzelt stehen und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Jetzt hatte sie doch tatsächlich die Soldaten vergessen. Sie hörte, wie Schritte sich näherten, sie konnte zwei Paar Beine hören. Ohne groß nachzudenken, sprintete sie los und rannte auf das erstbeste Schiff, das sie fand. Dort klopfte sie an die Kapitänskajüte, bis ihr einlass gewährt wurde. Sie sah den Mann nicht an, sondern stürmte in den Raum, sah sich einen Augenblick um und kauerte sich dann hinter den Schreibtisch, betend, dass sie der Kapitän dieses Schiffes nicht verraten möge. Im nächsten Moment konnte sie wieder Klopfen vernehmen und dieselbe Stimme, die sie vorhin ermahnt hatte, rief: „Öffnet! Im Namen des Königs, öffnet diese verdammte Tür!“ Nun hörte sie, wie die Tür geöffnet wurde und die Soldaten eintraten und der eine ruppig fragte: „Ist hier vielleicht eine junge Frau? Sie trägt einen Morgenmantel und hat schwarzes, nasses Haar, das ihr offen über den Rücken hängt.“ Eine ihr sehr vertraute Stimme antwortete in beiläufigem Ton: „Nicht, dass ich wüsste, oder seht Ihr hier wen außer Euch und mich?“ Nun knurrte eine andere Stimme: „Und warum ist es hier so schmutzig?“ „Ich war vorhin noch draußen, mir ein wenig die Beine vertreten, schaut, meine Stiefel sind genauso schmutzig wie der Boden hier.“ „Ja, wir sehen, wie schmutzig Eure Stiefel sind und wir sehen auch die Spuren, die sie hinterlassen haben, aber diese sind trocken und groß. Wie erklärt Ihr denn die frischen Spuren? Klein, zierlich, mit Gewissheit die einer Frau. Wie heißt Ihr überhaupt?“ „Mein Name ist Patrick Son.“ „Son? Sie sehen gar nicht aus wie ein Schlitzauge.“ „Nein, mein Name kommt nicht aus Asien, er hat eine ganz bestimmte Bedeutung.“ Was sollte denn jetzt diese Konversation? Aber in dem Moment ging ihr auf, dass das ihre Chance war. Während die Drei noch ein bisschen über ihre Namen sprachen, zog sie rasch ihren Morgenmantel aus, trocknete damit, so gut es ging, ihre Haare und wischte ihre Füße ab, dann kroch sie, alle Sinne darauf bedacht nicht entdeckt zu werden, zu seinem Bett, zog seine Decke herunter, mummte sich darin ein und ging so, übertrieben stark mit den Hüften wiegend, auf Jon zu, umarmte ihn von hinten, streichelte sanft über seine Brust und sagte, an die Soldaten gewandt: „Meine Herren, ich hoffe, Euch ist bewusst, dass Ihr uns gerade gestört habt. Ihr seht doch, dass hier keine andere Frau außer mir ist und der gute Mister Son bezeugt Euch gewiss gerne, dass ich nicht erst gerade eben gekommen bin.“ Bei ihrem Anblick mussten die beiden Soldaten schlucken und erröteten leicht. Jon nickte nur mit dem Kopf und drehte ihn dann nach hinten, um einen Kuss von ihr zu empfangen. „Aha. Nun, vielleicht haben wir uns auch geirrt. Verzeiht die Störung. Wir empfehlen uns.“ Damit drehten sie sich um und gingen durch die Tür in den Regen. Im nächsten Moment wandte Jon sich ihr zu und sah stirnrunzelnd zu ihr herab. Dann fragte er: „Was verschafft mir denn so spät noch die Ehre eines Besuchs von Euch? Noch dazu so leicht bekleidet und von zwei Soldaten des Königs verfolgt?“ Kim jedoch konnte sich nicht mehr zurück halten, sondern fiel ihm schluchzend um den Hals. Verdutzt legte er die Arme um sie, streichelte ihr über den Rücken und fragte: „Was ist denn los? Ist etwas passiert?“ „Halt die Klappe, Jon! Sei einfach nur still!“ Mit großen Augen schob er sie von sich und musterte sie ungläubig. Sie aber lachte, mit Tränen in den Augen: „Ja, ich weiß, dass du es bist und mein Mädchenname, den ich jetzt liebend gerne wieder hätte, ist von Merrylson. Oh, Jon, wie kann ich dir helfen? Ich mache alles, du musst nur sagen, was.“ Er sagte nichts, sondern packte sie an der Hüfte, zog sie an sich und wirbelte sie lachend herum. Als sie das Gefühl hatte, sich gleich übergeben zu müssen, setzte Jon sie ab und sie musste sich an ihm festkrallen, um nicht umzufallen. Er umarmte sie noch einmal und fragte dann, ihr strahlend in die Augen schauend: „Aber woher wusstest du…?“ „Ein Traum“, grinste sie. Sogleich wurde sie aber wieder ernst und fragte: „Aber woher wusstest du, dass ich es bin?“ Gespielt beleidigt stemmte er die Hände in die Hüfte und sagte: „Woher ich es wusste? Ich habe es gesehen und gespürt. Und du hast es nicht sofort erkannt? Du enttäuschst mich.“ Just in diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und einige Männer drängten sich in den Raum, während der Erste rief: „Captain, was hatte das zu bedeuten, dass hier zwei Soldaten…“ Er beendete den Satz nicht ganz, sondern starrte, wie alle anderen, auf Kim, die da nur in einem weißen, engen Hemd und sehr knappen Pants in Jons Armen stand. Das Hemd war vom Regen vollkommen durchnässt und dadurch recht durchscheinend geworden. Ihr wurde das aber erst jetzt bewusst, als all diese Männer sie anstarrten. Sie kreuzte die Arme vor der Brust und versteckt sich so gut es ging hinter Jon, dem es anscheinend auch nicht aufgefallen war. „Captain, wer…“ Wieder konnte der Kerl den Satz nicht zu Ende bringen, denn diesmal brachen drei Männer aus der Menge und riefen im Kollektiv: „Kim!“ Ihr Gesicht strahlte auf, denn diese drei Männer waren Laffite, Garret und Terry. Freudig breitete sie die Arme aus und ließ sich umarmen. Doch Jon zog sie von den Dreien weg, um ihr eins seiner Hemden überzuziehen. Nun meldete sich Philipe zu Wort, der sich ebenfalls nach vorne gedrängelt hatte: „Das ist also die Frau von der du gesprochen hast, Captain? Wieso ist sie hier? Und warum wurde sie von Soldaten verfolgt?“ Jon legte einen Arm um ihre Schultern, sah sie freundlich an und meinte: „Nun, so genau weiß ich das auch noch nicht, aber ich denke, Kim wird es mir sicher noch erzählen, nicht wahr?“ Sie sah ihn mit großen Augen an und blieb stumm. Schließlich fragte er stirnrunzelnd: „Was ist denn los?“ Verlegen murmelte sie: „Nicht vor all diesen Fremden.“ Jons Mimik wurde finster. Wenn sie es ihm nicht sofort erzählen wollte, musste etwas Bedeutsames vorgefallen sein. Er gebot den Piraten Ruhe, indem er einen Arm hob und sagte dann, so laut, dass alle ihn verstehen konnten: „So leid es mir tut, ich muss euch mit der Antwort und der Bekanntschaft dieser reizenden Dame auf frühestens morgen vertrösten. Also raus jetzt und Zapfenstreich!“ Zwar murrten die Piraten, aber sie taten, was ihr Captain ihnen befahl. Auch Terry, Garret und Laffite zogen sich zurück, aber nicht bevor sie Kim noch einmal umarmt hatten. Bevor jedoch der Letzte die Türe hinter sich schließen konnte, brüllte Jon noch: „Und wenn ich einen dabei erwische, wie er lauscht, egal wen, den wird das teuer zu stehen kommen!“ Damit schloss sich die Tür und Jon wandte sich an Kim, die sich auf sein Bett gesetzt und die Beine eng an ihren Körper gezogen hatte. Schließlich fragte er, sich zu ihr nieder kniend und in ihre Augen schauend: „Was ist passiert, dass du mitten in der Nacht mit einem Hauch von nichts bekleidet hier reinplatzt und von Soldaten verfolgt wirst?“ Sie wich seinem Blick aus und murmelte: „Emilio.“ Sich mit der Hand durch die Haare fahrend, sagte er: „Du hast echt Pech mit deinen Männern… Was hat er denn angestellt? Hat er dich beschimpft oder geohrfeigt?“ Noch leiser als zuvor entgegnete sie: „Er wollte mich vergewaltigen um ein Kind zu bekommen. Aber ich will noch keine Kinder. So sehr ich ihn auch liebe, mit 23 will ich kein Kind.“ Jon riss die Augen auf, blinzelte ein paar mal, als hätte er sich nur eingebildet, was sie da gesagt hatte und schüttelte dann ungläubig den Kopf, um zu fragen: „Er hat dich vergewaltigt?“ „Nein, er wollte es.“ Jons Gesichtsausdruck wurde kühl und reglos. „Und wie hast du es geschafft, dich zu wehren?“ „Ich trat ihn.“ Sein Gesichtsausdruck wandelte sich nicht, er blieb kalt und starr. Eine Weile lang herrschte die Stille, doch dann fragte Jon: „Und dann bist du weggelaufen?“ „Und dann bin ich weggelaufen“, wiederholte sie. „Aber was war mit den Soldaten? Was wollten die von dir?“ „Nun, ich wollte zu deinem Schiff und war nicht umsichtig genug. Ich hatte auf einem Steg geschaut und die Miloké nicht gefunden und als ich auf den zweiten wollte, haben sie mich gesehen. Nur von hinten, aber ich denke, sie dachten, ich sei eine Herumtreiberin, da sie mich nach dem Ausweis fragten. Aber stell dir vor, welch einen Skandal es gegeben hätte, wenn die Frau des inoffiziell mächtigsten Mannes der Stadt von zwei Soldaten am Hafen, in einem Morgenmantel, verhaftet worden wäre. Man hätte mich ausgelacht, hinter meinem Rücken über mich geredet und meinen Mann hätte es genauso getroffen. Also bin ich losgerannt und auf dein Schiff, obwohl ich es nicht wusste. Den Rest kennst du ja.“ Er nickte langsam und legte seine Hand auf ihr Knie. Bei dieser Berührung zuckte sie unwillkürlich zusammen und musste noch einmal an den irren Gesichtsausdruck denken, den sie zuletzt auf Emilios Gesicht gesehen hatte. Benommen schüttelte sie den Kopf und ließ ihren Oberkörper nach hinten kippen, wo er sanft auf dem Bett landete. Sie schloss die Augen, öffnete sie aber gleich wieder, da sie das Gefühl hatte, ein anderer, männlicher, Körper würde auf ihrem liegen und es schüttelte sie. Jon stand noch immer vor ihr, sah allerdings aus, als wäre er mit seinen Gedanken ganz wo anders. Sie hätte viel dafür gegeben, zu erfahren, um was seine Gedanken gerade streiften, doch konnte es ihr niemand sagen, außer ihm und ihn wollte sie nicht fragen. Nun begann er im Raum auf und ab zu gehen. Irgendwann, die Sonne ging schon auf, setzte er sich neben sie und fragte, ihre Hand ergreifend: „Sag, Kim, wie hast du es denn geschafft zu überleben und dich so einfach in die Gesellschaft zu integrieren?“ Erstaunt entgegnete sie: „Salome hat mich am Strand gefunden. Sie hat mich mitgenommen, meine Wunden versorgt und ihre Arbeit getan.“ „Salome?“ „Die Heiratsvermittlerin… eine alte Freundin Charles.“ „Ach ja, Salome Kormartar. Sie lebt nicht hier, richtig?“ „Nein, sie ist vor zwei Jahren, kurz nach meiner Verlobung aufgebrochen, sich neue Opfer zu suchen.“ Jon lachte kurz und trocken auf und fragte schließlich, ihrem Blick ausweichend: „Und Charles?“ Sie lächelte traurig und sagte, die Gänsehaut, die sie bekam, ignorierend: „Ich rettete seinen Arm, aber wo der Rest von ihm ist, wissen wohl nur die Nixen, Fische und Gott selbst.“ Wieder schwiegen sie beide und diesmal war es Kim, die die Stille durchbrach. Sie fragte: „Hast du vielleicht auch noch eine Hose für mich? Denn so kann ich bei Tageslicht unmöglich durch die Stadt laufen.“ Er nickte langsam und ging dann zu einer Truhe, die am Ende seines Bettes stand, um daraus eine Hose zu nehmen, die ihm wahrscheinlich drei Viertel seines Beines bedeckte, ihr aber schon fast zu lang war. Noch einmal umarmte sie ihn, flüsterte ihm zu: „Bis heute Abend.“ Und ging aus der Kajüte. Dort konnte sie schon Terry, Garret und Laffite sehen, die vor der Gangway saßen, beziehungsweise lagen und laut schnarchten. Wahrscheinlich hatten sie sie abfangen wollen, waren aber doch eingeschlafen. Da sie nur noch nach Hause und selbst schlafen wollte, schlich sie sich an ihnen vorbei und stahl sich durch die Stadt, bis zu ihrem Anwesen. Doch wie sollte sie hineingelangen? Einen Schlüssel hatte sie nicht bei sich und ihre Dienerschaft wollte sie auch nicht in Aufruhr versetzen. So schlich sie sich um das Haus und suchte nach einem offenen Fenster im Erdgeschoss, welches sie auch fand. Es war eines der Fenster zum Salon, durch das sie sich, mit Erfolg, zwängte. Doch gerade wollte sie aufatmend durch den Raum gehen, da fragte Emilio, der auf dem Ohrensessel, mit rotem Samt bezogen, saß, ein Glas Wein in der Hand: „Wo kommst du her, dass du Hosen trägst?“ Wie erstarrt blieb sie stehen und starrte ihn an, als sei er der Leibhaftige. Schließlich fragte er noch einmal, sich nach vorne lehnend: „Wo warst du die halbe Nacht?“ Unsicher, ein Stück zurückweichend entgegnete sie: „Ich war bei einer Freundin?“ „Bei welcher denn?“ „Regina. Bitte verzeih, dass ich dich trat und dann weglief, Liebling, aber…“ Er wandte sein Gesicht von ihr ab und gebot ihr mit der Hand zu schweigen. Dann stand er auf, kam langsam auf sie zu, seinen Wein hatte er auf dem Parkett abgestellt, nahm ihre Hand mit der seinen und strich sanft ihre Haare mit der anderen hinter ihr Ohr. Kim rührte sich nicht, traute sich nicht einmal mehr zu atmen, da tat er einen Schritt zurück, berührte sie in keinster Weise mehr und sagte leise: „Bitte nicht um Verzeihung, es war meine Schuld. Ich habe dich bedrängt und dir solche Angst eingeflößt, dass du zusammenzuckst, wenn ich dich ansehe, zitterst, wenn ich mit dir spreche und nicht atmest, wenn ich dich berühre. Ich muss dir nichts verzeihen, aber du mir. Nun könnte ich nach Ausreden suchen, sagen, es war der Rest-Alkohol in meinem Blut, der Wahn, den ein Traum in mir weckte, aber all das wäre gelogen und mein Verhalten entschuldigt nichts, also kann ich nur auf deine Gnade hoffen.“ Warum? Warum zum Teufel war er so freundlich? Sie hatte schon fast wirklich vorgehabt, mit den Piraten mitzukommen, und jetzt war er wieder so lieb. Einerseits hätte sie ihn dafür schlagen, treten können, andererseits hätte sie ihn dafür küssen können. Sie war noch hin und her gerissen, zwischen diesen beiden Möglichkeiten, da wandte er sich mit hängendem Kopf ab und sie fasste ihren Entschluss. Emilio wollte gerade die Tür öffnen, da schlang sie von hinten ihre Arme um ihn und flüsterte seufzend: „Du bist solch ein Narr, Emilio. Dir könnte ich niemals zürnen, dafür sorgst du immer mit deinem lieben Gesicht und deinen sanften Worten. Einen solchen Schelm wie dich, Emilio, kannte ich noch nie. Du stahlst mir in deiner dreisten Art schon bei unserer ersten Begegnung das Herz und rückst es bis jetzt ums Verrecken nicht heraus. Verdammter Teufel, dafür sollte dich einer richtig schelten!“ „Und warum tust du das nicht?“, fragte er mit fester Stimme. „Nun, ich könnte es nicht tun, weil mein Herz nicht dabei wäre. Schließlich wehrst du dich ja mit Händen und Füßen es mir zurück zu geben.“ Daraufhin lachte er und legte seine Hände auf die ihren. Es war schon wieder Abend geworden und Emilio war, so glaubte Kim, schon wieder in der Kneipe. Diese Nacht jedoch sollte es ihr recht sein, denn schließlich wollte Jon sie noch besuchen. Die Glocken im Kirchturm schlugen gerade die volle achte Abendstunde und sie saß allein im Salon, hatte schon gegessen und las ein Buch, da klopfte jemand gegen die Scheibe der Tür, die auf die Terrasse führte. Kim wusste sofort, dass es Jon war, legte so rasch ihr Buch zur Seite und eilte zu der Glastür im weiß lackierten hölzernen Rahmen, ihn einzulassen. Zur Begrüßung deutete er drei Wangenküsse an, zwei links, einer rechts. Dann trat er ein und sah sich um. Er hatte, ohne dass sie es wahrgenommen hatte, ihre Hand ergriffen und zog sie nun sanft mit sich in den Raum. Natürlich bemerkte er das Buch, das verkehrt herum aufgeschlagen auf der linken Seite des Sofas lag und fragte: „Bist du immer noch eine Leserin?“ Daraufhin lachte sie: „Schau dich doch um, Jon, bist du blind, dass du den Wald vor lauter Bäumen nicht siehst?“ Sie deutete mit der Hand auf die Wände, die mit Bücherregalen zugestellt waren und fuhr fort: „Und das sind längst nicht alle.“ Nun lachte auch er und entgegnete schmunzelnd: „Das glaube ich dir gerne, Kim, nun hast du ja Geld und Platz für so viele Bücher, wie du nur willst.“ Sie nickte lachend und er kam näher auf sie zu. So nahe, dass es ihr fast unangenehm war und sie begann den Ring am Ringfinger ihrer rechten Hand zu drehen. Er musterte sie genau, sah ihr tief in die Augen, als suchte er darin zu lesen, was sie dachte. Endlich tat er einen Schritt von ihr weg und fragte mit leiser, ruhiger und bedachter Stimme: „Wie war es heute mit Emilio?“ Sie zögerte kurz, sah dann zu Boden, schlang die Arme um ihren Bauch und antwortete: „Es war gut. Ich erzählte ihm, ich sei bei einer Freundin gewesen und er glaubte mir. Und weißt du, was er dann getan hat?“ Einen Schritt auf sie zu tuend, die Fäuste ballend, fragte er scharf: „Was hat er dann getan?“ Nachsichtig lächelnd sah sie auf, umfasste seine Fäuste und antwortete: „Er hat sich entschuldigt. Er hat förmlich gefleht; gebettelt hat er.“ Seinen Blick abwendend und die Fäuste lösend sagte er: „Er wird es wieder tun, ist dir das klar? Wirst du noch einmal vor ihm flüchten, ihn überhaupt abwehren können?“ Jetzt war sie es, die den Blickkontakt zu ihm suchte und sie lächelte mild: „Mach dir darüber keine Gedanken, ich werde schon einen Ausweg finden.“ Seufzend ließ Jon sich auf das Sofa fallen, hielt ihre Hände aber dennoch fest. Trotzdem ließ er bald ihre Linke los, um ihr den Ehering abzunehmen. Kim ließ ihn gewähren und er sagte abwesend: „Der Ring lässt dich optisch altern.“ Langsam wurde es ihr doch zu bunt und sie forderte mit der geöffneten Handfläche ihren Ring zurück. Kopfschüttelnd gab er ihn ihr und sie setzte sich neben ihn, das Buch das dort lag, auf den kleinen Abstelltisch neben dem Sofa legend. Dann fragte sie leise, sich die braunen Locken hinter die Ohren streichend: „Jetzt erzähl schon, Jon, was hast du in den letzten Jahren gemacht? Wie bist du schon wieder an ein Schiff und eine Crew gekommen?“ „Was ich in den letzten fünf Jahren gemacht habe? Nun, nachdem ich, genau wie du, Terry, Garret und Laffite an den Strand gespült wurde, habe ich mich unter den Leichen umgesehen und Wertvolles mitgenommen, dabei fand ich auch die drei Halunken lebendig vor. Glaub mir, selbst für mich war es schwer durch diese Reihen von Leichen zu gehen und ich war unsäglich glücklich, noch drei andere zu finden, die diese Monsterwelle überlebt hatten. Mit ihnen habe ich mich zu Fuß auf den Weg zur nächsten Stadt begeben und wir brauchten ungefähr eine Woche in der wir hungerten und dursteten wie nie zuvor. Als wir dann endlich in dieser vermaledeiten Stadt angekommen waren, traf ich dann erstmal auf diese verfluchte Bernadette de L’Aube… L’Aubo…, ach egal, du weißt ja, wen ich meine. Und es tut mir weiß Gott um ihre armen Kinder Leid, denn die sind jetzt Vollwaisen. Aber das tut nichts zur Sache. Nachdem ich sie also umgelegt hatte, heuerten wir auf einem Schiff an, dessen Mannschaft uns von Anfang an suspekt vorkam, also genau richtig für unser Vorhaben. Denn mitten auf hoher See führte ich eine Meuterei an und gründete somit meine neue Piraten-Meute.“ „Und hast du jetzt auch einen neuen Jolly Roger?“ „Nein.“, seufzte er. „Dieser Jolly Roger ist meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft. Ich werde mich nie von ihm trennen. Was hätten außerdem die Händler gesagt, wäre ich plötzlich mit einem neuen Roger aufgetaucht, die hätten mich doch nicht wieder erkannt!“ Nun stand Jon auf und ging zu einem ihrer Bücherregale. Die Ruhe selbst zog Jon ein großes, in schwarzes Leder eingebundenes Gedichtband heraus und kam schweigend wieder zu seinem Platz. Kim musterte ihn fragend, als er sich setzte und das Buch eindringlich musterte. Kim wurde etwas nervös und sagte hastig: „Leg das blöde Buch doch weg und sprich etwas mit mir, wir haben uns so lange nicht gesehen.“ Aber er ließ sich nicht abhalten, sondern öffnete es irgendwo im hinteren Teil. Er stutzte. Nun hatte er entdeckt, was Emilio nach einem Jahr nicht gefunden hatte. Sie hatte aus den Seiten Teile ausgeschnitten, sodass sich eine art Mulde ergab, in das sie das Medaillon gelegt hatte, das Jon ihr zu ihrem 14. Geburtstag geschenkt hatte. Kim hatte dieses Buch für das sicherste Versteck gehalten, da Emilio nicht las und wenn er es doch tat, dann gewiss keine Gedichte. Schelmisch grinste Jon ihr zu, nahm das Medaillon aus der Vertiefung, klappte das Buch zu, legte dieses auf den Tisch und meinte dann: „Soso, hast das Amulett also immer noch, gut versteckt vor deinem Gatten, aufbewahrt. Soll mir das nun irgendwas sagen?“ Peinlich berührt riss sie ihm das Schmuckstück aus der Hand und fauchte, es ebenfalls auf den Tisch legend: „Nein, dass ich es habe, hat keine Bewandtnis, es war nur meine einzige Erinnerung an euch.“ In diesem Moment öffnete sich die Tür und Emilio trat ein. Kim starrte ihn an, als sei er ein Einbrecher in seinem eigenen Haus und er seinerseits fixierte Jon mit weit geöffneten Augen. Dann sah er auf das Medaillon und hielt augenscheinlich den Atem an. Schließlich keuchte er: „Piraten!“ Nun sprang Kim auf und fuhr ihren vollkommen perplexen Gatten an: „Wieso bist du denn schon da? Sonst gehst du jeden Abend in die Kneipe und heute kommst du zeitig wieder? Was soll denn das?“ Vor ihr zurückweichend entschuldigte er sich: „Tut mit Leid, Schatz, ich wollte nicht… Moment mal!“, schloss er fester. „Wieso sollte ich mich rechtfertigen zur frühen Abendstunde in mein eigenes Haus zu kommen, außerdem ist es gar nicht mal so früh. Schließlich finde ich dich ja hier mit einem anderen Mann, anscheinend einem Piraten, in meinem Wohnzimmer sitzend.“ Nun erhob sich Jon, streckte Emilio die Hand entgegen und sagte: „Gute Abend Emilio, auf dich habe ich gewartet, bitte versteh das mit dem Medaillon nicht falsch und interpretier auch nicht zu viel hinein, ich zeigte deiner werten Gattin nur, was ich einem der Piraten, die uns vor zwei Wochen überfielen, vom Hals riss, als ich ihn umgebracht hatte.“ Als Emilio seine Hand nicht ergriff, zog er sie zurück und Emilio entgegnete kühl: „So? Du hast also auf mich gewartet? Und du wurdest vor zwei Wochen von Piraten angegriffen? Beim besten Willen, Patrick, das kommt mir ziemlich suspekt vor.“ „Nun, ob es dir suspekt ist, ist mir einerlei. Ich weiß, was ich weiß. Also, gewährst du mir jetzt ein Gespräch unter vier Augen mit dir?“, entgegnete Jon gleichgültig. Emilio sah fragend zu Kim, die nur mit den Schultern zuckte, um sich nicht zu verraten. Schließlich sagte ihr Mann: „Nun gut, dann will ich dir mal Glauben schenken. Wenn du mir in mein Arbeitszimmer folgen würdest?“ „Mit dem größten Vergnügen.“ Emilio ging zuerst aus der Tür und Jon folgte ihm, aber nicht, ohne Kim noch einmal zuzugrinsen, bevor er die Tür schloss. Mit klopfendem Herzen ließ sie sich auf das Sofa zurück sinken, nahm einen Schluck ihres Weines und atmete tief durch. Dann nahm sie das Amulett in die Hand und betrachtete es genau. Vor fast zehn Jahren wäre sie bei diesem Anblick vor Angst fast gestorben, doch jetzt fasste sie es als Herausforderung, ja beinahe als Beleidigung auf. Die Prägung hatte etwas Bedrückendes an sich, Kim wusste aber nicht warum, dachte sich jedoch nichts weiter dabei, da alle Jolly Roger solch eine Wirkung erzielten. Einige Zeit versuchte sie sich abzulenken, um nicht an Jon und Emilio, allein in einem Raum, denken zu müssen, jedoch erfolglos. Immer wieder spielte sich in ihren Gedanken dieselbe Szene ab: Jon versuchte sie und sich herauszureden, redete sich dabei um Kopf und Kragen, sodass Emilio die oberste Schreibtischschublade auf der rechten Seite aufzog, seine Pistole daraus holte, entsicherte und schoss. Angestrengt lauschte sie in die Stille, aber sie konnte nichts hören, weder Geschrei, noch einen Kampf, noch einen Schuss. Diese Tatsache machte sie allerdings nur noch nervöser. Alles im Haus war still, sie konnte einzig die große Standuhr im Salon hören. Nach einiger Zeit schlug diese viertel vor neun und die Kirchturmuhr stimmte in das Geläut mit ein. In diesem Moment hörte sie, wie zwei Personen die Treppe lachend herunter kamen und sprang angespannt auf. Dann öffnete sich die Tür und Emilio fragte: „Na, Schatz? Möchtest du unseren Gast nicht verabschieden?“ Hastig eilte sie in die Eingangshalle, in der die Beiden feixend standen, Jon mit Mantel und Hut auf dem Haupt. Sie rannte auf ihn zu, nahm sein Gesicht in ihre Hände und führte es hin und her. Schließlich fragte er übertrieben laut und affektiert überrascht: „Was macht Ihr denn da, Kimberley?“ Wie von der Tarantel gestochen, ließ sie ihn los und ging rückwärts zu Emilio, der seine Hand um ihre Taille legte, und sagte gar nichts. Nach einer kurzen Zeit der Stille sagte Emilio: „Nun, Patrick, danke, dass du mich darüber informiert hast. Guten Abend.“ Er reichte ihm die Hand. Jon ergriff und schüttelte diese, drehte sich dann um und öffnete die Tür. Kim trat einige Schritte auf ihn zu, tippte ihm auf die Schulter und fragte, leicht verletzt: „Wollen Sie sich denn nicht von mir verabschieden, Patrick?“ Jon hielt in seiner Bewegung inne, drehte sich um und schaute sie gleichgültig an. Aber in seinem Blick konnte sie eine gewisse Selbstgefälligkeit lesen und nun sah sie auch, wie seine Mundwinkel immer wieder, für Bruchteile einer Sekunde, nach oben zuckten und er mit aller Macht versuchte, seine Miene zu wahren. Kim hielt ihm ihre Hand hin und während er sich verbeugte, um ihre Hand zu küssen, sah er sie grinsend an und flüsterte, so dass nur sie ihn verstehen konnte: „Morgen Mittag um elf vor der Kirche, ich erwarte dich.“ Dann richtete er sich wieder auf und sagte laut: „Ich wünsche Euch noch einen schönen Abend. Meine Empfehlung.“ Damit drehte Jon sich um und schloss hinter sich die Tür. Leicht verdutzt wandte Kim sich Emilio zu und sah ihn fragend an. Doch dieser schüttelte nur den Kopf und meinte: „Ein seltsamer Kerl, dieser Patrick Son. Es kommt mir vor, als sei er etwas, sagen wir, verwirrt.“ „Er ist nicht verrückt!“, zischte Kim nachdrücklich. Emilio jedoch zuckte nur mit den Schultern, wandte sich ab, um in den Salon zu gehen. Seine Frau folgte ihm auf dem Fuße und ließ sich auf dem Sofa nieder, während er im Raum auf und ab ging. Schließlich fragte sie, als die Neugierde sie genug quälte: „Nun sag schon, Emilio, was hat er mit dir besprochen?“ Abrupt blieb Emilio stehen und sah sie, aus den Gedanken gerissen, an, bis er endlich, langsam, mit bedachten Worten, fragte: „Hat er es dir nicht gesagt?“ Zu ihm aufblickend schüttelte sie den Kopf und er setzte seinen Weg fort. „Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Aber ich dachte, er hätte dir von den Piraten erzählt?“, fragte er nach einigen Schritten. „Ja, das hat er, aber sonst nichts.“ „Nun, ich wüsste nicht, warum du es nicht erfahren solltest, Schatz. Er hat mir einige Routen vorgeschlagen, die mich zwar teurer kommen, aber von der Schar Piraten, die sich auf den Handelsrouten herumtreiben befreien würden.“ Innerlich atmete Kim erleichtert auf, dass Jon eine gute Ausrede eingefallen war und er nun nicht mit einem Loch und Blei im Körper gestraft worden war. Anmerken ließ sie sich allerdings nichts, sondern nahm, völlig gleichgültig ihr Buch zur Hand und begann dort zu lesen, wo sie aufgehört hatte, als Jon gekommen war. Als sie am nächsten Morgen mit Emilio draußen beim Frühstück saß, fragte er nach einer Weile: „Sag mal, Schatz?“ Gut gelaunt, da sie heute Jon noch einmal sehen würde, flötete sie: „Ja, Darling?“ und nahm einen Schluck ihres Orangensaftes. „Wer ist Jon?“ Abrupt schaute sie auf und prustete vor Schreck den ganzen Saft über den Tisch. Fluchend sprang Emilio auf und wischte sich mit einer Serviette den Anzug ab und auch Kim tupfte sich leicht verstört das Gesicht und den Mund ab. Schließlich hatte Emilio sich wieder beruhigt und fragte, sich wieder setzend: „Wieso spuckst du bei dem Namen deinen gesamten Saft auf mich?“ „Oh nein, das war keine Absicht, mein Schatz, ich habe nur…“ Verflixt, wie sollte sie sich nur herausreden? „Ja?“, fragte Emilio und Kim hatte das dumpfe Gefühl, er wurde langsam misstrauisch. Letztlich schob sie es auf ihre vorgeschützte Amnesie, doch Emilio sagte kühl, sich vom Tisch erhebend: „Denk nicht, du kannst dich immer mit deiner Amnesie herausreden, Kimberley, irgendwann komme ich dir auf die Schliche und wenn ich dich in flagranti ertappen muss.“ Nun fuhr Kim auf: „Also jetzt reicht es mir! Ich hatte während unserem mickrigen Ehejahr nicht eine Affäre im Gegensatz zu dir! Ich weiß doch, dass du nicht immer in die Kneipe gehst, sondern auch die Freudenhäuser im Hafenviertel besuchst. Aber nicht einmal habe ich es dir vorgehalten. Und wie kommst du überhaupt auf den Namen? Hast du mir einen Detektiv aufgehetzt?“ „Nein, meine Liebe, das tat ich nicht, da du den Namen letzte Nacht mehr als einmal vor dich hin gemurmelt hast. Und meine Affären; hättest du ein Wort gesagt, ich wäre täglich zeitig nach Hause gekommen, ohne zu murren aber deine Gleichgültigkeit hat mich mit der Zeit angewidert und das tut sie noch jetzt, du wusstest also die ganze Zeit davon und hieltest es nie für nötig mit mir auch nur darüber zu sprechen? Außerdem… Ein Detektiv? Kim! Wer ist dieser Jon? Gerade schobst du es auf deinen Gedächtnisverlust, doch ein Detektiv findet nur Dinge in der Gegenwart. Kenne ich ihn etwa? Sag es mir!“ Er kam auf sie zu und packte sie unsanft am Arm. Als sie jedoch schwieg und seinem Blick auswich, da wurde sein Griff heftiger, bis sie vor Schmerz in die Knie ging und sich auf die Lippen biss, bis diese bluteten, um nicht zu schreien. Nun sah sie auf, mit Tränen in den Augen, doch ihr Blick war fest. Zornig starrte sie ihn an und war sich gewiss, auch nicht ein Wort zu sagen. Irgendwann ließ er ihren Arm dann doch los, wandte sich ab und brüllte im Gehen: „Dummes Weibsstück! Ich werde es schon herausfinden und dann wirst du sehen, was dein Schweigen dir bringt!“ So blieb sie liegen, bis ihr Hausmädchen kam, ihr aufhalf und besorgt fragte: „Was ist passiert, Gnädige Frau? Hat er Euch wehgetan?“ Sich den Arm haltend, lächelte sie, den Schmerz unterdrückend: „Es ist nichts passiert, Mathilde, mach dir keine Sorgen.“ Das Mädchen war vielleicht gerade fünfzehn und Kim wollte es nicht mit ihren Problemen belasten, also sagte sie: „Aber du könntest mir die Uhrzeit sagen.“ Just in dem Moment schlug die Turmuhr viertel nach zehn und Mathilde grinste: „Da habt Ihr die Uhrzeit und nun sagt mir, warum dieser Bastard euch verletzt hat, Gnädige Frau.“ Kim hielt sich den Finger an die Lippen und flüsterte: „Scht, in diesem Haus darfst du nicht so über deinen Herrn und meinen Gatten sprechen.“ „Wir sind aber doch gar nicht im Haus.“, meinte sie und verschränkte lässig die Arme hinter dem Kopf. Kim lachte auf und entgegnete: „Hast ja Recht, aber du solltest trotzdem nicht so über ihn sprechen, zumindest nicht in meiner Gegenwart, schließlich liebe ich ihn.“ Verständnislos schüttelte das Mädchen den Kopf und sagte: „Ich verstehe Euch nicht, wie könnt Ihr ihn lieben, wenn er Euch verletzt? So ein Scheusal!“ „Nun, mag sein, dass er mir in diesem Moment wehtat, aber sonst ist er doch ein lieber und zärtlicher Mann.“ „Nur seltsam, dass dieser liebe und zärtliche Gatte mich schon ein paar mal entweder belästigt, oder geschlagen hat.“ Wie vom Donner gerührt blieb Kim stehen, starrte das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen an und fragte ungläubig: „Er hat dich belästigt und dann geschlagen, wenn du dich verweigertest?“ Mathilde ging weiter und nickte ungerührt. Kim lief ihr nach und lächelte: „Möchtest du mir helfen herauszusuchen, was ich heute tragen werde, denn ich habe gleich eine Verabredung.“ Schnippisch fragte die Kleine: „Mit wem habt Ihr denn eine Verabredung? Doch wohl nicht mit einem Mann? Wie heißt er? Liebt Ihr ihn? Wollt Ihr…“ „Jetzt reicht es, Mathilde.“ Demütig ließ Mathilde ihren Kopf hängen und murmelte: „Jawohl, Gnädige Frau.“ „Ja, es ist ein Mann und er nennt sich Patrick.“, begann Kim zu erzählen und Mathilde sah auf und ihre Augen leuchteten, während sie an Kims Lippen hing. „Vielleicht hast du ihn schon einmal gesehen, er war gestern und vorgestern Abend hier. Er ist ein sehr guter Freund von mir und ich liebe ihn nicht, ich liebe nur einen Mann und der ist mir angetraut.“ „Ist das nicht dieser Kapitän?“ „Ja, er ist Kapitän der Miloké.“ „Aber Gnädige Frau, ein Seemann ist doch kein Umgang für Euch…“, begann sie, doch Kim unterbrach sie lachend: „Seit wann scherst du dich denn, wer ein guter Umgang ist?“ „Nun, ich denke, ich weiß einige Dinge über ihn, die Euch sicher abschrecken würden.“ „So? Nun, dass er die Hurenhäuser im Hafen aufsucht, ist mir bewusst, schließlich ist er Seemann und hat keine Frau an die er gebunden ist.“ „Nein, das meine ich gar nicht, es ist…“ „Was willst du mir denn sagen, Mathilde? Glaub mir, ich weiß so einiges über ihn.“ „Aber nicht so viel, wie ich über ihn weiß.“ Nun wurde Kim wütend. Was wollte solch ein Gör über Jon wissen, was sie nicht wusste? Sie kannte ihn schließlich schon fast zehn Jahre. Schließlich fragte sie, nun affektiert freundlich: „Also, Mathilde, was ist mit ihm?“ „Ich kann es nicht sagen, sie würden mich umbringen.“ Zornig fuhr Kim auf: „Jetzt sag endlich, was dir auf der Zunge liegt, damit ich es abwägen kann!“ Erschrocken wich Mathilde vor ihr zurück und Kim, von sich selbst erschüttert, entschuldigte sich nun mit sanfter Stimme: „Verzeih, Mathilde, ich wollte nicht laut oder gar grob werden, es ist nur so, dass ich Jon schon lange kenne und ich nicht denk…“ Mitten im Wort hielt sie inne und sah, wie Mathilde sie mit großen Augen musterte. Da war ihr doch glatt sein Name über die Lippen gehuscht, wie hatte das geschehen können? Nervös, hoffend, dass Mathilde nichts bemerkt hatte, korrigierte sie die Wahrheit: „Ich meinte Patrick und ich habe ihn schon einmal getro…“ „Ihr wisst, dass er Jon Genitson ist?“ „Woher weißt du es?“, fragte sie nachdrücklich, unangenehm von dieser Tatsache überrascht. Doch Mathilde fragte leise: „Seit wann wisst Ihr es und woher kennt Ihr ihn und seit wann kennt Ihr ihn?“ Kim sah noch nervöser den Flur entlang, auf dem sie sich befanden und zog Mathilde in ein Zimmer. Dann sagte sie leise: „Wir sollten hier nicht über ihn reden.“ Sich von ihr losreißend zeterte Mathilde: „Ich will es aber wissen und nicht irgendwann, sondern jetzt!“ Seufzend ließ Kim sich auf einem Stuhl nieder und begann zu erzählen: „Du hast gewonnen, Kleines, ich erzähl es dir ja schon. Also, früher, vor fünf Jahren, bevor ich herkam, da bin ich unter seiner Flagge gesegelt…“ „Aber er hat das Schiff doch erst seit fünf Jahren.“ „Lass mich ausreden, Chérie. Ich segelte mit ihm und seiner Crew als Piratin, drei Jahre lang, bis ein Sturm, vor sechs Jahren, unsere drei Schiffe zerriss und mich an Land schwemmte. Und jetzt erzähl du mir, woher du es weißt.“ „Mein Freund hat es mir erzählt.“ Etwas erstaunt fragte Kim: „Du hast einen Freund?“ „Ja natürlich, er ist auch von der Miloké. Ich kenne ihn noch nicht sehr lange, er kam vor drei Monaten her, um die Gegend zu erkunden und nun sind wir zusammen und er hat es mir erzählt. Er hat mir auch erzählt, dass im Namen des Schiffes ein Anagramm ist, der Name besteht nämlich aus zweien. Kim und Leo. Er weiß auch nicht genau, warum das so ist, aber der Captain wollte anscheinend nicht mehr erzählen.“ Kim und Leo? Er hatte sein Schiff nach ihnen benannt. Aber wieso nach Leo und nicht nach Charles oder sonst wem? „Und wann seid Ihr mit ihm verabredet, Gnädige Frau?“, riss Mathilde sie aus ihren Gedanken. Leicht abwesend vernahm sie den letzten Schlag der halben Stunde und fuhr auf: „Um elf vor der Kirche.“ „Dann solltet Ihr Euch beeilen, Gnädige Frau.“ Gerade wollte Kim die Tür aufstoßen und sich auf den Weg machen, da klopfte es und sie öffnete verwundert. Wer würde wohl um die Uhrzeit zu ihr kommen? Es war ihre Freundin Regina, die sie, überemotional und -geschminkt in die Arme schloss und Kim hatte das Gefühl in ihren Rollen aus Speck zu ersticken. Schließlich wurde sie losgelassen und nach Luft schnappend sagte sie, affektiert freundlich: „Regina, was führt dich denn hierher?“ „Ach, meine Liebe, ich wollte dich fragen, ob du mit mir in die Stadt kommst, einen Kaffee trinken und ein wenig bummeln. Aber wie ich sehe, wolltest du das ja eh gerade, also schließe ich mich dir einfach an.“ Kim wollte gerade widersprechen, da hatte die korpulente, rothaarige Frau sie schon unter ihre Fittiche genommen und mit sich geschleppt. Auf halbem Weg konnte Kim den Wortschwall Reginas übertönen und rief: „Regina, eigentlich wollte ich in die Kirche.“ „Ach papperlapapp. In die Kirche, was will eine junge hübsche Frau wie du in der Kirche? Der Pfarrer wird dich sicher nicht befriedigen, dieser keusche Pfaffe da. In den Hafen, da musst du hingehen, die besorgen es dir richtig meine Liebe, ich sage dir, einmal, da hat mein Herbert es wieder nicht geschafft…“ Und so begann erneut ein Wortschwall auf Kim hernieder zu prasseln und sie überlegte fieberhaft, wie sie Regina loswerden konnte. Am Besten würde es sein, wenn sie Jon einen kurzen auffordernden Blick zuwarf und dann in die Kirche ging. Vielleicht würde Regina mit hinein gehen, aber nicht lange, schließlich war sie doch eine heißblütige Rednerin und in der Kirche sprach man nicht, man betete und das tat man im Stillen. Jon konnte sie schon von weitem sehen, am Seiteneingang der Kirche lehnend, die Arme vor der Brust verschränkt, eine Zigarette rauchend. Sie musterte ihn und lächelte anscheinend leicht, denn Regina rempelte sie an und fragte: „Na? Gefällt dir der Kerl, der da an der Kirche lehnt? Den hab ich auch mal im Hafen gesehen, ist glaube ich sogar Captain. Ich wollte mich ihm auch schon vorstellen, aber er hat abrupt abgelehnt und gemeint, er bräuchte im Moment keine Frau. Aber weißt du, was ich glaube? Ich glaube, er hat sich in die hübsche Dirne unten im Hafen verliebt und das über beide Ohren. Jeder Seemann will sie mindestens einmal haben, was für mich völlig unverständlich ist, bei dem dürren blonden Klappergestell. Oder was meinst du?“ „Nein, ich verstehe es auch nicht. Aber ich habe den Mann nicht angeschaut, ich wollte nur sehen, ob es in der Kirche voll ist.“, versuchte sie sich rauszureden. Doch Regina durchschaute es sofort und wollte gerade wieder beginnen, zu reden, da legte Kim den Finger an die Lippen, da sie in dem Moment die Kirche betreten hatten. Nun geschah alles, wie Kim es geplant hatte und als Regina die Kirche schnaufend verließ, weil sie sich von Kim hintergangen fühlte, da wartete diese noch einige Minuten und bedeutete Jon, der ihnen nachgegangen war, ihr unauffällig zu folgen. So schlenderte sie, sich nicht umdrehend, durch die Straßen, bis sie an ein abgelegenes Cafe kam, in das sie gingen und sich an einen Tisch in der hintersten Ecke, neben einem kleinen Fenster setzten. Etwas unbehaglich schaute Jon sich um und fragte angespannt: „Wer war die Frau? Und warum hast du sie mitgenommen?“ „Sie ist eine Freundin, aber ich wollte sie gar nicht mitnehmen, sie hat mich bei mir zu Hause überrascht und wollte dann unbedingt mit. Ich hatte gehofft sie in der Kirche loszuwerden, da sie eine, sagen wir, leidenschaftliche Rednerin ist.“ „Ja, ich habe es gehört, schon über den halben Marktplatz konnte ich hören, was sie über mich und die kleine Marie im Hafen erzählt hat.“, lachte er. Etwas verdutzt fragte Kim: „Wer ist denn Marie?“ „Marie ist das blonde Allermannsliebchen, über das sie sich so ausgelassen hat. Jedoch ist sie nicht so schlimm und auch längst nicht so begehrt. Aber begehrter zu sein als deine Freundin ist auch nicht schwer…“ „Na du musst es ja wissen. Einen Blueberry.“, sagte sie, als die Kellnerin kam. Jon bestellte sich lediglich einen Rum und fragte lächelnd: „Trinkst du immer noch das Zeug?“ „Natürlich, ich finde ja, es schmeckt gut.“, antwortete sie affektiert beleidigt. Dann fragte sie allerdings ernsthaft: „Aber jetzt sag mir, warum du mich treffen wolltest? Wenn ich mich recht entsinne, dann steht doch heute euer Coup an, oder?“ „Ach, verschieben wir das Geschäftliche doch auf etwas später und lachen noch ein wenig, heute Abend wird es für uns hart. Was hat dein Gatte gestern eigentlich noch gesagt?“ Schlagartig klarte sich Kims Miene auf und sie grinste: „Er hat dich für verrückt erklärt.“ Schallend lachend entgegnete er: „Warum das denn? Nur weil ich seine Güter schützen will? An denen mir übrigens wirklich etwas liegt.“ „Ja, wenn sie in deinem Besitz sind, dann bedeuten sie etwas für dich.“ „Nicht doch weil ich sie mir stehlen will, sondern weil sie auch dir gehören und ich dir keinen Schaden antun will.“ „Na sehr lustig, heute Abend werdet ihr die Stadt überfallen und mein Haus nicht verschonen. Da kannst du mir ja schlecht keinen Schaden zufügen.“ „Aber ich will dein Haus doch auslassen.“ „Du willst was?“, fuhr sie ihn an, während sie aufsprang und die Handflächen auf den Tisch knallte. Verdutzt dreinschauend fragte er: „Nicht?“ Und sie antwortete, beinahe schon hysterisch quiekend: „Nein, um Gottes Willen!“ „Und warum nicht? Willst du etwa, dass meine Männer bei euch einbrechen, deinen Mann niederschlagen oder gar töten, all euer Hab und Gut mitnehmen und dich vielleicht auch noch schänden? Willst du das?“ „Nein, das nicht, aber ich will noch hier leben bleiben.“, erläuterte sie nun etwas ruhiger und setzte sich wieder, die Blicke, die sie auf sich gezogen hatte ignorierend. „Wie meinst du das?“, fragte Jon verständnislos. Nun erklärte ihm Kim geduldig, als spräche sie mit einem kleinen Kind und nicht einem 30-jährigen Mann: „Also, stell dir vor, deine Männer zerstören dieses schöne Städtchen, töten die Männer, missbrauchen die Frauen und lassen dabei unser Haus aus. Was würdest du da wohl denken, wenn du hier leben würdest, all dein Eigen wäre zerstört und nur ein Haus stünde unbeschädigt am Hügel. Genau, die steckten mit den Piraten unter einer Decke. Von daher dürfen deine Piraten sich auch bei unserem Haus nicht zurückhalten, so angenehm es in dem Augenblick auch zu sein scheint.“ „Hm. Da hast du wohl Recht, Kim. Also gut, ich werde meinen Männern den Befehl geben, keine Ausnahmen zu machen.“ Bei diesen Worten musste Kim schlucken, wenn sie daran dachte, was ihr diesen Abend bevorstand. Doch sie ließ sich sonst nichts anmerken, da sie nicht wollte, dass Jon dachte, sie fürchtete sich und fragte mit fester Stimme: „Und warum wolltest du dich mit mir treffen? Du hättest doch sicher etwas Besseres zu tun, als dich am Tag des Überfalls mit mir zu treffen.“ Kaum hatte sie die Frage formuliert, da kam die Bedienung wieder und brachte Jon seinen Rum und Kim ihren Blueberry. Sie bedankten sich und Kim sah Jon wieder fragend an, als die Frau wieder gegangen war. Doch er druckste nur ungeschickt herum und trank dann sein Glas in einem Zug, als wollte er sich Mut antrinken. Seine Finger spielten an dem leeren Glas herum und er vermied den direkten Blickkontakt zu Kim, was diese stutzig machte, doch sie wollte ihre Frage nicht wiederholen und schließlich sagte Jon, flüsterte fast: „Nun, ich brauche deine Hilfe.“ Erst musterte Kim ihn ungläubig, dann brach sie in schallendes Gelächter aus und schaffte es nur schwer, ihre Stimme leise zu halten: „Nein! Der tapfere, große Pirat und Herzensbrecher Jonathan Genitson braucht meine Hilfe!“ Kaum hatte sie seinen vollen Namen ausgesprochen, sah er auf und durchbohrte sie förmlich mit einem eiskalten Blick. Ihr Lachen verstummte prompt und sie fühlte sich mehr und mehr unwohl in ihrer Haut. Dann knurrte er: „Nenn mich nie wieder Jonathan, du weißt, was ich damals mit Maury angestellt habe.“ Bei diesen Worten musste Kim schwer schlucken und fasste sich unbehaglich an den Hals. Im nächsten Moment jedoch lächelte Jon wieder und fragte: „Also, hilfst du mir jetzt?“ Kim erschrak vor ihm. Von einem Augenblick zum nächsten konnte sich seine Stimmung schlagartig ändern, ohne jede Vorwarnung. Mit einem flauen Gefühl im Magen antwortete sie lächelnd mit einer Gegenfrage: „Wobei denn?“ „Ich“, begann er zu erklären „werde heute nicht in der Stadt agieren. Sondern draußen an der Festung.“ „Was willst du denn am Gefängnis?“, fragte Kim verständnislos. „Scht, lass mich doch ausreden, Kim. Also, ich werde heute Abend zum Gefängnis gehen und dort einbrechen, denn ich weiß von einer sicheren Quelle, dass es dort mehr als genug zu holen gibt.“ „Und wozu brauchst du mich dabei, Jon?“ „Du, meine liebe Kim bist lebensnotwendig, schließlich kann ich nicht jedem aus meiner Mannschaft davon erzählen, denn sie würden sich an keine Regeln oder Pläne halten, einfach drauf los stürmen und am Ende jämmerlich sterben. Nein, Ich habe nur Philipe und Terry etwas davon erzählt und so soll es auch bleiben. Denn heute Abend, wenn meine Mannschaft die Stadt in Trümmer legt, dann werden wir hoch zum Gefängnis schleichen. Und da kommst du ins Spiel, Kim. Du wirst die Wächter ablenken, so dass wir unbemerkt hinein können und auch wieder ungesehen mit dem Gold hinaus können.“ Sie schüttelte ihren Kopf, als hätte sie sich nur eingebildet, was er da gesagt hatte und trank etwas ihres Getränkes, als hätte er es nicht gesagt. Doch dann, als ihr bewusst wurde, dass das sein Ernst gewesen war, fragte sie, ihn belächelnd: „Und wie soll ich das bitte anstellen?“ „Und wie soll ich das bitte anstellen?“, äffte Jon sie gehässig nach, wahrscheinlich aus Rache, dass sie ihn belächelt hatte und sagte dann, in anzüglichem Ton: „Benutz deinen Charme, Schatz, deine Intelligenz, Liebes, deine Überlegenheit, den niederen Instinkten des Mannes gegenüber, meine Liebe und nicht zuletzt, mache dir die männliche Sucht nach Alkohol zu Nutze, Kim. Du kannst mir doch nicht erzählen, dass du in sechs Jährchen verlernt hast, eine Vollblut-Piratin zu sein. Früher, da hättest du nicht gefragt, sondern gehandelt.“ „Du hast dich verändert, Jon, du bist boshaft geworden, oder versuchst zumindest, es zu sein.“ Sie sagte es ihm ins Geicht, wie es ihr in den Sinn gekommen war und sie fragte: „Warum?“ Schlicht und einfach. Doch er schien es zu verstehen und sah beschämt zu Boden. Schließlich schaute er wieder auf und ihr in die Augen. Und nun konnte sie seine wahren Gefühle darin lesen. Nun hatte er es aufgegeben, zu versuchen, sein Herz vor ihr zu verschließen, seine Gefühle verstecken zu wollen. Sie fand doch immer die Wahrheit heraus. So fragte sie: „Was ist mit dir?“ Immer wieder schweifte sein Blick ab, doch er versuchte ihr fest in die Augen zu schauen und antwortete: „Du willst die Wahrheit hören.“ Er sprach es nicht als Frage aus, sondern wie eine Feststellung und Kim nickte dennoch. Seine Finger hatten wieder begonnen unruhig mit dem Glas zu spielen, aber er stellte es geräuschvoll auf den Tisch und sagte leise, mit gebrochener Stimme, wie sie sie zuvor nicht oft an ihm gehört hatte: „Ich bin traurig. Und ich schäme mich. Ich schäme mich, dich in diese Sache mit hineinzuziehen und das nur aus reinem Eigennutz zu tun. Ich bringe dich in Gefahr, nur um noch einmal so ein Gefühl des Abenteuers zu erleben, wie früher. Und ich bin traurig, dich heute das letzte Mal in meinem Leben sehen, hören, riechen und berühren zu dürfen. Wenn wir heute Nacht ablegen, ist es wie die sechs Jahre zuvor. Du wirst wieder tot sein und ich genauso. Seit dem Schiffbruch, seit dem Sturm war mein Herz wie tot. Mein Leben kümmerte mich nicht mehr, es kümmerte mich nicht, ob ich am Leben war oder starb, es kümmerte mich nicht, ob Freunde um mich herum kamen oder gingen. Ich war leer. Eine Hülle ohne Geist. Und ich habe Angst, es wird wieder genauso werden, wenn ich heute Nacht mit der Miloké den Hafen verlasse und die Flammen der Stadt am Horizont verschwinden sehe.“ Dies erschütterte Kim. Alles war Jon so nahe gegangen und sie hatte hier gelebt und sich wieder eine heile Welt aufgebaut. Sie begann sich zu schämen. Dennoch ergriff sie über den Tisch hinweg Jons Hand und streichelte sie sanft. Dann sagte sie, mit ebenso sanfter wie leiser Stimme: „Ach, Jon. Ich werde dir heute Abend helfen. Und sei die Gefahr noch so groß, wenigstens einmal noch will ich ein Abenteuer in meinem Leben erleben, bevor ich mich vollkommen dem Hausfrauendasein hingebe und auch Mutter werde. Wann wollen wir uns treffen?“ Sie konnte seine Augen aufleuchten sehen und seine Hand umfasste die Ihre und drückte sie fest, während er auch noch nach der anderen griff. Dann sagte er: „Wenn es halb neun schlägt sollst du da sein und dein Werk beginnen. Aber pass auf, dass die Männer keinen Verdacht schöpfen, denn sie sind sehr spitzfindig. Das fand ich schon bei meinem ersten Besuch des Gefängnisses heraus. Also stell dich geschickt an.“ Sie nickte lächelnd und rollte mit den Augen. „Also alles habe ich dann doch nicht vergessen.“ Daraufhin lachten sie und Kim trank ihr Glas aus, ließ sich von Jon einladen und machte sich dann auf den Weg nach Hause, um sich einen Plan auszudenken. Sie ging schon bevor Emilio nach Hause kam und nahm sich Mathilde mit. Diese hatte sich ein Kleid von Kim anziehen müssen und trug einige Flaschen Rum versteckt in ihrer Tasche, genau wie Kim. Sie hatte sich schon genau überlegt, wie sie es anstellen wollte und ging so, pfeifend und mit Mathilde scherzend ihres Weges, während die Sonne blutrot im Meer versank. Als sie an der Festung ankamen, blickte Kim beeindruckt an den hohen Mauern hinauf und zögerte einen Augenblick, sich überlegend, ob sie ihr Vorhaben wirklich in die Tat umsetzen wollte. Doch dann sah sie noch einmal Jons Augen vor sich und ging entschlossen hinein. Die Wachmänner musterten die Beiden skeptisch, bis schließlich ein großer blonder nach vorne trat. Er zog seine Hose an deren Bund hoch und hakte seine Daumen in den Gürtelschlaufen ein, so dass seine Arme locker an den Seiten seines Oberkörpers herunterhingen. Augenscheinlich hatte er die Brust geschwellt und die breiten Schultern zurück gestreckt. Schließlich, als er sie von oben bis unten mit lüsternen Blicken bedeckt hatte, fragte er: „So, die Damen? Was wünscht Ihr?“ Kim war keinen Millimeter zurückgewichen, sondern hatte ihrerseits auch die Brust geschwellt und sich ein wenig auf die Zehenspitzen gestellt, dann sagte sie: „Wir möchten meinen Neffen, Peter Brown, besuchen“ Sie hatte irgendwen mal sagen hören, dass der arme Peter Brown völlig unschuldig hinter Gittern saß und so verwendete sie nun seinen Namen völlig skrupellos. Eine Augenbraue hebend, fragte der Blonde: „Und was wollt Ihr von Peter Brown?“ „Ich möchte ihm seine Verlobte vorstellen.“, sagte sie und schubste Mathilde ein wenig nach vorne. Diese knickste gekonnt und hauchte mit Engelsstimme: „Sehr erfreut.“ Nun musterte der Mann Mathilde und fragte dann ungläubig: „Der 50-jährige Peter Brown hat eine verlobte, die noch nicht knapp zwanzig ist? Verehrteste, bei allem Respekt, niemand würde seine Tochter einem solch senilen Sack zur Frau geben. Was wollt Ihr wirklich hier?“ Verdammt, er war ihnen auf die Schliche gekommen. Hätte sie sich doch besser über diesen Herrn Brown informiert. Doch jetzt war es zu spät und sie stand rumdrucksend vor dem blonden Wärter, dessen beiden Kollegen schon das Tuscheln und Lachen begannen. Endlich fragte dieser: „Dürfte ich wohl mal einen Blick in Eure Taschen werfen, meine Damen?“ Blitzschnell hatte Kim einen neuen Plan gefasst und seufzte theatralisch: „Ach, Herr Wachtmeister, nun habt Ihr uns doch ertappt. Wir haben Rum mitgenommen, damit Mathildes Väterchen sich nicht so quälen muss. Aber jetzt ist alles aufgeflogen. Bitte erbarmt Euch und lasst uns laufen, Herr Wachtmeister.“ Sie hatte seine Autorität ungemein hochgespielt, ein gewöhnlicher Wärter hätte sie niemals festnehmen dürfen, nur weil sie Rum mit ins Gefängnis nahmen. Doch ihr Plan ging voll auf. Der Wärter fühlte sich so geschmeichelt, dass er grinste: „Gut, dann will ich mal ein Auge zudrücken, aber nur, wenn ihr zwei Hübschen auf ein Gläschen hier bleibt.“ Er war voll in ihre Falle getappt. Er nahm sich ihre Tasche, holte eine der Rumflaschen daraus, drehte sich zu seinen Kollegen um und rief: „Männer, heute Abend geht es rund. Ronaldo, hol fünf Gläser!“ Und Ronaldo und der andere grölten auf. Schon nach dem ersten Glas merkte Kim, dass sie sich zurückhalten musste, sie vertrug nicht mehr so viel wie früher. Sie vertrug sowieso fast nichts mehr. Zum Glück hatten sie und Mathilde noch etwas gegessen, bevor sie aufgebrochen waren, ansonsten wäre Kim schon jetzt gut angeheitert gewesen. Die Wärter konnten gar nicht genug von dem Rum bekommen und auch Mathilde trank ordentlich mit, was Kim allerdings Sorgen machte, da sie den Rum nicht langsam trank, sondern gleich hinunterstürzte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr und erkannte, dass es wohl gleich neun schlagen würde. Jon hatte ihr gesagt, dass sie um halb zehn kämen. Doch ein weiterer Blick auf die Wärter verriet ihr, dass sie noch einige Zeit brauchen würde, um die Männer betrunken zu machen. Mathilde hingegen kicherte schon dämlich und war auch leicht rötlich um die Nasenspitze. In diesem Moment legte der blonde Wärter, der vorhin schon mit ihnen gesprochen hatte, er hieß Eric, seinen Arm um ihre Schultern, füllte ihr Glas wieder auf, führte es an ihren Mund und sagte leise, so dass nur sie es verstehen konnte: „Trink doch noch etwas, Chèrie.“ Sie jedoch befreite sich des lästigen, schweren Armes auf ihren Schultern, stellte das Glas zurück auf den Tisch und sagte: „Oh, wisst Ihr, mir ist schon etwas flau im Magen und ich würde gerne noch nüchtern zu meinem Mann zurück nach Hause kommen.“ Eric grölte auf und rief höhnisch lachend: „Dein Mann! Ma Chère, vergiss deinen Mann doch heute Nacht und nimm auch endlich diesen hässlichen Ring von deinem Finger!“ Als sie jedoch keine Anstalten machte, den Ring abzunehmen, da griff er unsanft nach ihrer Hand und zog ihr grob den Ring davon. Dann steckte er den Ring in die Tasche und grinste gehässig: „Nun, ma chère, was erinnert dich jetzt noch an deinen Mann?“ Drohend zischte sie: „Gib mir meinen Ring wieder!“ Doch er grinste noch boshafter: „Und was, wenn nicht?“ „Dann werde ich ihn mir selbst zurückholen.“ Und prompt griff sie in seine Hosentasche, doch sie fand den Ring nicht darin. Eric sah sie herablassend grinsend an und hauchte in ihr Ohr: „Du musst in der anderen Tasche suchen, Chèrie.“ Nun griff sie über ihn hinweg und in seine andere Tasche und kaum hatte sie ihren Ring hinausgezogen und sah in sein Gesicht, da widerte er sie noch mehr an als zuvor. Er belächelte sie herablassend und hatte es anscheinend genossen, dass sie in seinen Taschen gewühlt hatte. Nun wurde ihr schlagartig bewusst, was sie davor schon vermutet hatte. Er sah sie nicht als Subjekt, sondern als Objekt an. Hätte sie es Jon nicht versprochen, wäre sie aufgesprungen und hinaus gelaufen, zurück zu ihrem Emilio. Doch da sie ihr Wort gegeben hatte, blieb sie sitzen und ließ die Anspielungen über sich ergehen. Mit Argwohn beobachtete sie Mathilde, die anscheinend Gefallen an dem dritten Wärter, Pedro, gefunden hatte und er sich ihr nicht verweigerte, trotz seines Rings am rechten Ringfinger. Es schüttelte sie. War sie denn die einzige in diesem verdammten Kaff, die wusste, was Treue bedeutete? So verging die nächste halbe Stunde und irgendwann fragte Eric sie leise: „Kommst du mit mir hinaus? Ich würde gerne eine Zigarette rauchen.“ Sich selbst widerstrebend stand sie auf und folgte ihm hinaus, in die kalte und dunkle Nacht. Er setzte sich auf eine Bank und zog sie zu sich. Gemächlich, beinahe andächtig zog er eine Zigarette aus seiner Packung, zündete sie sich an und fragte Kim: „Auch eine?“ Doch sie verneinte, dass sie nicht rauche. Er zuckte mit den Schultern und steckte das Päckchen wieder zurück in seine Tasche. Kim wunderte sich; warum hatte er denn nicht drinnen geraucht? Die anderen beiden hatten sich doch auch drinnen ihre Zigaretten angesteckt. Aber nun erkannte sie seine Absicht. Er legte erst seinen Arm um sie und zog sie nahe an sich. Als sie verwirrt in sein Gesicht schaute, streichelte er ihr, mehr oder weniger sanft über die Wange. Als sie erschrocken zurückweichen wollte, hielt er sie fest, schnippte seine halb gerauchte Zigarette weg und küsste sie. Im ersten Moment war ihr noch nicht klar, was da geschah, doch dann riss sie sich los und ohrfeigte ihn kräftig, bis sie zitternd, vor Kälte und Scham, fragte: „Was macht Ihr denn, Eric?“ Er jedoch lehnte sich nur zurück und sagte: „Warum bist du denn noch so höflich? Ich weiß doch, worauf du es abgesehen hast.“ Mit vor Zorn bebender Stimme zischte sie: „Auf was denn?“ „Du wolltest zu mir, ma Chère, erzähl mir doch nichts. Peter Brown ist nun schon seit einer Woche auf freiem Fuße, also leugne es nicht. Hab keine Angst, ich verrate es auch keinem.“ Nun platzte ihr endgültig der Kragen und sie schrie: „Es ist mir egal, ob du es jemandem erzählst, denn es wird nichts geschehen! Niemals mit einem solch arroganten, eingebildeten, selbstverliebten Flegel wie dir!“ Ihren Ausbruch ignorierend zog er sie erneut zu sich auf den Schoß und küsste sie wieder, doch diesmal konnte sie sich nicht so leicht befreien. Noch einmal versuchte sie ihn zu ohrfeigen, doch er fing ihre Hand ab und legte seine Finger zwischen die Ihren. Plötzlich hörte sie einen Schuss durch die sonst stille und friedliche Nacht gellen und im nächsten Moment lag Eric leblos in ihren Armen. Sie schmeckte Blut auf ihren Lippen und warmes Blut tropfte auf ihren Schoß. Dem Schuss folgte ein markerschütternder Schrei Kims und sie sprang auf, als läge dort der Leibhaftige in ihren Armen. Bibbernd wischte sie das Blut von ihren Lippen und spürte, wie das auf ihrem Schoß langsam erkaltete. Panisch sah sie sich um und konnte dort, in der Tür die nach draußen führte einen Mann stehen sehen. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, da er mit dem Rücken zum Licht stand, doch wusste sie, spürte gar, dass es Jon war. Aufgelöst stolperte sie auf ihn zu und barg ihr Gesicht an seiner Brust. Beruhigend streichelte er ihr über den Rücken und wischte die Tränen von ihrer Wange, die sie selbst nicht bemerkt hatte. Er legte seinen Arm um ihre Schultern, drückte sie an sich und führte sie mit sich hinein. Es war ein wohliges Gefühl bei ihm im Arm. Als sie drinnen im Licht standen, holte er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte ihr das restliche Blut von den Lippen. Sie sah sich um und konnte Mathilde, stockbesoffen an Terry lehnend, sehen. Die anderen beiden Wärter saßen leblos, den Kopf auf dem Tisch, daran und ihre Hemden waren rot vor Blut. Erschüttert drehte sie sich weg und sah in das lächelnde Gesicht Jons, der sie wieder an sich zog und ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gab. Und sie drehte flach atmend an ihrem Ring. Dann nahm Jon sie mit hinaus und sie konnte ihre Heimatstadt in Flammen sehen, darüber eine riesige, schwarze Rauchwolke, schwärzer als die Nacht selbst. Sie atmete tief durch und als sie durch die Gassen ging, neben Jon, der seinen Arm noch immer auf ihrer Schulter ruhen ließ, da bekam sie ein flaues Gefühl im Magen, was sie nicht auf den Alkohol schieben konnte. Alles erinnerte sie an damals vor fast neun Jahren, als Jon in ihre damalige Heimat eingedrungen war und sie mitgenommen hatte. Die Flammen, die schreienden Menschen, alles war wie damals, nur dass sie jetzt im Arm des Mannes ging, der all das verursacht hatte. Und auf einmal spürte sie das Entermesser, dass da in seiner Scheide an seinem Gürtel baumelte und ihr Bein streifte, stärker denn je. Plötzlich bekam sie auch vor ihm Angst und versuchte sich zu distanzieren, doch nun fragte er, das erste Mal, dass er diesen Abend sprach: „Was ist, Kim, geht es dir nicht gut?“ Sich an den Kopf fassend, schüttelte sie den Kopf und murmelte: „Nein. Nein, das ist es nicht. Es ist nur so merkwürdig, zum zweiten Mal in meinem Leben erlebe ich die andere Seite und es ist merkwürdig. Für keinen dieser Menschen verspüre ich Mitleid. Alle bekommen sie, was sie verdienen. Keiner hier weiß, was Treue bedeutet, sie erbauen sich ihr Leben aus Lug und Betrug. Warum sind es die Piraten, die Bösen, die ehrlich sind?“ Er streichelte ihr liebevoll durch die braunen Locken und sagte: „Ich weiß es nicht, aber diese Erfahrung habe auch ich schon gemacht, meine liebe Kim.“ Von da an schwiegen sie sich wieder an und gingen durch die brennenden Gassen zum Hafen. Dort wurde Kim noch einmal schmerzhaft bewusst, dass sie Jon wohl zum letzten Mal in ihrem Leben sehen würde und sie lächelte: „Also, das war’s. Terry, gib mir Mathilde, ich werde auf sie Acht geben. Jon, ich…“ Doch sie wurde von einem Jungen unterbrochen, der angerannt kam und aufgebracht brüllte: „Mathilde! Tildchen! Was habt ihr mit ihr angestellt? Lasst sie los, auf der Stelle!“ Entrüstet schaute Kim auf den Jungen, der nun keuchend vor ihnen stand und angsterfüllt auf sein „Tildchen“ schaute. Ruppig fragte sie: „Wer bist du Junge?“ Doch Mathilde löste sich von ihr und stolperte hicksend in die Arme des Jungens. Dabei lallte sie: „Rico, es ist okay, mir geht es gut. Ach, Ricardo, mein Schatz, ich liebe dich.“ Sie glücklich in die Arme schließend flüsterte er: „Ich liebe dich auch, mein Tildchen.“ Dann sagte er, in militärischem Ton: „Captain, die Güter sind auf dem Schiff und die Mannschaft ist bereit!“ Doch kaum hatte er das gesagt, da hörten sie erneut Rufe eines Mannes und er rief Kims Namen. Kurz darauf kam Emilio zum Vorschein, stark am Kopf blutend und brüllte: „Kim, komm weg von denen, das sind Piraten!“ Erschrocken tat sie tatsächlich einen Schritt zurück und starrte auf Emilio, der, nach Atem ringend, vor ihr zum Stehen kam, einen Säbel zückte und ihn auf Jon richtete. Dann brüllte er: „Lasst eure Finger von meiner Frau!“ Doch Kim schob ihn beiseite, ging auf Jon zu, umarmte ihn traurig, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte bekümmert lächelnd: „Gehab dich wohl, Jon Genitson, Kapitän der Miloké. Ich werde dich niemals mehr vergessen.“ Noch einmal fuhr Jon ihr durch die Haare und flüsterte liebevoll: „Willst du nicht doch mit uns kommen?“ Doch sie schüttelte den Kopf, nahm Mathilde aus Ricos Armen und stellte sich zu dem verdutzt dreinblickenden Emilio. Damit drehte Jon sich um, ging auf sein Schiff, gefolgt von den beiden Männern, die eine schwere Truhe schleppten und dem Jungen. Sie hörte ihn rufen: „Leinen losmachen und Segel setzen!“ Dann drehte er sich noch einmal zu ihr um und sagte: „Ich hätte gewünscht, wir hätten uns unter anderen Umständen wieder gesehen. Kim, du bist die tollkühnste und tollste Frau, die ich je gekannt habe und ich bin stolz darauf. Also, leb wohl und bleibe deinem Mann treu.“ Dort stand er, an Deck des Schiffes, das sich langsam aber sicher von ihr fort bewegte. Eine Träne rann über ihre Wange und fiel zu Boden. Mathilde schaute von Jon zu Kim und wieder zurück und begann dümmlich zu kichern, doch Kim brachte sie mit einem gezielten Schlag auf den Hinterkopf zum Schweigen. Nun konnte sie auch Terry, Garret, Laffite und Ricardo sehen, die am Bug des Schiffes standen und winkten. Und ohne zu wissen, was sie da tat, fasste sie einen Entschluss. Sie küsste Emilio auf die Wange, flüsterte: „Es war schön mit dir.“ Und sprang dann ins Wasser, um der Miloké nachzuschwimmen. Als sie das Schiff fast erreicht hatte, wurde eine Strickleiter an der Seite herabgelassen und sie kletterte schwerfällig daran hinauf. Als sie auf Deck stand, lief Jon auf sie zu, zog sie an sich und drückte sie so fest, dass sie fürchtete, zu ersticken. Leise sagte er: „Willkommen zurück, Kimberley Merrylson.“ Und sie fühlte sich wie früher - frei. Doch sie löste sich von Jon, ging zum Bug des Schiffes und schaute der Stadt dabei zu, wie sie hinter dem Horizont verschwand. Und schließlich hatte dieser auch die riesige dunkle Rauchwolke verschluckt und sie sah nichts mehr außer dem Horizont und abertausenden von Sternen. Sie hatte nicht bemerkt, wie Jon sich neben sie gestellt hatte und schrak etwas zusammen, als er sagte: „Kim, dieses Schiff ist etwas anders als die Vengeance.“ Verwundert sah sie zu ihm auf und fragte: „Inwiefern?“ „Am Besten zeige ich es dir.“ Damit führte er sie unter Deck und dort sah sie keine Kabinen, sondern einen großen Raum, in dem Hängematten aufgespannt waren. Verdutzt sah sie wieder zu Jon und fragte: „Und hier soll ich mit der Mannschaft schlafen? Sind sie denn… vertrauenswürdig?“ „Nun, fürs erste würde ich dir raten, in meiner Kajüte zu schlafen und wenn du die Crew dann kennst, kannst du dich hier einnisten“, antwortete er lächelnd. Kim jedoch wusste nicht wirklich, was sie davon halten sollte. Jetzt war es aber zu spät, um ihre Entscheidung zu ändern und so nickte sie schließlich und ging wieder mit ihm hinauf an Deck, wo die besoffenen Piraten ein Lied angestimmt hatten, das Kim zum ersten Mal hörte. „Jon Genitson so wird er genannt Der Captain, dem wir untergetan Als Raufbold ist er nicht verkannt Auf See wie auf Land als Denker bekannt Wir fürchten ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo! Weder den Teufel, noch den Tod Fürchten wir, wenn’s Schlachtfeld tobt Auch wenn der Sturm um die Ohren uns braust Und Wellen so hoch sind wie ein ganzes Haus Wir sehen ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo! Schwarz uns’re Herzen, groß uns’re Gier Nach Schätzen, Frauen und Humpen voll Bier Richtig lustig wird es dann mit Rum Da geht an Bord die Zeit schnell um Wir fürchten ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo! Sollte der Teufel es nur wagen Einen von uns in die Hölle zu tragen So wird die Hölle aufgemischt Wie dort auf den Wellen die Gischt Wir sehen ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo! Das Gewissen ertränkt man mit ner Pulle voll Rum Dann ist nur noch das Maul nicht stumm Edelmänner hängt man auf mit einem Lachen Ihre Frauen nutzen wir zu vielerlei Sachen Wir fürchten ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo! Sterben wollen wir auf Seeräuberart Ertrinken im Meer oder im Blutbad Unser Sarg wird die Miloké sein Im Angesicht des Todes werden wir noch nicht klein Noch fühl’n wir ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo!“ Lächelnd sagte sie an Jon gewandt: „Deine Crew scheint ja mächtig was auf dich zu halten.“ Sich affektiert arrogant durch die Haare streichend entgegnete er: „Und das nicht zu Unrecht.“ Lachend zwickte sie ihn in die Seite und sagte: „Eingebildet wie eh und je, ein feiner Captain bist du mir!“ So verging der Abend, oder die Nacht, und irgendwann um zwei oder halb drei, Kim wusste es nicht so genau, da ging sie in die Kapitänskajüte um sich schlafen zu legen. Wo sollte sie sich aber hinlegen? Jon hatte nur ein Bett. Doch sie beschloss, dass er sich auch auf dem Sessel schlafen legen konnte, wenn es ihm nicht passte. So ging sie an seine Truhe, zog eines seiner Hemden heraus, zog sich selbst bis auf das Höschen aus und streifte es sich über. Gerade hatte sie den letzten Knopf zugemacht, da streckte Philipe seinen Kopf durch die Tür und rief: „Captain? Bist du da?“ Als er sie jedoch sah, musterte er sie geringschätzig und fragte: „Was willst du denn hier? Bezahlung, dass du hier bleiben darfst, oder was?“ Empört öffnete Kim den Mund um etwas zu erwidern, da sprach der Mann schon weiter: „Auch egal. Dann sag mir wenigstens, wo der Captain ist. Seine persönliche Mätresse müsste so etwas doch eigentlich wissen.“ Seine persönliche Mätresse? Zornig stemmte Kim die Hände in die Hüften und kam langsam auf ihn zu. Er stand breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, im Türrahmen und schaute sie herausfordernd an. Schließlich stupste sie mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust und zischte: „Sag das noch mal und du…“ „Was? Dass du seine persönliche Mätresse bist? Das sieht man doch schon an deinem Aussehen“, unterbrach er sie barsch. Nun schubste Kim ihn nach hinten, so dass er einige Schritte zurück stolperte um nicht umzufallen. Sie ging weiter auf ihn zu und zischte: „Genau das! Jon und mich verbindet ein tiefes Band und ich kenne ihn länger und besser als du. Außerdem, selbst wenn es so wäre, dich geht es absolut nichts an, mit wem ich schlafe und mit wem nicht.“ Als sie so knapp bekleidet das Deck betreten hatte, war es schlagartig still geworden und aller Augen waren auf sie gerichtet. Dennoch fuhr sie fort, ihre Umgebung nicht beachtend: „Unterstelle mir nie wieder so etwas, oder es wird dich teuer zu stehen kommen, ich bin nicht zum ersten Mal auf einem Piratenschiff. Und glaube mir, ich habe schon gegen Gegner gekämpft, bei denen du heulend davon rennen und nach deiner Mutter rufen würdest.“ Sichtlich unbeeindruckt lachte er auf und sagte: „So? Und das soll mir jetzt… Angst machen? So ein Frauenzimmer wie du könnte es nie mit einem richtigen Mann aufnehmen. Also sei nicht so selbstgefällig, sondern suche lieber deinen Freier und mach deine Arbeit.“ Gerade wollte sie etwas erwidern, da hörte sie Terry hinter sich knurren: „Und wer soll bitte ihr Freier sein?“ Nun doch etwas verwirrt entgegnete Philipe: „Na der Captain.“ „Und an welchem Indiz kannst du das festmachen?“, hörte sie Garret fragen. „Na schaut euch doch nur mal ihre Kleider an! Außerdem schläft sie in der Kajüte des Kapitäns“, versuchte er, sich zu rechtfertigen, doch Laffite fiel ihm ins Wort: „Na und? Sie hat ein Hemd an, das trug sie schon damals immer beim Schlafen. Du trägst doch auch nichts außer deinen Boxershorts beim Schlafen. Und als Frau würde ich auch nicht gerne in diesem Raum voller Männer schlafen.“ „Aber…“, wollte Philipe gerade ansetzen, da sagte Jon ruhig: „Philipe, es reicht. Sie ist keine Mätresse, noch eine Hure oder sonst irgendwas oder hast du sie nur einmal im Hafen gesehen? Kim, zieh dir entweder etwas über oder leg dich in meine Kajüte schlafen. Und nimm dir Philipes Gerede nicht zu Herzen, er weiß es nicht besser.“ Sie ließ ihren Blick über Deck streifen und sah aller Augen auf sich gerichtet. Bis auf die des jungen Ricos, der traurig an der Reling saß und dessen Brust immer wieder ein Seufzer dehnte. Daraufhin drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand in Jons Kajüte. Dort legte sie sich in sein Bett und zog sich die Decke bis unters Kinn. Verzweifelt versuchte sie einzuschlafen, aber sie spürte erst jetzt, wie sehr sie doch an Emilio gehangen hatte. War es doch keine wahre Liebe mehr gewesen, es war Gewohnheit gewesen. Sie war es gewohnt, neben ihm einzuschlafen, war es gewohnt von ihm ein liebes Wort zur guten Nacht zu hören, war es gewohnt, dass er sich an sie kuschelte und nach kurzer Zeit zu schnarchen begann. Das alles würde sie doch auf eine gewisse Art und Weise vermissen und konnte sich kaum vorstellen, ohne das alles einzuschlafen. Doch irgendwann kam Jon auf leisen Sohlen hereingetapst. Er entledigte sich seiner Kleider und schlüpfte in Boxershorts hinter ihr unter die Decke. Anscheinend war er darauf bedacht, sie in keinster Weise zu berühren, doch Kim wollte nicht alles missen. So rutschte sie ein Stückchen nach hinten und kuschelte sich selbst an Jon. Dieser begriff halbwegs und legte seinen Arm um sie. Leise flüsterte er: „Der Schmerz um die Trennung wird bald vergangen sein, Kim, keine Sorge.“ Damit schloss sie ihre Augen und versuchte erneut einzuschlafen, doch bei Jon war es ganz anders als bei Emilio. Emilio begann zu schnarchen, Jon nicht. Emilio hatte sie immer fest an sich gedrückt, Jon nicht. Aber irgendwann schlief sie dann doch ein und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Als sie am nächsten Morgen erwachte, fand sie sich allein im Bett wieder. Erst wusste sie nicht, wo sie war, doch schon nach einigen Sekunden erinnerte sie sich wieder daran, was am Vorabend geschehen war. Langsam stand sie auf und schaute sich wieder in Jons Kajüte um. Sie war nicht einmal halb so groß wie ihr Schlafzimmer - ihr ehemaliges Schlafzimmer. Und wieder vermisste sie die Zärtlichkeit eines Guten-Morgen-Kusses Emilios. Bedächtig zog sie sich an und trat hinaus in das blendende, gleißende Sonnenlicht. Dort sah sie, wie die Piraten putzmunter auf Deck umherwuselten und ihrer Arbeit nachgingen. Anscheinend hatten sie gerade ein Manöver durchgeführt, denn an den Schoten stand jeweils ein Mann, der das dazugehörige Seil aufschoss. Sie sah hinauf in den Himmel. Die Segel waren prall gefüllt und auch ihr zerzauste der Wind die Haare. Doch auf einmal band ihr jemand ein Tuch um den Kopf und lachte: „Ich weiß wohl, warum ich keine solchen langen Haare habe und vor einem Sonnenstich können sie dich auch nicht retten.“ Sie hatte die Stimme Garrets erkannt und antwortete: „Nun, aber was würdest du sagen, wenn ich mir die Haare so kurz schnitte wie du? Da leide ich lieber ein bisschen, als sie mir abzuschneiden.“ „Wer schön sein will muss leiden oder wie heißt es so schön? Soll ich mir die Haare vielleicht auch wachsen lassen?“ Freundschaftlich stupste sie ihn an und meinte lächelnd: „Mit meiner Schönheit könntest du nie konkurrieren. Nein, mit langen Haaren sähst du schrecklich aus, noch schrecklicher als jetzt.“ Da klopfte Garret ein anderer Pirat auf die Schulter, wohl 25 oder 26, lächelte und fragte: „Nun, Garret, willst du mir die charmante, junge Dame nicht vorstellen?“ In seiner Stimme schwang eine Ironie mit, die nur schwer überhörbar war. Kim musterte ihn geringschätzig. Er trug Jeans, deren Beine bis zu den Knien hochgekrempelt waren, seine Füße waren genauso nackt, wie sein zigeunerbrauner, muskulöser Oberkörper. Seinen schlanken, aber dennoch nicht gebrechlich wirkenden Hals bedeckte ein Halstuch und auch seine Haare, kurz und aschblond, wurden von einem Kopftuch fast völlig verdeckt. Dieses Tuch, es war dunkelblau, hatte er tief in die Stirn gezogen. Sein Gesicht wirkte sehr maskulin, eine herausstehende Nase, dünne Lippen, die sich zu einem hämischen Grinsen geöffnet hatten und so den Blick auf seine geraden, weißen Zähne freigaben und erkennen ließen, dass er eine freche Zahnlücke zwischen den oberen beiden Schneidezähnen hatte. Einzig seine Augen hatten etwas leicht Feminines. Sie waren groß und glänzten eisblau; ehrlich. Sie waren von langen dunklen Wimpern umrandet und auch seine hellen Augenbrauen waren nicht so buschig wie die Garrets. Er war insgesamt größer als Garret, so ungefähr einen halben Kopf, mutmaßte Kim, genau konnte sie es nicht sagen, da er lässig dastand, den einen Arm auf Garrets Schulter gelehnt, die andere Hand an der Gürtelschlaufe eingehakt. Garret stellte sie ihm als Kim vor und Kim hielt ihm auffordernd die Hand hin, dass er sie küsste. Dann sagte er: „Mein Name ist Diego. Es freut mich, dich kennen zu lernen, Kim. Aber sag, ich habe gestern deine Auseinandersetzung mit Philipe mitbekommen und ich muss sagen, auch ich dachte zuerst, was er dachte, also verrate mir, was machst du hier an Bord eines Schiffes voller Piraten?“ Unsicher begann sie zu drucksen, denn sie wusste es ja selbst nicht wirklich. Sie wusste nur, dass sie sich hier wohl fühlte. Hier, bei Jon und den anderen. Schließlich sagte sie: „Genau sagen kann ich es dir auch nicht, da ich selbst keinen Grund dafür finde. Alles was ich weiß, ist, dass ich mich hier zu Hause fühle. Ich wollte nicht länger bei diesen Menschen leben, die sich ihre Welt aus Lug und Trug erbauen und keinerlei Rücksicht auf ihre Mitmenschen nehmen. Und es geht mir so wie früher schon auf der Vengeance, hier ist mehr Heimat für mich, als ich es in den letzten fünf Jahren jemals erlebt habe.“ Stimmte das? War es wirklich ein so befreiendes Gefühl wie damals, an Bord des Schiffes zu sein? Aber warum sollte sie denn sonst hier sein? Hier bei Jon. Diego nickte ernst und fragte dann, genauso ernst: „Und hast du ein Verhältnis mit dem Captain?“ Erst sah sie ihm verdutzt in die Augen, nach irgendeinem Indiz suchend, dass er es nicht ernst gemeint hatte und lachte verlegen. Doch als sie nichts Ironisches feststellen konnte, da sagte sie, genauso ernst wie er, aber doch lächelnd: „Nein, ich hege kein Verhältnis zu Jon. Und da war auch noch nie eines.“ „Und willst du denn eines aufbauen?“, fragte Diego. Genervt antwortete Kim: „Nein, das will ich nicht und er gewiss auch nicht. Warum denken denn immer alle, ich hätte eine Liebschaft zu ihm?“ Nun meldete sich Garret wieder zu Wort und entgegnete unsicher: „Nun, es wirkt schon recht eindeutig, wenn du mit ihm sein Bett und seine Kajüte teilst.“ Sie warf Garret einen vorwurfsvollen Blick zu und fragte entgeistert: „Du glaubst das also auch, Garret?“ „Na ja, du hast einfach so deinen Mann verlassen und die letzten fünf Jahre weggeworfen und da ist das doch eigentlich der naheliegendste Punkt.“ Verächtlich schüttelte sie den Kopf und ging hinauf aufs Achterdeck, wo sie sich über die Reling beugte und leicht erzürnt den Horizont anstarrte. Nach einiger Zeit stellten sich dann Garret zu ihrer Linken und Diego zu ihrer Rechten Seite. Vorsichtig fragte Garret, fast wie ein Kind, das man getadelt hatte: „Bist du sauer?“ Ja. Sie wollte es ihm ins Gesicht sagen, ihn anbrüllen, wie sauer sie war, doch lächelte sie nur und schüttelte den Kopf. Innerlich kochend vernahm sie, wie er neben ihr aufatmete und es stieg eine Wut in ihren Bauch. Dann sagte Diego: „Wir wollten dir nichts unterstellen, ganz gewiss nicht, zumindest ich wollte nur ein bisschen Konversation führen.“ Konversation? Ihr etwas vorwerfen an das sie nicht einmal denken würde? Das nannte er einen Dialog? Er hatte ja keine Ahnung, wie sehr sie sich wünschte jetzt einfach neben Emilio aufgewacht zu sein und ihren gewöhnlichen Alltag vollkommen normal weiter zu leben. Doch sie erwiderte: „Ist schon gut, ich weiß ja, dass ihr es nicht so meint.“ Auf einmal erschrak sie vor sich selbst. Warum log sie? War sie geworden wie die Menschen aus der Stadt, in der sie nunmehr fünf Jahre gelebt hatte? Stumpfsinnig, kurzsichtig und unehrlich? Die ganze Zeit hatte sie gedacht, sie sei anders gewesen, doch sie war es anscheinend nach einiger Zeit leid geworden zu kämpfen und hatte sich der breiten Masse hingegeben. Es erschütterte sie, wie schwach ihr Kampfgeist gewesen war; und sie hatte es selbst nie bemerkt. Gerade setzte sie an, sich selbst zu widersprechen, da hörten sie die Hilferufe einer jungen Frau und das Lachen der Männer an Bord. Schnell eilten sie auf das Mitteldeck und konnten schon früh die Blonde Frau, oder eher das blonde Mädchen, erkennen. Kim, sich selbst vergessend, brüllte: „Was macht ihr denn mit ihr? Wer ist das überhaupt?“ Die Piraten achteten nicht auf sie und sie wollte noch einmal ansetzen, da sah sie, wie Jon aus seiner Kajüte kam und mit lauter und klarer Stimme fragte: „Was ist das hier für ein Lärm?“ Schlagartig wurde es still und durch den Ring Piraten um das Mädchen bildete sich eine Gasse, sodass Jon freie Sicht auf sie hatte. Er hob leicht die Augenbraue, kam auf sie zu und fragte: „Wer bist du und was hast du auf meinem Schiff zu suchen?“ Das Mädchen stockte und sagte: „Kennt Ihr mich denn nicht mehr, Patrick? Wir haben uns doch einmal unterhalten, im Hafen…“ Kaum hatte sie ihn Patrick genannt, begannen die Männer um sie herum zu lachen, doch sie schien nicht zu verstehen, warum. Jon überlegte angestrengt, woher er sie kannte, das konnte Kim auf Anhieb erkennen. Schließlich hob er seinen Arm, um den Piraten so Stille zu gebieten und er fragte: „Du bist Marie, nicht wahr?“ Sie nickte. Dann fuhr Jon fort: „Was willst du hier? Ist dir klar, dass wir Piraten sind?“ Wieder nickte sie, doch Jon fragte noch eindringlicher: „Was machst du also an Bord eines Piratenschiffes. Du bist eine Frau und hast hier nichts verloren.“ Nun wurde ihr Gesichtsausdruck trotzig und sie sagte: „Na und? Sie ist doch wohl auch eine Frau!“ Und ihr ausgestreckter Zeigefinger deutete auf Kim, die unwillkürlich zusammenzuckte, als sich die Piraten nach ihr umdrehten. Jon jedoch sagte ruhig: „Sie haben wir mitgenommen. Dich nicht.“ Auf einmal wurde es windstill. Es war gespenstig, alles schien still geworden zu sein, sogar die Wellen, die sich am Schiff brachen. Dann sagte Marie: „Ich wollte weg.“ Neuer Wind füllte die Segel prall und zerzauste Marie und Kim das Haar. „Wohin?“, fragte Jon. Und sie antwortete ihm starrköpfig: „Kann dir doch egal sein.“ „Gut, dann soll es mir egal sein.“ Sich ihm überlegen fühlend warf sie die Haare in den Nacken und wollte sich gerade umdrehen, da zogen sich Jons Mundwinkel nach oben und er grinste hinterlistig: „Dann soll es mir auch egal sein, wenn du über die Planke springst. Philipe, Terry, sie gehört euch.“ Ungläubig riss sie die Augen und den Mund auf und keuchte: „Was?“ „Du hast ganz richtig gehört, meine Liebe. Entweder du stehst mir Rede und Antwort oder ich ziehe Konsequenzen aus deinem Handeln. Entscheide dich.“ Kim erschrak vor seiner Härte. So kannte sie ihn nicht. So war er früher nicht gewesen. Anscheinend schien auch Marie das nicht erwartet zu haben, denn sie zögerte lange und schließlich sagte Jon: „Philipe, Terry, spielt ihr Statue oder warum missachtet ihr meinen Befehl, ich will sie nicht mehr sehen.“ Kim spürte, wie sich Terry an ihr vorbeiquetschte und sah, wie er, mit einem Messer in der Hand, auf Marie zuging und Philipe hinter Jon hervorgekommen war und auch auf das Mädchen zuging. Gerade wollten die Beiden sie wegschleppen, da rief sie: „Nein! Stopp, Wartet!“ Jon, der sich schon umgedreht hatte, wandte sich ihr noch einmal zu und fragte, während ein erleichtertes Lächeln seine Lippen umspielte: „Willst du nun doch reden?“ Terry und Philipe stoppten und Marie sagte: „Ja, Captain.“ „Dann komm mit in meine Kajüte.“ Als Terry und Philipe sie abgesetzt hatten, folgte sie ihm erhobenen Hauptes in seine Kajüte. Sie warteten lange, dass sie wieder herauskamen und es dämmerte schon, da sichteten sie ein fremdes Schiff. Nun reichte es den Piraten und sie schubsten Kim zu Jons Kajüte, dass sie ihn heraushole. Sie wollte ihn nicht stören, also drückte sie ganz sachte und vorsichtig die Türklinke herunter und spähte durch einen Spalt hinein. Was sie sah erschütterte sie, Jon und diese Marie standen da und küssten sich. Sie stieß die Luft aus und schloss die Tür wieder bedächtig, als sie sich umdrehte und Philipe und den anderen sagte: „Er ist gerade beschäftigt.“ Doch Philipe wollte sich damit nicht abfinden. Er stieß Kim zur Seite mit dem Wort: „Weiber!“ Und fuhr dann, als er hart gegen die Tür klopfte fort: „Ich weiß genau, warum sie eigentlich verboten sind, sie machen nichts als Ärger!“ Dann trat er ein, ohne eine Antwort zu erwarten und brüllte: „Captain, wir haben ein fremdes Schiff gesichtet, erwarten Befehle!“ Kim stand dicht hinter Philipe und konnte so erkennen, wie sich Jon überrascht von Marie löste und fragte: „Welche Nationalität?“ „Französisch, Captain!“, bellte Philipe die Antwort, ungeachtet der Tatsache, dass sein Captain gerade eine Frau geküsst hatte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Jon eilig an Deck und nahm Rico, der gerade Ausschau gehalten hatte, das Fernrohr aus der Hand. Als er sich das andere Schiff genau angesehen hatte, umspielte seine Lippen ein erfreutes Lächeln und er rief: „Hisst unseren Roger, Männer, das da vorne, dieses vermeintlich französische Schiff da, das ist kein geringeres als die Nuit. Und auf ihr natürlich Monsieur Noir. Nun spähte er wieder durch das Fernrohr und rief: „Und dort hinten, ungefähr zwei Seemeilen entfernt, da ist eine Insel. Lasst uns heute Nacht vor Anker gehen und mit unseren Genossen feiern!“ Die Piraten schienen von dieser Idee begeistert, nur Kim hielt sich dezent im Hintergrund und sagte nichts dazu, sondern verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete Jon misstrauisch. Die Crew der Nuit und dieser Monsieur Noir hatten anscheinend die gleiche Idee gehabt wie sie, denn auch sie hissten ihren Jolly Roger und steuerten auf die seichteren Gewässer zu. Als sie am Abend am Lagerfeuer saßen, mit Rum versorgt, da bestand Jon darauf, dass Kim ihm Gesellschaft leistete. Ständig wollte er den Arm um die Schulter legen, doch immer wieder lehnte sie dies entschieden ab. Zuweilen streifte ihr Blick Marie, die bei den anderen Piraten saß und mit ihnen lachte, sang und sprach. Wieso kam sie auf Anhieb so gut mit ihnen aus? Sie sah hübsch aus, schien nicht dumm, anscheinend auch lustig und freundlich. Sie war perfekt. Doch Kim wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Jon seinen Kopf an ihrer Schulter anlehnte und seine Hand nun auf ihren Oberschenkel legte. Erschüttert sprang sie auf und fragte ihn, so leise es in ihrer Hitzigkeit ging, damit sie ihn nicht bloßstellte: „Was hast du denn vor? Schon den ganzen Abend spüre ich, dass du dich anders verhältst, sonst warst du nie so anschmiegsam.“ Auch Jon erhob sich, kühl. Er zog sie am Arm etwas weiter weg von Monsieur Noir. Anscheinend wollte er nicht, dass er etwas von diesem Gespräch mitbekam. Als sie dem Schein des Feuers entzogen waren, da sagte er: „Sag doch nicht, du hättest etwas dagegen. Alles spricht dafür. Du hast uns geholfen deine Stadt zu überfallen, hast deinen Mann verlassen, nach einem Jahr der Ehe, wärst heute vor Eifersucht fast zersprungen als ich Marie küsste. Und wer hat sich letzte Nacht an mich geschmiegt, wie eine Katze?“ „Nein, nein, nein, Jon! Das ist nicht so! Du verstehst das alles falsch!“ Verständnislos schüttelte Jon den Kopf und fragte: „Warum denn? Nun tu doch nicht so, als empfändest du für mich nicht genauso wie ich für dich. So etwas beruht immer auf Gegenseitigkeit.“ „Nein, Jon. Diesmal nicht. Es tut mir Leid.“, sich sehr unwohl fühlend und fröstelnd sah sie zu Boden. Doch Jon ließ nicht locker. „Nun komm schon, schon seit damals, seit unserem Kuss in Brasilien, deinem Heimatland liebe ich dich. Ich habe es akzeptiert, dass du Leo liebtest, dass du Charles liebtest, diese anderen beiden Kerle. Aber jetzt liebst du niemanden, warum dann nicht mich? Der Kuss ging doch auch von dir aus und in deinen Träumen hast du immer geredet, du sagtest, du liebtest mich…“ „Das hat Alice dir eingeredet.“ „Du selbst hast es auch gesagt, an jenem Abend als wir uns im Mondschein küssten, du hattest dir den Knöchel verstaucht und warst am Strand eingeschlafen. Ich habe dich aufgelesen und huckepack zurück getragen, da hast du mir gesagt, du hättest in deiner Vision gesagt, du liebtest mich. Warum willst du es leugnen? Warum tust du das?“ „Bitte, Jon, ich möchte nicht, dass unsere Freundschaft unter so etwas leidet. Lass uns zurückgehen und dieses Gespräch vergessen, du hast schon einiges getrunken…“ „Nein!“, brüllte er auf einmal. „Warum tust du mir so etwas an? Freundschaft, pah! Darauf kann ich verzichten! Versteh doch, dass ich dich begehre, dich brauche, nicht als Freund, Kumpel, Kamerad. Sondern als Frau.“ Er streichelte ihr durch die Haare und blieb an einer Haarsträhne hängen. Kim konnte es nicht glauben. Sie sah auf und hoffte in seiner Mimik, in seiner Gestik zu erkennen, dass das ein schlechter Scherz war, doch als sie in seine Augen sah, stellte sie erschrocken fest, dass es sein Ernst war. Vorsichtig fragte sie: „Das ist dein Ernst? Kein Scherz, kein Witz?“ Anscheinend hatte sie ihn durch diese Aussage etwas verletzt und er antwortete: „Noch nie in meinem Leben war mir etwas ernster.“ „Jon, ich kann nicht, ich liebe dich nicht. Da ist kein Kribbeln im Bauch, wenn ich dich sehe, dich berühre, in einem Bett mit dir schlafe. Es tut mir so leid.“ „Warum machtest du mir dann solche Hoffnung?“ Sie schluckte schwer und er schien in ihren Augen eine Erklärung zu suchen, doch dann drehte er sich weg und ging wieder zu Monsieur Noir. Vollkommen verwirrt ließ sich Kim auf dem Boden nieder und sah in die Sterne. Was war denn eben gerade geschehen? Hatte Jon ihr tatsächlich seine Liebe gestanden? „Hey!“ Sie blickte auf zu der Person, die sie in ihren Gedanken störte und erkannte das blonde Mariechen. Kim lächelte affektiert und erwiderte ihren Gruß. Dann ließ sich Marie neben ihr nieder, nicht wirklich darauf bedacht, ihren Rock zu ordnen und fragte: „Was hat denn der Captain mit dir besprochen?“ „Nichts von Belang“, antwortete Kim knapp und Marie fragte weiter: „Wie findest du den Captain eigentlich? Ich finde ihn begehrlich, sinnlich. Hast du ihn schon einmal geküsst oder gar mit ihm geschlafen? Also ich…“ Mit aufgerissenen Augen starrte Kim Marie an und fragte: „Du hast mit ihm geschlafen?“ Marie kicherte leise und antwortete: „Ja, hab ich und ich muss sagen, er ist sehr zärtlich, nicht wie die Freier, die ich sonst hatte.“ „Und was machst du hier an Bord?“, fragte Kim ruppig. Ihr gefiel die Antwort, die Marie ihr gegeben hatte ganz und gar nicht. „Ich wollte weg. Diese Stadt mochte ich nie leiden. Mit meinem Beruf habe ich mich abgefunden, aber nicht mit diesem Ort. Also habe ich mich an Bord des Schiffes geschlichen und bin sozusagen als blinder Passagier mitgekommen.“, lächelte sie. Ihr Lächeln war durch und durch ehrlich, da war nichts Geheucheltes, nichts Falsches, so sehr Kim auch nach einem Fehler der Perfektion Maries suchte, sie fand ihn nicht. Und als sie nichts sagte, fragte Marie: „Und warum bist du hier an Bord? Was ist dein Beruf? Im Hafen habe ich dich nie gesehen.“ Gehässig antwortete sie: „Mein Mann hat für mich gearbeitet. Und im Hafen haben meine Diener und Sklaven für mich gearbeitet und eingekauft.“ Kurzzeitig verlor Marie ihr Lächeln und ihre perfekten Lippen verdeckten ihre makellosen Zähne. Ihre blauen Augen sahen Kim leicht erschüttert an und sie sagte: „Ich mag Sklavenarbeit nicht. Ich denke, Schwarze sind genauso Menschen wie du und ich.“ Am liebsten hätte Kim ihr ins Gesicht geschmettert: „Ich bin ein Mensch; du bist perfekt, Menschen sind nicht perfekt!“ Doch sie beherrschte sich und hörte Marie zu ende an: „Deshalb sind mir Piraten lieber als Reiche. Bei Piraten werden Schwarze gleichgestellt.“ Kim nickte ungerührt. Sie war mit Sklaven im Hause aufgewachsen, doch ihre Eltern hatten diese nie wie Vieh behandelt, genauso wenig wie sie. Marie hatte sich ein einfaches Schema für die Welt aufgebaut. Kim verabscheute es. „Ich finde es schön, dass ich nicht die einzige Frau an Bord bin. Lass uns doch Freundinnen werden, dann ist es viel schöner. Ich bin übrigens Marie“, lächelte sie wieder. Doch Kim sah ihr das erste Mal direkt in die Augen und konnte sehen, wie unwohl sich Marie dabei fühlte. Kims Blick durchbohrte sie. Nun hatte Kim Maries Schattenseite entdeckt und sie sah ungeniert durch deren Augen in ihre Seele. Schließlich sagte sie, ein übertriebenes Lächeln aufsetzend: „Nun, Marie. Ich lege keinen Wert auf eine Freundschaft mit dir. Geh erst mal in die Welt, öffne deine naiven blauen Äuglein und komm wieder, wenn du gelernt hast, die Dinge aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten.“ Leicht verwirrt stand Marie auf, lächelte Kim noch einmal konfus zu und ging dann. „Miststück!“, zischte Kim, gerade noch so laut, dass Marie es verstand. Zwar drehte sie sich nicht zu ihr um, doch sie wusste, dass Marie es verstanden hatte. Kim beobachtete Marie noch eine Weile. Sie war zu den Männern zurückgekehrt, als sei nichts geschehen und lachte wieder mit ihnen. Da stieg ihr der scharfe Geruch von Tabak in die Nase. Sie schaute auf und sah neben sich Philipe stehen, der eine Zigarette rauchte und Marie genauso missbilligend musterte wie Kim. Abwesend sagte er: „Sie ist ein kleines billiges Luder. Würde alles tun für ein paar Achterstücke. Darf ich?“ Sie nickte und er setzte sich neben sie. Dann fuhr er fort, Kim noch immer nicht ins Gesicht schauend: „Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ich irrte, was dich und den Kapitän angeht. Du bist kein solches Allermannsliebchen wie die da.“ Er nickte in Richtung Marie. Freundlich lächelnd bedankte sich Kim und sah, wie der Pirat kaum merklich errötete. Sie musste ein wenig kichern und er zeterte, fast wie ein Waschweib: „Ich werde aber nicht immer so freundlich zu dir sein, Kim, sei dir dessen bewusst.“ Sie nickte und entgegnete: „Es ist aber schön zu wissen, dass du ehrlich bist und ich nicht die einzige bin, die diese Marie nicht ausstehen kann.“ Er lachte schallend und meinte: „Oh nein, das wahrlich nicht. Ich verstehe nur nicht, warum die Männer auf sie hereinfallen. Sie sieht die Welt noch immer als Scheibe, ihre Naivität nervt mich. Ich hasse Weiber, die nichts von der Welt wissen und bis jetzt dachte ich, das wäre bei unserem Captain auch so gewesen, doch anscheinend irrte ich mich. Warum lässt du dich eigentlich nicht mit ihm ein? Dir würde ich ihn gönnen.“ Abwesend sah sie aufs Meer hinaus und antwortete ihm nach einiger Zeit: „Ich liebe ihn nicht. Daran liegt es.“ „Und warum liebst du ihn nicht?“ „Dazu ist das Band unserer Freundschaft zu tief.“ „Dann solltest du aufpassen, dass du ihm keine falschen Hoffnungen machst, denn so wie ich ihn kenne, hat er ein Auge auf dich geworfen.“ Waren Jons Gefühle denn für jeden außer ihr so offensichtlich? Sie suchte die Piraten nach Jon ab und fand ihn, das Gesicht und Maries Rücken zu ihr, sich mit der Hure küssend. Er schien sie die ganze Zeit beobachtet zu haben, doch als sich ihre Blicke trafen und er sicher war, dass sie hinsah, da schloss er die Augen und der Kuss zu Marie wurde augenscheinlich immer leidenschaftlicher. Angewidert wandte Kim den Blick ab. Philipe, der der Richtung ihrer Augen gefolgt war, sah weiterhin zu und meinte: „Er will dich eifersüchtig machen. Siehst du es? Schon die ganze Zeit geht er mehr halbherzig mit ihr um, doch kaum siehst du hin, da wandelt es sich zu einem leidenschaftlichen, feurigen Kuss. Er ist verliebt, über beide Ohren. Aber er muss aufpassen, für einen Piratenkapitän kann es gefährlich werden, wenn er liebesblind wird. Ist er nicht achtsam, droht eine Meuterei. Sag das deinem Freier.“ Damit schnippte er seine Zigarettenkippe ins Meer und ließ sie wieder allein. Auch sie erhob sich langsam und ging zurück, in den Schein des Lichtes des Lagerfeuers. Sie setzte sich zu Garret, Laffite und Terry und lauschte ihrem Gespräch halbherzig, während sie weiterhin Jon und Marie beobachtete. Sie musste leicht lächeln, als sie mit der Hand seinen Oberschenkel aufwärts fahren wollte, er diese jedoch festhielt und von seinen Beinen nahm. Sogleich warf er einen flüchtigen Blick zu Kim und als er sie grinsen sah, da wurde es ihm anscheinend zu blöd und er stieß Marie von sich. Er schnappte sich noch eine Flasche Rum und ging zu ihr hin. Sogar beim geraden Gehen wankte er und kaum, dass er bei ihnen war, da stolperte er und stürzte. Sein Kopf schlug hart auf einem Stein auf, doch er rappelte sich wieder auf. Der Rest der Crew schien dieses Malheur nicht bemerkt zu haben, aber sie sprang dennoch auf, packte ihn und zerrte ihn hinter sich her, außer Sichtweite der anderen Piraten. Dann blaffte sie ihn an: „Was ist denn mit dir los? Was macht es denn für einen Eindruck, wenn der berüchtigte Captain der Miloké besoffen stolpert und sich das Genick bricht?“ Er jedoch ging nicht auf sie ein, sondern hielt sich den Kopf und jammerte leise. Ruppig riss sie seine Hand von der Wunde und herrschte ihn an: „Gib mir deine Zündhölzer, ich will sehen, was du dir getan hast.“ Er zückte die Streichhölzer aus seiner Tasche und reichte sie ihr ohne zu murren. Sie entzündete eines und hielt es vor Jons Gesicht. Doch es war nicht viel zu erkennen. Nur eine Beule und viel Sand. Sie pustete das Zündholz wieder aus, gab Jon das Schächtelchen zurück und sagte, als er wieder zu klagen begann: „Nun stell dich nicht an, es ist nur eine Beule, so schlimm kann es kaum sein.“ Prompt hielt er den Mund. Nun holte Kim ein unbenutztes Taschentuch aus ihrer Tasche und begann sein Gesicht zu säubern. Doch er hielt sie am Handgelenk fest, zog sie ganz nahe an sich und fragte, so ernst wie ein Sechsjähriger: „Kannst du es gesund küssen?“ Erst sträubte sie sich, doch schließlich lächelte sie gequält: „Ich will es versuchen.“ So stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. Sie spürte genau wo die Beule war, sie war schon reichlich angeschwollen und die Stelle war auch ganz heiß geworden. Vorsichtig pustete sie noch einmal und streichelte darüber. Dann fragte sie ganz leise: „Und? Wird es besser?“ Er nickte, schwankte aber im nächsten Moment gefährlich, sodass Kim ihn festhalten musste, damit er nicht wieder umfiel. Schließlich seufzte sie, sich in den Sand setzend: „Na los, leg deinen Kopf auf meinen Schoß und schlaf ein wenig. So kann man ja gar nichts mehr mit dir anfangen.“ Er willigte ein, doch bevor er sich hinlegte, küsste er sie noch einmal sanft und zärtlich auf die Lippen. Bei diesem Kuss bekam Kim ein ganz flaues Gefühl im Magen. Hatte sie ihm denn nicht schon zuvor klargemacht, dass es keinen Sinn machte? Er drehte sein Gesicht zu ihrem Bauch, umschlang diesen mit seinen Armen und sie spürte, wusste, dass er ihren Duft einsog, gleich einer Droge. Es war wohl gerade halb eins, da weckte Kim Jon und flüsterte: „Wach auf, Jon, wir müssen zurück, sonst schöpfen sie Verdacht.“ Murrend setzte er sich auf und fragte, sich den Kopf haltend: „Was ist passiert, wo sind wir hier und warum dröhnt mein Schädel so?“ Kim stand auf, klopfte sich den Sand von den Kleidern, schüttelte ihre eingeschlafenen Beine und antwortete: „Du warst besoffen und hast dir den Schädel recht hart gestoßen. Da hab ich dich mit hierher genommen, damit du wieder zu Sinnen kommst. Hast du denn den ganzen Abend vergessen?“ „Ja, nein, ich weiß nicht.“, druckste er. „Du hast alles vergessen. Auch unser Gespräch“, seufzte sie, wusste jedoch nicht, ob sie das freuen oder bedauern sollte. Doch im nächsten Augenblick fragte Jon mit weit aufgerissenen Augen: „Unser Gespräch? Habe ich dir irgendetwas gesagt? Vergiss alles, es war nur im Suff dahergeredet.“ „Vergessen? Warum denn…“ „Das heißt, du fühlst…“, unterbrach er sie angespannt, doch sie sprach unbeirrt weiter: „Du hast mir nur erzählt, wie du mit Emilio in der Kneipe warst und er eine Hure auf dem Schoß hatte.“ „Und das war alles?“, fragte er misstrauisch. Kim lächelte traurig, weil sie wusste, dass es die Wahrheit war und log: „Das war alles. Wolltest du mir denn noch etwas sagen?“ Hastig hob er abwehrend die Hände und rief: „Nein, nein, um Gottes Willen! Ich habe das nur gesagt, falls ich dir etwas erzählt hätte, was nicht für deine zarten Frauenohren gedacht wäre.“ Natürlich, dachte sie, innerlich lachend. Er hatte ihr seine Liebe gestanden und sie sagte es ihm nur nicht aus Taktgefühl. Diesen Abend stellte keiner der Piraten eine Frage oder machte eine dumme Bemerkung, doch Kim musste daran denken, wo sie wohl ab heute schlafen wollte. Bei Jon würde Marie schlafen und mit dieser Person wollte sie nicht in ein Zimmer. Andererseits war ihr die Vorstellung, unter Deck mit einem Haufen halbnackter, schnarchender, lüsterner Männer zu schlafen auch nicht ganz geheuer. Sie würde wohl Jon fragen müssen, was er vorschlug. Aber das musste sie geschickt anstellen, denn er mochte Marie ja anscheinend. Wieso verstand sie nicht. Die ganze Zeit hing sie an ihm, redete auf ihn ein, ohne ihn auch nur ein Wort erwidern zu lassen. Kim wusste nicht recht, ob sie ihn bemitleiden oder auslachen sollte. Sie hatte sich wieder zu Terry, Laffite und Garret gesellt, die sie neugierig über das Eheleben ausfragten. Nun war diese Nacht und damit auch Jons Geständnis seiner Liebe schon gut eine halbe Woche her. Er hatte Marie mit den Worten: „Du bist es ja gewohnt“ zu den Männern in den Bauch des Schiffes gelegt und Kim bei sich behalten. Jedoch wusste sie nicht so recht, ob sie sich darüber freuen sollte, denn seine Liebeserklärung hatte sie noch immer nicht vollends verkraftet. Sie suchte den Abstand zu ihm und er suchte ihre Nähe, am Tag wie bei Nacht. Nachts konnte Kim kaum mehr einschlafen, ständig war sie darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, schlief ganz am Rande des Bettes und überlegte immer, an was er dachte, wenn er da neben ihr lag. Anscheinend war sie aber zu auffällig, denn am vierten Tage der Woche nahm Jon sie mit sich in seine Kajüte, bot ihr einen Stuhl an, setzte sich ihr gegenüber und fragte: „Kim, was ist los?“ Schuldbewusst lächelte sie: „Was meinst du? Mit mir ist nichts.“ Ruhig entgegnete er: „Versuch nicht, mir etwas vorzumachen, Kim, seit dem Abend als wir auf Monsieur Noir gestoßen sind, hältst du dich fern von mir, um nicht zu sagen, du meidest mich.“ „Verzeih, wenn es dir so vorkommt, als meide ich dich. Das ist wahrscheinlich wegen Emilio, ich hänge noch immer an ihm“, log sie ihn angespannt an. „Warum lügst du mich schon wieder an? Ich weiß, dass du ab dem zweiten Tage auf meinem Schiff kaum noch an ihn denkst, geschweige denn ihn vermisst. Warum kannst du mir nicht sagen, was ist? So wie früher, da hast du mir doch auch alles gesagt.“ Melancholisch lächelnd antwortete sie ihm: „Es ist aber nicht mehr wie früher. Früher haben wir uns vier Jahre lang jeden Tag gesehen, du warst ein Freund für mich, eher ein großer Bruder, ein Vater. Aber ich habe mich verändert und du auch. Ich kann dir nicht auf Anhieb wieder so vertrauen wie früher, es tut mir Leid, ich bin nicht so naiv wie Marie.“ Damit wollte sie aufstehen und seine Kajüte verlassen, doch er packte sie am Handgelenk und hielt sie zurück. Dann lächelte er gequält: „Nein, du bist nicht wie Marie und ich würde es nie wagen euch zu vergleichen. Aber es macht mich traurig, wenn du mich scheust wie ein gebranntes Kind das Feuer. Habe ich dir denn etwas getan? Bitte sag es mir, damit ich dich um Verzeihung bitten kann.“ Traurig schüttelte sie den Kopf und sagte: „Es gibt nichts zu verzeihen, Jon, ich will dich einfach neu kennen lernen.“ Gerade wollte er etwas erwidern, da hörten sie von draußen Pepe, der ins Krähennest eingeteilt war, rufen: „Fremdes Schiff in Sicht, hart Steuerbord!“ Prompt sprang Jon auf und eilte nach draußen auf die Luv- und Steuerbordseite des Schiffes, um dort durch sein Fernrohr das fremde Schiff zu begutachten. Kim stand direkt neben ihm und hörte ihn so murmeln: „Handelsschiff… spanisch…“ Dann drehte er sich diabolisch grinsend zur Crew um, die gespannt auf sein Urteil wartete und er sagte in die gespannte Stille hinein: „Ein spanisches Handelsschiff, Männer, es ist groß; wahrscheinlich hat es auch entsprechend viel Gold geladen. Ich sage, wir greifen es an!“ Daraufhin johlten die Piraten auf und begannen sich kampfbereit zu machen. Sie hissten eine portugiesische Flagge und steuerten auf das spanische Schiff zu. Plötzlich fiel Kim ein, dass sie ja gar keine Waffen mehr besaß. Eilig suchte sie Jon und fand ihn beim Steuermann. Er schien angespannt, so zupfte sie ihn schüchtern am Ärmel und als er sich zu ihr umdrehte und sie ungeduldig anblickte, da verschlug es ihr die Sprache. Gespannt fragte er: „Was?“ Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und wisperte: „Ich habe keine Waffe.“ Er atmete tief durch und sagte dann, sich anscheinend redlich bemühend, zu lächeln: „Geh in meine Kajüte, dort unter dem Schreibtisch steht eine Kiste. Aus der holst du dir eine Pistole und ein Entermesser.“ Gerade wollte sie loslaufen, da rief er: „Aber du brauchst meinen Schlüssel.“ Leicht errötend kam sie noch einmal zu ihm und nahm den Schlüssel in Empfang. Als sie in Schussweite waren und die Kanonen positioniert waren, rief Jon: „Feuer!“ Und die Lunten wurden in Brand gesteckt. Es war ein Ohrenbetäubender Lärm und es drückte die Kanonen jedes mal nach hinten, sodass sie zusätzlich zu den Tauen an denen sie festgemacht waren, von zwei oder gar drei Mann gestützt werden mussten. Ihren Jolly Roger hatten sie schon gehisst, als sie das Schiff außer Fluchtgefahr wussten. Der Schuss saß. Direkt in die Steuerbordseite des spanischen Schiffes. Kurze Zeit später konnten sie die Reling des anderen Schiffes schon fast berühren, doch die Piraten hielten sich zurück, grölten nur und warteten, dass ihr Captain ihnen Befehle erteilte. Dieser stieg auf die Reling der Miloké und rief, sodass auch die Mannschaft des gegnerischen Schiffes, die schon fast vor Angst zitterte, ihn hören konnte: „Männer, dieses Schiff heute war ein großer Fang. Mit der Beute können wir uns einiges leisten!“ Doch kaum hatte er das gesagt, da stürzte der spanische Kapitän auf ihn zu, mit gezücktem Entermesser, und brüllte: „Noch habt ihr uns nicht besiegt!“ Jon hatte mit dem Rücken zu ihm gestanden, aber er drehte sich blitzschnell um, packte den Kapitän beim Kragen, hielt ihm eine Pistole an die Schläfe und grinste: „Oh doch, mein Bester, das haben wir.“ Dann schoss er. Das Blut spritzte und übergoss einen Spanier, der atemlos an sich herunter sah und im nächsten Augenblick das Schreien begann. Darin sahen die Piraten ihr Zeichen. Sie schwangen sich an Deck des Handelsschiffes und nahmen den Kampf auf. Auch Kim, doch sie musste bitter feststellen, dass sie aus der Übung war, als sie gegen einen jungen Spanier kämpfte. Allein hätte sie es nie geschafft, doch gerade als er ihr das Entermesser aus der Hand geschlagen hatte, stand Jon ihr zur Seite und kämpfte für sie weiter. Sie bückte sich, um ihr Entermesser wieder aufzuheben, da spürte sie, wie sich jemand von hinten an sie heranschlich. Langsam und leise zog sie ihre Pistole, drehte sich um und schoss. Sie traf den Spanier am Arm, sodass er vor Schmerzen schreiend seinen Säbel fallen ließ und auf die Knie stürzte. Kim hob das Entermesser auf, ging auf ihn zu und durchbohrte ihm die Brust. Im nächsten Moment glitt ihr Blick zurück auf das Deck der Miloké, wo Marie stand und ihnen angsterfüllt zusah. Was wollte das Mädchen denn auf einem Piratenschiff, wenn es kämpfen weder konnte, noch wollte. Der Kampf dauerte nicht lange und die spanische Crew ergab sich bedingungslos. Sie und die geladenen Waren wurden auf die Miloké gebracht und über die Spanier relativ schnell ein Urteil gefällt; die Minderheit von ihnen wurde hingerichtet. Der Rest desertierte. Am Abend feierten die Piraten, es war ein heiteres Fest, die Seeräuber tanzten, sangen, lachten und tranken natürlich. Nur Kim saß allein an der Reling gelehnt und schaute auf die Männer und doch ins Leere. Es war schwer für sie gewesen, diese Menschen sterben zu sehen. Es gab eine Zeit, da hatte es ihr nichts ausgemacht, doch schon als sie gesehen hatte, wie Jon den spanischen Kapitän erschossen hatte, war es ihr hochgekommen. Sie dachte darüber nach, ob diese Männer wohl zu Hause, in Spanien, eine Familie hatten, Kinder und eine Frau; es war nahe liegend und Kim machte sich vorwürfe deswegen und versuchte den Gedanken zu verdrängen. Da richtete sich ihr Blick auf Marie. Sie stand, recht besoffen, bei einem Piraten, Kim glaubte, er hieß Tito, im Arm und lachte zusammen mit der Schar der Seeräuber, die um sie standen. Da setzte sich Jon neben sie, eine Flasche Rum in der Hand und fragte sie: „Magst du Marie?“ „Sie ist blond und naiv“, sagte sie ohne ihren Blick von Marie abzuwenden. Sie spürte Jons Blick auf sich ruhen und er sagte schlicht: „Das ist keine Antwort auf meine Frage.“ Nun sah sie ihn doch an und erkannte, dass er etwas getrunken hatte, aber seine Gedanken dennoch vollkommen klar waren. Wieder wegschauend antwortete sie: „Nein. Magst du sie denn?“ „Ich habe sie geküsst und mit ihr geschlafen.“ „Das ist keine Antwort auf meine Frage“, wiederholte sie seine Aussage. „Ich weiß nicht, was ich von ihr halten soll. Ich kenne sie und weiß doch nichts von ihr. Sie ist nicht sie. Ich spüre es, sie verstellt sich, passt sich ihrer Umgebung an.“ „Was meinst du damit?“, fragte Kim verwirrt. „Ich habe Mitleid mit ihr. Sie kann nicht sein wie sie ist.“ Kim schwieg. Darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht – er hatte Recht. Marie stand da, lachte und trank, aber es war nicht sie. Sie war nicht nur unglücklich mit der Stadt in der sie gewesen war, sie war auch unglücklich mit ihrem Beruf, mit ihrem ganzen Leben. Und langsam begann Kim zu verstehen. Sie verstand, warum Marie so naiv war, sie hatte die Welt noch nicht aufgegeben. Zumindest nicht ganz. Sie glaubte an das Gute im Menschen, so schlecht dieser auch war. Und das fiel am leichtesten, wenn man nur aus einer Perspektive betrachtete. Sie machte sich ihr kompliziertes Leben so einfach wie möglich, sie passte sich den Menschen an, denen sie begegnete und war zu allen freundlich. Sie glaubte, was man gab bekam man zurück. Doch schon vor langer Zeit hatte Kim das Prinzip verstanden. Es lief nicht so einfach, wie man es gern hätte; man konnte zu manchen Menschen noch so nett sein, ihnen alles von sich geben und bekam doch nichts dafür. Und auf einmal schämte sie sich, dass sie so abweisend zu Marie gewesen war. Das Mädchen brauchte nur eine Freundin, die ihr richtig zuhörte, bei der sie sein konnte, wie sie wirklich war, mit allen ihren Ecken und Kanten. Denn erst Fehler machen den Menschen einzigartig. „Warum sagst du nichts?“, riss Jon sie aus ihren Gedanken. Kim lächelte sanft und sagte: „Du hast Recht. Ich schäme mich, dass ich so gemein zu ihr war.“ Gerade unterhielten sich die Beiden über die vergangene Schlacht, da übertönte Geschrei den Gesang, die Musik und alle sonstigen Stimmen. Der eine Brüllte: „Fass meine Marie noch einmal an und du wirst deinen Lebtag keine Frau auch nur mehr ansehen können!“ Doch der andere lachte: „Und wie willst du halbe Portion das anstellen? Denkst du, mir macht auch nur einer deiner Schläge etwas aus? Denkst du, ich würde sie überhaupt spüren?“ Es war schlagartig still geworden. Auch Kim und Jon hatten ihr Gespräch unterbrochen und er sprang nun auf und lief auf die beiden Streithähne zu. Kim erhob sich ebenfalls und ging zum Geschehen. Marie stand relativ am Rande und die beiden Kerle, Tito und Warren, mussten schon von den umstehenden Piraten festgehalten werden, damit sie nicht aufeinander losgingen. Sie funkelten sich zornig an und fuhren fort, sich anzubrüllen. Da rief Jon: „Was ist denn zum Teufel hier los?“ Prompt antwortete ihm Tito, ohne den Blick von Warren abzuwenden: „Der Kerl hat meine Marie belästigt und begrabscht!“ Und Warren entgegnete: „Und wovon träumst du bitte nachts? Ich habe sie nach Tabak gefragt und habe aus versehen ihre Hand gestriffen!“ Jon schüttelte resignierend den Kopf und sagte dann: „Von mir aus prügelt euch oder fechtet es im Duell aus…“ Nun wurde seine Stimme lauter und heftiger. „Aber tut das gefälligst nicht auf meinem Schiff! Warum könnt ihr Holzköpfe nicht warten, bis wir wieder an Land sind?“ Verdutzt starrten die Piraten auf Jon und ein Rotschopf fragte ihn: „Und was sollen sie jetzt tun?“ „Na der Eine bleibt bei seiner Marie und der Andere geht wieder zu seiner Gruppe und die Beiden gehen sich aus dem Weg so gut es geht“, antwortete er genervt. Vorsichtig wurden die Beiden losgelassen und sie taten tatsächlich, was Jon ihnen gesagt hatte. Zwar warfen sie sich noch ein paar garstige Blicke zu, doch ansonsten sprachen sie kein Wort mehr miteinander. Genervt ging Jon wieder an die Reling der Luvseite des Schiffes und setzte sich dort nieder, Kim im Schlepptau. Als diese noch einen Blick auf Marie warf, erkannte sie, dass diese überhaupt nicht verstanden hatte, dass es um sie gegangen war und abermals schürte Kim ihren Hass auf diese Person. Im Laufe der Nacht ging Kim in Jons Kajüte, um sich umzuziehen. Sie hatte mit Marie getauscht, da sie es nicht mehr ertragen hatte, Jon solche Hoffnungen zu machen, hatte dessen Kajüte geräumt und war zur Mannschaft in den Bauch des Schiffes gezogen. Doch richtete sie sich dennoch noch in Jons Kajüte. Sie nahm ihren Ohrring aus dem Loch in ihrem Ohrläppchen, da fiel ihr die Perle aus der Hand und rollte zu seinem Schreibtisch. Gerade krabbelte sie darunter, da hörte sie, wie sich die Tür öffnete und jemand eintrat. Die Tür schloss sich wieder und ein Mann, Jon, fragte: „Wie lange gedenkst du eigentlich hier an Bord zu bleiben, Marie?“ Sie antwortete mit säuselnder Stimme: „ Mir gefällt es hier so gut, ich wünschte, ich könnte für immer bleiben.“ „Du weißt genau, dass das nicht geht. Ich teile auch nicht ewig mein Bett mit dir“, entgegnete er kühl. „Und wie lange kann ich noch bleiben?“ „Wir steuern jetzt New Providence an, wo wir wahrscheinlich in einer Woche ankommen werden, da setzen wir dich ab.“ Marie schwieg und nach einer Weile sagte Jon: „Willst du dich jetzt hinlegen oder kommst du noch einmal mit hinaus?“ Kim hörte Marie nichts sagen, doch die Tür wurde geöffnet und zwei Personen traten hinaus. Vorsichtig kam Kim wieder unter dem Schreibtisch hervor und dachte über das nach, was sie gerade gehört hatte. Marie tat ihr Leid, schon in einer Woche musste sie wieder dem Gewerbe der Hurerei nachgehen, um sich ihr Täglich Brot zu verdienen und Hurenwirte waren Weißgott nicht freundlich zu ihren Nichten. Bedächtig zog sie sich für die Nacht um und ging dann unter Deck, um sich in ihre Hängematte zu legen. Es waren immer zwei übereinander aufgespannt, damit man mehr Platz hatte. Sie hatte die obere bezogen. Erst konnte sie kaum einschlafen doch dann packte sie der Schlaf und zerrte sie in einen Traum. Da stand ihr altes Haus, mit eingeschlagenen Fenstern und eingerannten Türen. Und im Wohnzimmer saß Emilio, auf dem Sofa, das Gesicht in den Händen. Es sah fast aus als weine er, doch im nächsten Augenblick sprang die Salontür auf und eine blonde Frau stand in der Tür. Sie sah missgestimmt aus. Emilio schaute auf, fasste sich und fragte freundlich lächelnd: „Was kann ich für Euch tun, Gnädigste?“ „Ich will zu Kimberley“, antwortete sie ihm kalt. „Die ist nicht da“, flüsterte Emilio geknickt. Die blonde Frau ließ sich auf dem Sessel nieder, legte die Füße, die in Stiefeln steckten, auf den Tisch und fragte ruppig: „Und wann kommt sie wieder? Ihr seid doch ihr Ehemann, also müsstet Ihr es wissen.“ Demütig sah er zur Seite und lächelte traurig: „Sie kommt nie wieder, sie ist weg; mit diesem Genitson.“ Die Frau riss die Augen auf, nahm die Füße vom Tisch, lehnte sich angespannt vor und fragte nachdrücklich: „Genitson? Jon Genitson, der Pirat?“ „Genau der. Aber dürfte ich fragen, wer Ihr seid, wenn Ihr einfach in mein Haus platzt und mich nach meiner Frau fragt? Kanntet Ihr sie? Wart Ihr mit ihr befreundet?“ Die Frau lehnte sich wieder zurück, fasste sich mit der Hand an die Stirn und lachte: „Nein, welche Ironie. Da habe ich endlich wieder ihre Spur aufgenommen und sie ist mit Jon durchgebrannt!“ Sie lachte schallend, aber auf einmal wurde sie vollkommen ernst und knurrte: „Das bereut das Luder.“ Nun wurde Emilio nervöser und er fragte erneut, diesmal fester: „Wer seid Ihr und was wollt Ihr von Kim?“ Alice pfiff durch die Finger und im nächsten Moment kamen drei Untote durch die Tür. Die Frau nickte ihnen zu, daraufhin zog einer seine Pistole und schoss auf Emilio. Dieser brach auf dem Sofa zusammen und noch bevor er ganz das Bewusstsein verlor, stellte sich die blonde Frau vor ihn und grinste: „Gestatten? Alice Awden.“ Damit verlor Emilio das Bewusstsein und starb nur wenige Sekunden später. Als Kim aufwachte, fand sie sich nicht in ihrer Hängematte wieder, sondern auf Philipe, der unter ihr schlief. Er war anscheinend nicht aufgewacht, denn er legte nun seine Arme um sie, als wäre sie ein Stofftier. Verzweifelt suchte sie sich aus dieser Umarmung zu lösen und schaffte es nach einiger Zeit auch, ohne dass er aufwachte. Leise schlich sie sich an Deck, wo nun niemand mehr war. Sie ging ein wenig auf und ab und sann darüber nach, was sie gerade gesehen hatte. Emilio war tot. Aber Kim weinte nicht. Er hätte sein Leben weggeworfen, er hätte sich dem Alkohol hingegeben, es war besser so. Sie wusste, wie selbstgefällig das war, doch wusste sie auch, dass es die Wahrheit war. Aber Alice hatte ihn umgebracht. Für einen Moment dachte sie daran, Jon zu wecken und ihm davon zu erzählen, doch dann beschloss sie, dass dazu auch noch am nächsten Tag genug Zeit war. So blieb sie noch ein wenig an der frischen Luft und ging dann wieder unter Deck, um sich irgendwie in ihre Hängematte zu legen, ohne dass sie Philipe weckte. Lange Zeit konnte sie nicht einschlafen und es lag nicht ausschließlich daran, dass sie es noch immer nicht gewohnt war, in einer Hängematte zu schlafen. Auch nicht an dem lauten Schnarchen der Männer oder der stickigen Luft; es lag vielmehr daran, dass sich ihre Gedanken partout nicht ordnen wollten. Was sollte sie Jon sagen? Sollte sie ihm überhaupt etwas sagen? Hellwach fragte sie sich, wie lange Emilio jetzt wohl schon tot war. Es war ihr, als wäre es am Morgen nach dem Überfall gewesen, denn Emilio war so gebrochen gewesen. Wäre es länger danach gewesen, hätte er darüber hinweg gesehen und sich im Suff nach einer neuen Frau umgeschaut. Sie kannte ihn doch und wenn sie noch einmal darüber nachdachte, kam sie nur zu dem Schluss, dass er sich betrunken und dann eine neue angelacht hätte. Aber sie hatte Angst vor dem Kommenden. Was würde passieren, wenn Alice sie aufspürte. Ein Kampf würde sicher entbrennen, aber welche Auswirkungen sollte dieser haben? Als sie darüber nachdachte, fiel ihr etwas auf. Alice war am Morgen zu Emilio gegangen, als es nicht mehr Nacht war; und die Untoten waren dabei gewesen. Sie wurde noch unruhiger. War nicht die Sonne das Einzige, was diese Kerle besiegen konnte? Warum konnten sie nun bei strahlendem Sonnenschein umherwandern? Es fröstelte sie bei dem Gedanken, nicht einmal mehr bei Tage sicher vor ihnen zu sein und als sie es nicht mehr aushielt, da wälzte sie sich so stark herum, dass sie unwillkürlich aus ihrer Hängematte fiel. Erneut auf Philipe, der dieses Mal jedoch aufwachte und sie schockiert anstarrte, wie sie da auf ihm lag, die Lippen auf den seinen. Beide hielten den Atem an und Kim fasste sich als erstes wieder und stammelte eine Entschuldigung. Philipe schoss die Zornesröte ins Gesicht und er musste sich arg zähmen, damit er nicht brüllte, so zischte er: „Nun landest du schon das zweite Mal in dieser Nacht auf mir und weckst mich das dritte Mal auf. Was ist denn mit dir los, verdammt?“ Schuldbewusst richtete sie sich auf und flüsterte ehrfurchtsvoll: „Es tut mir wirklich Leid, ich habe schlecht geträumt…“ „Das ist mir doch einerlei! Und jetzt geh runter von mir und lass mir wenigstens noch ein wenig Schlaf!“, knurrte er. Ohne ein Wort zu erwidern kraxelte sie von ihm herunter auf den Boden. Er drehte sich schnaubend von ihr weg und sie ging noch einmal an Deck. Sie würde es Jon erzählen. Vorsichtig trat sie in seine Kajüte ein und schlich sich zu seinem Bett. Da lag er, seelenruhig schlafend, Marie fest in seinen Armen. Sollte sie ihn jetzt wirklich wecken? Was war, wenn Marie auch erwachte? Was sollte sie ihr dann sagen? So ging Kim unverrichteter Dinge wieder aus seiner Kajüte hinaus und wollte warten, bis er aufstand. Unruhig schlenderte sie über das Deck, bis sie jemanden nach ihr rufen hörte. Sie wirbelte herum, da rief die Stimme: „Jo, Kim, hier oben!“ Da schaute sie nach oben und sah, wie Garret ihr aus dem Krähennest zuwinkte. Er fragte: „Was machst du denn um diese Zeit hier? Kannst du nicht schlafen?“ Doch sie legte den Finger an die Lippen und machte sich auf den Weg zu ihm nach oben. Erst hatte sie sich gewundert, dass er so spät oben im Krähennest saß, doch dann fiel ihr ein, dass er ja Ankerwache hatte. Als sie sich neben ihn gesetzt hatte, hob er eine Flasche auf, hielt sie gegen den Vollmond, um ihren Inhalt zu überprüfen und fragte dann Kim: „Schluck Rum?“ Leicht verwirrt verneinte sie und fragte: „Woher hast du den denn? Jon erlaubt doch nur bei besonderen Anlässen Alkohol.“ „Na und?“ Entgegnete er. „Heute war doch ein besonderer Anlass und die Flasche habe ich mir aufgehoben.“ „Ach so.“ Leicht besorgt fragte Garret dann jedoch: „Jetzt sag mir aber, warum du um diese Zeit auf Deck herumgeisterst? Ich dachte erst, du seist der Klabautermann.“ Kim lachte leise auf und antwortete ihm dann, die Beine unter das T-Shirt ziehend: „Ich habe schlecht geträumt und dachte, die frische Luft würde mich wieder müde machen. Aber ich habe mich wohl geirrt. Jetzt bin ich nur noch wacher.“ Langsam schob sich eine Wolke vor den Mond und Garret fragte: „Was hast du denn geträumt?“ „Vollkommen unwichtig“, antwortete sie ihm nicht wahrheitsgemäß. Für einige Zeit schwiegen sie, dann, als das Mondlicht sie wieder mit weißen, kühlen Strahlen sanft umarmte, wurde ihr kalt und sie begann zu zittern und leise mit den Zähnen zu klappern. Garret, der das natürlich bemerkte, fragte fürsorglich: „Ist dir kalt?“ Ruppig zischte sie: „Nein, ich zittere zum Spaß, natürlich ist mir kalt, Idiot!“ Da zog er seinen Pullover aus, gab ihn ihr und als sie ihn dankbar angezogen hatte, zog er sie in seinen Arm mit den Worten: „Na komm her, mal sehen, ob ich dich wieder warm bekomme. Trink jetzt mal einen Schluck Rum, davon wird dir auch warm.“ Nun dankbar nahm sie die Flasche entgegen und nahm einen Schluck von dem brennenden Zeug. Es wärmte sie wirklich, aber ganz hörte sie immer noch nicht auf zu zittern, auch nicht als Garret begann ihr über den Arm zu reiben. Er fragte: „Willst du nicht doch wieder unter Deck gehen?“ Da spürte er, wie sie ruhig und gleichmäßig atmete und wusste, dass sie eingeschlafen war. Daraufhin seufzte er und schaute weiter auf die See hinaus. Sie wachte nicht auf, bemerkte aber dennoch, wie Garret von einem anderen abgelöst wurde. Auch dieser legte wieder seinen Arm um sie und ihr Gesicht lehnte an seiner Brust. Ihr war egal, wer das war, Hauptsache, sie konnte schlafen. Doch es fröstelte sie wieder leicht und sie zog die Beine unbewusst näher an sich. Der Pirat an dem sie gelehnt lag, bemerkte das anscheinend, zog, wie Garret zuvor, auch seinen Pullover aus und legte diesen über ihre nackten Beine. Und es wurde ihr wieder wärmer, woraufhin sie erneut in einen Tiefschlaf versank. Am nächsten Morgen weckten sie die warmen und stechenden Strahlen der Sonne und sie richtete sich verschlafen auf, rieb sich die Augen und gähnte herzhaft. Sie sah auf den Mann neben sich und stellte erschrocken fest, dass es gar nicht mehr Garret war, sondern Jon. Dieser lächelte sie freundlich an und fragte: „Na? Hast du ausgeschlafen? Ist dir auch nicht mehr kalt?“ Verwirrt schüttelte sie den Kopf, sie hatte den Wachwechsel wieder vergessen und er lächelte: „Garret hat gesagt, du hättest schlecht geträumt und wärst daraufhin an Deck und zu ihm gegangen. Hier oben seist du dann eingeschlafen. Was hast du denn geträumt?“ Leicht irritiert gab sie ihm erstmal seinen Pulli zurück, der noch immer ihre Beine bedeckte, ihr nun aber zu warm wurde und sie sagte: „Ich glaube, es war eine Vision aus der Vergangenheit; den Morgen nachdem wir aus meiner Heimatstadt waren.“ Jon horchte auf und stocherte weiter: „So? Was hast du denn gesehen?“ „Alice war da, mit anderen Untoten. Sie war bei Emilio und hat ihn nach mir gefragt. Dann hat sie ihn umbringen lassen. Aber das seltsamste daran ist, dass es Tag war, die Sonne hatte geschienen.“ Jon stockte. Sie konnte seinem Gesicht ansehen, dass ihn ihre Aussage sehr beschäftigte. Nur wusste sie nicht, welcher Teil davon, war es jetzt Emilios Tod, Alice Auftauchen oder die Immunität der Untoten gegen die Sonne. Als er jedoch nichts sagte, fragte sie: „Wie sollen wir sie denn jetzt besiegen, wenn ihnen die Sonne nichts mehr ausmacht?“ Abwesend antwortete er: „Ich weiß es auch nicht. Hat Alice irgendetwas gesagt?“ Er dachte an Alice. Dabei hatte er sie das letzte Mal vor fast zehn Jahren gesehen und Kim verstand nicht, wie er immer noch an ihr hängen konnte. Sie hatte ihn verraten und ihn zum Narren gemacht, ihn ausgenutzt. Die Eifersucht begann an Kim zu nagen. Zwar liebte sie ihn nicht, nicht wirklich zumindest, aber dennoch sollte keine andere Frau ihn haben. Zähneknirschend sagte sie: „Emilio hat erwähnt, dass ich mit dir mitgekommen bin, dann hat Alice gemeint, das ich es bereuen würde.“ „So?“, fragte er anteilnahmslos. Warum musste Alice immer kommen und ihr Leben durcheinander wirbeln. Gerade hatte sie sich noch so wohl hier neben Jon gefühlt, doch kaum hatte sie Alice Namen erwähnt, schien er abwesend und träumerisch, wie es sonst so gar nicht seine Art war. Leicht säuerlich kletterte sie hinab auf Deck und ließ ihn oben allein mit seinen Gedanken. Sie stapfte unter Deck und legte sich wieder, ohne jegliche Rücksicht auf Philipe zu nehmen, in ihre Hängematte. Philipe jedoch knurrte nur, wandte sich herum und schlief in aller Seelenruhe weiter. Auch Kim schlief wieder ein. Sie stand erst so gegen Mittag auf, als der Rest der Mannschaft schon längst wieder an Deck war, die Manöver, die Jon anordnete, ausführte oder im Schatten faulenzte. Sie gesellte sich zu Garret, Laffite, Terry und Diego und sagte an den ersten gewandt: „Danke für deinen Pullover, Garret, ich habe ihn zusammengelegt und auf deine Hängematte gelegt.“ Lachend winkte er ab und stieg dann wieder in das Gespräch der sonstigen Männer ein. Gerade waren sie wieder vollkommen in ihr Gespräch vertieft, da rief Jon: „Wende!“ Sämtliche Piraten sprangen auf, das Manöver durchzuführen. Kim lief zur Großschot und wartete darauf, dass der Fordere das Tau vom Nagel löste. So standen sie in Reih und Glied und warteten auf weitere Befehle. Im nächsten Moment hörte sie Jon: „Großschot anziehen!“ So zogen sie, bis die Schot dicht war. Doch sie schossen das Seil nicht auf, sondern warteten, bis Jon „Großschot fieren!“ rief. Daraufhin ließen sie das Seil laufen und Kim spürte, wie sich die Miloké schräg stellte, noch schräger als sonst, dass sie fast herunterrutschte. Als Jon schließlich den Befehl gab, machten sie die Schot fest und Kim wurde dazu beordert, das Seil aufzuschießen. Sie war gerade damit fertig geworden, da klopfte ihr jemand auf die Schulter. Sie drehte sich um und wurde sich gewahr, dass es Jon war. Er hüstelte verlegen und fragte, ob sie mit in seine Kajüte käme. Etwas verwundert folgte sie ihm und ließ sich dann auf einen Stuhl nieder. Sie schaute auf das Bild, das, gerahmt, an seiner Wand hing. Es war die Marke eines Rums; es war kindisch. Jon setzte sich ihr gegenüber und sagte, den Augenkontakt meidend: „Es tut mir Leid, dass ich heute Morgen so abweisend war.“ Sie erwiderte nichts, sondern lächelte ihn nachsichtig an. Er fuhr fort: „Ich war lediglich überrascht, dass du von Alice geträumt hast.“ Nun sagte sie: „Ist doch egal. Wenn du immer noch Gefühle für sie hegst, das verstehe ich.“ Sie verstand es inzwischen wirklich, denn hätte er ihr nun etwas von Leo oder Charles berichtet, hätte sie ebenso reagiert. Aber Leo und Charles waren tot. Jon jedoch sprang auf, fast schon empört und leugnete: „Nein, so ist das nicht, ich liebe sie nicht… mehr. Meine Liebe gilt jemand anderem, sie gehört nur…“ Er stockte, setzte sich wieder, die Knie zusammengepresst, die Finger in die Hosenbeine gekrallt, den Blick darauf, als fürchtete er getadelt zu werden. Kim wusste, dass er sie meinte und ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Dennoch sah sie kühl auf ihn und fragte, so eisig, dass es sie selbst erschrak: „Wen? Marie?“ Sie begann ein Spiel mit ihm zu spielen; es war ein grausames Spiel, doch es erheiterte sie. Jon jedoch sah prompt auf und verteidigte sich: „Nein, nicht doch Marie! Keine der Huren in den Häfen, was denkst du denn?“ Er schaute auf in ihr nun überlegen lächelndes Gesicht und sie spielte weiter: „Wen dann? Gibt es da eine holde Jungfer, der du die Unschuld rauben willst? Oder sollte es gar ein Mann sein, nach dem sich deine Gelüste sehnen, dass du es mir nicht sagen willst?“ Nun fuhr er auf und blaffte sie an: „Jetzt langt es aber! Was unterstellst du mir? Ich…“ „Hm, aber wer könnte es dann sein?“, unterbrach sie ihn. „Raus!“, brüllte er endlich. „Lass mich in Frieden!“ Als sie seine Kajüte verließ und er die Tür hinter ihr zugeknallt hatte, brach sie in schallendes Gelächter aus. Sie stand da, hielt sich den Bauch vor Schmerzen. Aber nicht nur ihr Bauch schmerzte. Warum tat sie so etwas? Warum tat sie Jon so etwas an? Die Augen aller Piraten waren auf sie gerichtet, als sie so dastand, das Gesicht in den Händen, schon längst nicht mehr lachend. Anscheinend besorgt kam Marie auf sie zu, legte ihr die Hände auf die Schultern und fragte leise: „Kim? Was ist los? Hat Jon irgendetwas Gemeines zu dir gesagt? Hat er dir etwas angetan?“ Kim sah sie verständnislos an und antwortete geringschätzig: „Das geht dich nichts an, Blondine.“ Damit wandte sie sich von Marie ab und ging zu Philipe und den anderen. Sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als in den Arm genommen zu werden. Da boxte Garret ihr freundschaftlich auf den Arm, jedoch hatte sie nicht damit gerechnet, so dass sie zur Seite kippte und ihr Kopf in Philipes Schoß landete, ihr Gesicht dem seinen zugewandt. Sie errötete leicht, machte allerdings keine Anstalten, sich zu erheben, sondern lächelte ihn nur an. Philipes kalter Blick durchdrang sie und er sagte: „Nimm deinen Kopf da weg oder ich nehme ihn dir von deinen Schultern.“ Die restliche Zeit auf dem Schiff erwärmte sich Philipe ihr gegenüber in keinster Weise. Als sie wieder in New Providence ankamen, war die Stimmung an Bord sehr gespannt. Die Piraten stritten sich um Marie und keiner wollte sie auch nur eine Sekunde allein lassen. Kim hatte versucht, sich an Philipe zu halten, doch war der immer mehr auf Distanz gegangen. Doch diesen Abend wollte sie alle ihre Probleme in einem ordentlichen Rausch davonschwämmen. So machten es schließlich alle Piraten und nun gehörte sie ja wieder zu ihnen. Eigentlich hatte sie ja vor, nur mit Jon zu gehen, doch ihnen schlossen sich noch Terry, Laffite, Garret und Philipe an, sodass sie zu sechst in das Wirtshaus gingen, in das sie auch schon zu Zeiten der Vengeance gegangen waren. Sie saß zwischen Jon und Philipe und versuchte beständig mit letzterem ins Gespräch zu kommen, was ihr jedoch nicht so recht gelingen wollte. Schließlich ließ sie es bleiben und saß still schweigend vor ihrem Rum. Sie blieb den ganzen Abend vor diesem einen Glas sitzen und beobachtete, wie die Männer um sie herum immer freizügiger wurden. Da legte ihr Philipe den Arm um die Schultern und fragte sie, das Gesicht so nah an ihrem, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten: „Warum trinkst du denn nichts?“ „Weil ich nicht möchte“, antwortete sie schlicht. Sie hatte es schon vor Stunden aufgegeben, ihm in irgendeiner Art und Weise näher zu kommen und über die Dauer war ihr Glas doch leer geworden. Daraufhin sagte er: „Komm schon, trink etwas von mir, du siehst so deprimiert aus.“ „Nein, ich möchte wirklich nichts“, wiederholte sie. Philipe stellte sein Glas, das er in seine Hand genommen hatte, um es an ihre Lippen zu halten, wieder beiseite und fuhr ihr sanft durch die Haare. Etwas verwundert wollte sie fragen, was er da tat, doch er kam ihr zuvor. „Weich, deine Haare sind so weich. Zerzaust durch den Wind und doch glänzen sie weich. Und die Farbe, als wären deine Haare aus Gold und Schokolade. Noch nie habe ich so schöne Haare gesehen.“ Er musterte ihre Haare. Sah ihr kein einziges Mal ins Gesicht, aber machte ihr Komplimente zu ihren Haaren. Dann schloss er die Augen und seine Lippen legten sich auf ihre. Überrascht wich sie zurück, doch als er es noch einmal versuchte, da schloss auch sie ihre Augen und erwiderte seinen Kuss. Aber er schmeckte nach Alkohol; unangenehm. Als sie am nächsten Morgen an Deck zu ihm kam und ihm einen Kuss geben wollte, da hielt er sie zurück und sagte: „Hör zu, Kim, das gestern war einmalig, ich habe mich vom Alkohol hinreißen lassen, also bilde dir nichts darauf ein.“ Sie stand da wie vom Donner gerührt und konnte seine Worte nicht begreifen. Wie konnte das sein? Sie war doch so glücklich gewesen, als er sie geküsst hatte, hatte er denn nichts dabei empfunden? Gar nichts? Kim wollte ihr Gesicht wahren, unbedingt, sie wollte sich nicht bloßstellen lassen als eine Frau, die Gefühle zuließ. Angestrengt zwang sie sich zu einem Grinsen und entgegnete affektiert verächtlich: „Das wird dann wohl besser so sein. Du küsst mir ohnehin zu schlecht.“ Philipe jedoch zuckte nur mit den Achseln und murmelte: „Wenn du meinst.“ Eigentlich wollte er sich damit umdrehen und gehen, doch Kim fragte aufgebracht: „Wieso konterst du nicht? Wieso schreist du mich nicht an, ich sei eine Lügnerin? Wieso zum Teufel bist du so gefühllos?“ Erneut wandte er sich zu ihr um und sein Blick durchdrang sie wie eine Waffe. Er war kalt und hasserfüllt. Dann zischte er: „Weil ich so Frauen wie dich hasse. Du weißt genau über die Gefühle des Captains bescheid, heuchelst ihm Freundschaft vor und willst dann eine Beziehung mit mir. Du denkst, du könntest alles haben, dir alles erlauben, aber das stimmt nicht. Du bist ein Mensch wie jeder andere und hast weder mehr, noch weniger Rechte, nur hast du das anscheinend in den 23 Jahren in denen du nun schon auf Erden weilst noch nicht begriffen. Du bist keine Frau, du bist ein verzogenes kleines Gör, das gewohnt ist, alles zu bekommen, was es will. Also lass mich in Ruhe und geh wieder mit deinen anderen Marionetten spielen.“ Touché. Wieso sagte er so etwas? Er selbst hatte sie doch gestern geküsst und nicht sie ihn. Er war schon einige Schritte von ihr entfernt, da rief sie ihm nach: „Idiot! Wer hat denn hier wen geküsst?“ Doch er drehte sich nicht noch einmal zu ihr um, sondern entfernte sich immer weiter von ihr. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr es in ihrem Herz stach. Sie griff sich an die Brust und fiel auf ihre Knie. Warum tat es so weh? Was er sagte konnte ihr doch egal sein, warum also? Weil er die Wahrheit sagte, daran lag es. Sie ertrug es einfach nicht, es war grausam. Sie spielte mit den Gefühlen von Männern. Wenn sie sich für sie interessierten, nutzte sie sie aus und hatten sie kein Interesse an ihr zeigte sie ihnen die kalte Schulter. Aber sie wollte es sich nicht eingestehen. Sollte dieser verdammte Bastard Philipe doch von ihr denken, was er wollte, ihr würde es gleich sein. Er kannte sie nicht, er hatte keine Ahnung von ihren Gefühlen und ihrem Leben, was sie alles erlebt hatte. Tief durchatmend stand sie auf und ging in Jons Kajüte, um sich hübsch zu machen. Er war nicht darin, so ging Kim an ihre Sachen und zog sich um. Dann schminkte sie sich. Sorgsam zog sie den Lidstrich und achtete darauf, dass er nicht verwackelte, auch bei der Wimperntusche agierte sie sehr langsam und bedacht. Sie stand vor dem winzigen Spiegel, den sie in Jons Kajüte aufgestellt hatte und setzte die kleine Bürste, getränkt mit der schwarzen Paste, mit offenen Augen an ihre Wimpern an, anschließend schloss sie die Augen und zog das Bürstchen nach oben weg. Dies wiederholte sie ein paar Male bei beiden Augen, bis ihre Wimpern gleichmäßig schwarz gefärbt und nicht verklebt waren. Als nächstes kramte sie in dem Täschchen nach dem Pinsel und der Farbe. Als sie beides gefunden hatte, tauchte sie den Pinsel in die rote Farbe und wandte ihn ein paar Male hin und her, bis er die Farbe vollkommen aufgenommen hatte und fuhr andächtig ihre Lippen nach. Träge räumte sie die Sachen wieder zurück in ihre Handtasche. Dieses immer gleich bleibende Ritual beruhigte sie auf eine bestimmte Art und Weise und so ging sie zu Laffite, Terry und Garret. Diese begrüßten sie mit großen Augen und fragten, warum sie sich so hübsch gemacht hätte. Sie jedoch fauchte: „Das kann euch doch egal sein und jetzt gehen wir in die Kneipe.“ Sie wusste selbst nicht, warum sie so erpicht darauf war, unter noch mehr Piraten zu kommen, aber wahrscheinlich brauchte sie in diesem Moment einfach die Anerkennung eines Mannes, egal wie niederträchtig er sein mochte. Als Kim früh am Abend, alleine, wiederkehrte, war sie noch niedergeschlagener als zuvor. Keiner der Piraten hatte sich auch nur nach ihr umgedreht. Sie war aus purer Provokation und Selbstüberschätzung mit den Männern in das Lokal gegangen, in dem Marie seit neustem anschaffte. Aber diese unausgesprochene Herausforderung hatte sie haushoch verloren und es war ihr auch anzusehen. Sie schlurfte mit gebeugtem Rücken, wie ein geprügelter Hund an Deck und hoffte, niemand würde sie sehen. Es fröstelte sie und ihr war zum Heulen zumute, dennoch lächelte sie den paar Nachzüglern, die jetzt erst loszogen keck zu und heuchelte, wenn sie einer fragte, warum sie schon wieder da sei: „Die Gesellschaft in dieser Hurerei ist noch abscheulicher als die hier.“ Unwillkürlich rieb sie sich die Oberarme und stellte abwesend fest, während sie über Deck schlenderte, dass sie die Letzte war. Außer ihr war niemand mehr da; sie war vollkommen alleine. Niedergeschlagen ließ sie sich auf dem Hauptdeck an der Reling gelehnt nieder und sah mit fallen gelassenen Mundwinkeln empor zu den Sternen, der unendlichen Kälte des Firmaments. So verweilte sie allerdings nicht lange, sondern zog stattdessen die Beine eng an ihren Oberkörper, schlang ihre Arme darum und bettete das Gesicht auf ihren Knien. Obwohl sie nun so gedrängt dasaß, der Kälte so wenig Angriffsfläche wie möglich überließ, drang sie unerbärmlich durch ihre Haut, in ihre Knochen und Eingeweiden. Kim wusste nicht, ob es wirklich so kalt war oder ob ihre Wahrnehmung sich zu sehr von ihren Gefühlen leiten ließ, dennoch sprang sie mit einem Mal auf und tänzelte auf der Stelle herum, um sich warm zu bekommen. Sie sah sich um. Es war dunkel und sie erkannte alles nur in schwarz und weiß. Selbst die Straßenlaternen strahlten kein wärmendes gelbliches altmodisches Licht aus, sondern stießen ein eisiges, weißes, neumodisches Licht auf den harten Beton. Sie hasste diese Stadt. Und sie hatte sie schon immer gehasst. Alles was sie mit dieser Stadt verband, verband sie mit Schmerz und sie wünschte sich nichts sehnlicher als von hier wegzukommen. Plötzlich bemerkte sie, dass ihr Atem sich, wenn sie ihn ausstob, in ein dampfartiges Nebelwölkchen verwandelte, genau wie damals, in ihrem ersten Winter. Egal, wie wunderlich es auch schien, Kim wunderte sich nicht darüber. Sie war anders, selbst wenn ihr in den Bahamas so kalt war, dass sogar ihr Atem gefror, für sie konnte es normal sein. Noch einmal wanderte ihr Blick durch ihre Umgebung und streifte einen warmen Fleck. Unter der Türspalte zu Jons Kajüte drang Licht hindurch. Es schien wie Kerzenlicht; warm. Es strahlte eine solche Wärme aus, dass es Kim in seinen Bann zog. Sie ging darauf zu und fühlte sich wie in Trance, als sie die Klinke drückte und eintrat. Es überraschte sie, dass er noch da war und ihn erstaunte es andersherum nicht minder. Jon saß an seinem Schreibtisch, über Karten und allerlei Messbesteck gebeugt. Als sie jedoch eintrat und vorsichtig die Tür hinter sich schloss, sah er auf und musterte sie erst erstaunt. Jedoch nur für den Bruchteil einer Minute, dann wandelte sich sein Gesichtsausdruck und seine Lippen umspielte ein warmes Lächeln. Unsicher erwiderte Kim dieses Lächeln und sie musste unwillkürlich daran denken, was Philipe diesen Vormittag zu ihr gesagt hatte. Jon jedoch erhob sich und fragte, sein Herzerwärmendes Lächeln nicht ablegend: „Kim? Kann ich dir helfen?“ Abwesend ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. Er stand in starkem Kontrast zu der Welt außerhalb. Hier war alles in braun und gelb und anderen warmen Farben gehalten, alles strahlte Freundlichkeit und Geborgenheit aus, lud sie ein. Während draußen alles in diesem kalkigen weiß und grau erschienen war, unfreundlich und ausladend. Als sie Jons fragenden Blick bemerkte, der auf ihr ruhte, lächelte sie erneut unsicher und sagte: „Ich habe mich gefragt, ob ich dir etwas Gesellschaft leisten darf.“ Freundlich antwortete er: „Natürlich, mach es dir auf meinem Bett bequem, ich kann mich leider nicht um dich kümmern, da ich unseren nächsten Kurs ausrechen muss.“ Sie tat, was er ihr vorgeschlagen hatte und mummte sich in seine Decke ein. Sie spürte, wie sich die Wärme des Raumes angenehm Kribbelnd in ihren Körper übertrug; in ihren Kopf, ihren Rumpf, die Arme, die Hände, die Beine, die Füße und ganz zum Schluss erwärmten sich auch ihre Zehen. Sie musterte Jon stumm. Er war vollkommen anders als sämtliche Piratenkapitäne. Anstatt wie jeder ordentliche Captain mit seiner Crew einen draufzumachen, saß er hier allein in seinem Kämmerchen und brütete über Karten und Zirkeln und dergleichen. Andere Kapitäne segelten einfach drauf los und entschieden dann über den Kurs, den sie einschlagen würden. Jon jedoch saß hier, rechnete alle Möglichkeiten durch und wog sie ab. Als er ihren durchdringenden Blick bemerkte, sah er leicht verunsichert auf und fragte: „Was ist denn los?“ Doch im nächsten Moment war er aufgestanden, um den Schreibtisch herumgegangen und hatte sich vor ihr hingehockt. Nun besorgt fragte er: „Bedrückt dich etwas Kim?“ Sie jedoch wollte ihn nicht ausnutzen um ihm ihre Probleme zu schildern. Sie wollte sich beweisen, dass Philipe im Unrecht war. Und so entgegnete sie: „Hier ist es schön warm. Draußen ist es so kalt.“ Jon verstand offensichtlich nicht, was sie meinte, schüttelte den Kopf, als würden ihre Worte dadurch verständlicher werden und sagte, als er es noch immer nicht verstand: „Du bist heute seltsam. Was ist los? Du kannst mir doch erzählen, wenn etwas ist. Das weißt…“ „Ich will dich nicht ausnützen!“, unterbrach sie ihn und vermied den direkten Augenkontakt. Verwirrt fragte Jon: „Wieso solltest du mich ausnutzen, wenn du mir erzählst, was dich bedrückt, das hast du doch auch früher immer getan und ich kann mich nicht entsinnen, dass es mich jemals gestört hätte, oder dass ich mir ausgenutzt vorkam.“ Zögerlich, so dass er es kaum verstand, fragte sie: „Nimmst du mich in den Arm?“ Verwirrt legte Jon seine Arme um sie und Kim genoss die Wärme und den angenehmen Duft, den sein Körper ausstrahlte. Schließlich strich er ihr durch die Haare und fragte leise, flüsterte schon fast: „Was ist denn los, Lilay? Wieso bist du so niedergeschlagen?“ Ihren Kopf an seine Brust lehnend wisperte sie: „Hältst du es denn für angebracht mich Little Lady zu nennen? Inzwischen bin ich erwachsen geworden, ich bin jetzt 23.“ „Und was macht das für einen Unterschied? Für mich bleibst du immer meine kleine Kim, meine Lilay oder stört es dich?“ Sie hörte ein wenig Zweifel in seiner letzten Frage mitschwingen, doch sie schüttelte den Kopf und entgegnete, innerlich lächelnd: „Du bist neun Jahre älter als ich und auch einen ganzen Kopf größer, Großväterchen, also stimmt es doch eigentlich.“ Lachend verwuschelte er ihr die Haare und rief: „Großväterchen? Kann ja sein, dass ich über dreißig bin, aber das ist noch längst kein Grund mich Großväterchen zu nennen!“ Ebenfalls lachend entschuldigte sie sich und er ließ von ihr ab. Er lag nun halb auf ihr; als sie das bemerkte, errötete sie leicht und schob ihn von sich. Das Licht flackerte ein wenig und Jon wurde wieder ernst. In diesem Licht sah sein Gesicht alt, müde und traurig aus und er fragte: „Nun sag mir schon, was dich bedrückt. Ich höre dir gerne zu.“ „Aber du musst doch den Kurs berechnen“, wich sie ihm aus. Jon jedoch lächelte abgestumpft: „Wenn du mich so anstarrst kann ich ohnehin nicht arbeiten.“ Sich erhebend, sagte sie, seinem Blick ausweichend: „Dann ist es wohl besser, wenn ich gehe, schließlich möchte ich dich nicht von der Arbeit abhalten. Gute Na…“ Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als er sie am Handgelenk packte und wieder zu sich aufs Bett zog. Ihr stockte der Atem, als er sie durchdringend musterte, doch traute sie sich nicht ihren Blick abzuwenden. Ein wenig ängstlich fragte sie sich, was Jon wohl als nächstes vorhatte. Er kam ihrem Gesicht ganz nahe; wollte er sie küssen? Sie schluckte schwer und war wie gelähmt. Doch Jon tat nichts dergleichen. Vollkommen ernst streichelte er ihr mit der anderen Hand über die Wange und blieb in Schweigen gehüllt. Kim jedoch wich zurück und flüsterte: „Du machst mir Angst.“ Aber anstatt seinerseits auch zurückzuweichen, kam er ihr noch näher und fragte: „Warum?“ „Ich weiß nicht“, flüsterte sie mit zitternder, gebrochener Stimme. Schließlich ließ Jon sie los, stand auf und fragte sie, das Gesicht ihr abgewandt: „Du weichst mir aus. Das ist mir schon seit geraumer Zeit aufgefallen. Anfangs dachte ich, du müsstest dich erst wieder an das Schiff, die Piraten, das Leben und mich gewöhnen, aber langsam glaube ich, dass das keinesfalls der Grund dafür ist. Nur ist mir der Grund dafür eigentlich auch relativ egal, wenn du nur bald wieder die Alte bist und mit mir redest.“ Kim seufzte und sagte: „Jon, die ‚Alte’ zu werden ist unmöglich. Das ist nun schon fünf Jahre her, du kannst nicht von mir verlangen, diese fünf Jahre zu vergessen und wieder zu werden wie früher.“ Er wirbelte herum und funkelte sie zornig an, dann brüllte er: „Aber warum? Warum kannst du nicht einfach wieder so sein wie früher?“ „Weil Menschen sich verändern, Jon“, entgegnete sie ruhig, seinen kindlichen Wutausbruch überspielend. Er jedoch zürnte weiter: „Nein, nein, nein! Ich habe mich nicht verändert! Garret, Terry und Laffite auch nicht! Warum also du?“ Vorsichtig ging sie auf ihn zu, schüttelte den Kopf, ergriff seine Hand und erklärte: „Du hast Unrecht, Jon. Du, Garret, Terry und Laffite, ihr habt euch ebenso verändert wie ich jedoch bemerkt ihr es nicht. Der Mensch ist in einer ständigen Metamorphose; er nimmt Eindrücke auf, verarbeitet diese, vergisst diese, nimmt wieder neue auf. Du dachtest, es wäre so einfach, du nimmst mich mit und alles wird, wie es früher war. Ich muss gestehen, anfangs habe ich genauso gedacht, doch ich musste erkennen, dass es so nicht geht. Wir haben das alles zu naiv, zu oberflächlich betrachtet.“ Jon sah sie ungläubig an und erwiderte nichts. Er hatte allen Zorn mit ihrer Berührung seiner Hand verloren und dachte darüber nach, was sie da eben gesagt hatte. Sie sah genau in seinen Augen, dass er verstand und es ihn beschäftigte. Für eine Weile rührte sich keiner, dann machte Jon sich von ihr los und fragte: „Möchtest du etwas trinken?“ Sie nickte und er ging zu einem Schrank, holte dort zwei Gläser und eine Flasche Rum heraus und füllte die Gläser bis zur Hälfte mit dem bräunlichen Getränk. Eines drückte er ihr in die Hand, das andere behielt er selbst. Sie stießen an und murmelten gleichzeitig „Prost“, bevor sie die Gläser in einem Zug leerten. Schließlich fragte Jon: „Warum bist du heute nicht in der Stadt?“ „Warum bist du nicht in der Stadt?“, entgegnete sie. Achselzuckend antwortete er: „Ich fragte zwar zu erst, aber ich bin heute auf dem Schiff geblieben, um in Ruhe den neuen Kurs zu berechnen. Es stört mich, wenn dabei ständig Männer in meine Kajüte rennen, ich todmüde bin, oder gar nicht richtig zum nachdenken komme, weil ich der Crew alles dreimal sagen muss.“ Er schien leicht genervt, so lächelte sie: „Ach, so ist das. Ich verstehe und ich glaube, dass ich es nicht anders machen würde. Aber sag mal, Jon, wie berechnet man eigentlich einen Kurs? Wie nennt man das ganze Zeug auf deinem Tisch?“ Sie versuchte dringend vom Thema abzulenken und es schien ihr auch zu gelingen, denn er antwortete: „Meinst du das Besteck? Ach, Kim, was soll man nur mit dir anstellen, jeder halbwüchsige Matrose weiß, dass es Besteck heißt.“ Dann aber stockte er und blaffte sie im nächsten Augenblick an: „Lenk gefälligst nicht vom Thema ab, Lilay! Ich fragte dich, warum du nicht in der Stadt bist und erwarte eine wahre Antwort, schließlich habe ich dir auch geantwortet!“ Um eine Antwort verlegen begann sie herumzudrucksen und Jon, dem allmählich der Geduldsfaden riss, herrschte sie an: „Nun stell dich nicht so an!“ Sie senkte den Blick und er fragte, mit nun leiser, besorgter Stimme: „Was ist denn mit dir? Hat dir jemand was getan?“ Affektiert lächelnd sah sie auf, schüttelte den Kopf und entgegnete: „Nein, nein. Lass uns doch ein wenig laufen gehen.“ Verwundert stimmte er zu und wollte gerade in Richtung Tür gehen, da eilte Kim zu dem Stuhl, der an Jons Schreibtisch stand, nahm den Mantel, der über die Stuhllehne gelegt war und ging damit zu Jon. Mit den Worten „Draußen ist es kalt“ legte sie ihm den dunklen Mantel, aus teurem Stoff und mit goldenen Knöpfen um die Schultern. Entgeistert sah er ihr zu, wie sie nun auch noch zur Truhe ging und die Wollmütze, die darauf lag, holte, um sie ihm über die Ohren zu ziehen. Anschließend hakte sie sich bei ihm unter und ging neben ihm aus der Kajüte, hinaus in die ausladende, kühle Dunkelheit. Lange Zeit gingen sie, fast kein Wort wechselnd, nebeneinander her, bis sie an den Rand der Stadt kamen. Hier war es noch finsterer. Laternen gab es nicht und auch der Mond hatte seinem Dienst versagt, da sich dunkle Wolken vor ihn gedrängt hatten. Abrupt blieb Jon stehen, sah unsicher in den Himmel und fragte zweifelnd: „Sollen wir nicht besser umdrehen? Ich glaube, es beginnt gleich zu gewittern.“ Kaum hatte er das gesagt, spürte sie auch schon den ersten Tropfen auf der Haut ihres ungeschützten Arms. Immer wieder hatte Jon ihr angeboten, ihr seinen Mantel zu geben, doch jedes Mal hatte sie abgelehnt. Im nächsten Moment schüttete es wie aus Eimern und sie hatten sich noch keinen Zentimeter weiterbewegt. Nun reichte es Jon. Er nahm seinen Mantel, hielt ihn über sich und Kim und schob sie mit dem Ellenbogen wieder zurück in Richtung Stadt. Sie lief neben ihm her und außer Atem kamen sie unter der Überdachung einer Eingangstüre zum Stehen. Kim stützte die Arme auf die Beine und atmete stoßweise. Auch Jon war aus der Puste. Er lehnte sich gegen die Wand und ließ sich schließlich daran herunterrutschen. Besorgt fragte er: „Kim? Möchtest du jetzt nicht doch meinen Mantel anziehen? Er ist imprägniert.“ „Und was ist dann mit dir?“, fragte sie, sich ihm gegenüber setzend. „Ach wo, ich bin Seemann, schon vergessen? Das härtet ab“, entgegnete er lachend und gab ihr seinen Mantel, den sie dankend annahm und sich schlotternd darin einmummte. Sie verbarg das Gesicht bis zu den Augen im Kragen und atmete unweigerlich den Duft des Mantels ein. Er roch nach dem Imprägniermittel, aber nur schwach. Jons leicht süßliches Parfüm überdeckte den beißenden Geruch fast vollständig und sie sog diesen angenehmen Geruch immer wieder ein und versuchte, darauf zu achten, dass Jon es nicht mitbekam. Doch der fragte: „Nun erzähl mir aber was ist. Ich mache mir immer mehr Sorgen, du warst sonst nie so verschlossen auch nicht an Bord der Miloké.“ „Ach, Jon“, seufzte sie und steckte die Hände in die riesigen Taschen des Mantels. Schließlich sagte sie, so leise, dass er sie kaum verstand: „Es ist wegen Philipe.“ „Wegen Philipe?“, brauste er auf. „Was hat der Hornochse jetzt wieder angestellt? Hat er dir Gewalt angetan? Soll ich ihn bestrafen?“ Erschüttert schüttelte sie den Kopf und gab zurück: „Nein, um Gottes Willen, Philipe ist doch gar nicht der Typ, der einer Frau Gewalt antut. Es ist nur so, dass ich mich, glaube ich, nur ein Wenig, ein ganz kleines Bisschen…“ „In ihn verliebst hast?“, beendete er den Satz für sie. Er sah ihr fest in die Augen und falls es ihm etwas ausmachte, dann wusste er seine Gefühle gut zu verstecken. Vorsichtig nickte Kim und fuhr fort: „Nun,… ja. So ist es. Aber leider will er nichts davon wissen.“ „Aber ich dachte, ich hätte gestern Abend noch gesehen, wie ihr euch küsstet oder hat mir der Alkohol da einen Streich gespielt?“, unterbrach er sie und sie seufzte: „Nein, du hast richtig gesehen. Noch gestern Abend haben wir uns geküsst. Aber als ich heute zu ihm kam und ihn erneut küssen wollte, da hat er mich zurückgewiesen und gesagt, der Kuss wäre einmalig gewesen und auf den Alkohol zu schieben.“ Eine Weile schwiegen sie beide, dann kniete sich Jon vor sie und schlang seine Arme um ihren Körper. Mitfühlend flüsterte er: „Du Arme, hast auch kein Glück bei den Männern.“ Warum sagte er das? Warum konnte er so mitfühlend sein, obwohl er sie liebte? Oder waren seine Gefühle inzwischen abgeflaut? In diesem Moment erhellte ein Blitz das Geschehen mit seinem kalten, grellen Licht und kurz darauf folgte das tiefe Grollen des Donners. Als das Brüllen dessen verklungen war, wurde Kim leicht übel und sie wusste, woran das lag. Sie hatte den ganzen Tag noch kaum etwas gegessen. Krampfhaft versuchte sie das Naherückende Rumoren ihres Magens zu unterdrücken, doch er knurrte im nächsten Augenblick laut und schikanierend. Plötzlich begann Jon zu lachen und prustete: „War das etwa auch ein Donner, oder war es dein Magen, Kim?“ Leicht errötend sparte sie sich die Antwort, denn Jon ließ sich gegen die Wand ihr gegenüber fallen und hielt sich schon den Bauch vor Lachen. Kim jedoch verschränkte die Arme vor der Brust und sagte beleidigt: „Also erstens war das gar nicht so laut, zweitens finde ich das überhaupt nicht lustig und drittens habe ich tierischen Hunger.“ Langsam beruhigte sich Jon wieder und keuchte, weil ihm vor lauter Lachen schier die Luft weggeblieben war: „Dann lass uns etwas essen gehen, ich habe auch Hunger.“ „Aber ich habe…“, setzte sie an, doch Jon wusste, was sie sagen wollte und fiel ihr ins Wort, den Arm um ihre Schulter legend und sie mit sich durch den Regen ziehend: „Ich lad dich ein, in meinem Mantel ist meine Börse, also mach dir keine Gedanken.“ Na? Wer konnte Marie auch nicht ausstehen? xD (Das geht jetzt natürlich nicht gegen dich, Marie... mir ist erst beim nochmaligen Durchlesen aufgefallen, dass sie den gleichen Namen hat wie du oÔ) Ich hoffe, dass euch das Kapitel gefallen hat und verzeiht mir bitte wieder meinen schlechten Stil von früher uû Danke sehr LG, Terrormopf :] Kapitel 7: Die Briten --------------------- Es war warm; die Sonne brannte ihr aufs Haupt und die Möwen schrieen. Sie ging schweigend an einem weißen Sandstrand entlang, neben ihr eine Frau, vielleicht 35, vielleicht 40, sie konnte es nicht genau feststellen, aber wäre sie so alt wie Kim gewesen, wäre sie ihr Ebenbild. Lange Zeit schwieg auch sie, doch schließlich lächelte sie: „Du bist gewachsen, Kimberley, wie alt bist du nun?“ „23“, antwortete sie knapp. Die Frau an ihrer Seite seufzte. „Wie schnell doch die Zeit vergeht. Kennst du mich noch?“ „Ja.“ „Und hast du das Armband noch?“ Zur Antwort hob Kim den Arm an dem das goldene Ding schimmerte. „Du warst also ein Jahr lang verheiratet? Mit Emil oder wie er hieß?“, fragte die Frau. Zornig brauste Kim auf: „Emilio! Er hieß Emilio!“ Nachsichtig lächelnd entgegnete die Frau: „Ja richtig, verzeih. Er ist tot, nicht?“ „Ja.“ „Alice hat ihn also doch umgebracht. Sie lässt sich viel zu sehr von ihren Gefühlen leiten.“ Kim stockte und blieb abrupt stehen. „Woher wisst Ihr das?“ Ungerührt lief die Frau weiter und erzählte in dem immer gleich bleibenden freundlichen Ton: „Ich weiß alles, was die Untoten tun.“ „Aber woher? Steckt Ihr etwa mit denen unter einem Hut? Was würde das denn bringen?“ „Komm mit ins Haus, wir wollen eine Tasse Kaffee zusammen trinken“, lächelte die Dame freundlich. Kim kam nicht mehr dazu, zu antworten, denn ihre Umgebung wurde für einen Augenblick vollkommen schwarz und dann befand sie sich in einer großen Küche. Der Raum war durchflutet von Licht, das durch riesige Fenster eindrang. Die Frau sagte sanft aber bestimmend zu ihr: „Setz dich, ich mache uns Kuchen und vielleicht einen Eiskaffee?“ Unterwürfig tat Kim wie ihr geheißen und nickte kaum merklich. Skeptisch musterte sie die Fremde, die ihr so ähnlich sah. Mit einem Schwenk ihrer Hand öffnete die Dame eine Schranktüre und durch eine weitere Handbewegung flogen zwei Gläser durch die Luft und landeten schließlich auf dem Tisch, das eine vor Kim, das andere am Platz ihr gegenüber. Dies wiederholte die Frau noch mit Tellern und Besteck, dann ließ sie in den Gläsern Eiskaffee erscheinen und auf den Tellern zwei herrliche Stücke Erdbeertorte. Sie setzte sich Kim gegenüber, aß eine Gabel, hielt jedoch mitten beim Kauen inne, musterte Kim und fragte, als diese nicht begann zu essen: „Magst du keine Erdbeeren?“ „Doch, doch“, lächelte Kim affektiert. Die Frau ihr gegenüber jedoch musterte sie ungeniert und fragte: „Und warum isst du dann nicht, Kimberley?“ „Ich habe keinen Hunger“, sagte sie wahrheitsgemäß. Doch ihre Gegenüber widersprach: „Ach, Papperlapapp! Du isst jetzt brav deinen Kuchen und ich erzähle dir, wo das Buch ist, schließlich wirst du schon bald hierher kommen.“ Unwillkürlich begann Kim die Torte zu essen und fragte mit vollem Mund: „Wo schin wir chier eischendlisch?“ „Schluck erst einmal runter, sonst versteht man ja kein Wort.“ „Wo sind wir hier eigentlich?“, wiederholte sie ihre Frage. „Diese Insel von der Ihr mir vor fast zehn Jahren erzählt habt, Coude de pluie. Es hieß zwar immer, dass Ihr dort lebtet, aber ich kann das nicht glauben, diese Insel der Regenbogen ist nur ein Märchen. Also, wo sind wir hier?“ „Du bist tatsächlich viel reifer geworden“, seufzte die Frau. „Und klüger. Du hast Recht, diese Insel gab es nie. Woher das Gerücht kommt weiß ich auch nicht, aber damals, als ich dich das erste Mal traf, da habe ich es dir erzählt, damit du beginnst dich damit auseinanderzusetzen.“ „Ihr habt meine Frage noch immer nicht beantwortet.“ „Wir sind hier auf der Insel Mamana; Heutzutage wird sie aber Rum Cay genannt. Aber ich wollte dir eigentlich sagen, wo das Buch ist. Nun, ich habe dir Gin Hill Manor ja schon einmal gezeigt, nicht? Es ist im oberen Studierzimmer. Kannst du dich noch daran erinnern?“ Kim nickte stumm. Und die Frau lächelte sie freundlich an. „Gibt es noch irgendetwas, was ich wissen sollte, bevor ich gehen muss?“, fragte Kim, die Gabel niederlegend. Die Frau, die ihre Torte bis auf diesen ersten Bissen nicht angerührt hatte, lächelte: „Ja, das Gemälde musst du gegen das Licht halten, kapert das nächste britische Schiff, das ihr seht, egal welches. Und noch etwas: Die Untoten unterstehen nicht mehr meinen Befehlen. Aber jetzt ist es genug. Wach auf!“ „Wartet! Was heißt nicht mehr? War es denn mal so? Nein! Halt!“, rief Kim noch, doch es war zu spät, denn schon während des zweiten Satzes fand sie sich im Bauch der Miloké wieder und hatte die halbe Mannschaft geweckt, was ihr nicht gerade viel Sympathie unter den Piraten einbrachte. Ihr Ruf war ohnehin schon schlecht. Eine Frau auf einem Schiff und noch dazu das von Piraten; absurd! Vorsichtig, um nicht aus der Hängematte zu fallen, drehte sie sich auf den Bauch, sah durch die Maschen auf Philipe, der immer noch unter ihr lag und sie barsch anfuhr und sie fragte ihn: „Kannst du mich kurz runter lassen?“ Gereizt knurrte er: „Das ist aber ein einmaliges Billet, kein Rückfahrschein!“ „Jaja, ist egal“, entgegnete sie hastig und setzte erst den einen Fuß auf Philipes Hängematte, aus der er kurzfristig aufgestanden war, dann den zweiten und dann sprang sie auf die harten Holzplanken, bedankte sich rasch bei Philipe und lief durch die Reihen sich beschwerender Piraten an Deck und dann geradewegs in Jons Kajüte. Sie musste es ihm erzählen, zwar nicht alles, aber wenigstens das mit dem britischen Schiff. Als sie ihn aufgebracht wachrüttelte, fragte er mürrisch was denn in sie gefahren sei, doch sie achtete nicht auf seinen mürrischen Tonfall, sondern erzählte: „Jon, das nächste britische Schiff, das wir kreuzen musst du angreifen, bitte, frag nicht warum, tu es einfach!“ „Was willst du?“, fragte er gähnend und richtete sich auf. „Das nächste britische Schiff? Was für eines denn? Ist es ein Handelsschiff, wie heißt es denn?“ „Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass wir das nächste britische Schiff dem wir begegnen angreifen müssen“, entgegnete sie aufgebracht. Jon allerdings, der sich aufgesetzt hatte, ließ sich nach hinten umfallen, drehte ihr den Rücken zu und knurrte: „Finde erst einmal Details heraus, dann können wir noch mal darüber reden und dann bitte nicht mitten in der Nacht.“ Schnaufend stapfte sie aus seiner Kajüte und ließ die Tür geräuschvoll ins Schloss knallen. Zornig stiefelte sie über Deck und trat wütend gegen den Hauptmast. Wieso hörte Jon ihr nicht zu? Noch vor ein paar Wochen hatte er sich beschwert, dass ihre Beziehung nicht war wie früher, doch wenn er das wirklich wollte, hätte er ihr zugehört und sie nicht getadelt. Sie kickte missmutig einen Eimer über Deck und von dem Lärm wurde die Ankerwache aufgeschreckt. Vom Krähennest her rief ihr Tito zu: „Hey, du! Was machst du um diese Uhrzeit hier draußen so einen Lärm? Es ist Nachtruhe!“ Ihn ignorierend trat Kim noch einmal fest gegen den Eimer. Er flog scheppernd gegen die Tür der Speisekammer und zersplitterte. Im nächsten Moment stand jedoch Tito hinter ihr, packte sie grob am Handgelenk und zerrte sie in Richtung der Treppe, die unter Deck führte. Kim allerdings wehrte sich. Sie war in keinster Weise sie selbst. Als jedoch alles nichts half, biss sie ihm in dem Moment als er gerade vor der Treppe stehen blieb in den Arm, dass er sie fluchend losließ und sich den leicht blutenden Arm hielt. Gerade betrachtete er die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte, da schlug Kim ihm mit der geballten Faust ins Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, was das brachte, aber sie wollte sich abreagieren. Der Wind heulte laut auf und die Kette des Ankers rasselte gefährlich, da kam der Mond wieder hinter den Wolken hervor und Tito taumelte überrascht zurück. Kim kam erneut auf ihn zu, doch er rechnete damit, packte ihren Arm, und drehte ihn auf ihren Rücken, bis sie vor Schmerz aufschrie. Er wiederum raunte: „Kleines Biest, jetzt bring ich dich zum Captain, dass er dich bestraft!“ Damit setzte er sich, ihre Schmerzens- und Zornesschreie ignorierend, genauso wie die schaulustigen, die vom Lärm angelockt worden waren, in Bewegung und stieß Jons Tür auf. Kim brüllte ihn an: „Lass mich los, du grober, ungehobelter Flegel! Lass mich endlich los, verdammter Bastard! Du tust mir weh, zum Teufel!“ Im nächsten Moment stand Jon vor ihr. Es war dunkel und der Mond versteckte sich wieder hinter den Wolken, da fragte er: „Was ist denn los?“ Tito schubste Kim, die sich steif wie ein Brett gemacht hatte, in den Raum und hinter ihnen drängte sich der Rest der Piraten. „Sie war zu dieser Zeit an Deck, hat einen Eimer mutwillig zerstört und versucht mich zu verprügeln!“ Ein Lachen ging durch die Reihen der Piraten, doch Tito bellte: „Maul halten!“ Und auch Jon gebot ihnen Schweigen. Dann wandte er sich an Kim, die, die Haare zerzaust, den Kopf nach unten gerichtet und um die Schmerzen einigermaßen erträglich zu machen, nach vorne gebeugt stand und fragte sie: „Ist das wahr, Kim?“ Zornig hob sie ihr Angesicht und zischte: „Ja.“ Kopfschüttelnd sagte er zu Tito: „Und hat sie dir weh getan?“ Entschlossen antwortete Tito: „Nein, Sir.“ Doch Kim lachte irr auf und höhnte: „Ich habe dir nicht wehgetan? Ich habe dich gebissen, bis dir die Tränen in den Augen standen und dich geschlagen, dass dein Auge noch blau und dick wird wie eine Zwetschge!“ Wieder lachten die Piraten belustigt auf, verstummten aber jäh bei dem Markerschütternden Schrei, den Kim ausstieß, als Tito ihren Arm noch weiter verdrehte und nach oben drückte. Jon jedoch sagte ruhig: „Und was gedenkst du, soll ich jetzt mit ihr tun?“ „Sie bestrafen!“, rief er wild. Alles war Mucksmäuschen still geworden und Jon sagte kühl: „Nein.“ Wütend brauste Tito auf: „Und warum nicht? Sie ist ein Mitglied wie alle anderen auch und sie hat die Regeln gebrochen. Warum solltest du sie also nicht bestrafen?“ Zustimmendes Gemurmel machte sich unter den Piraten breit, doch Jon blieb ausdruckslos und entgegnete: „Weil sie schon nach einem Peitschenhieb zusammenbrechen würde.“ Damit war für ihn das Thema vom Tisch. Wutschnaubend stieß Tito sie Jon vor die Füße und wollte sich gerade wieder umdrehen und zornig von dannen treten, da witterte Kim ihre Chance. Würde sie jetzt eine Strafe bekommen, war sie ein akzeptiertes Mitglied der Crew, würde sie der Strafe entgehen, würde sie immer einen Sonderstatus besitzen und auch Jon in die Gefahr einer Meuterei bringen. Also sagte sie leise: „Nein.“ Verblüfft hielt Tito inne und Jon fragte: „Was sagtest du?“ Nun richtete Kim sich auf und sagte lauter, sich den immer noch schmerzenden Arm haltend: „Tito hat Recht, Jon! Ich bin ein Mitglied wie jedes andere und habe es mir selbst zuzuschreiben, wenn ich jetzt bestraft werde.“ Verwundert fragte Jon: „Bist du dir sicher, Kim?“ Entschlossen nickte sie. „Also dann“, sagte Jon. „Geh schon raus, ich ziehe mir rasch etwas über und komme dann mit der Peitsche nach.“ Draußen hatten die Piraten einen Kreis um Kim gebildet und Kim sah zu Tito, der sie schadenfreudig angrinste. Sie jedoch grinste gehässig zurück, weil sie genau sah, dass sein Auge jetzt schon anschwoll. Als Jon zu ihr kam, die Peitsche in der Hand, fragte er leise: „Bist du dir sicher?“ Sie nickte jedoch nur. Dann sagte Jon lauter, so dass ihn alle verstehen konnten: „Ich werde die Strafe selbst durchführen, dann…“ Doch Kim unterbrach ihn laut: „Nein!“ Entgeisternd zog sie damit alle Blicke auf sich und fuhr fort: „Ich will nicht, dass du es tust. Du würdest milde zuschlagen, egal was du sagst, oder ob du es wirklich wolltest, du kannst es nicht tun. Ich will, dass es Tito tut.“ Nun fuhr Jon sie leise an, sodass nur sie ihn verstehen konnte: „Bist du des Wahnsinns? Der Prügelt alles Leben aus dir heraus.“ „Jon, ich habe es entschieden und es ist besser so.“ Resignierend schüttelte Jon den Kopf und sagte, das Gemurmel, das sich erhoben hatte, übertönend: „Nun gut, dann soll Tito die Ehre gebühren.“ Grinsend kam Tito auf ihn zu, übernahm die Peitsche und Jon sagte zu ihm: „Aber lass sie wenigstens am Leben.“ Tito gab keine Antwort darauf und als Jon an Kim vorbeiging, raunte sie ihm zu: „Und achte ja darauf, dass er alle Schläge durchführt.“ Leicht besorgt nickte Jon und stellte sich zu Laffite und Terry, die sogleich auf ihn einredeten: „Captain, das kannst du nicht zulassen! Der bringt sie um!“ Aber Jon knurrte: „Ruhe! Ihr haltet sie, wenn sie droht zu fallen.“ „Wie viele Hiebe soll sie bekommen?“, fragte Tito sich die Lippen leckend. „Zehn!“, antwortete Jon ihm. Kim hatte Angst und es fiel ihr schwer das Zittern in ihren Knien zu unterdrücken, doch sie war fest entschlossen, sich Ansehen innerhalb der Mannschaft zu erbauen. Gerade stellte sie sich vor, wie es wohl wehtun würde, würde es brennen, drücken oder sonst etwas, da sauste die Peitsche auf ihren Rücken hinab und es schmerzte mehr, als sie es sich hatte vorstellen können. Sie unterdrückte einen Aufschrei, da fuhr auch schon der zweite Schlag auf sie hernieder. Diesmal entglitt ihr ein Stöhnen, noch niemals in ihrem Leben hatte sie solche Schmerzen erleiden müssen. Fast wünschte sie, doch Jon hätte die Strafe durchgeführt, aber so war es besser. Der dritte Schlag traf sie und sie schwankte ein wenig. Alles um sie herum war still, sie nahm kein anderes Geräusch wahr als den Pfeifton in ihrem Ohr. Nach dem vierten Schlag schrie sie auf, schwankte gefährlich und stolperte einige Schritte nach vorne, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sie spürte, wie die Naht ihres Shirts riss und es drohte, die Sicht auf ihre Brüste freizugeben. „Worauf wartet ihr beiden Idioten denn noch?“, brüllte Jon Laffite und Terry an, die an Kims Seite eilten, sie zu halten und auch ihr T-Shirt. Der fünfte Schlag traf sie und sie ließ sich, die Muskeln erschlaffend, von Terry und Laffite halten, nicht mehr fähig selbst zu stehen. Nach dem sechsten Schlag versagte ihr auch die Stimme und ihr Blick wurde trübe. Sie spürte nichts mehr, nahm nichts mehr wahr außer dem Schmerz. Sie bemerkte gerade noch, wie Tito nach dem siebten Schlag inne hielt und Jon fragte: „Reicht das nicht, Captain?“ Doch Jon sagte, sich arg zusammenreißend: „Nein! Noch drei Schläge. Und hüte dich, leichter zuzuschlagen als zuvor, sonst warten zwanzig Peitschenhiebe auf dich!“ Ihn entsetzt anstarrend, fragte er: „Sicher, Captain?“ „Mach weiter, verdammt!“, brüllte Jon ihn an und Kim hob den Kopf etwas, um ihn anzulächeln, doch der Schmerz des achten Hiebes ließ sie das Gesicht vor Schmerz verziehen. Sie wäre am liebsten in Ohnmacht gefallen, doch der Schmerz hielt sie bei Sinnen. Noch zwei Schläge, nur noch zwei Hiebe, zählte sie verzweifelt mit. Da durchschnitt die Peitsche erneut die Luft und traf hart auf ihren Rücken. Nun konnte sie wirklich an nichts mehr danken, als an den Schmerz. Es war unerträglich und nicht einmal schreien konnte sie. Oder schrie sie? Sie wusste es nicht mehr. Nach dem letzten Schlag ließ Tito völlig neben sich die Peitsche fallen, lief zu Kim, hob ihr Gesicht an und fragte: „Ist alles Okay? Kim, sag etwas!“ Doch sie hörte ihn nicht. Das Pfeifen in ihrem Ohr übertönte alle anderen Geräusche. Jon schob Tito grob beiseite und herrschte Laffite und Terry an: „Bringt sie in meine Kajüte und legt sie bäuchlings auf mein Bett!“ Er wollte ihnen folgen, doch Tito hielt ihn auf und fragte, kreidebleich im Gesicht: „Warum hast du nicht gesagt, ich solle aufhören? Sie ist doch eine gebrechliche Frau!“ Die anderen Piraten stimmten ihm zu, doch Jon gebot ihnen Einhalt und knurrte: „Hast du nicht vor zehn Minuten noch gesagt, sie sei ein Mannschaftsmitglied wie jedes andere und solle auch nicht anders behandelt werden?“ „Ja, aber da war ich wütend!“, rechtfertigte sich Tito. Doch Jon ließ ihn nicht ausreden und sagte: „Außerdem hat sie mich selbst darum gebeten.“ So ließ er Tito und die anderen Piraten, große Augen machend, zurück. Als er in seine Kajüte kam, brausten Laffite, Terry und Garret, der mit ihnen gekommen war, auf: „Was hast du dir dabei gedacht, Jon? Kim könnte jetzt gut tot sein, so fest wie Tito zugeschlagen hat.“ Doch Jon sagte ruhig: „Bringt mir Alkohol und lasst uns dann allein.“ Als die Drei jedoch keine Anstalten machten zu gehen, sondern weiter auf ihn einschimpften, brüllte er: „Na los, wird’s bald? Das ist ein Befehl!“ Schockiert verließen die Drei seine Kajüte und brachten ihm wenig später den erwünschten Alkohol. Kurz bevor Terry jedoch die Tür hinter sich zuzog, knurrte er: „Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, Captain, dann sei dir gewiss, dass du sehr große Probleme bekommst!“ Jon setzte sich neben Kim. Wütend schraubte er den Deckel des Rums auf und goss den Inhalt der Flasche über Kims nackten Rücken. Dabei brüllte er: „Verdammt, Kim, was sollte denn das? Wieso verlangst du so etwas von mir? Du bist doch verrückt! Ist dir eigentlich klar, dass du hättest draufgehen können? Verflucht, Kim, antworte mir, wenn ich mit dir rede!“ Er packte sie unsanft an der Schulter und schüttelte sie. Ein schmerzerfülltes Stöhnen entglitt ihr und er ließ entsetzt von ihr ab. Dann flüsterte er: „Es tut mir Leid, Kim, verzeih mir, ich wollte dir nicht wehtun. Es tut mir so Leid.“ Kim spürte, dass er nervlich vollkommen am Boden war und nicht mehr wusste, was er tun sollte. Unter großen Schmerzen, die Zähne zusammenbeißend, richtete sie sich auf, setzte sich ihm gegenüber, sah ihm fest in die Augen und schloss dann die Arme um ihn. Sie merkte, wie gut es ihm tat, das Gesicht einfach nur an ihrer Brust zu bergen und sich fallen zu lassen. Sich nicht zu schämen, weil er vor ihr saß, in all seiner Menschlichkeit, schwach. Er weinte nicht, aber sie fühlte, dass nicht mehr viel fehlte. Zitternd flüsterte er: „Kim, ich hatte so Angst, noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst ausstehen müssen. Wieso hast du meinen Vorschlag nicht einfach akzeptiert und die Strafe vergessen?“ Ihre Stimme nicht ganz unter Kontrolle, antwortete sie: „Weil ich keinen Sonderstatus will. Ich bin weder Mätresse, noch Gefangene, ich bin ein vollwertiges Mitglied wie jeder andere in dieser Mannschaft auch. Aber den Männern musste ich das erst beweisen.“ Jon machte keinerlei Anstalten, den Kopf zu heben und so blieb sie noch einige Zeit so sitzen, die Schmerzen, die sie unaufhörlich peinigten und quälten eisern unterdrückend. Nach einiger Zeit allerdings öffnete sich die Tür und Tito trat ein, den Kopf gesenkt. Als er aufsah und sie so sah, da brauste er auf: „Nimm die Finger von ihr, Captain, für solch schmutzigen Dinge kannst du Kim von mir aus jeder Zeit verwenden, aber nicht, wenn sie halbtot ist!“ Verwundert ließen Kim und Jon voneinander ab und sahen an Kim herab. Ihr wurde erst jetzt bewusst, dass sie mit nacktem Oberkörper vor Jon saß und es doch sehr seltsam aussehen musste, wenn er das Gesicht an ihrer Brust barg. Ihnen schoss die Röte ins Gesicht und Jon stellte sich rasch vor Kim, damit Tito nicht noch mehr Blicke auf ihren Körper erhaschen konnte. Dann stotterte er: „Das ist nicht… nicht so wie es aussieht! ... Ich, wir wollten nicht… versteh das doch nicht falsch!“ Zornig brüllte Tito: „Natürlich, was sollte es da falsch zu verstehen geben? Du wolltest sie schon immer haben und jetzt, da ich sie halb totschlagen musste, willst du dir nehmen, was du begehrst! Aber glaub mir, das werde ich nicht zulassen! Kim, komm zu mir, ich bringe dich weg von diesem Lustmolch!“ Damit schob er Jon beiseite und wollte Kim auf die Beine zerren, da schluchzte sie: „Nein! Lass mich! Sieh mich nicht an! Jon, tu irgendwas!“ Sie wünschte, sie hätte weinen können, doch war es ihr genauso wenig vergönnt, wie in Ohnmacht zu fallen. Verwirrt hielt Tito in seiner Bewegung inne und musterte sie genauer. Er hatte ihre Arme genommen und hatte ihr auf die Beine helfen wollen, doch bei dem Anblick ihrer Brüste, schluckte er verkrampft und wandte seinen Blick nicht ab. Diese Situation war Kim so unwahrscheinlich peinlich, dass sie kaum mehr vermochte zu sprechen, oder war es, weil der Schmerz in ihrem Rücken wieder aufflammte? Sie hätte gerne die Beine an ihren Körper gezogen um ihm den Anblick ihrer bloßen Brüste zu verwehren, doch als sie ihre Beine auch nur einen Millimeter bewegte, durchfuhr sie wieder ein unbändiger Schmerz. „Jon…!“, wimmerte sie. Und nun erwachte Jon aus der Starre, die ihn bis eben gefesselt hatte. Er packte Tito und warf ihn aus seiner Kajüte. Mit ihren Händen verdeckte Kim ihre Brust und sah beschämt zu Boden. Sie fühlte sich schmutzig und gebraucht. Sich diskret umdrehend, sagte Jon verlegen: „Leg dich doch lieber wieder hin, Kim.“ Sie tat wie ihr geheißen und biss die Zähne zusammen, um nicht bei der kleinsten Bewegung aufzuschreien. Endlich murmelte sie: „Ich liege wieder.“ Und Jon drehte sich um. Die Schamesröte stand ihm noch immer im Gesicht und er sagte leise: „Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht so in Verlegenheit bringen.“ Doch sie holte nur unter Schmerzen Luft. Alles war nebensächlich geworden, nur der Schmerz blieb. In diesem Moment war sie froh, dass sie nicht weinte, denn hätte sie ein Schluchzer geschüttelt, wäre die Pein noch unerträglicher geworden, als sie ohnehin schon war. Anscheinend bemerkte Jon dies, trat näher an sein Bett heran und fragte besorgt: „Geht es? Hast du starke Schmerzen?“ Als sie nicht antwortete, griff er zu der Flasche Rum und hielt sie ihr an die Lippen, dass sie trank, aber sie konnte nicht und alles lief über ihr Gesicht auf die Kissen. Jon überlegte einige Augenblicke, was er tun sollte, dann flößte er ihr den Alkohol genauso ein, wie sie es damals bei Leo getan hatte. Ihr Bauch zog sich zusammen und für den Moment in dem sich ihre Lippen berührten, ließ der Schmerz nach. Als sie am nächsten Morgen erwachte, kamen zu den Schmerzen in ihrem Rücken noch starke Kopfschmerzen hinzu. Jons Gesicht war dem ihren ganz nahe. Er kniete auf dem Boden, die leere Flasche Rum noch in der Hand und hatte den Kopf neben ihrem auf dem Kissen gebettet. Sie lehnte den Kopf etwas nach vorne, dass sich ihre Stirnen berührten. Sie war vollkommen ruhig, als sie seinen gleichmäßigen Atemzügen lauschte. Das Schiff wiegte sanft hin und her. Nach einiger Zeit richtete sie sich vorsichtig auf und stand auf. Sie ging probehalber ein paar Mal in seiner Kajüte auf und ab, dann ging sie zu einem Stuhl, über dem eines seiner Hemden hing. Dieses zog sie sich vorsichtig über und ging damit hinaus an Deck. Als sie aus der Tür kam, wurde es schlagartig still, alle Blicke waren ehrfürchtig auf sie gerichtet. Nur drei Männer kamen auf sie zugelaufen, es waren Garret, Laffite und Terry, die anscheinend heilfroh darüber waren, dass sie die Nacht unbeschadet überstanden hatte. Nun waren schon wieder drei Monate vergangen und sie hatten überdurchschnittlich viel Glück beim Plündern und Kapern gehabt, doch nie war ein britisches Schiff dabei gewesen. Ihr Rücken war größtenteils wieder verheilt. Sie saß gerade mit Jon, Terry, Garret und Laffite an Deck, da kam Philipe zu ihnen und setzte sich neben Kim. Er war seit jener Nacht ganz anders zu ihr gewesen. Er behandelte sie nun wie einen vollwertigen Menschen, den er respektierte. Dennoch bekam Kim ein flaues Gefühl im Magen, wenn er so dicht bei ihr saß. Am liebsten hätte sie sich dafür selbst eine gescheuert, aber sie konnte nichts dagegen tun und ignorierte das Gefühl so gut es ging. Sie wusste, dass es vergeblich war sich an ihn zu hängen, er war nicht der Typ, der sich band. Damit stand er in starkem Kontrast zu Jon. Unwillkürlich verglich Kim die Beiden miteinander, tadelte sich aber im nächsten Moment selbst dafür. „Kim, du bist!“, holte sie Jons Stimme aus ihren Gedanken zurück. Sie spielten gerade Karten und Kim verlor offensichtlich. Also legte sie die Karten nieder und sagte: „Ich steige aus.“ Grinsend kommentierte Terry: „Wohl doch kein ganzer Mann?“ Das war eine Anspielung auf ihre Bestrafung, sie hatte ordentlich Eindruck geschunden und war als Mitglied der Crew akzeptiert worden. Schnippisch erwiderte sie: „Sogar ein Held weiß, wann man aufhören muss.“ Die anderen lachten auf und spielten feixend weiter. Doch plötzlich hörten sie Ricardo rufen, der Dienst im Krähennest hatte: „Schiff in Sicht, Steuerbord!“ Jon sprang auf und schwang sich hoch zu dem Jungen in die Takelage. Kim räumte eilig die Karten zusammen und verstaute sie sicher. Als sie wieder an Deck kam, standen alle Piraten an der Luvseite des Schiffes und Kim sah, dass sie eine französische Flagge gehisst hatten. Neugierig drängelte sie sich nach vorne und starrte gebannt auf das so klein scheinende Schiff am Horizont. Doch im nächsten Moment rief Jon: „Wende! Wir kapern!“ Das Manöver wurde ohne weitere Probleme durchgeführt. Langsam näherten sie sich dem fremden Schiff und als es nah genug war, konnte Kim die britische Flagge sehen. Es kam ihr vor, als sackte ihr das Herz in die Hosentasche und wie gebannt starrte sie auf dieses riesige Schiff. Doch plötzlich legte ihr jemand die Hand auf die Schultern und sagte: „Na da ist ja dein sehnsüchtig erwartetes britisches Schiff, Lilay.“ Sie ließ sich zurückfallen, gegen seine Brust und sagte: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Sollen wir wirklich angreifen?“ „Warum nicht? In letzter Zeit lief alles so glatt.“ „Gerade deswegen…“, überlegte Kim. Doch Jon entgegnete: „Ach was, du bist ja paranoid!“ Doch war sie das keinesfalls. Sie unterlagen den Briten knapp und die meisten wurden eingeschlossen. Noch am selben Abend wurden Kim und Jon zum Kapitän des Schiffes geführt und sollten mit ihm zu Abend essen. Während des Essens, Kim und Jon rührten nichts an, es sprach niemand ein Wort und der Kapitän, er hieß Duke Welling, musterte Kim begehrend. Nachdem er fertig gespeist hatte, fragte er: „So, ihr seid also Piraten?“ Sie antworteten nicht. „Nun, mir ist aufgefallen, dass ihr nichts gegessen habt. Habe ich euch mit solch gutem Essen etwa in Verlegenheit gebracht?“ Er lachte auf und Kim war kurz davor aufzuspringen und ihn für diese Bemerkung zu ohrfeigen, doch Jon legte die seine Hand auf ihre und schüttelte kaum merklich den Kopf. Seine Backe war geschwollen und sein Auge blau. Kim hatte lediglich eine etwas aufgeplatzte Lippe. Leicht verstimmt bemerkte Welling: „Sehr gesprächig seid ihr ja nicht. Dann fragen wir eben etwas Anderes. Sagt mir, verehrte Dame, wie ist Euer Name, wenn mir die Frage gestattet ist.“ Am liebsten hätte sie diesem blasierten Kerl ins Gesicht gespuckt und geschrieen, dass es ihm nicht gestattet sei, doch sie zwang sich zu einem aparten Lächeln und antwortete: „Natürlich dürft Ihr, Lord Welling. Ich heiße Kimberley Merrylson, meine Freunde rufen mich aber Kim.“ „Was für ein wunderschöner Name. So kurz und doch füllt er einem den Mund“, philosophierte er. Kim musste an sich halten um sich nicht zu übergeben und Jon, der das mitbekam, gluckste in sich hinein. Gleich darauf fragte Welling jedoch: „Und was macht Ihr bei diesen Piraten? Haben sie Euch geraubt?“ „Oh nein, mein lieber Lord Welling, ich bin freiwillig bei ihnen“, antwortete sie ihm mit einem zynischen Unterton, begleitet von einem zuckersüßen Lächeln. Mit offenem Mund starrte Welling sie an und konnte nicht fassen, was Kim ihm da gerade gesagt hatte. Das war zu viel für Jon. Er hatte es versucht zu unterdrücken, aber jetzt konnte er nicht mehr anders als zu lachen. Er prustete los und als Welling ihn verdutzt musterte, da lachte er noch mehr. Schließlich wurde es dem Lord jedoch zu dumm und er herrschte ihn an: „Sei ruhig, Drecksack, oder ich lasse dir die Zunge rausschneiden!“ Kim wusste, dass das kein Scherz war und sah schockiert vom immer noch lachenden Jon zu Welling, dem die Zornesröte ins Gesicht schoss und er brüllte: „Lachst du etwa über mich, dreckiger Lump? Sag mir, was dich so amüsiert, damit ich auch lachen kann, wenn meine Männer dich von deiner zu lockeren Zunge befreien!“ Jon allerdings beruhigte sich langsam wieder, holte ein paar mal tief Luft und erklärte dann: „Nun, Lord Welling, wenn Ihr mir die Zunge herausschneiden lasst, wird meine Verurteilung noch schwerer, da man mir nichts nachweisen kann und selbst Folter mich nicht zum Reden bringen könnte.“ Auch Kim begann zu grinsen. Er hatte Recht. Nur Welling wurde noch roter und ihm drohte der Kragen im wahrsten Sinne des Wortes zu platzen. Schließlich brüllte er: „Wachen! Bringt diese Kanaille in seine Zelle!“ Im nächsten Moment wurde die Tür aufgestoßen und zwei Soldaten kamen rein, packten Jon und führten ihn hinaus. Doch er rief Kim noch zu: „Kim, lass dich nicht bedrängen! Hörst du?“ Bedrängen? Was meinte er damit? Steif saß Kim auf ihrem Stuhl und begriff im nächsten Moment, was er gemeint hatte, denn Welling kam um den Tisch zu ihr, beugte sich zu ihr herunter und sah ihr tief in die Augen. Seine Augen waren klein und grau und etwas Wahnsinniges blitzte in ihnen auf. Sich in den Stuhl zurückdrückend, fragte Kim: „Was habt Ihr nun mit mir vor, Lord Welling?“ „Kim, nenn mich doch Duke. Lord Welling klingt so als kannten wir uns nicht“, lächelte Welling. „Aber wir kennen uns doch auch gar nicht.“ Sie schob den Stuhl nervös zurück und stand auf, doch Welling kam ihr wiederum näher und lächelte: „Aber gleich werden wir uns kennen lernen, richtig…“ „Und was, wenn ich nicht will?“, fragte sie, noch weiter vor ihm zurückweichend. „Dann werde ich mir einfach nehmen, was ich will. Widerstand ist ohnehin zwecklos, meine Liebe. Und wenn du dich nicht mir hingibst, dann werfe ich dich den Männern zum Fraß vor.“ Er lachte auf, als hätte er einen Witz gemacht, doch Kim war ganz und gar nicht zum Lachen zumute, als sie hinter sich die Kante eines Bettes spürte. Noch niemals war sie sich so dreckig und benutzt vorgekommen. Wie hielten die Huren in den Häfen das nur aus? Sie wandte das Gesicht zu ihm, um zu sehen, ob er endlich eingeschlafen war. Als sie ihn da, mit einem dreckigen Grinsen und geschlossenen Augen, schlafend liegen sah, musste sie an sich halten, um sich nicht übergeben zu müssen. Behutsam, mit einer gewissen Verzweiflung in den Bewegungen, versuchte sie sich aus seiner Umarmung zu befreien und schaffte es schließlich auch. Sie zog sich schnell wieder ihre Kleider an und rannte so schnell sie konnte aus dieser Kajüte, von diesem ihr mehr als verhassten Mann weg. Vor der Tür stand eine Wache, die sie, kaum dass sie aus der Kajüte war, zu den restlichen Piraten warf. Die Mannschaft war um ungefähr ein Drittel reduziert worden. Sie setzte sich fröstelnd in eine Ecke und zog die Beine eng an ihren Körper. Die meisten Piraten schliefen, doch die die wach waren, blieben stumm und ihre bedauernden Blicke streiften sie. Irgendeiner hatte anscheinend Jon geweckt, denn er kam mitleidig auf sie zu, kniete sich vor sie und zog sie an sich. Beruhigend streichelte er ihr über Haare und Rücken und nun begann Kim unterdrückt zu schluchzen. „Was hat dieser Kerl nur mit dir angestellt?“, flüsterte Jon. Und Kim erzählte ihm alles, was der widerliche Schuft getan hatte. Sie war vollkommen aufgelöst und als Jon ihr noch einmal ins Gesicht sah, war es tränenverschmiert. Schließlich sagte er: „Na komm, leg deinen Kopf auf meinen Schoß und dann schlaf ein wenig.“ Die Nase hochziehend tat sie, was er gesagt hatte. Sie legte ihren Kopf in seinen Schoß und sah noch einmal sein mildes, trostspendendes Lächeln an und schloss dann die Augen, aus denen noch immer große heiße Tränen rollten. Als sie am nächsten Morgen erwachte, zierte Jons Gesicht kein Lächeln mehr. Es war eher wutverzerrt. Vorsichtig fragte sie, was vorgefallen sei und er antwortete affektiert lächelnd: „Nichts, was für dich von Belang wäre.“ Als sie in die Gesichter der übrigen Piraten sah, konnte sie keine Hoffnung mehr in deren Blicken lesen. Was war nur geschehen, während sie geschlafen hatte? Langsam richtete sie sich auf, doch ein dumpfer Schmerz durchfuhr sie. Besorgt fragte Jon: „Was ist? Ist alle okay?“ Was für eine unsinnige Frage. Was sollte denn bitte okay sein? Sie antwortete ihm nicht, sondern fragte noch einmal: „Was ist passiert, während ich geschlafen habe?“ Doch in dem Moment wurde die Tür aufgesperrt und Welling trat in den Türrahmen. Kim stockte der Atem bei dem lüsternen Blick, den er ihr zuwarf und sie drückte sich nahe an Jon. Dieser legte beschützend die Arme um sie und fragte kühl: „Was wollt Ihr?“ „Deine kleine Begleiterin“, entgegnete er, sich über die Lippen leckend. Kim begann zu zittern und sie hörte, wie Terry brüllte: „Die kriegst du aber nur über unsere Leichen!“ Sie sah, dass die halbe Mannschaft vor ihr stand, sie zu beschützen. Doch Welling schnippte nur mit den Fingern und einige Wachen stürmten herein, mit gezückten Säbeln. Angesichts der blanken Klingen erhob sich Kim mit weichen Knien, ging auf den Lord zu und sagte mit zitternder Stimme zu den Piraten, die sich trotz der Säbel keinen Millimeter gerührt hatten: „Nein! Ich will nicht, dass wegen mir noch mehr sterben. Es reicht doch, wenn wir schon hier drinnen sitzen müssen.“ Doch Jon schob sich vor sie und sagte zu Welling: „Wenn Ihr sie mitnehmt, müsst Ihr auch mich mitnehmen.“ „Und wieso sollte ich das tun?“, lachte Welling. „Weil ich Euch sonst das Ohr oder mindestens einen Finger abbeißen würde!“, zischte Kim. Für einen kurzen Augenblick schien Welling zu überlegen, doch dann sagte er mürrisch: „Nun gut, ich wollte sowieso noch etwas mit diesem Genitson besprechen.“ Erleichtert atmete Kim auf und folgte Welling aus der engen Zelle, Jon dicht hinter ihr. Er ergriff ihre Hand und drückte sie leicht um ihr zu bedeuten, dass er sie nicht im Stich lassen würde. Welling hatte Jon geboten Platz zu nehmen und Kims Anwesenheit anscheinend vollkommen vergessen. Er schritt unruhig im Raum auf und ab und fragte Jon schließlich: „Wieso habt ihr uns angegriffen? Habt ihr denn nicht gesehen, dass ihr keine Chance hattet?“ „Alles ist möglich“, antwortete Jon ihm. Welling fiel es augenscheinlich schwer ruhig zu bleiben und er fragte weiter: „Aber es war völlig aussichtslos, dass ihr ein Schiff der Marine von solcher Größe hättet besiegen können.“ „Ich sagte doch bereits, dass alles möglich ist. Normalerweise hätte die Marine uns nie besiegt. Ihr seid so schwächlich. Durch eure vielen Regeln und Gesetze ermattet ihr eure Soldaten nur und macht es für uns leichter sie auf unsere Seite zu ziehen. Bei uns können sie frei sein, tun was sie wollen. Bei euch gibt es so viele Regeln, dass sie immer eine brechen, egal was sie tun, durch den strikten Gehorsam, den ihr ihnen vermitteln wollt, werden sie ungehorsam. Wir könnten ja vergleichen wie viele Eurer Männer desertiert sind und wie viele der meinen. Bei mir waren es in meiner zehn-jährigen Laufbahn als Kapitän gerade mal zwei. Und bei Euch, werter Lord Welling?“ Die Arme vor der Brust verschränkt stand Kim in der dunkelsten Ecke des Zimmers und beobachtete, wie Welling die Zornesröte ins Gesicht stieg. Er brüllte, sich selbst vergessend: „Ich stelle hier die Fragen und Ihr habt mir zu antworten!“ Kim bemerkte schmunzelnd, dass Lord Welling Jon fast wieder behandelte wie einen Mann gleichen Ranges. Anscheinend hatte auch Jon es bemerkt und sagte, weiterhin vollkommen ruhig: „Ich habe Euch Eure Frage doch nun schon zweimal beantwortet und Ihr seid mir immer noch meine Antwort schuldig.“ Jon stand auf und fuhr, Welling den Rücken zugedreht, fort: „Ich halte es außerdem für nicht angebracht so zu brüllen, schließlich sind meine Ohren nicht schlecht. Vielleicht solltet Ihr Euch auch einige Fragen überlegen, bevor Ihr beginnt völlig belanglose Dinge zu fragen.“ Welling setzte sich auf den Stuhl auf dem gerade eben noch Jon gesessen hatte und wischte sich mit einem Taschentuch, das er aus seiner Jackentasche zog, die schweißnasse Stirn ab. Belustigt stellte Kim fest, dass Jon den Spieß umgedreht hatte. Welling war kein guter Diplomat, das stand nun fest, da jetzt Jon vor ihm auf und ab ging und ihn befragte. Als Kim jedoch ein Kichern entfuhr, wurde sich auch Welling der vertauschten Rollen wieder bewusst und herrschte Jon an: „Setzt Euch sofort wieder!“ „Wohin denn? Ihr sitzt doch auf meinem Platz“, gab Jon scheinbar unwissend zurück. Wütend sprang Welling auf, drückte Jon auf den Stuhl und fragte im nächsten Augenblick laut: „Nun sagt mir endlich, warum Ihr unser Schiff angegriffen habt? Und ich will eine plausible Erklärung!“ Jon jedoch schenkte Welling nichts weiter als ein herablassendes Lächeln, woraufhin der ausrastete und Jon ohrfeigte. Dieser hatte sich anscheinend auf die Zunge gebissen, denn er spuckte im nächsten Moment Blut aus, schwieg jedoch immer noch und auch sein süffisantes Grinsen wurde nur noch überheblicher. Das brachte Welling noch mehr in Rage und er schlug Jon auch noch auf die andere Backe. Noch einmal fragte Welling: „Wieso habt Ihr versucht unser Schiff zu kapern?“ Doch Jon schwieg und grinste ihn an. Daraufhin schlug Welling erneut zu. So ging das noch eine ganze Weile, da schnaufte Welling vor Wut und stand puterrot im Gesicht vor Jon, dem das Grinsen auch nach dieser Prozedur nicht vergangen war. Doch plötzlich stahl sich auch auf das Gesicht Wellings ein siegessicheres Grinsen und er sagte: „Na mal sehen, ob du redest, wenn ich das Gleiche mit deiner kleinen Freundin tue.“ Erschüttert wandte Jon den Blick zu Kim, die wie erstarrt dort in der Ecke stand und Welling gebannt anstarrte, während er langsam auf sie zukam. Gerade wollte er Hand an sie legen, da sprang Jon auf und rief: „Stopp! Elender Mistkerl! Schlag mich so oft und so fest du willst, aber vergreif dich nicht an Kim!“ Belustigt musterte Welling Jon, dem nun etwas Panik ins Gesicht geschrieben stand. Dann zog er Kim an sich ran und begrabschte sie grob. Leise, in gefährlichem Tonfall, sagte er: „Na, bist du eifersüchtig, Genitson? Hat sie dir nie erlaubt, sie so zu berühren? Ha! Warum hast du sie dir denn nicht einfach genommen?“ In diesem Moment erwachte Kim aus ihrer Starre und sie ließ ihre Faust in Wellings Gesicht niedersausen. Auch Jon war auf ihn zugelaufen gekommen und zerrte ihn von Kim weg, wild auf ihn einschlagend. Welling lag am Boden und Jon saß auf ihm und schlug ihm immer wieder ins Gesicht, da keuchte Welling: „Wachen!“ Die Tür öffnete sich kurz darauf und als die Wachen sahen, dass ihr Befehlshaber auf dem Boden lag und von Jon verprügelt wurde, da versuchten sie ihn von Welling runter zu bekommen, doch die beiden Marinesoldaten schafften es lediglich Jons Schläge abzudämpfen. Erst als ein dritter dazukam, schafften sie es, Jon aus der Kajüte zu schleifen und unter Deck in die Zelle der Piraten zu werfen. Kim hingegen hatte sich während diesem Tumult aus der Kajüte geschlichen und hielt sich versteckt, bis sich die Unruhe langsam gelegt hatte. Schließlich schlich sie sich in den Bauch des Schiffes in den Raum in dem die Zelle war. Als der Wachposten sie bemerkte, fragte er misstrauisch: „Was macht Ihr denn hier?“ „Ich verspürte Sehnsucht nach Euch“, sagte sie mit einem Unterton in der Stimme, der sogar Eisen zum Schmelzen hätte bringen können. Auch der Soldat musste schwer schlucken, als Kim, aufreizend mit den Hüften wiegend, auf ihn zukam und die Hände auf seine Brust legte. Vollkommen aus der Fassung fragte er: „Aber Ihr kennt mich doch gar nicht…“ „Oh doch“, entgegnete sie. „Ich sah Euch während des Gefechts und habe mich sofort in Euch verliebt. Kennt Ihr dieses Gefühl? Ihr seht jemanden und spürt das lodernde Verlangen in Euch, Euch mit diesem Jemanden zu vereinen? Denn wenn Ihr es kennt, dann wist Ihr, wie es mir geht.“ Vorsichtig öffnete sie den Gürtel an dem sein Säbel hing und er legte auch hastig sein Gewehr beiseite. Sie ließ die Finger sanft über seine Oberschenkel streifen und fühlte etwas Hartes, Zackiges in seiner Hosentasche. Der Soldat zog sie näher an sich und fragte: „Aber Ihr kennt doch noch nicht einmal meinen Namen, Ihr kennt mich nicht…“ „Dann sagt mir doch Euren Namen.“ „Harvey Miller, aber….“ Sie legte ihm ihren Finger auf die Lippen und flüsterte: „Seht Ihr, jetzt kenne ich Euch.“ Damit nahm sie ihren Finger von seinen Lippen und legte stattdessen ihre darauf. Ihre Finger glitten in seine Hosentaschen und zogen etwas Kaltes, Kantiges geräuschlos heraus, was sie dann in ihrer Tasche verschwinden ließ. Gerade wollte der Wachmann ihr das T-Shirt ausziehen, da rief sie, ihn hämisch angrinsend: „Hilfe! Hilfe! Der Kerl will mich vergewaltigen!“ Sofort hielt Harvey in seiner Bewegung inne und setzte an: „Aber was…“, doch da kam schon ein anderer Soldat angestürmt und sah nur, dass Kims Kleidung, ihre Frisur unordentlich war und sie weinte und Harvey im Begriff, ihr das T-Shirt auszuziehen. Sofort rief er: „Miller, lass die Frau los! Auf der Stelle!“ Wie von der Tarantel gestochen ließ er sie los und Kim ließ sich auf die Knie fallen. Der andere Soldat, offensichtlich von höherem Rang, herrschte Miller an, während er Kim unsanft am Arm packte und in die Zelle zurückwarf: „Was ist denn in Euch gefahren? Habt Ihr die Anweisungen des Kapitäns nicht gehört?“ In diesem Moment schloss sich die Tür hinter Kim und sie vernahm die Stimmen der beiden Soldaten nicht mehr. Als sie so dastand, Tränen im Gesicht, da kam Jon auf sie zu und fragte besorgt: „Kim? Was ist los? Was hat er dir diesmal angetan? Es tut mir ja so unendlich Leid, dass ich nicht für dich da war.“ Doch Kim grinste ihn nur an, zog den Schlüssel, den sie Harvey entwendet hatte, aus der Tasche und hielt ihn Jon vor die Nase. Dieser verstand wohl zuerst nicht, doch dann leuchteten seine Augen auf und er fragte: „Wie hast du… Woher wusstest du…? Ach, ist doch egal, wichtig ist nur, dass wir wieder so gut wie frei sind!“ Doch Kim fragte: „Aber wie wollen wir das anstellen? Wir haben weder Waffen, noch sind wir in der Überzahl.“ „Könntest du es nicht machen wie damals in der Festung?“, fragte Jon. Kim schüttelte den Kopf und sagte: „Diesen Trumpf habe ich schon ausgespielt.“ „Dann müssen wir es anders versuchen.“ „Aber wie?“ „Sah dieser Wachmann, dem du den Schlüssel gestohlen hast loyal aus?“, fragte Jon nachdenklich. Und Kim, die sich nicht vorstellen konnte, auf was er hinaus wollte, hinterfragte: „Was meinst du mit loyal?“ „Ob wir eine Chance haben, ihn auf unsere Seite zu ziehen“, erklärte Jon. Langsam verstand Kim, auf was er hinaus wollte und sagte: „Harvey Miller? Ich weiß es nicht…“ „War es denn leicht ihn dazu zu bringen, dir den Schlüssel zu überlassen?“, meldete sich jetzt Terry zu Wort. Kim errötete leicht, als sie daran dachte, wie sie Harvey den Schlüssel entwendet hatte. Terry hob skeptisch eine Augenbraue und bemerkte: „Ach so hast du es gemacht. Hoffen wir nur, es war nicht umsonst.“ Kim fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Sie hatte einfach den Schlüssel genommen, ohne daran zu denken wie sie herauskommen sollten. Aber Jon fuhr Terry an: „Lass sie. Mit dem Schlüssel sind wir schon mal einen bedeutenden Schritt weiter.“ Doch da hörten sie von draußen Harvey brüllen: „Mein Schlüssel! Wo hab ich diesen verdammten Schlüssel hin?“ Prompt stellte sich Jon hinter die Tür und die Piraten wurden still. Im nächsten Moment hämmerte es an der Tür und Harvey rief: „Verdammte Schlampe, hast du mir den Schlüssel gestohlen? Antworte mir gefälligst, billiges Flittchen!“ Kim warf Jon einen fragenden Blick zu und er nickte langsam. Vorsichtig steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn. Sofort warf Harvey die Tür auf und er trat ein, sich wütend umschauend. Unverzüglich sprang Jon hinter ihn, zog Harveys Säbel aus der Scheide, hielt ihm diesen an den Hals und sagte gefährlich ruhig: „Wir müssen reden.“ Kim stieß die Tür zu und zog den Schlüssel heraus. Harvey schluckte, den Hals so dünn machend wie möglich, und sagte dann: „Worüber denn? Über die Frau? Sie hat mich geküsst! Ich habe ihr nichts getan!“ „Nein, das wissen wir“, grinste Jon süffisant. Er nickte Kim zu und diese zog dem jungen Soldaten die Pistole aus dem Colt. Dann ließ er von Harvey ab, der sich prüfend an den Hals fasste, und fuhr fort: „Ich möchte mit dir über Freiheit reden.“ Kim konnte sich nicht ausmalen, was er damit bezweckte. Jon setzte alles auf eine Karte, alles auf diesen törichten, jungen Mann, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Sollte dieser Zug scheitern, war alles vorbei und sie hingen schon so gut wie am Galgen. „Freiheit?“, fragte Harvey unsicher. Und Jon erläuterte lächelnd: „Ja, Harvey. Was ist Freiheit?“ Leicht verwirrt fragte Harvey: „Ist das eine Fangfrage?“ Die Piraten lachten verhalten auf, was den jungen Mann noch unsicherer machte. Jon allerdings gebot ihnen Ruhe und sagte, mit einer so einfühlsamen Stimme, dass man meinen könnte, er sei sein Vater: „Lass dich nicht verunsichern, Harvey. Es ist keine Fangfrage.“ Unsicher druckste Harvey herum, bis Jon ihn aus seiner Verlegenheit befreite und fragte: „Wie alt bist du nun, Harvey?“ „19“, kam prompt die Antwort. „Und du weißt nicht, was Freiheit ist?“, fragte Jon. „Soll ich es dir sagen?“ Harvey antwortete ihm nicht, doch Jon fuhr unbeirrt fort: „Dann sage ich dir, was Freiheit ist: Freiheit bedeutet, alles tun zu können, was dir beliebt. Alles haben zu können, was du begehrst, seien es nun Gold oder Frauen. Ich weiß, das hört sich nicht nach viel an, aber wenn du dir die Möglichkeiten durch den Kopf gehen lässt, wirst du sehen, es sind unendlich viele. Die Welt steht dir offen, wenn du frei bist.“ Stumm nickte Harvey und Jon fragte: „Und hast du das alles bei der Marine? Kannst du all das bei der Marine bekommen?“ Der junge Wachposten senkte den Kopf und dachte anscheinend nach. Freundschaftlich legte Jon ihm die Hand auf die Schulter und flüsterte: „Willst du denn nicht frei sein? Gibt es keine Frau, die du gerne besitzen würdest?“ Harveys Augen streiften Kim, die unwillkürlich einen Schritt zurück trat, doch Jon hatte es bemerkt und lachte: „Unsere Kim hat es dir wohl angetan, ja? Nun, wärst du frei, könntest du sie haben.“ Erwartungsvoll blickte Harvey auf Jon und fragte: „Und wie kann ich frei werden?“ Jon hatte seine Loyalität gebrochen und er grinste: „Wo stehen unsere Waffen?“ Erschrocken wich Harvey zurück und fragte: „Ihr wollt die anderen töten? Ich soll euch helfen?“ „Harvey“, setzte Jon an. „Als Pirat, hat man da Geld? Hat man da Schätze? Und kann man sich als Pirat jede Frau nehmen, die man will? Die Antwort kennst du doch nur zu gut. Also, beantworte mir meine Frage, Junge.“ „Sie sind in der Truhe unter dem Tisch, Captain.“ Jon warf Kim einen flüchtigen, siegessicheren Blick zu und sagte dann an Harvey gewandt: „Du wirst keinem von diesem Gespräch erzählen, verstanden?“ Er nickte. „Also, heute Nacht, um ein Uhr, wirst du die Wache niederschlagen und uns aufmachen. Wir werden unsere Waffen holen und das Schiff kapern.“ Erneut nickte Harvey. Erneut streifte sein Blick Kim. Und er fragte: „Und kann ich sie jetzt haben?“ Alle Blicke wandten sich zu Kim, die dastand, den Schlüssel so fest umklammert, dass er sich schmerzhaft in ihr Fleisch drückte. Doch Jon sagte: „Erst musst du dich bewähren, dann werden wir sehen.“ „Aber du sagtest doch,…“, begann Harvey, aber Jon herrschte ihn an: „Ruhe jetzt und keine Diskussion! Wir lassen dich jetzt gehen und du wirst das tun, was ich dir gesagt habe.“ Entschlossen nickte Harvey und wartete, dass Kim ihn ausließ und ihm seinen Schlüssel wiedergab. Als die Tür hinter ihm zugefallen war, fragte Kim mit bebender Stimme: „Hast du mich ihm gerade versprochen?“ „Versprochen habe ich gar nichts“, sagte er ruhig, sich den Männern zuwendend. „Ihr habt es gehört, haltet euch heute Nacht bereit.“ „Und warum haben wir nicht jetzt angegriffen?“, rief einer der Piraten. Jon warf ihm einen vernichtenden Blick zu und entgegnete: „Weil wir absolut in der Unterzahl sind! Das waren vier von denen auf einen von uns, wenn nicht sogar noch mehr!“ „Und was ist dann heute Nacht anders?“ Jon war sichtlich genervt von dieser Frage und sich zwingend, Ruhe zu bewahren antwortete er: „Weil sie heute Nacht schlafen und wir ihnen dann einfach die Halsschlagadern aufschneiden können!“ Die Wartezeit schien ihnen unendlich und sie sprachen nicht viel. Der Plan war allen klar und Details brauchten sie keine. Den Hauptteil der Mannschaft würden sie töten, während er schlief und mit dem Rest würden sie locker fertig werden. Das Einzige, was nun ungewiss war, war, ob Jon Harvey wirklich überzeugt hatte. Kim saß gegen eine Wand gelehnt und nagte angespannt an ihren Fingernägeln. Dieser junge Mann entschied nun darüber, ob sie weiterleben oder sterben mussten. Leise fragte sie Jon, der unruhig auf und ab ging, nach der Uhrzeit. Er fingerte seine Uhr aus der Tasche und flüsterte: „Eine Minute vor eins.“ Es war kaum auszuhalten; sie war hellwach, wie der Rest der Piraten, und darauf eingestellt zu kämpfen, wie der Rest der Piraten. Niemand sprach ein Wort, alle stellten sich auf das Kommende ein. Noch nicht einmal die Ratten gaben Geräusche von sich, es war nichts zu hören. Doch genau diese Stille zerriss Kim innerlich. Wiederholt fragte sie nach der Uhrzeit und Jon zischte entnervt: „Eine halbe Minute vor eins. Kim, hör endlich auf mich alle halbe Minute nach der Uhrzeit zu fragen!“ Schuldbewusst sah Kim zu Boden und murmelte eine Entschuldigung. Plötzlich blieb Jon stehen und fragte aufgebracht: „Verdammt noch mal! Hat denn keiner von euch Halunken Tabak dabei? Zum Teufel mit diesen Marine-Schweinen, die haben mir nichts gegeben!“ Keiner beachtete Jons Ausbruch, jeder schien gespannt auf irgendein Geräusch von draußen zu warten. Jon holte seine Uhr aus der Tasche und sagte: „Punkt eins.“ Kim stützte das Gesicht in die Hände. Nun war es doch ein Uhr, warum kam Harvey nicht? Hatte sich Jon doch dem Falschen anvertraut? Doch da vernahmen sie von draußen Geräusche. Die Piraten hielten allesamt den Atem an, war das Harvey? Sie lauschten Angestrengt und konnten gedämpft zwei Stimmen hören. Der eine sagte: „Deine Schicht ist zu Ende, ich komme dich ablösen, geh dich schlafen legen.“ Der andere lachte aber und erwiderte: „Also ich hätte auch hier schlafen können, die Piraten verhalten sich vollkommen ruhig, ist schon fast unheimlich.“ „Du solltest sie aber nicht unterschätzen, nicht umsonst sind auf den Kopf dieses Genitsons 500 Achterstücke Belohnung ausgestellt und einige seiner Crew-Mitglieder bringen auch ein ganz schönes Sümmchen ein…“ „Hast ja Recht. Also, ich hau mich aufs Ohr, gute Wacht.“ „Danke.“ Wachwechsel? Das war nicht Harvey gewesen? „Zwei Minuten nach eins“, kam es von Jon. Eine Unendlichkeit später sagte er seufzend: „Zehn Minuten nach eins.“ Ärgerlich stand Philipe auf, ging zu Jon, packte ihn beim Kragen und rief: „Verdammt, Captain! Der Kerl kommt nicht mehr! Du hast uns hier herein gebracht und schaffst es nicht uns wieder hinaus zu bringen! Was bist du nur für ein lausiger Captain? Nichts bringst du zustande außer Weibern nachzustellen und kleinen Jungs irgendwas von wegen Freiheit zu erzählen! Aber was redest du denn von Freiheit, da du hier im Gefängnis sitzt?“ Auch Kim war aufgesprungen, zog Philipe von Jon weg und herrschte ihn an: „Lass ihn in Ruhe! Du wärst in zehn Jahren kein so guter Captain wie Jon! Also halt gefälligst dein loses Mundwerk!“ In dem Moment hämmerte der Wärter gegen die Tür und brüllte: „Hey! Ruhe da drinnen oder soll ich reinkommen?“ Schlagartig wurden sie still und so konnten sie auch einen gedämpften Knall hören. Es war nicht wirklich ein Knall, eher ein dumpfer Aufschlag. Jon trat einen Schritt von der Tür weg, die sich im nächsten Moment öffnete. Harvey streckte den Kopf hindurch und schaute zu Jon. Dieser fuhr ihn an: „Warum hat das so lange gedauert?“ „Es war Wachwechsel und ich wollte warten, bis der andere Mann weg war“, antwortete ihm Harvey mit zitternder Stimme. Aber Jon ließ ihn nicht ausreden, sondern schob ihn stumm zur Seite, schaute sich nach dem Tisch um, ging zu ihm und holte die Truhe darunter hervor. Er öffnete diese und nahm die Waffen heraus. Kim hatte erwartet, es würde schnell von statten gehen, die Waffen zu verteilen, doch jeder Pirat wollte nur die seine Waffen und keine andere. Schließlich war es soweit. Sie standen alle bis zu den Zähnen bewaffnet vor Jon, der nichts sagte, sondern ihnen nur siegessicher zunickte und sich umdrehte, um die Treppe hinauf zu gehen. Die Piraten bewegten sich wie Schatten auf dem Schiff, sie töteten leise und präzise. Aber plötzlich stand ein ungefähr 16-jähriger Junge vor ihnen, sah sie mit großen, vor Angst geweiteten Augen an und rief im nächsten Moment: „Piraten! Die Piraten sind frei! Die Piraten!“ Er drehte sich um und wollte weglaufen immer noch brüllend, da zückte Jon seine Pistole, zielte, und erschoss den Jungen. Wenn die Soldaten von dem Gebrüll des Jungens nicht wach geworden waren, Jons Schuss hatte mit Sicherheit auch den Letzten aus seiner Koje geschreckt. Nun hörten sie Fußgetrappel und im nächsten Moment stand ein Soldat mit einem Säbel in Händen vor ihnen. Jon zog gelassen seine zweite Pistole und schoss auch ihn nieder. Dann brüllte er: „Na los! An Deck!“ Der Kampf dauerte noch nicht lange, da kam Welling aus seiner Kajüte und fragte: „Was ist denn hier los?“ Kim lief auf ihn zu und brüllte: „Überlasst ihn mir! Ich will Rache für alles was er mir angetan hat! Für jede Berührung, jeden Kuss den er erzwungen hat! Für die Schmach, die Pein und die Scham die er mir bereitet hat!“ Doch Terry fing sie ab. Niemand kämpfte in diesem Moment mehr, sondern alle starrten still auf Welling und Jon, der langsam auf ihn zukam. Der Wind heulte laut und die Wellen schlugen unruhig gegen die Planken. Langsam nahmen die Wolken das Licht des Mondes und es wurde noch dunkler. Gefährlich ruhig sagte Jon: „Nun, Welling, sieht wohl doch nicht danach aus, als würden wir bald am Galgen hängen, aber dein letztes Stündlein hat geschlagen!“ Leicht nervös zog Welling seinen Säbel, tat einen Schritt auf Jon zu und sagte mit zitternder Stimme: „Wenn du denn unbedingt kämpfen willst? Ich besiege dich mit links!“ Eine raue Böe zerzauste Kims Haar. Mit wutverzerrtem Gesicht starrte sie auf Welling und hörte Jon lachen: „Mit links? Ich könnte dich mit links und verbundenen Augen besiegen, aber ich werde nicht mit dir kämpfen. Nein, ich will Kim die Möglichkeit lassen sich zu rächen.“ Wellings Augen huschten suchend über Deck und als er Kim entdeckte musste er schwer schlucken. Er sah ihr hasserfülltes, selbstsicheres Lächeln und als der bleiche Mond wieder zum Vorschein kam, traten ihre Gesichtskonturen ungewöhnlich hart hervor. Sie bleckte die Zähne und ihr gespenstiges Grinsen war sogar den Piraten unheimlich. Terry ließ sie vorsichtig los und sie ging langsam zu Jon und Welling, um die sich ein Kreis gebildet hatte. Jon trat zurück und sie sah sich Welling Angesicht zu Angesicht gegenüber. Leise fragte sie: „Hast du eine Ahnung was es heißt sich einem Mann hinzugeben, den man mehr verabscheut als die Pest? Wenn man dazu gezwungen wird? Man sich unter Schmerzen windet und sich der Mann daran ergötzt? Die Scham, die einen überkommt, wenn man nur daran denkt? Nein! Denn du wurdest noch nie behandelt wie ein Gegenstand, den man besitzt, der einen gewissen Wert hat, nicht darunter aber auch auf keinen Fall darüber. Du hast keine Ahnung. Dir wurde alles in deinem Leben geschenkt, du hast es mir selbst erzählt. Und darum hasse ich dich noch mehr. Nun genug der Worte, ich wollte nur, dass dir der Grund meines Zornes nicht völlig verborgen bleibt, so ignorant und dumm wie du bist.“ Sie hielt ihm ihr Entermesser entgegen, ging leicht in die Knie und streckte die andere, freie Hand, nach hinten aus. Ihre Körperspannung war auf dem höchsten Maß, sie hatte das Gefühl, ihren Körper noch nie so unter Kontrolle gehabt zu haben. Unsicher kreuzte Welling ihr Entermesser mit seinem Säbel und ging ebenfalls in Fecht-Position. Kim wartete darauf, dass Welling den ersten Schritt tat, parierte seinen Hieb und blieb für den Anfang defensiv, dass Welling dachte, sie wäre ihm unterlegen. Doch als sie spürte, dass es hinter ihr bald keinen Platz mehr zum weiter ausweichen gab, da blieb sie stehen und parierte seine Hiebe auf der Stelle. Sich überlegen fühlend, rief er: „Na? Hast du nicht mehr zu bieten, Weib? Wie willst du mich denn mit diesen minderen Fecht-Künsten besiegen?“ Sie grinste ihn leicht an, was ihn zu irritieren schien und ging dann in die Offensive über. Er kam fast nicht nach, so schnell platzierte sie ihre Hiebe. Langsam begannen die Piraten sie anzufeuern; doch niemand brüllte für Welling. Auf einmal kreuzten sich ihre Waffen und durch den Druck wurden sie zurückgestoßen. Sie fiel in Laffites Arme. Kurz gab sie ihm ihren Mantel und ging dann wieder in den Ring. Der ganze Himmel hatte sich nun bewölkt, kein Stern war mehr zu erkennen. Der Wind wehte noch kräftiger und die Wellen schlugen höher gegen die Planken. Es begann zu tröpfeln, doch Kim ließ sich von dem Wetterumschwung nicht beeinflussen, sondern kämpfte verbissen weiter. Sie hatte ganz klar die Oberhand und irgendwann schlug sie ihm den Säbel weg, der scheppernd zu Boden fiel. Er tat einige Schritte zurück und stolperte über seine eigenen Füße. Er lag rücklings am Boden und sah Kim an, als sei sie ein todesbringender Engel. Inzwischen regnete es in Strömen und die Wellen brachten das Schiff stark zum Schwanken. Kim stellte sich über ihn und wollte gerade den finalen Hieb platzieren, da hockte sie sich auf ihn, das Gesicht gesenkt. Das Wasser lief aus ihren nassen Haaren auf sein Gesicht und er sah irritiert auf sie. Grinsend hob sie ihr Gesicht und sagte: „Nein, so schnell und leicht werde ich dir deinen Tod nicht bereiten, du wolltest mir den scheinbar so kurzen Rest meines Lebens auch zur Hölle machen, warum sollte ich also Gnade walten lassen?“ Damit schlug sie ihn hart mit der Faust ins Gesicht. Dann noch einmal und noch einmal. Schließlich hielt sie inne. Blut rann ihm aus Mund und Nase und er wollte es ihr ins Gesicht spucken, doch sie drehte den Kopf zur Seite, so dass er sie verfehlte. Der Regen prasselte laut auf Deck und übertönte fast das Heulen des Windes. Zitternd flüsterte Welling: „Hör auf! Bitte!“ „Nein, erst will ich Tränen in deinen Augen sehen! Weißt du denn überhaupt, was Tränen bedeuten?“, brüllte sie. Sie schlug ihn erneut und wartete auf eine Antwort. Doch diese bekam sie nicht und so brüllte sie: „Verdammt noch mal, antworte mir, wenn ich dich etwas frage! Hast du denn nie eine Erziehung genossen? Sogar der schäbigste Penner in den Spelunken weiß so etwas, aber ein hoher Offizier der Marine hat keine Ahnung von Etikette? Ich bin enttäuscht!“ Die Piraten lachten schallend auf und sie schüttelte befreiend ihre nassen Haare. Ein Schuss ertönte und Kim sah auf das Blut, das aus dem Kopf Wellings floss. Dann sah sie zu dem Schützen, Jon. Zornig stand sie von Welling auf und fuhr diesen an: „Was sollte das? Ich wollte ihn leiden sehen! Wieso hast du mir meinen Spaß verdorben?“ Ruhig antwortete Jon: „Kim, sieh noch einmal auf seine Leiche.“ Sie tat wie ihr geheißen und wandte sich zu Wellings leblosem Körper um. Als sie die entsicherte Pistole in seiner Hand sah, stockte ihr der Atem. Reumütig flüsterte sie: „Verzeih, Jon, ich wusste ja nicht… Danke.“ Als die Marine-Soldaten ihren toten Captain auf Deck liegen sahen, da legten sie nacheinander die Waffen nieder und ergaben sich bedingungslos. Jon ließ die wenigen verbliebenen Soldaten in der Zelle einsperren, in der sie gesessen hatten und rief dann: „Na los! Sucht gefälligst nach dem verfluchten Rum, wir wollen feiern!“ Es würde eine lange Feier werden, das war Kim klar. Noch nie waren sie der Gerechtigkeit so knapp entkommen; nie waren sie so nah am Galgen gestanden. Darum trank auch sie in rauen Mengen, sie hatte sich inzwischen wieder einigermaßen an das Trinken gewöhnt. Irgendwann jedoch musste sie sich setzen und sah zu den Piraten, die anscheinend doch noch viel trinkfester waren als sie. Als sie Terry und Laffite sah, war es fast wie früher, aber wo war Garret? Gerade hatte sie sich das gefragt, da kam Jon bei ihr vorbei. Sie sprang auf, hielt ihm am Ärmel seines Hemdes fest und fragte: „Wo ist Garret?“ „Tot“, antwortete er ihr schlicht. Er sagte nicht mehr; unverblümt und gerade heraus. Sie stieß die Luft aus, die sie für einen Augenblick angehalten hatte und ließ sich an der Reling hinuntergleiten. Nun waren nur noch Terry, Laffite, Jon und sie von der alten Crew übrig. Jon ging nicht weiter, sondern kniete sich vor sie und fragte: „Ist alles Okay, Kim?“ Sie seufzte nur als Antwort. Den Arm um sie legend setzte sich Jon neben sie und sagte: „Nimm es dir nicht so zu Herzen, Kim, das Leben geht weiter.“ „Ja, für uns“, entgegnete sie. „Für Garret nicht. Wir sind nur noch zu viert. Es ist irgendwie alles so seltsam.“ Jon sah sich um. Abwesend sagte er: „Ja, du hast Recht, es hat sich vieles verändert. Aber du wirst damit klarkommen, schließlich kenne ich dich doch, Lilay.“ „Kennst du mich wirklich noch so gut? Ich glaube mich nämlich selbst nicht mehr zu kennen…“ Er drückte sie fester an sich und widersprach ihr: „Glaub mir, ich kenne dich und weiß, was in dir vorgeht. Also, mach dir keine Sorgen und du weißt ja, dass du immer und jederzeit zu mir kommen kannst.“ Die Narben auf ihrem Rücken sprachen eine andere Sprache. Jon erhob sich und ging wieder, sie sich selbst überlassend. Sie führte die Flasche Rum, die sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte an ihre Lippen und sah in den inzwischen wieder Sternenklaren Himmel. Es war unerträglich. In ihr war es leer, still. Und auch der Lärm um sie herum erfüllte diese Leere nicht, sie schien unendlich. Und Kim wusste nicht woher sie kam. Doch plötzlich fragte sie jemand: „Na? So gedankenverloren? An was denkst du denn?“ Entgeistert sah sie auf Diego, der vor ihr stand und sie lächelnd musterte. „Ich denke an nichts“, entgegnete sie. Sie hatte keine Lust mit ihm zu reden, dennoch ließ er sich ihr gegenüber nieder und sagte: „Im Prinzip haben wir es ja dir zu verdanken, dass wir dem Henker entronnen sind. Du hast dich quasi für uns geopfert…“ „Auf was willst du hinaus?“, unterbrach sie ihn barsch. Er lachte schallend auf und grinste: „Du bist wohl nicht sonderlich auf meine Anwesenheit erpicht, nicht wahr? Oder bist du einfach nur schlecht gelaunt?“ Sie antwortete ihm nicht und so fuhr er fort: „Aber mir ist das auch vollkommen gleich, denn ich habe jetzt Lust mit dir zu reden. Also, erzähl mal, was dieser Welling mit dir gemacht hat; und lass keine schmutzigen Details aus.“ „Ich wüsste nicht, was dich das anginge“, entgegnete sie ruhig, obgleich sie innerlich fast zersprang. Sie musste sich zusammenreißen, um ihn nicht anzubrüllen. Doch er bohrte weiter: „Ach nun komm schon, sei doch nicht so widerspenstig, erzählen kannst du es mir doch, oder?“ „Nein, verdammt, ich will es dir nicht erzählen!“ Nun brüllte sie doch, aber es ging nicht anders. Bis eben hatte sie nicht mehr daran denken müssen, doch nun verfolgte es sie wieder und sie wusste, dass es das lange Zeit tun würde, vielleicht Monate, vielleicht Jahre, aber einen Kerl wie Diego interessierte das nicht. Doch Philipe, der in der Nähe gestanden hatte, drehte sich zu ihnen um und fragte an Kim gewandt: „Gibt es ein Problem?“ Sie sah flüchtig zu Diego, der eindringlich den Kopf schüttelte und sagte: „Nein, nein, aber willst du dich nicht trotzdem zu uns gesellen?“ Er kam einige Schritte auf sie zu und fragte: „Und warum? Gibt es irgendwelche interessanten Neuigkeiten?“ Kim schüttelte leicht errötend den Kopf und antwortete: „Nein, aber du kannst dich doch trotzdem zu uns setzen.“ Seine Augen waren schon leicht glasig, als er sich zu ihnen setzte und er fragte gelangweilt: „Habt ihr dann wenigstens noch Alkohol? Diese verdammten Marine-Schweine haben unseren fast vollständig weg gesoffen.“ Sie reichte ihm die Flasche mit den Worten: „Lass mir aber noch was drin.“ Er setzte sie an seine Lippen und leerte sie fast vollständig in einem Zug und sie war immerhin noch zu fast zwei Dritteln voll gewesen. Mit dem Ärmel wischte er sich den Mund ab und reichte Kim die Flasche wieder. Sie trank den Rest und warf dann die Flasche hinter sich über Bord. Philipe grinste und sagte: „Dir ist klar, dass das ein indirekter Kuss war, oder?“ Sie spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss und versuchte vergeblich das zu verbergen. Doch Philipe beugte sich zu ihr vor und fragte sie, sie mit glasigen Augen und dunklen Ringen darunter musternd: „Wie wäre es jetzt mit einem direktem Kuss?“ Sie drückte sein Gesicht grob mit ihrer Hand beiseite und sagte: „Das hättest du wohl gerne, aber ich lasse nicht noch einmal die Schmach über mich ergehen, die ich erdulden musste, als du mich das erste mal küsstest.“ „Ach Kim, es ist ein Kuss, nichts weiter, oder vielleicht…“ Er kam ihr erneut näher und wollte sie küssen, doch sie hielt ihn sich mit Händen und Füßen vom Leib. Gerade war er drauf und dran sie zu überwältigen, da legte sich eine Hand auf seine Schulter und eine kalte, eindringliche Stimme sagte ruhig: „Hörtest du nicht, was die Dame sagte, Philipe? Wenn nicht, dann geh dir die Ohren putzen!“ Damit zog Jon ihn auf die Beine und schubste ihn unsanft zur Seite. Er half Kim auf und fragte übertrieben laut: „Ist alles mit dir in Ordnung, Kim? Hat der Lump dir etwas angetan?“ Entgeistert stand sie auf und fragte: „Warum brüllst du denn so? Ja, mir geht es gut.“ Er zog sie etwas näher an sich heran und flüsterte dann in ihr Ohr: „Komm mit, ich muss dir etwas zeigen.“ „Was ist es denn?“, fragte Kim neugierig. „Und wohin soll ich kommen?“ Sich hastig umblickend legte er ihr den Finger auf die Lippen und zischte: „Scht, sei doch still, verdammt! Willst du denn, dass jeder etwas davon erfährt?“ „Aber von was denn?“, fragte Kim erneut, nun ungeduldig werdend. Jon seufzte, sah wieder gehetzt um sich und erklärte dann, sie bei der Hand nehmend und mit sich zerrend: „Ich zeige es dir, aber ich finde, es sollte nicht jeder sehen.“ Skeptisch hob sie eine Augenbraue und ließ sich von ihm in die Kapitänskajüte schleifen. Jon schloss hastig die Tür hinter ihnen und lehnte sich dann mit dem Rücken gegen sie. Er schnaufte, als seien sie verfolgt worden. Vorsichtig ging sie zu ihm, fühlte erst seine Stirn und dann seine Wangen, schließlich fragte sie: „Sag mal, ist dir nicht gut? Hast du Fieber? Wirst du Krank?“ Er aber drückte ihre Hände weg, ging zielstrebig auf den Tisch in der Mitte des Raumes zu und zündete dort einen Kerzenhalter an, der darauf stand. Damit drehte er sich wieder zu ihr um und sagte leise: „Nun komm schon, oder hast du Wurzeln geschlagen?“ Fröstelnd, sich über die Arme reibend, kam sie langsam auf ihn zu und ließ ihren Blick starr zu Boden gerichtet. „Jon, ich fühle mich hier nicht wohl, lass uns hier weggehen, bitte“, flüsterte sie mit zitternder Stimme. „Nein, das musst du sehen!“ Er packte sie am Handgelenk und wollte sie mit sich ziehen, doch als sie sich nicht bewegte, drehte er sich noch einmal zu ihr um und musterte sie fragend. Sie sah immer noch zu Boden, so dass er ihr Gesicht nahm und es ein wenig anhob, bis er in ihre Augen sehen konnte. Als sie jedoch spürte, wie sich diese mit Tränen zu füllen drohten, sah sie von ihm weg. Vorsichtig fragte Jon: „Fällt es dir so schwer?“ Nicht fähig zu sprechen nickte sie. Da nahm er sie in den Arm, streichelte ihr sanft über den Rücken und sagte mit weicher, warmer Stimme: „Ach, meine kleine Kim. Der Mistkerl ist tot und ich bin doch da. Du brauchst dich nicht zu fürchten.“ Sie drückte sich an ihn und zitterte unwillkürlich, sodass sein Griff fester wurde. Das Gesicht barg sie an seiner Brust und roch noch ein klein wenig seines Parfüms; es duftete irgendwie nach Rosen und dennoch so maskulin. Schließlich atmete sie tief durch und sagte dann: „Aber sag mir wenigstens, was du mir zeigen willst. Ich will wissen, ob sich das Ganze auch lohnt…“ „Ob es sich lohnt? Ich weiß nicht, ob du vor Schreck in Ohnmacht, oder gleich tot umfallen wirst, vielleicht wirst du aber auch vor Freude in die Luft springen oder Hals über Kopf aus der Kajüte stürmen. Aber lohnen wird es sich allemal!“, posaunte er, einen Schritt von ihr zurücktuend. Tief Luft holend nickte Kim als Zeichen ihres Einverständnisses und sah zu ihm auf. Jon griff nach dem Kerzenständer, den er wieder auf den Tisch gestellt hatte, nahm sie dann bei der Hand und führte sie direkt zu Wellings Bett. Es grauste sie bei dem Gedanken, was Welling ihr hier alles angetan hatte und noch angetan hätte, wäre er nicht tot. Ja, er war tot, niemand konnte ihn wieder zum Leben erwecken. Er könnte ihr nie wieder etwas antun. Mit diesen Gedanken sprach sie sich Mut zu und fragte andächtig: „Du willst mir sein Bett zeigen? Wie makaber von dir, Jon. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Dieses Bett kenne ich nun wirklich zur Genüge und ich spüre nicht das leiseste Verlangen noch einmal darinnen zu liegen oder es nur zu sehen. Jon Genitson, du hast mich wütend gemacht und mich enttäuscht, schäm dich.“ Entgeistert sah Jon sie allerdings an und grinste dann: „Nicht doch das Bett, Kim, schau auf die Wand am Fußende. Schau auf das Gemälde. Kommt dir die Person darauf so bekannt vor wie mir?“ Schon im Begriff sich umzudrehen hielt sie abrupt in ihrer Bewegung inne und wandte ihren Blick auf das Gemälde an der Wand am Fußende des Bettes. Da das Bett in einer kleinen Nische lag, an deren Rückenseite Fenster eingelassen waren, durch die nun das gleißende Licht des Mondes einfiel, konnte sie die Person darauf genau erkennen. „Ich?“, fragte sie fassungslos. „In zehn Jahren vielleicht…“, antwortete ihr Jon. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie von dem Gemälde zu Jon. Der Kontrast des Kerzenlichtes zu dem des Mondes ließ sein Gesicht ungewöhnlich hart und ernst erscheinen, obgleich ein sanftes Lächeln seine Mundwinkel zierte. „Aber das kann nicht…“, setzte sie an, stieg dann auf das Bett und hängte das Bild ab. Sie wollte es genauer betrachten, riss Jon den Kerzenhalter aus der Hand, dass ihm das heiße Wachs darüber floss und herrschte ihn an: „Licht! Ich brauche mehr Licht, verdammt noch mal!“ „Sag mal, spinnst du? Du kannst mir doch nicht einfach das Wachs über die Hand gießen, das ist verdammt heiß! Hol dir deine Kerzen doch selber, Schnepfe!“, blaffte er zurück. Sich nicht gewahr, was sie getan hatte, drehte sie sich zu ihm und fragte erstaunt: „Was redest du da von wegen Kerzenwachs?“ Da sah sie die mit heißem Wachs übergossene Hand und fragte erschüttert: „War ich das etwa?“ Aggressiv zischte Jon: „Nein, ich gieße mir regelmäßig Kerzenwachs über die Haut, macht einen schönen Teint. Natürlich warst das du, einfältige Natter!“ „Hör auf mich zu beschimpfen“, entgegnete sie ruhig und tat einige Schritte auf ihn zu. „Warum sollte ich, dummes Ding! Dafür sollte ich dich auspeitschen lassen, verdammtes Weibsstück, das grenzt nämlich schon beinahe an Meuterei!“ Daraufhin musste sie herzhaft lachen und antwortete: „Nun stell dich nicht so an. Wegen einem bisschen Kerzenwachs so auszurasten, du benimmst dich wie ein kleiner Junge.“ Behutsam nahm sie seine Hand und begann das Wachs davon zu entfernen. Weil es noch weich war, ging es gut und als sie einmal auf in sein Gesicht sah, erkannte sie, wie er einerseits zornig auf sie war, ihre Bemutterung andererseits aber doch genoss. Still schmunzelte sie in sich hinein und entfernte den letzten Rest Wachs von seiner Hand. Dann führte sie sie zu ihren Lippen und küsste sie auf die Innenseite und auf den Rücken. Als sie wieder zu Jon aufsah, sah sie, wie er rot angelaufen war und er fragte: „Was machst du denn da?“ „Ich küsse deine Hand gesund und entschuldige mich. Wenn es dir unangenehm ist von mir geküsst zu werden, so tut mir auch das Leid.“ „Nein! Nein, es ist mir nicht unangenehm, im Gegenteil! Ich würde gerne mehr…“, er unterbrach sich und schaute, noch röter, zu Boden. Kim konnte das Grinsen, das in ihr Gesicht stieg nicht unterdrücken. Sie liebte es, ihn in solch prekäre Situationen zu bringen und dann zu sehen, wie er mühsam versuchte sich selbst bei den Haaren wieder herauszuziehen. Aber sie warf ihm einen Rettungsring zu und drehte sich um: „Dann ist es ja gut, denn sonst wäre womöglich noch ich rot angelaufen. Bringst du mir nun bitte die Kerzen?“ Sie konnte hören, wie er eilig in der Kajüte umherging und alles Lichtspendende einsammelte. Am Ende stand er, beide Arme mit Kerzen und Lampen beladen, schnaufend vor ihr. Lachend prustete sie: „Doch nicht gleich so viele! Wo hast du die denn alle aufgetrieben?“ Die Kerzen fallen lassend brummte er mürrisch: „Dir kann man es aber auch nie Recht machen.“ „Oh, und ich dachte immer, gerade du hättest ein Talent dafür“, witzelte sie. Dann aber hob sie eine Kerze auf, entzündete sie an den Flammen der Kerzen im Halter und ging damit zu dem Bild, das nun, gegen die Bettkante gelehnt, auf dem Boden stand. Vorsichtig kniete sie sich davor nieder und musterte die Frau darauf. In zehn Jahren könnte das wirklich sie darstellen. Die langen braunen, gelockten Haare; die sanften, grünen Augen, von ein paar Fältchen umrandet; eine weiche Stupsnase und die Lippen umspielt von einem zärtlichen Lächeln. Wegen diesem Gemälde waren sie gekommen, das war ihr Schatz. Was hatte die Hexe ihr gesagt? Sie solle es gegen Licht halten. Aber was sollte das bringen? Sie würde es sehen, gleich am nächsten Morgen würde sie es ausprobieren. „Wer glaubst du ist das?“, fragte Jon, der ganz nahe an sie herangetreten war. Sie schrak auf, wirbelte herum und keifte ihn an: „Du kannst mich doch nicht so erschrecken! Schleich dich gefälligst nicht so von hinten an mich heran!“ Damit wiederum erschreckte sie ihn so, dass er einen Satz nach hinten machte und erneut das Wachs der Kerzen aus dem Halter über seine ohnehin schon lädierte Hand lief. Fluchend ließ er den unheilvollen Kerzenleuchter fallen und schwang die Hand zur Kühlung in der Luft umher. Die rüden Flüche überhörend entschuldigte sie sich und löste nun zum zweiten Mal das Wachs von seiner Hand. Als auch der letzte Rest entfernt war und sie seine Hand wieder sinken lassen wollte, fragte er vorsichtig: „Und jetzt willst du sie nicht gesund küssen?“ Lächelnd hob sie sie wieder an, küsste seine Handinnenfläche, küsste ihn auf die Kuppe seiner Finger und zum Schluss auf den Handrücken. Ein vollkommen verliebtes, abwesendes Lächeln schmückte nun sein Gesicht und sie musste leise kichern. In diesem Moment wurde die Türe aufgestoßen und Terry platzte grinsend herein: „Komm mal raus, Captain, das musst du dir ansehen!“ Sofort klärte sich Jons Gesichtsausdruck und er fragte: „Was muss ich mir ansehen?“ „Wir haben, nun ja, wie soll ich es sagen… unerwartet hohen Besuch“, antwortete ihm Terry. Jon warf Kim einen flüchtigen Blick zu, doch auch diese konnte nur mit den Achseln zucken, da sie keine Idee hatte, was Terry meinen könnte. Dann folgte er Terry aufs Hauptdeck, wo die Piraten lachend einen Kreis um etwas oder jemanden gebildet hatten. Jon erhob seine Stimme und brüllte: „Was zum Henker ist hier los?“ Vor ihm teilte sich die Masse, sodass er durch diese Gasse zum Innenrand des Kreises vordringen konnte; Kim ihm dicht auf den Fersen. In der Mitte des Kreises standen eine Frau und ein Mann. Der Mann war wohl um die zwanzig und die Frau in seinem Alter. Er sah nicht aus, als sei er von der Marine, er sah eher aus, als gehöre ihm die Marine. Die Kleidung prunkvoll, in was ihm die Frau nicht nachstand. Sie waren Rücken an Rücken aneinander gebunden und sahen mehr oder minder angsterfüllt auf die Piraten. Als der Mann Jon erblickte, rief er: „Seid Ihr der Kapitän dieser unverschämten Meute?“ Daraufhin lachten die Piraten auf und Jon grinste: „Ja, der bin ich.“ „Dann sagt ihnen, sie sollen mich und meine Verlobte losbinden!“, befahl der junge Mann. Jon allerdings stimmte in das Gelächter der übrigen Piraten mit ein und fragte: „Wieso sollte ich Befehle von Euch annehmen? Schließlich bin ich der Kapitän, wie Ihr vorhin festgestellt habt.“ „Aber wenn Ihr uns losbindet, wird Euch und Eurer Mannschaft nichts geschehen“, versuchte der Mann zu drohen. Erneut grölte Jon auf und lachte: „Nun, mein Bester, mich dünkt, Ihr seid nicht wirklich in der Position Drohungen auszusprechen!“ „Und ich glaube, Ihr wisst nicht, mit wem Ihr Euch hier anlegt!“, trotzte er Jon. Dieser allerdings erwiderte grinsend: „Da habt Ihr Recht, ich habe keine Ahnung mit wem ich es zu tun habe, aber ehrlich gesagt ist mir das egal. Nur wisst Ihr offenbar auch nicht, mit wem Ihr es zu tun habt.“ „Oh doch, Ihr seid Lord Welling, kein wirklich hohes Tier in der Marine. Glaubt mir, wenn wir im nächsten Hafen einlaufen wird Euch das teuer zu stehen kommen!“ Die Piraten hielten sich schon die Bäuche vor Lachen, doch Jon hob seine Hand und gebot ihnen Schweigen. Schlagartig wurde es still, was den jungen Edelmann anscheinend nervös machte. Jon jedoch blieb ernst und fragte: „Wenn Ihr also genau wisst, mit wem Ihr es zu tun habt, müsst Ihr Euch gut auskennen in der Marine. Woher kommt Ihr? So mitten auf hoher See?“ „Unser Schiff mit dem wir unterwegs waren, wurde von Piraten gekapert. Meine Verlobte und ich haben es mit Müh und Not geschafft zu entkommen und waren überglücklich auf Euer Schiff zu treffen, doch der Empfang, den man uns beschert hat, war nicht sehr herzlich. Wir hätten ein paar warme Decken und etwas zum Trinken und Essen erwartet, aber stattdessen werden wir gefesselt. Und die Moral auf diesem Schiff lässt auch zu Wünschen übrig, warum tragen Eure Soldaten ihre Uniformen nicht? Und Ihr als ihr Vorbild? Und was soll dieses Frauenzimmer an Bord der HMS Fire?“, textete der Mann. „Hey!“, entfuhr es Kim und sie war kurz davor auf den Kerl zuzulaufen und ihm eine zu scheuern, doch Jon hielt sie zurück und raunte ihr zu: „Ruhig!“ Dann sagte er an den Edelmann gewandt: „Das ist kein einfaches Frauenzimmer, mein Bester, Ihr solltet sie einmal in Aktion erleben, ihr würdet blass werden!“ Dem jungen Mann schoss die Röte ins Gesicht und die Piraten begannen zu tuscheln und zu lachen, doch Jon bellte: „Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt, Männer!“ Etwas leiser und an den Fremden gewandt fuhr Jon fort: „Ich meinte es nicht in dem Sinne wie Ihr es assoziiert habt, ich sprach vom Kämpfen. Des Weiteren tragen meine Männer keine Uniform, weil wir jederzeit mit Übergriffen rechnen müssen, wie Ihr ja am eigenen Leibe erfahren musstet, und die Uniformen denkbar ungeschickt beim Kämpfen sind.“ „Aber ein Schiff dieser Größe“, unterbrach der Mann ihn. „Welcher Pirat wäre so dumm und würde es wagen ein Schiff wie die HMS Fire anzugreifen?“ Ein Knurren ging durch die Reihen der Piraten und der Edelmann sah sich beunruhigt um. Als Jon jedoch seinen Blick über die Piraten schweifen ließ, wurden sie wieder vollkommen still und lauschten seinen nächsten Worten: „Ihr sagtet mir aber immer noch nicht, wie Ihr heißt und vor allem habt Ihr mir noch nicht Eure reizende Begleitung vorgestellt.“ „Ihr scheint wirklich nicht zu wissen, wer ich bin, Lord Welling“, seufzte er. „Mein Name ist Leroy Bonel. Duke of Plymouth“, antwortete ihm der Herzog mit geschwellter Brust. „Und das ist meine Verlobte, Mackenzie Drunball, zukünftige Duchess of Plymouth.“ Gespielt bestürzt verbeugte sich Jon zynisch und rief aus: „Ach du mein lieber Gott, wir haben es hier mit dem Herzog Plymouths zu tun, verzeiht meine Unverschämtheit Euch gegenüber, Hoheit, ich hatte ja keine Ahnung.“ Skeptisch sah Kim auf Jon, der sich wieder erhob, aber nicht nur sie traute ihren Augen nicht ganz. Der Rest der Mannschaft schien ebenfalls den Atem anzuhalten. Was hatte Jon jetzt vor? Wieso verneigte er sich vor den Beiden? „Würdet Ihr nun die Freundlichkeit besitzen und Eurer Mannschaft den Befehl geben, uns loszubinden, werter Lord Welling?“, fragte Bonel noch immer leicht nervös. Jon allerdings war vollkommen ruhig, als er einmal um das junge Paar herumging, in Denkerpose vor der zukünftigen Duchess stehen blieb und ihr sanft über die Wange streichelte. Bonel, der ja mit dem Rücken zu ihr stand, rief aufgebracht: „Was macht Ihr da, Welling? Lasst gefälligst Eure Finger von meiner Verlobten!“ Jon antwortete ihm nicht, sondern küsste sie flüchtig und stellte sich dann mit immer noch ernster Miene wieder vor Bonel. Schließlich zischte er: „Ich werde Euch nicht losbinden.“ Mit offenem Mund und großen Augen starrte Bonel ihn an und zeterte dann: „Was soll das, Welling? Ich dachte, Ihr wüsstet, wen Ihr vor Euch habt!“ „Ja, mir ist durchaus bewusst, wer Ihr seid“, entgegnete Jon vollkommen gelassen. „Aber Ihr scheint noch immer nicht begriffen zu haben, dass Ihr nicht in der Position seid zu verhandeln.“ Da blieben selbst dem Duke von Plymouth die Worte im Halse stecken und Jon fuhr grinsend fort: „Außerdem habt Ihr mich beleidigt. Ihr denkt wirklich, ich sei Welling? Sehe ich etwa wirklich aus, wie dieser Drei-Groschen-Casanova?“ Vorsichtig, mit zitternder Stimme fragte Bonel: „Wer seid Ihr denn dann, wenn nicht Welling?“ Jons Grinsen wurde noch breiter und er fragte: „Sagt, Hoheit, wisst Ihr, wer Euch überfallen hat?“ „Eine Piratenbande, ich glaube der Captain nannte sich Monsieur Noir“, antwortete ihm Bonel entgeistert. Jon aber rief freudig aus: „Habt ihr das gehört, Männer? Der gute Monsieur Noir ist anscheinend alt geworden, hat sich doch das Beste entgehen lassen. Ein Glück, dass wir da sind und uns das nicht geschehen wird.“ Nach Luft schnappend keuchte Bonel: „Ihr seid Piraten?“ Jon kam seinem Gesicht ganz nahe, ein hämisches Grinsen zuckte über sein Angesicht und er flüsterte: „Das nennt man dann wohl vom Regen in die Traufe, nicht wahr?“ Als sie das hörte, flossen der Frau Tränen über die Wangen, doch sie sagte immer noch nichts, blieb stumm. Sie hatte die ganze Zeit über geschwiegen, dass Kim schon dachte, sie wäre stumm. Nun jedoch kam Kim auf Jon zu, zog ihn ein wenig von den Beiden weg und flüsterte: „Wir sollten ihnen trotzdem etwas zum Essen und Trinken geben, verhungert nutzen sie uns nämlich gar nichts.“ Seufzend stimmte Jon ihr zu und wandte sich an die Piraten: „Also los, genug der Späße, nehmt dem Duke die Waffen ab und bringt ihn in die Kapitänskajüte, dann bringt etwas zum Essen und auch etwas zum Trinken! Danach könnt ihr weiterfeiern, wie es euch beliebt.“ Gerade wollte er sich umdrehen und in die Kajüte gehen, da zupfte ihn Harvey am Ärmel, nickte zu Kim und fragte leise: „Wann bekomme ich sie denn jetzt? Vergiss nicht, du hast es mir versprochen.“ Kim hatte natürlich gemerkt, dass die Beiden zu ihr sahen, kam zu ihnen und fragte skeptisch: „Redet ihr über mich?“ Fragend sah Harvey Jon an, der Kim einen nervösen Blick zuwarf. Gewissermaßen hatte er es ihm wirklich versprochen, aber er konnte Kim nicht einfach so ausliefern. Schließlich sagte er langsam: „Ich kann sie dir nicht geben.“ „Aber warum?“, fragte Harvey enttäuscht. „Weil du kein richtiger Pirat bist, zumindest noch nicht“, entgegnete Jon. „Und wann bin ich dann ein richtiger Pirat?“, fragte Harvey skeptisch. „Und warum bin ich kein richtiger Pirat?“ „Sieh dich doch an in deiner Marine-Uniform, außerdem musst du noch viel lernen, bevor dir die Frauen zu Füßen liegen.“ Damit wandte er sich von ihm ab und zog Kim mit sich in die Kajüte. Beständig wetterte sie: „Jetzt hast du mich ihm schon das zweite Mal versprochen, glaub ja nicht, dass ich mich dem hingeben werde, nur um dir aus der Tinte zu helfen. Das was mir Welling angetan hat, reicht mir vollkommen. Wieso musstest du ihm überhaupt versprechen, dass er mich bekommt? Irgendwann wird er ein richtiger Pirat sein, wie du es so schön ausdrückst, allerdings dauert das nicht mehr allzu lange. Und was willst du ihm dann erzählen? Na? Jon, manchmal bist du wahrlich ein Idiot, liebenswert, aber ein Idiot.“ Jon aber nahm das ganze gelassen und lachte, als er die Kajüte betrat, Kim immer noch im Schlepptau: „Ich bin also ein liebenswerter Idiot? Alles was du denkst, Lilay. So, Duke und zukünftige Duchess, da sind wir. Oh, es wurde sogar schon aufgetischt, verzeiht unsere Verspätung, setzt Euch doch.“ Er selbst leistete seiner Bitte Folge und ließ sich auf dem Stuhl am Kopfende nieder. Kim jedoch rollte genervt mit den Augen und fragte an Jon gewandt, ihren Dolch zückend: „Was ist heute eigentlich mit dir los, Jon, hast du schon so viel Rum getrunken? Wie sollen sich die Beiden denn setzen, wenn sie aneinandergefesselt sind?“ Mit diesen Worten schnitt sie das Seil durch und steckte den Dolch wieder ein. Das junge Paar rieb sich die Handgelenke, auf denen noch die Abdrücke des Seils zu sehen waren, dann nahmen auch sie Platz. Vorsichtig begutachteten sie, was auf dem Tisch war. Kim griff nach der Flasche Wein, las das Etikett, füllte sich etwas in ihr Glas und sagte dann: „Greift ruhig zu, vergiftet bringt Ihr uns kein Geld, also braucht Ihr Euch nicht zu sorgen.“ Damit trank sie einen Schluck Wein. Jon legte seine blanken Füße auf den Tisch und grinste, sich einen Apfel nehmend und hineinbeißend: „Die Gute hat ganz Recht. Wir würden es doch nie wagen, den Duke of Plymouth und seine Verlobte zu vergiften und vorhin habt Ihr Euch doch noch über den rauen Empfang beschwert. Nun bieten wir Euch die feinsten Speisen und Ihr esst nicht, damit beleidigt Ihr mich schon wieder.“ Kim, sein Spiel aufgreifend, schwenkte den Wein in ihrem Glas und fügte hinzu: „Ich weiß ja nicht genau, wie oft Ihr ihn heute schon beleidigt habt, aber da kommt schon einiges zusammen. Ihr hieltet ihn für diesen widerlichen Welling, dann habt Ihr ihn sozusagen als dumm bezeichnet, weil er es gewagt hat, dieses Schiff zu kapern und nun wisst Ihr immer noch nicht, wen Ihr vor Euch habt. Das Einzige, was Ihr wisst, ist, dass er Pirat ist; wie erbärmlich.“ Das erste Mal an diesem Abend erhob die Frau ihre Stimme und fragte mit greller, nerviger Stimme: „Aber wer seid Ihr denn, wenn wir Euch so beleidigen, wenn wir nicht wissen, wer Ihr seid.“ „Nun“, entgegnete Jon gelassen. „Auf meinen Kopf sind ganze 500 Achterstücke ausgesetzt. Mein Name ist Jon Genitson, damit Ihr auch endlich wisst, wie ihr mich ansprechen könnt.“ Bonel, der zögerlich einen Bissen Brot genommen hatte, verschluckte sich daran, als er Jons Namen hörte, hustete ein paar Male, als würde er ersticken und fragte dann mit tränenden Augen: „Der Jon Genitson? Die Kaufleute dieser Route warnten uns vor Euch. Ihr habt den Ruf völlig skrupellos und barbarisch zu sein; wenn Euch eine Frau vor die Füße läuft, dann nehmt Ihr sie Euch einfach und wenn sich Euch ein Mann in den Weg stellt, dann schlitzt ihr ihm den Rumpf auf und esst sein Herz…“ Jon lachte schallend auf und prustete: „Das erzählt man sich also über mich? Bei Gott, so schlimm bin ich dann doch wieder nicht, oder, Kim?“ Auch sie musste grinsen und schüttelte den Kopf. „Also ich könnte mich nicht daran erinnern, dass du jemals einem den Rumpf aufgeschlitzt hättest und das Herz dieses Halunken gegessen hättest. Dann hätte ich dir nämlich mal was erzählt, mein Lieber.“ Der Duke und die zukünftige Duchess warfen sich einen flüchtigen Blick zu und die Frau fragte mit ihrer grellen Stimme: „Und ihr seid auch verlobt oder gar verheiratet?“ Entgeistert trafen sich Jons und Kims Blick, dann brachen sie in schallendes Gelächter aus und Jon schallte: „Zum Teufel noch mal, was hat man euch denn für Flöhe ins Ohr gesetzt? Ich und Kim verlobt oder verheiratet? So weit kommt es noch!“ Wieso grölte denn ausgerechnet Jon so etwas? War er es eben nicht noch gewesen, der so nach ihren Küssen gegiert hatte? War ihm das nun etwa peinlich? Warum bloß? Nachdenklich wurde sie stumm und Jon musterte sie eindringlich, das Lachen auch einstellend. Die Verlobten sahen verwundert vom Einen zur Anderen und Jon fragte Kim, die Anwesenheit der beiden anderen völlig ignorierend: „Was ist denn los, Kim? Habe ich etwas Falsches gesagt?“ Doch Kim schüttelte den Kopf und lächelte: „Oh, nein, nein, ich musste nur gerade noch einmal an dieses Gemälde denken, weißt du, es beschäftigt mich doch sehr, ich habe das Gefühl, kein Auge zuzutun, bis ich nicht weiß, was es damit auf sich hat.“ Ernst musterte er sie, stand dann auf, wandte den dreien den Rücken zu und sagte: „Nun, ich dachte, wir wären deswegen auf dieses Schiff gekommen oder willst du mir erzählen, dass wir all die Mühen umsonst auf uns genommen haben?“ Schuldbewusst zu Boden schauend, entgegnete sie leise: „Das kann ich dir erst morgen sagen.“ Blitzartig drehte sich Jon um, kam auf sie zu, packte sie hart bei den Schultern und brüllte: „Was heißt bitte, dass du es mir erst morgen sagen kannst? Ist dir klar, dass ich knapp einer Meuterei entkommen bin, nur weil wir dieses verdammte Schiff deinetwegen gekapert haben?“ Vollkommen ungerührt befreite sie sich aus seinem Griff, ohrfeigte ihn kräftig und zischte: „Du hast zu viel getrunken, das ist ja widerlich! Lass die Gefangenen erstmal zu den anderen bringen und dann reden wir meinetwegen unter vier Augen weiter.“ Sich an die Wange fassend sah Jon sie entgeistert an, doch im nächsten Moment zückte er seine Pistole, richtete diese auf Kim und brüllte: „Wage es noch einmal mich zu schlagen und du bist so gut wie tot!“ Nun sprang Bonel vor Kim und rief: „Wendet Eure Waffe von der Frau, Genitson, lasst Eure Wut von mir aus an mir aus, aber nicht an einer wehrlosen Frau!“ Kim jedoch schob ihn zur Seite und knurrte: „Ihr müsst vor mir nicht den tapferen Edelmann spielen, haltet Euch einfach nur raus, so wehr- und hilflos wie Ihr denkt bin ich dann nämlich doch nicht.“ Dann sagte sie lauter, an Jon gewandt: „Und zu dir, Jonathan: drohe mir nicht! Wage es nicht einmal daran zu denken, denn ich kenne deine Schwächen besser als jeder andere.“ „Nenn mich nicht Jonathan!“, schrie Jon und Kim grinste: „Siehst du?“ Ein Schuss löste sich aus Jons Waffe, doch er traf sie nicht. Die Kugel verfehlte sie um wenige Zentimeter. Zwar glaubte Kim, es war keine Absicht gewesen, aber dennoch brüllte sie: „Verdammt, Jon! Wenn du besoffen bist, sollte man dich allein in einer leeren Zelle einsperren und erst wieder drei Tage später hinaus lassen! Ist dir klar, dass du mich hättest verletzen oder gar töten können?“ Jons bestürztem Gesichtsausdruck nach, schloss sie, dass er es nicht gewusst hatte. War er wirklich schon so betrunken? Einen Schritt auf sie zutuend flüsterte er: „Kim, es… es tut mir Leid, ich wollte nicht auf dich schießen. Das wollte ich wirklich nicht.“ „Terry, Laffite!“, rief Kim auf einmal. Nur einige Sekunden später wurde die Tür aufgestoben und Terry fragte: „Was ist, Kim?“ „Bringt die Beiden zu den restlichen Gefangenen!“, befahl sie. Einen flüchtigen Blick auf Jon werfend, der bewegungslos in der Mitte des Raumes mit hängenden Schultern und lose in der Hand liegender Waffe stand, kamen sie herein und führten das Paar ab. Nun kam Kim auf Jon zu, legte ihre Arme um ihn und flüsterte: „Ich weiß doch, dass du mich nicht erschießen willst, dennoch solltest du dich etwas zügeln, du hast dich einfach nicht mehr unter Kontrolle, wenn du Alkohol getrunken hast… Was?“ Weiter kam sie nicht mehr, denn Jon war es anscheinend Leid geworden sie reden zu hören und hatte ihre Lippen mit einem Kuss versiegelt. Leicht irritiert ließ sie es über sich ergehen und als er wieder von ihr abließ sagte er: „Vielleicht sollten wir uns doch verloben, was hältst du davon?“ Nicht schon wieder, schoss es Kim durch den Kopf. Ein paar Schritte zurück machend, erklärte sie affektiert lächelnd: „Aber wenn wir uns verloben sollten, dann sollten wir uns doch auch lieben, oder nicht? Und so leid es mir tut, Jon, ich liebe dich nicht. Gute Nacht.“ Mit diesen Worten ließ sie ihn stehen und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Plötzlich fragte sie sich, wo sie heute Nacht schlafen sollte. Sollte sie sich einfach in eine der Kajüten legen? Die waren sicher schon alle von den Piraten belegt. Gerade überlegte sie angestrengt, da sah sie, wie Laffite winkend auf sie zukam und rief: „Kim! Ecoute, veux-tu dors avec nous? Parce que nous pensions que tu ne veux pas dors chez Jon.» „Und wer schläft noch bei dir?“ „Seulement Terry, Philipe et Diego. Normalement Garret aussi, mais… tu sais, il est mort“, antwortete er. Kurzerhand lächelte sie ihm zu und nahm sein Angebot dankend an. Wenigstens hatte sie ihr eigenes Bett, auch wenn sie sich das Zimmer mit den Männern teilen musste. „Alors, suis moi“, befahl er schon fast. Sie folgte ihm unter Deck und den Gang entlang, dann noch eine Treppe hinunter und noch einen Gang entlang. Das Schiff war größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Plötzlich blieb Laffite vor einer Tür stehen, hielt sich den Finger an die Lippen, zwinkerte ihr zu und riss im nächsten Moment die Tür auf, während er brüllte: „Regardez, wen ich mitgebracht habe! Heute Nacht werden wir bestimmt noch besser schlafen können!“ Sie sah sich um, von einem Gesicht ins Andere. Terry grinste sie anzüglich an, Diego nickte ihr süffisant lächelnd zu und Philipe stützte nur die Stirn in die Hand. Er war der erste, der das Wort ergriff und er seufzte: „Glaubt ihr wirklich, mit der im Zimmer kann man besser schlafen? Ich weiß wovon ich rede, schließlich lag ich schon mal unter ihr.“ Die anderen Piraten missverstanden ihn offensichtlich und begannen zu grinsen, doch Kim winkte ab: „Nicht was ihr denkt, auf der Miloké hat er einfach nur die Hängematte unter mir.“ „Und das reicht mir auch schon vollkommen“, setzte Philipe hinzu. Nun entbrannte eine Diskussion, wo Kim schlafen sollte, es gab nur zwei Stockbetten, wovon Laffite ihr natürlich kein Wort geschildert hatte, doch nun hatte sie schon zugesagt und konnte keinen Rückzieher mehr machen. Zum Schluss zogen sie Hölzchen. Wer das längste zog, bei dem würde Kim im Bett schlafen. Sie wurde natürlich nicht gefragt, doch war es ihr gleich. Philipe warf den Kopf in den Nacken und stöhnte auf. „Warum muss ich nur immer so verdammtes Pech beim Losen haben? Zum Teufel noch mal, mein Schutzengel ist mir nicht hold.“ „Als wäre es so schlimm, mit mir ein Bett zu teilen“, zischte Kim und warf ihm einen mörderischen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte. Affektiert lächelte er sie an, wies mit einer Geste auf das Bett in dem er schlief und sagte: „Ganz im Gegenteil, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mit dir in einem Bett zu schlafen, das so eng ist, dass kaum ich allein genug Platz zum Schlafen finde.“ „Na dann müsst ihr euch eben eng aneinander schmiegen“, grinste Diego und stieg auf das Bett über ihrem. Auch Laffite und Terry gingen in ihre Betten, nur Kim und Philipe blieben etwas peinlich berührt stehen. Schließlich räusperte sich Philipe und fragte: „Willst du etwa in den Sachen schlafen gehen?“ „Was soll ich denn sonst anziehen?“, zischte sie. „Nackt steige ich mit dir gewiss nicht in ein Bett.“ Genervt mit den Augen rollend ging er zu der Truhe am Fußende des Bettes und öffnete diese. „Wir können doch einfach schauen, was die Typen von der Marine noch so für Kleider dabei hatten“, entgegnete er. Und zog eine Uniform aus der Truhe. Angewidert ließ er sie fallen und schüttelte den Kopf. Nach langem Kramen hatte er dann endlich ein weites Hemd gefunden, das er ihr zuwarf. „Hier, zieh das an“, sagte er. „Hier?“, fragte sie. „Hier ziehe ich mich gewiss nicht um.“ Tief durchatmend fragte er: „Und wo dann, gnädiges Fräulein? Auf dem Flur oder gar auf Deck? Nun stell dich nicht so an. Du kannst dir ja erst das Hemd über ziehen und dann deine Kleider ausziehen.“ Einen leichten Schmollmund machend tat sie, was er ihr vorgeschlagen hatte und fragte dann: „Und was soll ich mit meinen Waffen machen?“ „Na leg sie auf die Truhe, unters Kopfkissen, wirf sie aus dem Bullauge oder mach sonst was mit ihnen aber nun leg dich endlich hin!“, brauste er auf. Selbst auch die Geduld verlierend legte sie ihre Waffen auf die Truhe und legte sich schnaufend in das enge Bett, mit dem Kopf zum Fußende. Verwundert fragte Philipe: „Wie legst du dich denn hin? Hast du etwa eine Allergie gegen Kopfkissen?“ „Nein, aber ich habe nicht vor, mich eng an dich zu schmiegen“, fuhr sie ihn an. Achselzuckend legte er sich richtig herum ins Bett und streckte sich. Erst hielt sie das für die beste Lösung, nach ein paar Minuten jedoch stieg ihr der Geruch Philipes Füße in die Nase und noch ein paar Minuten später hielt sie es nicht mehr aus. Sie steckte den Kopf unter die Decke und drehte sich um, sodass sie lag wie Philipe. Dieser wurde dadurch fast aus dem Bett gedrängt, sodass er sich mit einer Hand auf dem Boden abstützen musste und zischte: „Was machst du denn da? Ich dachte, du wolltest dich nicht an mich schmiegen oder hast du es dir anders überlegt?“ „Nein, eigentlich will ich es immer noch nicht, aber eng an dich gedrängt zu schlafen ist immer noch besser, als an dem Gestank deiner Füße zu krepieren“, entgegnete Kim. Er lachte leicht, schubste sie ein wenig weiter in Richtung Wand und legte dann seinen Arm um sie. „Was machst du da?“, fragte Kim skeptisch. „Na ich verhindere, dass ich aus dem Bett falle“, entgegnete er schlicht. „Aber wehe, deine Hand rutscht an die falsche Stelle“, drohte sie. Er ließ seine Hand zu ihrer Brust fahren und fragte zupackend: „Ist das etwa die falsche Stelle?“ Blitzschnell zückte sie den Dolch, den sie an einer Schnalle um ihren Oberschenkel befestigt hatte, drehte sich um und hielt ihm diesen an den Hals. Dann flüsterte sie: „Ja, das war die Falsche Stelle.“ Ungerührt und mit Leichtigkeit nahm er ihr allerdings den Dolch aus der Hand, warf ihn an die Wand gegenüber, sodass er darin stecken blieb und fragte süffisant grinsend: „Und nun?“ „Ich kann schreien“, drohte sie. „Aber du wirst nicht schreien“, lächelte er und berührte ihre Lippen sanft mit seinen. Sie hielt die Luft an. Seit Wochen hatte sie sich gewünscht, dass er sie noch einmal küsste und nun war es soweit. Doch sie wusste, dass er kein wirkliches Interesse an ihr hatte. Er hatte sozusagen eine Sammelleidenschaft für Frauen. Und Kim wollte nicht einfach eine unter vielen sein, sie wollte die Eine von vielen sein, aber das war nicht der Moment dafür. Sie biss ihm in die Lippe, dass er von ihr abließ und er grinste: „Beißen kannst du ja gut, aber geschrieen hast du nicht. Also hatte ich Recht.“ Trotzig drehte sie sich wieder um, doch er schob sein Bein zwischen ihre und gerade als er mit seiner Hüfte leicht gegen ihre drückte, tönte Diegos Stimme: „Zum Teufel, könnt ihr nicht leiser machen, was immer ihr macht? Ich möchte nämlich schlafen.“ Kim war gottfroh, dass es dunkel war und so niemand sehen konnte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Von dem Augenblick an ging sie einfach nicht mehr auf die Anspielungen Philipes ein, sondern schloss die Augen und versuchte zu schlafen. Es regnete wie aus Eimern und sie stand auf einer überdachten Terrasse. Das Haus, zu dem diese Terrasse gehörte, stand auf Pfählen im Wasser, aber es war eher eine Hütte, als ein Haus. Vollkommen aus Holz. Sie drehte sich um und trat ein. Die Hütte war mit Regalen voll gestopft in denen abertausende Einmachgläser standen, allesamt beschriftet und anscheinend nach Alphabet geordnet. Als sie weiter ins Innere kam, sah sie überall Gerümpel herumliegen. Kristallkugeln, Kompasse, Landkarten, halbe Räder und auch einige Waffen und Schilder. Sie wunderte sich, wie groß die Hütte doch war. Von außen hatte sie so klein ausgesehen, doch von innen… hätte man all den Krempel hinausgeworfen, hätte man einen Ballsaal ausrichten lassen können. Kurz vor der Rückwand der Hütte führte eine Wendeltreppe in einen zweiten Stock. Dabei hatte es von draußen so ausgesehen, als hätte die Hütte nur diesen einen Stock. Gerade wollte sie hinaufgehen, da hörte sie eine jugendliche Frauenstimme, die sagte: „Nun musst du aber gehen, meine Liebe. Aber lass mich dir zuvor noch etwas geben…“ Im nächsten Moment kam eine blonde Frau die Treppen herunter, Kim erkannte Alice sofort, gefolgt von einer jungen Frau, deren Erscheinungsbild recht merkwürdig war. Sie hatte schwarzes langes Haar und es war wirklich lang; hätte sie sich nicht eine so kunstvoll gesteckte Frisur gemacht, hing es sicher bis zum Boden. Auch ihre Kleider waren recht ungewöhnlich, sie trug keine Schuhe und doch ging sie, als hätte sie hochhackige an, ihr wirklich kurzer Rock wechselte von einer Sekunde zur anderen die Farbe und als Oberteil hatte sie sich einen Schal umgebunden. Als Kim sie so mustere blieb die seltsame Frau stehen und sah genau in ihre Richtung, ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, doch im nächsten Moment lächelte sie wissend und nickte Kim zu. An ihren Augen war das merkwürdigste der gesamten Erscheinung. Die Frau war jung, höchstens fünfundzwanzig, doch ihre Augen sahen älter aus, viel älter. Hätte Kim nur ihre Augen gesehen, hätte sie sie auf mindestens einhundert geschätzt. „Ist etwas, werte Lawanda?“, fragte plötzlich Alice. Kim riss die Augen auf und trat einen Schritt zurück, als fürchtete sie, auch Alice könnte sie sehen. Doch Lawanda wandte sich von ihr ab und sagte mit jugendlicher Stimme: „Oh nein, meine liebe Alice, es ist alles in bester Ordnung. Aber lass mich dir diese Karte mit auf den Weg geben, da wirst du finden wonach du suchst. Und jetzt geh, lass mich alleine, ich will nachdenken.“ Sie drückte Alice ein Stück Pergament in die Hand und schob sie dann nach draußen. Doch kurz bevor sie die Tür schloss, sagte sie noch überlaut: „Und wenn du mich wieder besuchen möchtest, dann folge einfach dem Wind.“ Damit schloss sie die Tür, sah noch einmal zu Kim und setzte sich dann in einen Schaukelstuhl, an den Kim sich nicht erinnern konnte. „Verdammt noch mal, Kim! Dummes Ding, pass gefälligst auf, wo du hintrittst- und schlägst!“ Verschlafen rieb sie sich die Augen, sah, dass Philipe nicht mehr im, sondern neben dem Bett lag und fragte dann: „Was machst du denn neben dem Bett?“ „Na du bist mir ja ein herausragendes Genie. Du hast mich selbst hinausgetreten! Und jetzt rutsch gefälligst ein bisschen, dass ich auch noch ein wenig Schlaf bekomme.“ Mit einem Schlag war sie hellwach. Das musste sie Jon erzählen. Sie sprang auf und rannte aus der Kajüte. Sie wusste genau, dass Jon in der Kapitänskajüte schlief und lief so die Flure entlang zu dieser. Sie platzte herein, trat an das Bett und wollte Jon gerade wachrütteln, da kam ihr wieder in den Sinn, was Jon getan hatte, als sie ihm von ihrer letzten Vision erzählt hatte. Bei dem Gedanken begannen die Narben auf ihrem Rücken wieder zu brennen und zu jucken, aber dennoch riss sie sich zusammen und rüttelte Jon wach. Verschlafen blinzelte er sie an und fragte: „Kim? Was machst du denn hier? Und wie spät ist es überhaupt?“ Sich aufsetzend und an den Kopf fassend stöhnte er: „Oh, mein armer Schädel brummt, als hätte mich ein Baum getroffen!“ „Du hast einfach zu viel gesoffen und nun sei nicht so wehleidig, sondern hör dir an, was ich zu sagen habe!“, entgegnete sie genervt. „Und was hast du mir so dringend zu sagen?“ „Sag dem Steuermann, er darf das Ruder nicht berühren, wir müssen immer dem Wind folgen!“ „Und wo willst du mit diesem skurrilen Kurs hinkommen?“, fragte er, während er aufstand und zum Tisch ging, auf dem inzwischen weder Speisen, noch Getränke standen. Leicht nervös, weil sie nicht wusste, was er dazu sagen würde, setzte sie sich auf das Bett und antwortete: „Ich weiß nicht genau, wo das ist.“ Jon entzündete die Kerzen in dem vorgesehenen Halter, der auf dem Tisch stand und fragte weiter: „Und was willst du da?“ „Das weiß ich nicht genau“, antwortete sie. Er kam mit dem Licht auf sie zu, kniete sich zu ihr nieder. „Und warum sollte ich dann dahin fahren?“ Energisch sprang sie auf und brachte damit die Flammen der Kerzen so zum flackern, dass sie drohten zu erlischen; sie brauste auf: „Wir müssen dahin! Zwar weiß ich nicht genau, warum, aber was ich sicher weiß, ist, dass es für uns lebensnotwendig ist!“ Auch Jon richtete sich wieder auf und mühte sich sichtlich, seine Stimme ruhig zu halten. „Was sollte ich denn der Mannschaft erzählen? Soll ich zu ihnen gehen und sagen: ‚Ich habe keine Ahnung, wohin wir segeln, aber aufgrund eines Traumes von Kim ist es jetzt existentiell für uns diesen Kurs einzuschlagen’?“ „Zum Beispiel“, entgegnete Kim. „Und woher weißt du denn überhaupt, dass ich es geträumt habe?“ „Weil du immer mitten in der Nacht zu mir kommst und irgendwelche absurden Dinge von mir verlangst, wenn du wieder einen deiner paradoxen Träume hattest. Kim, hätte ich die alleinige Macht in der Mannschaft, würde ich den Kurs einschlagen, aber auf einem Piratenschiff herrscht nun mal eine Art Demokratie und wenn ich meine Entscheidungen für die Mannschaft nicht nachvollziehbar treffe, dann droht mir eine Meuterei. Ich kann auch jetzt nur hoffen, dass ich mich durch den Fang des Dukes und der Duchess wieder davon entferne, aber wenn ich der Crew jetzt einen so grotesken Kurs vorschlage, dann kann ich mir mein Haifutter einpacken und gleich über die Planke springen. Versuch doch dich in meine Lage zu versetzen. Ich konnte die Mannschaft nur knapp vor dem Galgen bewahren und deswegen sind sie mir nicht dankbar, sondern sauer, denn ich habe sie in diese brenzlige Lage gebracht. Die Bürde für alles was auf See geschieht liegt allein bei mir.“ „Aber das ist ungerecht!“, brauste Kim auf. Doch Jon widersprach ihr geduldig: „Nein, denn sie hören auf das was ich ihnen sage und wenn ich ihnen das Falsche sage, dann war es mein Fehler und ich habe die Verantwortung zu tragen. Es ist nur logisch.“ „Trotzdem“, schmollte Kim. „Und wie soll ich nun zu dieser komischen Frau kommen? Ich wollte sie doch fragen, was Alice bei ihr wollte.“ „Alice?“, als ihr Name fiel horchte Jon auf. Kim seufzte; er war noch immer in sie verliebt, es war kaum zu glauben. Wenn ihr Name fiel, dann war er in höchstem Maße konzentriert. Doch Kim hatte keine Lust über Alice zu reden und so sagte sie: „Ja, sie war bei ihr und hat eine Karte bekommen.“ „Eine Karte?“, fragte Jon. „Für was?“ „Ach, ich habe keine Ahnung, muss ich denn alles wissen, was mit Alice zu tun hat?“, fauchte Kim gereizt. Leicht irritiert fragte Jon: „Was ist denn auf einmal in dich gefahren? Das war doch nur eine Frage und sie hat sich in keinster Weise auf Alice bezogen.“ Kim spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss und wandte schnell das Gesicht von Jon ab, doch er nahm es zwischen seine Hände, schaute ihr grinsend in die Augen und fragte: „Bist du etwa eifersüchtig?“ „Ich?“, rief sie empört und machte sich von Jon los. „Auf Alice? Niemals, warum auch? Was hat sie, was ich nicht habe?“ Lange, glatte, blonde Haare, strahlend weiße Zähne, einen wunderbaren Körper. Beantwortete sie sich ihre Frage in Gedanken selbst. Jon allerdings schloss seine Arme um sie und lachte vergnügt: „Du bist so süß, wenn du eifersüchtig bist und es leugnest! Ich könnte dich mit Meerwasser übergießen und du wärst immer noch süßer als Zucker.“ Durch diese Worte und die Berührung wurde sie noch roter und Jons Entzücken steigerte sich weiterhin. Schlussendlich schaffte sie es doch, sich von ihm loszumachen und flüchtete sich vor ihm in die gegenüberliegende Ecke. Als er wieder auf sie zukam, bildete sie mit ihren Fingern vor sich ein Kreuz und rief: „Bleib bloß weg, ich warne dich, Gott steht auf meiner Seite!“ Daraufhin begann er schallend zu lachen, warf sie sich über die Schulter und dann aufs Bett. Was hatte er nun mit ihr vor? Er ließ sich neben sie ins Bett fallen, blies die Kerzen aus, er hatte das Gestell auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett gestellt, deckte sie und sich zu, drehte sich auf die Seite und flüsterte: „Gute Nacht, Lilay, du solltest noch etwas schlafen, bevor wir morgen über die Gefangenen richten.“ Erleichtert stieß sie die Luft aus, die sie für einen Moment angehalten hatte, drehte sich um und sah aus dem Fenster in die sternenklare Nacht und das offene Meer, das das Schiff sogar wenn es stand sanft wiegte. Sie spürte, wie Jons Atem hinter ihr langsam gleichmäßig und ruhiger wurde. Vorsichtig fragte sie: „Jon?“ Doch er gab ihr keine Antwort mehr, er schleif schon wieder. Sie konnte allerdings nicht so schnell wieder einschlafen, trotz des einschläfernden Schwankens des Schiffes. Zu viele Gedanken schwirrten ihr durch den Kopf. War Jon wirklich noch in Alice verliebt? Er hatte sie doch noch an diesem Abend geküsst und vor gar nicht all zu langer Zeit hatte er behauptet, Alice sei ihm völlig gleichgültig. War sie etwa wirklich eifersüchtig auf Alice, so wie Jon es gesagt hatte? Dabei war sie doch gar nicht in ihn verliebt, davon war sie überzeugt. Als sie ihren Blick an die Decke warf, wurde ihr jedoch auf einmal schlagartig bewusst, in welchem Bett sie da gerade lag und was sie in diesem Bett schon alles hatte tun müssen. Sie schluckte schwer und stand ganz vorsichtig auf, sodass sie Jon keinesfalls weckte. Sie hielt es keine Sekunde länger in dieser abscheulichen Kabine aus. Den ganzen Abend über hatte sie es vergessen, doch nun war es ihr wieder klar und es war ihr, als spiele sich alles noch einmal von neuem in ihren Gedanken ab. Mit dem Verschließen der Tür hinter sich, hatte sie das Gefühl, auch die Schublade dieser Erinnerung zu schließen. Aber sie war hundemüde, wo sollte sie nun hin? An Deck war es ihr zu kalt und zu Jon in diese Kajüte wollte und konnte sie nicht zurück. Vielleicht war es das Beste, wenn sie sich einfach wieder zu Philipe legte. Oder zu Terry, oder Laffite. Ohne es wirklich mitzubekommen setzte sie sich in Bewegung und ging unter Deck und die Flure entlang. Sie musste unbedingt zu dieser Lawanda, egal wie sie es anstellte, es musste eine Möglichkeit geben. Und wenn sie selbst eine Meuterei anzetteln musste! Kaum hatte sie das gedacht, verwarf sie den Gedanken schon wieder. Es war lächerlich, sie würde niemals eine Meuterei gegen Jon in die Wege leiten, das war absolut absurd. Leise öffnete sie die Tür zur Kajüte der Männer. Würde sie jetzt schlafen können? Sie hatte immer noch keinen Weg gefunden, zu Lawanda zu kommen. Herzhaft musste sie gähnen und legte sich doch wieder zu Philipe, der anscheinend wach wurde und verschlafen fragte: „Na? Wo warst du?“ „Nur kurz frische Luft schnappen, schlaf weiter“, antwortete sie und ihr Herz klopfte ihr bei dieser Lüge bis zum Hals. Doch Philipe war anscheinend zu müde, denn er drehte sich nur um und legte seinen Arm um sie, um dann sanft weiterzuschlafen. Sie spürte seinen heißen, gleichmäßigen Atem in ihrem Nacken und es kitzelte angenehm, wenn er ausatmete. Jedes Mal überkam sie ein leichter Schauer. Nein, in Jon war sie nicht verliebt, aber in Philipe. Darum wollte sie noch nicht einschlafen, sie wollte es genießen bei ihm im Arm zu liegen, ohne dass irgendjemand von ihren Gefühlen mitbekam. Jedoch hielt dieses Gefühl des Glücks nicht lange, denn nur wenige Augenblicke später war auch sie wieder eingeschlafen. Aber nicht, ohne seine Hand mit der ihren zu ergreifen und sich ein wenig enger an ihn zu schmiegen. Als sie wieder erwachte, schlief er noch tief und fest und hatte seinen Arm noch immer um sie geschlungen. Die anderen aus der Kajüte schliefen aber offensichtlich nicht mehr, denn sie hockten vor ihrem Bett und grinsten sie hämisch an, als sie die Augen aufschlug. Erst war sie noch zu schlaftrunken, um sich ihrer Lage bewusst zu werden, doch da fragte Terry: „Na? War wohl doch nicht so schlimm, bei Philipe im Bett zu schlafen, oder? Und dabei hätte ich hundertprozentig auf Jon tippen können.“ Geistig noch immer nicht ganz aktiv fragte sie verwundert: „Bei was hättest du auf Jon tippen können?“ Doch Terrys Grinsen wurde noch breiter und ihr wurde schlagartig bewusst, was er meinte. Abrupt setzte sie sich auf, und leugnete, wild mit den Händen gestikulierend: „Nein, nein, nein! Das versteht ihr ganz falsch! Es war nur so eng und dann… Und mit Jon bin ich doch nur befreundet, das wisst ihr doch, oder?“ Die drei Piraten vor ihrem Bett grinsten allerdings weiter und so befreite sie sich aus Philipes Umarmung, stand auf und begann, den Männern den Rücken zugekehrt, sich anzuziehen. Auf einmal hörte sie jedoch Philipes dunkle Stimme: „Kim? Bist du schon wach? Warum stehst du denn so früh auf, bleib doch noch ein wenig mit mir liegen.“ Das Blut schoss ihr in die Wangen und sie drehte sich vorsichtig um. Philipe musterte skeptisch die anderen, die sich lachend anstießen und sich in ihrer Vermutung nur bestätigt fühlten. Mehr beachtete Philipe die Drei allerdings nicht, sondern sah Kim auffordernd an und fragte: „Was ist jetzt? Ich bleibe auf jeden Fall noch liegen, aber es ist ja deine Entscheidung. Und lass dich bloß nicht von den drei Tölpeln da beeinflussen.“ Damit ließ er sich wieder in die Kissen fallen und ging nicht weiter auf Terry, Laffite oder Diego ein. Diesen wurde ihr Spielchen recht schnell allerdings zu langweilig und so verzogen sie sich aus der Kajüte und wahrscheinlich an Deck. Kim hatte sich in der Zwischenzeit sehr langsam angezogen. Als die Störenfriede aus der Tür waren, setzte sie sich seufzend an Philipes Bettkante und fragte: „Du weißt genau, wie es um meine Gefühle bestellt ist, nicht wahr?“ Er wandte das Gesicht zu ihr und nickte bestätigend. „Und ich weiß, wie es um deine Gefühle bestellt ist“, fuhr sie fort. „Warum also willst du, dass ich mich zu dir lege, wenn es dir nicht ernst ist? Was sollten gestern Nacht all diese Andeutungen? Wieso tust du mir so weh?“ Philipe setzte sich auf und sah etwas betreten auf seine Beine. Zaghaft zuckte er mit den Achseln und Kim forschte weiter: „Du weißt es nicht? Wie soll ich das verstehen? Bin ich so etwas wie ein Ersatz zu den Huren in den Häfen für dich? Oder macht es dir einfach Spaß Frauen zu erniedrigen?“ Er hob seinen Blick nicht, dennoch erkannte sie, wie sich seine Mimik verfinsterte und er sagte: „Es stört mich einfach, dass ihr Frauen immer für alles eine Erklärung braucht, nie könnt ihr etwas einfach so tun, ohne den Grund dafür zu wissen. Verdammt, warum könnt ihr denn keinen Spaß haben?“ Etwas erstaunt hob Kim die Brauen und entgegnete: „Aber man kann doch mit Frauen Spaß haben. Sie haben Humor, sind intellektuell, intelligent, nun ja, die meisten zumindest. Was ich sagen möchte ist einfach, dass ich nicht verstehe, warum du einerseits so abweisend zu mir bist, andererseits jedoch auch so anzüglich.“ „Ach, was sollt ich denn machen?“, fragte er, sich wieder zurücksinken lassend. „So bin ich nun mal. Und jetzt hör auf zu fragen und leg dich hin, damit wir noch ein wenig dösen können.“ Wie er es ihr gesagt hatte, legte sie sich hin und tat nichts, als er seinen Arm um sie legte oder sich an sie schmiegte. Doch sie fragte: „Ich möchte aber doch wissen, was das bedeutet.“ „Verflixt, was fragst du mich denn ständig irgendwelche Sachen?“, brauste er auf. „Ich will dich doch nur verstehen!“, entgegnete sie beleidigt. Philipe hingegen stöhnte auf: „Kannst du denn nicht einmal einfach nur den Moment genießen, den Augenblick ausschöpfen? Wenn du doch in mich verliebt bist, was stört dich also so großartig daran, dass ich meinen Arm um dich lege?“ Er küsste sie sanft in den Nacken. „Oder wenn ich dich liebkose?“ Ein Schauer überkam sie, als sie seine Lippen in ihrem Nacken spürte und unwillkürlich bekam sie eine Gänsehaut. „Wenn man verliebt ist, ist man am verletzlichsten. Nur ein Wort, eine Geste kann dir das Herz zersprengen und ich will es nicht noch einmal erleiden“, brachte sie mit einem Kloß in der Kehle heraus. Philipe aber fuhr fort ihren Hals zu liebkosen und nagte zärtlich an ihrem Ohr. Sie konnte sich kaum bewegen und biss sich auf die Lippen. „Noch nie habe ich solch eine weiche Haut gespürt, wie es deine ist“, hauchte er ihr zu. Sagte er das zu jeder Frau, die er herumzukriegen versuchte? Was wollte er denn nun von ihr? Er liebte sie nicht, war gemein zu ihr und in solchen Momenten küsste er sie. Es war zum verzweifeln; einerseits genoss sie die Nähe zu ihm, seine zärtlichen Berührungen, aber andererseits wusste sie, dass er es nicht ernst meinte. Vielleicht wollte er sehen, wie sie reagierte, vielleicht sah er es als eine Art Spiel an. Aber ihr war es so ernst, sie war wirklich in ihn verliebt. Und jede seiner Berührungen sandte ihr ein Kribbeln in den Bauch und einen Stich in ihr Herz. Vorsichtig wandte er ihr Gesicht mit seiner Hand dem seinen zu und küsste sie zärtlich. Sie war so erschrocken, dass sie erst nicht wusste, was sie tun sollte, doch dann erwiderte sie den Kuss leidenschaftlich und leidend. Sie schloss die Augen und drehte sich behutsam um, doch gerade als der Kuss ausklang und sie ihre Augen wieder öffnete, sah sie Jons Gesicht vor sich; sein Blick gebrochen. Warum tauchte er ausgerechnet in diesem Moment auf? Ausgerechnet in dem Moment, da sie so glücklich war, dass Philipe sie küsste. Leicht verwirrt wich sie ein Stück zurück. „Was ist denn jetzt schon wieder?“, fragte Philipe anscheinend genervt. „Nichts“, entgegnete sie, ihre Lippen wieder auf seine legend. Nein, sie würde Jon nicht erlauben, ihr diesen Moment des Glücks zu zerstören. Aber je mehr sie versuchte, Jon aus ihren Gedanken zu verbannen und sich auf Philipe zu konzentrieren, desto schärfer sah sie sein Gesicht vor sich. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und stieß Philipe fluchend von sich. Vollkommen perplex fragte er: „Was soll das denn?“ „Verflucht, warum kommt mir diese Kanaille ausgerechnet jetzt in den Sinn? Dieser Lump, schleicht sich in meine Gedanken und taucht im unpassendsten Moment vor mir auf! Oh, ich könnte ihn dafür erwürgen!“, brüllte sie, Philipes Anwesenheit und sich selbst völlig vergessend. Schnaufend nahm sie ihre Waffen wieder an sich, zog den Dolch aus der Wand und stürmte, diesen immer noch in der Hand, aus dem Zimmer, Philipe völlig verdutzt auf dem Bett zurücklassend. An Deck kamen ihr sogleich Terry, Diego und Laffite entgegen, alle drei mit einem breiten Grinsen im Gesicht und Terry fragte: „Und habt ihr…?“ Doch Kim ließ ihn seine Frage nicht zu ende formulieren, sondern blaffte ihn im Vorbeigehen an: „Nein, haben wir nicht und sonst ginge es dich nichts an!“ Verwundert sahen sie ihr nach, wie sie in die Kapitänskajüte lief. Sie stieß die Tür auf und brüllte: „Jon, verdammt! Machst du das mit Absicht? Was soll…“ Sie unterbrach sich und sah in die verwirrten Gesichter des Dukes und der Duchess. Doch Jon war nicht zu sehen. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten und stotterte: „Oh, es tut mir Leid, ich dachte… verzeiht.“ Gerade wollte sie wieder aus der Kajüte gehen, da tauchte Jon hinter ihr auf und fragte: „Was brüllst du denn so? Habe ich etwas Schlimmes angestellt?“ Sie wirbelte herum und wollte ihn gerade anbrüllen, da verebbte ihr ganzer Zorn mit einem Mal. Wie er da vor ihr stand, der Blick fragend und etwas unsicher, aber seine sonstige Gestalt heroisch und maskulin. Als sie nichts sagte und ihn nur musterte, hob er die Brauen und fragte misstrauisch: „Was?“ Doch sie schüttelte den Kopf und sagte: „Es ist nichts, ich wollte nur… wollte nur…“ Verdammt, jetzt musste sie sich eine Ausrede einfallen lassen. Fieberhaft überlegte sie, was sie von ihm wollen könnte, da kamen ihr wieder der Duke und die Duchess in den Sinn. „Ich wollte nur wissen, wann wir über die Gefangenen richten.“ Ja, das war die perfekte Ausrede, sie war sich sicher, dass Jon darauf hereinfallen würde, aber er schloss die Tür hinter sich, schob sie ins Zimmer auf einen Stuhl und sagte: „Natürlich, Kim, natürlich.“ Er glaubte ihr nicht! Warum glaubte er ihr nicht? Was sollte sie ihm nun sagen, wenn er sie wieder fragen würde? Ihr fiel beim besten Willen nichts ein, aber Jon drehte sich nur um und fragte den Duke etwas. Hatte er ihr etwa doch geglaubt? Erleichtert atmete sie auf, da drehte sich Jon zu ihr um und fragte mit durchdringendem Blick: „Nicht wahr, Kim?“ Sie schrak auf und fragte: „Was ist wahr?“ Mit diesem Blick war es klar, er hatte ihr nicht geglaubt, stellte sie aber aus Taktgefühl nicht vor ihren “Gästen“ bloß, obgleich er wütend war, dass sie ihn angelogen hatte. Er massierte sich entnervt die Schläfen und sagte: „Ich klärte den Duke gerade darüber auf, dass wir nicht wie die üblichen Piraten sind.“ Aus Furcht vor seinem Zorn setzte sie ihr süßestes Lächeln auf und antwortete: „Oh ja, wir sind ganz und gar nicht wie gewöhnliche Piraten.“ Es schien zu wirken, seine Miene erhellte sich etwas, wenn auch nicht arg, doch sie konnte genau erkennen, wie sich ein feines, sanftes Lächeln auf seine Lippen stahl. „Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?“, fragte Bonel. „Natürlich dürft Ihr, Hoheit“, antwortete Jon, spöttisch lächelnd. „Nun, zuerst wäre da die Tatsache, dass wir uns trauen, was sich sonst niemand traut, wir kaperten zum Beispiel dieses Schiff und haben auch noch Erfolg damit. Dann legen wir eine gewisse Etikette an den Tag. Und der letzte Grund sitzt vor Euch.“ Er deutete mit der Hand auf Kim, diese hob leicht erstaunt die Brauen und erwiderte nichts, als sich die Blicke der Verlobten auf sie richteten. Erbittert lachte Bonel allerdings auf: „Soll das ein Witz sein, Genitson? Dieses Schiff zu kapern war purerer Leichtsinn und wäre Welling nicht so ein Narr gewesen, hänget Ihr nächste Woche schon mitsamt eurer Mannschaft am Galgen! Und Etikette, dass ich nicht Lache! Was versteht Ihr schon von Etikette?“ „Mehr als Ihr denkt“, unterbrach ihn Jon barsch. „Nehmen wir zum Beispiel an, Monsieur Noir hätte Euch nicht entkommen lassen. Was denkt Ihr, wie er Euch behandelt hätte? Er hätte Euch gewiss nicht das beste Essen und teuren Wein aufgetischt, er hätte Eure Verlobte mit Sicherheit nicht bei Euch gelassen in der Nacht und er würde bestimmt kurzen Prozess mit Euch machen und Euch hängen, schneller, als dass ihr bis drei zählen könntet.“ Die Frau an der Seite des Dukes schluckte schwer, doch Jon lächelte ihr freundlich zu und sagte beruhigend: „Habt keine Angst, ich werde Euch kein Haar krümmen und auch sonst kein Mann aus meiner Crew. Die einzigen Männer vor denen Ihr euch fürchten solltet, sind im Moment noch die Soldaten, sie unterstehen nicht meinen Befehlen. Aber dieses Problem ist bereits heute Nachmittag aus der Welt geschafft, da wir dann über sie richten werden.“ „Was habt Ihr mit ihnen vor?“, fragte die junge Miss Drunball. Etwas erstaunt musterte sie Jon, antwortete dann aber: „Wenn es Euch interessiert, könnt Ihr gerne daran Teil haben. Aber ich dachte, es sei zu makaber für Eure zarten Nerven.“ Sie schien nicht zu verstehen und fragte noch einmal: „Wieso das? Was habt Ihr denn mit ihnen vor?“ „Verdammt, bist du so schwer von Begriff, dumme Pute?“, fuhr Kim sie entnervt an. „Die einen wird er hinrichten, die anderen werden desertieren. Willst du wissen, wie wir sie hinrichten? Wahrscheinlich mit der Kugel durch den Schädel. Soll ich dir noch erklären, wie man die Pistole anzusetzen hat? Blödes Weibsstück!“ „Kim! Es reicht!“, unterbrach Jon sie zornig. „Halte deine Zunge im Zaum oder du wirst die Konsequenzen zu tragen haben!“ Miss Drunball war bleich im Gesicht geworden und griff nach der Hand ihres zukünftigen Gatten. Kim allerdings sprang auf und blaffte ihn an: „Die Konsequenzen tragen? Für was? Weil ich diesem dämlichen Frauchen gesagt habe, wie wir über die Gefangenen urteilen?“ „Ja, Kim, genau dafür, du hast sie mit Respekt zu behandeln, so wie jeder andere Mann an Bord auch!“, brüllte er. Sie spuckte aus und rief: „Ich bin aber kein Mann und was verstehst du eigentlich unter Konsequenzen? Willst du mich bestrafen? Mit der Peitsche wieder? Dann sieh dir meinen geschundenen Rücken an und sage mir, ob ich mich ihr beuge!“ Sie war schon drauf und dran sich umzudrehen und ihr Oberteil auszuziehen, da ergriff Jon ihr Handgelenk und zog sie aus der Kajüte. An Deck stieß er sie mit dem Rücken gegen eine Wand, seine Hände links und rechts neben ihrem Gesicht. Er atmete tief durch und fragte dann, gefährlich ruhig: „Was soll das, Kim?“ „Was soll was, Jon?“, fragte sie trotzig. „Warum verhältst du dich mir gegenüber so respektlos?“ Ihn süffisant angrinsend entgegnete sie: „Oh, dir zolle ich doch den größten Respekt, nur diesen verwöhnten Hoheiten nicht.“ In seinen Augen spiegelte sich Enttäuschung wieder und er schüttelte langsam den Kopf. Dann fragte er leise: „Und wer befahl dir, sie mit Ehrerbietung zu behandeln?“ Sie überlegte einen kurzen Moment und sagte dann: „Mein Kapitän befahl es mir.“ „Und wer ist dein Captain?“ Sie wandte den Blick von ihm ab und flüsterte: „Du.“ „Warum also missachtest du meinen Befehl und stellst mich bloß?“ Sie ließ den Blick abgewandt und antwortete ihm nicht. Auch er wandte sich ab und meinte: „Ich sehe schon.“ Damit wollte er gehen, doch sie fasste ihn beim Handgelenk und sagte: „Nein, warte. Es war nicht so gemeint, ich hatte es nicht bedacht.“ „Dann kannst du ja nun beginnen es zu bedenken“, entgegnete er, machte sich von ihr los und ging alleine zurück in seine Kajüte. Kim hingegen blieb gegen die Wand gedrängt stehen und sann darüber nach, was Jon gerade zu ihr gesagt hatte. Sie ließ sich an der Wand hinuntergleiten und seufzte. An und für sich hatte Jon Recht. Dadurch, dass sie den Blaublütern nicht die gebührende Ehre zollte, missachtete sie seinen Befehl und stellte ihn dadurch bloß, denn was war ein Kapitän, und sei es der von Piraten, wenn seine Crew ihm nicht gehorchte? Sie würde sich wohl oder übel bei ihm entschuldigen müssen. So wartete sie neben der Tür zur Kapitänskajüte am Boden sitzend, dass er herauskam; denn stören wollte sie ihn nicht noch einmal. Der Vormittag verging und Jon kam nicht heraus, genauso wie die Verlobten. Die Sonne brannte unsäglich auf ihr Haupt herab, das nur von einem Kopftuch geschützt war. Die Hitze ließ sie träge werden, sodass sie nur noch die Brust hob und senkte und die Augen geschlossen hielt. Es zogen nur wenige Wolken am Himmel, nicht eine groß oder dicht genug, die sengende Sonne zu verdecken. Ebenso träge waren der Wind und die Wellen; lustlos schwappten sie gegen die Flanken des Schiffes und auch der Wind füllte die Segel gerade halb. Plötzlich hörte sie jedoch, wie neben ihr die Tür geöffnet wurde und Jon rief: „Terry, na los, komm her!“ Sie öffnete die Augen und sah, wie Terry auf sie zugelaufen kam. Jon winkte ihn nahe heran und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin Terry nickte und wieder ging. Gerade wollte Jon die Türe wieder hinter sich schließen, da entdeckte er Kim. Verblüfft musterte er sie und fragte dann: „Kim? Warum sitzt du denn hier so alleine und verlassen?“ „Ich warte auf dich“, entgegnete sie schlicht, keine Anstalten machend, sich zu erheben. Erstaunt hob Jon die Brauen und fragte weiter: „Auf mich? Wieso das denn?“ Nun stand sie doch auf und sich ihm gegenüber. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen.“ „Dich bei mir entschuldigen? Für was denn?“ Verwirrt schüttelte Kim den Kopf und entgegnete: „Na für heute Morgen, als ich mich so unpassend verhielt.“ „Ach das!“, lachte er und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das hatte ich schon vollkommen vergessen.“ Vergessen? Er hatte es vergessen? Sie hatte den ganzen Vormittag reumütig in der sengenden Hitze gesessen, der prallen Sonne gnadenlos ausgeliefert und er hatte es schon vergessen? „Saßt du die ganze Zeit hier in der Sonne?“, riss Jon sie nun wieder aus ihren Gedanken. Abwesend nickte sie und Jon schalt sie, sie mit sich in die kühle, schattige Kajüte ziehend: „Du bist ja verrückt! Setzt dich stundenlang in die pralle Sonne! Na wenn du mir keinen Sonnenstich bekommst! Da legst du dich hin und ich bringe dir etwas zum Trinken. Man kann dich auch keine drei Stunden aus den Augen lassen, ohne dass du wieder irgendeine Torheit begehst!“ Er drückte sie in das Bett und wandte sich wieder ab, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Kim aber setzte sich auf und setzte an: „Aber…“ Jon jedoch kam schon wieder mit einem Glas Wasser in der Hand zu ihr und unterbrach sie, sie wieder in die Kissen drückend: „Du sollst dich hinlegen und etwas trinken, habe ich gesagt!“ Er führte das Glas an ihre Lippen und das kühle Nass benetzte die trockene Haut dieser und erfrischte sie. Doch Kim schob ihn von sich, setzte sich auf und sagte, nun etwas lauter: „Aber dieses Bett gehörte Welling!“ Prompt hielt Jon in seiner Bewegung inne und schien zu überlegen. Unterdessen stand sie gänzlich auf, füllte sich das Glas erneut und leerte es in einem Zug. Sie gierte förmlich danach; erst jetzt fiel ihr auf, dass sie den ganzen Tag nichts getrunken oder gegessen hatte. Schließlich kam Jon zu ihr, streichelte ihr über den Oberarm und sagte: „Dann leg dich wenigstens unter Deck ein wenig hin, Philipe soll dir etwas zum Trinken und zum Essen bringen.“ „Nein!“, widersprach sie hastig. Und auf Jons verwirrten Blick hin antwortete sie zu Boden schauend: „Nein, ich bleibe lieber hier.“ Nun war es an Bonel sich zu erheben und ihr anzubieten: „Dann setzt Euch wenigstens, Miss.“ Kim jedoch schenkte ihm lediglich ein nachsichtiges Lächeln und entgegnete: „Aber deswegen müsst Ihr doch nicht aufstehen, Hoheit, Welling hatte schließlich genug Stühle.“ Mit diesen Worten zog sie sich noch einen Stuhl an den Tisch und setzte sich rittlings darauf. Auch Jon setzte sich wieder, doch kaum, dass er Platz genommen hatte, klopfte es und Terry öffnete die Tür, einige Speisen auf den Armen. Still trat er in die leicht gespannte Atmosphäre und stellte die Speisen auf den Tisch. Dabei schenkte er Kim ein solch hämisches Grinsen, dass sie ihn am liebsten geohrfeigt hätte. Stattdessen lächelte sie aber zurück und sagte: „Nein, mein liebster Terry, entgegen deiner Vermutung hatte ich nichts mit Philipe, also brauchst du gar nicht so zu grinsen.“ Prompt verschlug es ihm das Grinsen; und hätten Blicke töten können, so wäre Kim im nächsten Augenblick tot umgefallen. Doch konnten Blicke nicht töten und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zähneknirschend die Kajüte zu verlassen. „Philipe? Wieso denn ausgerechnet mit Philipe?“, fragte Jon skeptisch. Kim winkte allerdings ab, nach einem Apfel greifend: „Ach, das ist nur, weil ich doch gestern Nacht bei ihm geschlafen habe.“ „Du hast was?“, fragte Jon aufgebracht. „Ach Jon, ich habe doch nicht mit ihm, sondern nur bei ihm im Bett geschlafen. Außerdem war das eine ganz linke Nummer von Laffite! Der hat mir nämlich kein Sterbenswörtchen davon erzählt, dass alle Betten schon belegt waren, als er mich fragte, ob ich bei ihm in der Kajüte schlafen wolle. Am Schluss haben sie ausgelost, bei wem ich schlafen sollte.“ Ärgerlich schüttelte sie den Kopf und nippte an ihrem Wasserglas. Jon hingegen lachte: „Jaja, das sieht ihnen mal wieder ähnlich, diesen Halunken!“ „Und Ihr, als ihr Kapitän, tut nichts dagegen wenn Eure Männer eine Frau so behandeln?“, fragte Bonel empört und Jon antwortete lächelnd: „Oh nein, sie machen doch nur Spaß.“ „Und falls der Spaß ausarten sollte?“, fragte nun Miss Drunball. Abrupt wurde Jon ernst und mit scharfem Blick entgegnete er: „Dazu wird es nicht kommen, denn die Männer wissen, dass sie dann eine hohe Strafe zu erwarten haben.“ „Die Frage ist nur, ob die Strafe auch hoch genug ist?“, gab Bonel zu bedenken. Und Jon sagte: „Lasst das nur meine Sorge sein, ich weiß meine Männer zu bändigen. Aber sprechen wir über etwas Anderes. Ihr sagtet, Eure Verlobte sei in der Kunst sehr bewandert. In welchem Gebiet denn?“ „Sie zeichnet und das auch noch sehr gut“, lächelte Bonel und ein gewisser Stolz in seiner Stimme war kaum zu überhören. Doch seine Zukünftige entgegnete mit geröteten Wangen: „Ach Schatz, du übertreibst maßlos, wie immer. Mein werter Mister Genitson, meine Begabung hält sich in Grenzen; glaubt dem Duke kein Wort, denn mit solchen Worten hat er mein Herz erobert. Er ist so ein Charmeur.“ Nun war es an Bonel sich hinter einem leicht schamhaften Lächeln zu verstecken, doch er lenkte ab: „Aber sagt, spracht Ihr gestern Abend nicht auch über ein Gemälde?“ Kim und Jon warfen sich einen Blick zu, dann sprangen sie auf und eilten zum Bett, an dem das Bild noch immer angelehnt stand. Vorsichtig entfernten sie den Rahmen. Kim schnappte es sich und lief damit nach draußen. Doch kaum, dass sie wieder in der Sonne stand, wurde ihr übel. Sie fasste sich an den Bauch und atmete tief durch. Aber anstatt, dass es besser wurde, begannen plötzlich Punkte vor ihren Augen zu tanzen. Sie hörte noch, wie Jon fragte: „Kim, was ist los? Ist dir nicht gut?“, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Als sie wieder erwachte fühlte sie sich so schlecht wie lange nicht mehr. Neben sich sah sie Jon sitzen, der gerade einen Waschlappen in kaltem Wasser auswusch, um ihn ihr dann auf die Stirn zu legen. Sie richtete sich auf, musste sich aber gleich wieder hinlegen, so schwindelig wurde ihr mit einem Mal. Jon, der sich zu ihr umgedreht hatte, tadelte sie sanft: „Bleib liegen, oder willst du noch einmal das Bewusstsein verlieren?“ Er legte ihr den kühlen Waschlappen auf die Stirn und lächelte ihr warmherzig zu. Müde erwiderte sie sein Lächeln und er sagte: „Wäre ich nicht hinter dir gestanden und hätte dich aufgefangen, dann wärst du womöglich noch über die Reling gefallen.“ „Wo bin ich?“, fragte sie matt. Sie hatte erkannt, dass sie nicht in Wellings Kajüte waren und Jon lächelte: „Da du ja, verständlicherweise, nicht in Wellings Bett liegen willst, habe ich dich in eine der für die Mannschaft vorgesehenen Kajüten gebracht.“ Als sie sich erneut aufrichten wollte, drückte er sie sanft zurück und sagte: „Du musst aber trotzdem noch liegen bleiben, du hast nämlich einen ziemlichen Sonnenstich. Fieber hast du auch, zwar kann ich dir nicht sagen wie viel, aber hoch ist es allemal.“ Sich die Hand vor den Mund haltend spürte sie urplötzlich einen Brechreiz in ihr aufsteigen. Sie schlug die Decke weg, ignorierte die Wadenwickel und rief, als Jon sie nur vollkommen perplex anstarrte: „Ich muss mich übergeben!“ Damit rannte sie aus der Kajüte, an Deck und an die Reling an der Leeseite. Sie schaffte es gerade noch und übergab sich ins Meer. Jon, der ihr nachgekommen war, wartete, bis sie fertig war, legte ihr dann den Arm um die Schultern, drückte sie an sich und geleitete sie wieder unter Deck. Als sie wieder, von einem Schüttelfrost geschüttelt, unter der Decke lag, lachte er: „Mein Gott, wüsste ich nicht, dass du lebendig bist, würde ich meinen, du seist ein Geist, so bleich bist du im Gesicht!“ Kim aber schalt ihn: „Ich finde das gar nicht witzig und bring mir etwas zum Überziehen, hier ist es eiskalt drinnen!“ Prompt verstummte sein Lachen und er fühlte besorgt ihre Stirn. Seufzend musterte er sie und meinte: „Dein Fieber ist wieder gestiegen.“ Mit den Worten schlug er ihre Decke zurück und legte ihr frische Wadenwickel an. Sie bemerkte erst jetzt, dass sie keine Hosen anhatte und lief leicht rot an. Jon, der das bemerkte, grinste sie hämisch an und meinte: „Mit Hose hätte ich dir wohl kaum Wadenwickel anlegen können.“ „Lustmolch!“ „Wie war das bitte?“, fragte Jon belustigt. „Ich sitze hier für Stunden und bange um dein Leben, tue alles in meiner Macht stehende, deinen Puls zu halten und du beschimpfst mich?“ Lachend entgegnete sie: „Stunden? Ich war doch höchstens ein paar Minuten bewusstlos und mein Leben war noch nie weniger in Gefahr. Du musst auch immer alles dramatisieren, oder?“ Jon stimmte in ihr Lachen mit ein, deckte sie wieder zu und sagte: „Wenn du lachen kannst, dann ist es wohl doch nicht so schlimm. Aber Lachen ist ja bekanntlich die beste Medizin.“ Und leise, so dass sie ihn gerade noch verstehen konnte, fügte er hinzu: „Gleich nach Frauen und Alkohol.“ Diesen Kommentar überhörend, fragte sie wieder ernster: „Sag, Jon, was ist mit dem Gemälde?“ „Mit dem Gemälde?“, fragte Jon leicht nervös. Kim nickte und ihr Gegenüber, den Augenkontakt meidend, setzte an: „Nun ja, weißt du, Kim, das ist so eine Sache, eigentlich eine ganz lustige Geschichte…“ Skeptisch hob Kim die Brauen; sie konnte sich schon ausmalen, was er ihr klarmachen wollte, dennoch unterbrach sie ihn nicht. „Du hattest ja das Bild, nicht wahr? Und dann bist du in Ohnmacht gefallen, urplötzlich. Natürlich bin ich sofort zu dir geeilt, sonst hätte ich dich ja nicht halten können…“ „Und was hat das mit dem Bild zu tun?“ „Das Bild! Darauf wäre ich gleich zu sprechen gekommen… Es ist vom Winde verweht.“ „Es ist was?“, fuhr sie ihn an und in diesem Moment schwankte das Schiff gefährlich. Unruhig auf seinem Stuhl hin und herrückend wiederholte er: „Es ist weggeflogen. Du hattest es ja in der Hand und hast es losgelassen, als du das Bewusstsein verloren hast.“ „Warum hast du es dann nicht gehalten?“, fragte sie, sich ungläubig an die Stirn fassend. „Also nun hör mal!“, meinte Jon, die Arme vor der Brust verschränkend. „Ich stand vor der Wahl: Entweder das Bild fliegt weg oder du fällst über die Reling. Und meine Entscheidung müsste ja ziemlich offensichtlich sein.“ „Aber…“, setzte sie an, doch in dem Augenblick klopfte es an der Tür und Philipe trat ein. Er würdigte Kim keines Blickes, sondern sagte an Jon gewandt: „Captain, die Männer werden langsam ungeduldig, wann richten wir die Gefangenen denn nun hin?“ Erschöpft seufzte Jon: „Halte die Männer noch etwas hin, Philipe, ich benötige noch etwas Zeit mit Kim.“ Kim, die bewusst den Rücken zu Philipe gerichtet hatte, spürte seinen Blick, der nun auf ihr haftete und fröstelte. Was würde er nun denken? Würde er glauben, sie habe ein Verhältnis mit Jon? Doch im nächsten Augenblick hörte sie ihn sagen: „Gut, Captain, ich werde es versuchen, aber ich kann nichts garantieren.“ Damit schloss sich die Tür wieder und Kim und Jon waren erneut allein. Eine peinliche Stille trat ein, bis sich Jon als erstes fasste und sagte: „Du hast es gehört, allzu lang habe ich nicht Zeit.“ Sie nickte zustimmend. „Sag mal, ist da eigentlich etwas zwischen Philipe und dir?“, fragte er plötzlich. Erschrocken schaute sie zu ihm, sah aber gleich wieder weg, um ihm zu antworten: „Ich weiß es nicht.“ Leicht verwundert fragte Jon weiter: „Was meinst du damit, wenn du sagst, dass du es nicht weißt?“ „Ach“, sagte sie. „Du hast es doch selbst gesehen. Als er hineinkam würdigte er mich keines Blickes, erst als du meinen Namen erwähntest sah er zu mir. Es ist so verwirrend, normalerweise ist er sehr abweisend, beinahe angewidert, aber dann… dann gibt es wieder Momente in denen niemand da ist, da wird er ganz zärtlich, küsst mich und sagt solche Sachen zu mir.“ Sie errötete leicht und Jon fragte skeptisch: „Solche Sachen?“ „Du weißt schon, er haucht mir Komplimente zu, bei denen jede Frau dahin schmilzt.“ „Auch du?“ Verwundert wandte sie den Blick wieder zu ihm und konnte ihm ansehen, wie schwer es ihm fiel eine gleichgültige Miene aufzusetzen. Leise antwortete sie: „Nun, es ist schwer solche Koseworte zu überhören.“ „Also gefällt es dir? Liebst du ihn?“ „Nein, Jon, auf diese Frage möchte ich dir nicht antworten“, entgegnete sie langsam. Nach einigen Sekunden des Schweigens lächelte Jon: „Das wird schon mit euch beiden, nur Mut, nur Mut, Kim.“ Dieses Lächeln Jons zerriss ihr fast das Herz. Wieso konnte er jetzt nicht einfach zornig auf sie sein? Wieso brüllte er sie nicht an, oder verließ schweigend und verletzt den Raum? Nein, er lächelte sie aufrichtig an und machte ihr Mut! Wie konnte er seine Gefühle nur so verleumden? Beschämt wandte sie ihren Blick zur Seite und sagte: „Ich danke dir, Jon. Du bist wahrlich ein Freund und ich möchte dich niemals missen.“ Da wurde die Tür aufgestoßen und Terry und Philipe drängten in den Raum. Etwas gehetzt erklärte Terry: „Jon, du musst jetzt anfangen, die Männer werden schon aggressiv! Eine Prügelei lässt sicher nicht lange auf sich warten.“ Jon warf Kim einen flüchtigen Blick zu und sagte dann: „Ist gut, aber ich will nicht, dass Kim hier alleine ist. Philipe, du bleibst bei ihr!“ „Aber Captain, ich…“, wollte er gerade widersprechen, da unterbrach ihn Jon: „Das ist ein Befehl. Und du, Terry, kommst jetzt mit mir hinauf!“ Mit diesen Worten erhob er sich, schob den verdutzten Terry aus dem Raum und schloss hinter ihnen die Tür. Nun war Kim wieder mit Philipe allein. Sie fühlte sich unbehaglich und mied es, ihn anzusehen. Er setzte sich zu ihr und sagte: „Was sitzt du auch den ganzen Morgen in der sengenden Sonne? Jetzt muss ich die Amme spielen, dabei hätte ich auch gerne einen von den Kerlen umgelegt!“ „Beschwer dich nicht, ich bin schließlich diejenige, der es schlecht geht“, entgegnete sie müde. „Du hast eben einen richtigen Sonnenstich“, diagnostizierte Philipe. Sarkastisch gab Kim zurück: „Ach nein, was du nicht sagst, das ist mir noch gar nicht aufgefallen!“ „Da siehst du’s!“, lachte Philipe und Kim stimmte in sein Lachen mit ein. Plötzlich beugte sich Philipe aber zu ihr vor und legte seine Hand auf ihre Stirn. Dann meinte er besorgt: „Du hast wirklich Fieber und nicht gerade niedrig. Ach Kim, was hast du dir bloß dabei gedacht? Du bist doch sonst nicht so leichtsinnig.“ Sie errötete leicht und erwiderte: „Ich weiß nicht genau, tut mir Leid.“ Machte er sich etwa tatsächlich Sorgen um sie? Bei diesem Gedanken wurde ihr warm ums Herz. Nun setzte sich Philipe zu ihr auf die Bettkante und streichelte ihr liebevoll durchs Haar und übers Gesicht. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und kurz bevor sich ihre Lippen berührten, fragte Kim, die Augen halb geschlossen: „Küsst du mich jetzt wieder?“ „Ja“, flüsterte er und legte seine Lippen auf die ihren. Ihr Herzschlag verdoppelte, verdreifachte sich, so schien es ihr und sie schlang ihre Arme um seinen Nacken, um ihn zu sich hinunter zu ziehen. Vorsichtig legte er sich auf sie und streichelte ihren Oberschenkel entlang. Gerade wollte er ihr das T-Shirt ausziehen, da löste sie den Kuss und fragte: „Was willst du tun?“ „Scht, lass es nur geschehen“, flüsterte er und wollte sie wieder küssen, doch sie schob ihn von sich und sagte: „Ich will aber nichts geschehen lassen! Zumindest noch nicht“, fügte sie leise hinzu. Philipe aber versuchte weiterhin sie zu küssen, da stieß sie ihn energisch von sich und brüllte: „Nein, ich will es nicht!“ Im nächsten Augenblick aber ließ sie sich erschöpft in die Kissen zurücksinken. Es war alles so aufreibend. Sie verspürte das unbändige Verlangen einfach nur zu schlafen und von einem auf den anderen Moment übermannte sie der Schlaf. Als sie wieder erwachte, sah sie, wie Philipe ängstlich über sie gebeugt stand und rief: „Kim! Kim, wach auf! Wach doch auf!“ Verschlafen und seine Panik nicht verstehend, fragte sie: „Was ist denn los? Wieso lässt du mich nicht schlafen?“ Erleichtert seufzte Philipe, ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett sinken und murmelte: „Ein Glück! Hätte ich dich jetzt verloren, würde der Captain mir die Hölle heiß machen!“ „Und dich würde es nicht kümmern?“, fragte Kim in seinem Blick nach einer Antwort suchend. Erstaunt sah er auf und wusste anscheinend nicht, was er sagen sollte, doch dann fasste er sich, lächelte sie an und erwiderte: „Oh nein, ganz im Gegenteil.“ Sie musterte ihn weiter durchdringend. Sie konnte nichts Falsches an diesem Lächeln erkennen und doch hörte es sich nicht nach der Wahrheit an. Wieso konnte sie ihm nicht vertrauen? Das musste doch einen Grund haben. „Vielleicht habe ich dich zu sehr angestrengt, verzeih mir bitte“, riss er sie aus ihren Gedanken. Sie zwang sich zu einem Lächeln und entgegnete: „Es ist ja nichts geschehen.“ Nun schwiegen sie beide und von Deck konnte man die Rufe der Piraten gedämpft vernehmen. Sie konnte Philipes Gesichtsausdruck entnehmen, dass er in diesem Augenblick viel lieber an Deck als hier bei ihr wäre. Zwar verstand sie ihn nicht, sagte aber dennoch: „Du kannst ruhig hoch gehen, Philipe, es macht mir nichts aus, ich wünsche mir gerade ohnehin nichts sehnlicher als etwas Schlaf.“ Skeptisch musterte er sie und sagte dann: „Nein, Kim, das geht nicht, ich werde über dich wachen während du schläfst, dass es erholsam wird. Außerdem hat mir der Kapitän befohlen bei dir zu bleiben.“ „Aber wenn du doch lieber oben bei den anderen wärst. Geh ruhig, ich werde Jon schon besänftigen.“ Einen Augenblick schien er über ihr Angebot nachzusinnen, doch schließlich sagte er, ihre Hand ergreifend: „Ich bleibe hier, Kim, und halte deine Hand bis du schläfst, dass du dich vollkommen zurücklehnen kannst.“ Aber so sanft und liebevoll seine Worte doch klingen mochten, so hatte sie nicht das schelmische Grinsen übersehen, das für den Bruchteil einer Sekunde über sein Gesicht gehuscht war. Was hatte seine Freundlichkeit, seine Zärtlichkeit nur zugrunde? Sie hatte keine Lust darüber nachzudenken, sie war zu erschöpft, noch einen klaren Gedanken zu erfassen. Müde schenkte sie Philipe noch ein Lächeln, drückte kraftlos seine Hand und ließ dann die viel zu schweren Lider ihrer Augen zufallen. Als sie wieder erwachte war es bereits dunkel geworden. Und tatsächlich hielt Philipe immer noch ihre Hand. Von Deck her konnte sie nichts hören, es war absolut still. Als Philipe bemerkte, dass sie erwacht war, lächelte er: „Na? Hast du gut geschlafen? Also ruhiger als letzte Nacht auf jeden Fall.“ Müde lächelte sie zurück, erwiderte sonst aber nichts, sondern deckte sich auf, weil ihr so heiß war. Verwundert fragte Philipe: „Was machst du denn nun?“ „Mir ist so warm“, klagte sie. Grinsend entgegnete er: „Aber doch nicht etwa wegen mir, oder?“ Sie ging nicht auf diesen Kommentar ein, sondern ließ seine Hand los und setzte sich an die Bettkante. Dann sah sie sich nach ihrer Hose um und als sie sie entdeckt hatte, holte sie sich diese und zog sie an, um dann aus der Kajüte zu gehen. Philipe sprang auf und rief: „Wohin gehst du denn, Kim? Bleib hier! Du sollst nicht umherlaufen!“ Doch sie ignorierte ihn und schlurfte an Deck. Es war ihr elend zumute, sie fühlte sich schlapp und müde, aber der frische Wind, der an Deck wehte ließ es ein wenig besser werden. Langsam näherte sie sich Jons Kajüte und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen. Darin befanden sich Jon und Bonel, die sich erstaunt zu ihr umdrehten, als sie eintrat. Sie erhoben sich und Jon kam auf sie zu. Gerade stand er unmittelbar vor ihr, da breitete sie ihre Arme aus und umschloss ihn mit diesen. Verblüfft erwiderte er ihre Umarmung und fragte sie nichts. In diesem Augenblick war es ihr egal, ob Bonel oder sonst wer dabei stand, sie ließ sich einfach in Jons starke Arme fallen und sich von ihm Halt geben. Das war es, was sie nun brauchte. Nicht den Schmerz eines verschmähten und ausgenutzten Herzens, sondern die Geborgenheit, die sie nur bei Jon fand. Tief inhalierte sie seinen Duft und schmiegte ihr Gesicht an seine Brust. Sanft streichelte Jon über ihren Rücken und fragte schließlich doch: „Was ist denn, Kim? Kann ich irgendetwas für dich tun?“ Kaum merklich schüttelte sie den Kopf und flüsterte: „Nein, sei einfach nur da.“ Noch einmal atmete sie tief durch, nahm bewusst seinen Duft wahr und löste dann die Umarmung. Sie sah nicht noch einmal zu ihm, sondern drehte sich um und ging aus der Kajüte, doch kurz bevor sie die Türe schloss, sagte sie: „Ich hab dich lieb, Jon. Ich hab dich lieb.“ Damit schloss sie die Tür und sah empor zu den Sternen, die da unveränderlich und unendlich standen. „Hey, Kim, na wie läuft’s mit Philipe?“, hörte sie Laffite fragen. Melancholisch lächelnd sah sie zu ihm, er stand direkt vor ihr, die Hände in den Hosentaschen und auf dem Gesicht ein schelmisches Grinsen. „Komm, wir setzen uns“, sagte sie tonlos und ging in Richtung Reling an der Luvseite. An dieser ließ sie sich nieder und wartete, bis sich ihr Laffite gegenüber gesetzt hatte. Das schelmische Grinsen war ihm vergangen, stattdessen war seine Mimik jetzt eher besorgt. Nun vorsichtiger fragte er: „Wie steht es denn mit euch?“ „Ach“, begann sie, „Ich glaube, ich habe mich Hals über Kopf in ihn verliebt und das weiß er auch. Wir haben uns auch schon geküsst und heute wollte er auch weiter gehen, aber ich habe das Gefühl, es ist ihm nicht ernst, er will mich nur ausnutzen. Ich kann es nicht richtig beschreiben, aber es tut so furchtbar weh, wenn er mich küsst und ich nicht sicher bin, ob er das nur tut, um an irgendetwas heranzukommen. Und wenn es mir jetzt schon so furchtbar wehtut, dann würde es mich zerstören, wäre meine Unsicherheit die Wahrheit. Ich würde daran zerbrechen. Ach, Laffite, was soll ich nur tun? Ich habe mich doch so in ihn verliebt.“ Bestürzt sah er sie mit offenem Mund an, erhob sich dann und lief so schnell er konnte unter Deck. Nicht recht verstehend, was er vorhatte, rief sie ihm nach: „Laffite? Was machst du denn? Laffite!“ Aber er war schon weg. Sollte sie ihm nachgehen? Eigentlich war sie viel zu müde und zu erschöpft, doch ihre Neugier obsiegte und so erhob sie sich und ging unter Deck. Aber wo war er nur hingelaufen? Sie versuchte zu lauschen, doch konnte sie ihn nicht hören. Vielleicht war er ja in der Kajüte in der sie heute Nacht geschlafen hatten? Einen Versuch war es wert. Sich an der Wand stützend ging sie den Flur entlang bis sie an eine Treppe gelangte. Dort unten war es stockfinster. Konnte es sein, dass er hier war? Sie würde nachsehen. So ging sie vorsichtig die Treppe hinunter und tastete sich am Fuße derer langsam vorwärts. Gedämpft konnte sie Stimmen vernehmen und da sah sie auch einen Lichtstreif, der sich über den Boden, bis auf die gegenüberliegende Wand zog. Sie ging darauf zu und die Stimmen wurden deutlicher. Der Lichtschein kam von einer Tür, die einen Spalt breit geöffnet war. Aus diesem Raum drangen auch die Stimmen an ihre Ohren. Die Männer sprachen leise aber hektisch. Ganz vorsichtig lugte sie durch den Spalt und gewahrte Terry, Laffite und Philipe darinnen. Sie wollte gerade aufatmen und eintreten, da hörte sie Philipe sagen: „Was meinst du bitte mit `Wette aufheben`?“ Wette? Von was für einer Wette sprach er da? Vielleicht sollte sie doch lieber erst zuhören. „Ich habe sie doch fast soweit! Bekommst du etwa Angst?“, fuhr Philipe den Franzosen an. Und auch Terry unterstützte ihn: „Er hat Recht, Laffite. Wir können die Wette jetzt nicht platzen lassen, schließlich geht es hier um viel Geld!“ „Aber versteht ihr es denn nicht?“, fragte Laffite aufgebracht, „Ich habe eben mit ihr gesprochen, sie hat sich wirklich in dich verliebt, Philipe, du kannst sie doch nicht so schamlos ausnutzen!“ „Und ob ich das kann! Dass sie sich in mich verliebt hat ist ja nicht meine Schuld. Und unsere Wette bleibt bestehen, ich habe doch nicht umsonst all die Mühe auf mich genommen, sie zu umgarnen. Glaub mir, noch ein Tag und ich habe sie. Und dann habe ich nicht einmal die Hälfte der vereinbarten Zeit verbraucht! Schließlich hieß es in unserer Wette, dass ich es schaffen muss, Kim binnen einer Woche dazu zu bringen mit mir zu schlafen.“ Bei diesen Worten blieb Kim die Luft weg. Darum die Zärtlichkeiten und die Schmeicheleien; oh, dieser Schuft! Außer sich stieß sie die Tür auf, ging zum völlig perplexen Philipe und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. Sie führte es ganz nah an ihres, als wollte sie ihn küssen. Doch sie holte aus und ohrfeigte ihn so fest sie konnte. Dann brüllte sie: „Wie kannst du nur so unmenschlich sein? Du hast wohl noch nie wirklich geliebt, wurdest noch nie so verletzt, hast noch nie einen solchen Schmerz erlitten!“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen und damit es keiner der drei Männer sehen konnte, drehte sie sich um und stürzte aus der Kajüte. Sie lief den dunklen Gang entlang und die Treppe hinauf. Wie konnte er ihr so etwas nur antun? Wie hatte sie nur darauf hineinfallen können? Es war doch so offensichtlich gewesen, es war so dumm gewesen, so naiv! Ohne dass sie es merkte, lenkten ihre Schritte sie in Jons Kajüte, in der immer noch Bonel war. Als sie sich dessen gewahr wurde, schluckte sie ihre Tränen so gut es ging hinunter und zwang sich, die beiden Männer anzulächeln. Bonel wollte sich schon erheben, doch Jon warf ihm einen vielsagenden Blick zu, auf dass er sitzen blieb. Er sprach weiter mit Bonel, als sei Kim gar nicht erst eingetreten, wofür sie ihm unendlich dankbar war. Sie ließ sich auf einem der Stühle, die um den Tisch standen, nieder und begann ihnen zuzuhören. „Seit wann seid Ihr mit der reizenden Miss Drunball verlobt?“, fragte Jon. „Nun, inoffiziell seit zwei Jahren“, antwortete Bonel. „Was meint Ihr denn mit inoffiziell?“, grinste Jon. Bonel errötete leicht und entgegnete verlegen: „Ich denke, Ihr wisst, was ich damit meine… Offiziell sind wir auf jeden Fall seit anderthalb Jahren verlobt. Damals habe ich bei ihrem Vater um ihre Hand angehalten. Jetzt waren wir ja gerade auf dem Weg in die Karibik, um dort zu heiraten.“ „Also sind sie ein Romantiker?“, fragte Jon. „Oh nein, ich ganz und gar nicht; ginge es nach mir, würden wir in der St. Andrews in Plymouth heiraten. An einem ganz normalen verregneten Tag. Ich meine, ganz unter uns, die Heirat legalisiert doch nur, was wir ohnehin schon tun.“ Er lachte auf, als hätte er einen Witz gemacht, doch Kim sagte monoton: „Was für eine Einstellung. Und Ihr nennt Euch Edelmann. Den betrunkenen Piraten in den Häfen hätte ich solche Worte zugetraut, aber nicht Euch.“ Jon warf ihr einen vielsagenden Blick, den sie nicht zu deuten wusste, zu und ermahnte sie: „Halte deine Zunge im Zaum!“ „Entschuldigt, ich wollte Euch nicht beleidigen, Hoheit, vergesst meinen Kommentar einfach wieder“, flüsterte sie zu Boden blickend. „Außerdem habt Ihr Recht, heutzutage gibt es keine Liebe mehr.“ Erschüttert entgegnete Bonel: „Aber nein! Ich sagte doch nicht, dass ich sie nicht liebe! Ich liebe sie mehr als alles auf der Welt, ich sagte nur…“ „Kim? Bist du da?“, mit diesen Worten stieß Philipe die Tür auf und sah sich um. Als er sie erblickte kam er langsam auf sie zu und sagte ruhig: „Komm doch mit mir hinaus, Kim, und lass uns reden.“ Gefährlich leise erwiderte sie aber: „Reden? Was gibt es denn zu reden?“ „Na über das, was du vorhin gehört hast.“ „Ach, darüber möchtest du also reden?“ Er nickte. „Dann sage ich dir jetzt, was ich zu sagen habe: Ich lasse mich nicht noch bloßer von dir stellen, Philipe! Du hast mich gedemütigt und belogen. Ich will deine Lügen nicht mehr hören! Also raus! Verschwinde!“, schrie sie. Sie war aufgesprungen und deutete mit bebendem Finger auf die geschlossene Tür. Philipe allerdings kam weiter auf sie zu und lächelte: „Nein, Kim, das verstehst du völlig falsch…“ „Ich verstehe es falsch?“, schrie sie, den Tränen nahe. „Das war doch wohl mehr als eindeutig! Und jetzt geh mir aus den Augen!“ „Kim…“, setzte er an. „Hau ab!“ Tränen der Wut rannen über ihre Wangen. Philipe aber tat nur noch einen Schritt auf sie zu. Nun schaltete sich Jon ein, der zuvor nur perplex auf seinem Stuhl gesessen und die Szene beobachtet hatte. Er stand auf und sagte, leise, aber man konnte doch den Befehlston in seiner Stimme hören, in seiner Mimik lesen: „Philipe, verlasse sofort meine Kajüte“ „Aber Captain, ich…“, setzte er an, doch nun packte Jon ihn und warf ihn mit den Worten: „Raus aus meiner Kajüte, das ist ein Befehl, verdammt!“, aus der Tür. „Und Ihr solltet meine Kajüte besser auch verlassen“, wandte er sich an Bonel. Dieser erhob sich schweigend, warf Kim einen mitleidigen Blick zu und verließ dann Jons Kajüte. Jon schloss die Tür hinter ihm und fragte, ohne sie anzusehen: „Was ist passiert, Kim?“ Sie setzte sich wieder, legte ihre Hände in den Schoß und sagte: „Nichts.“ Es war ihr so unwahrscheinlich peinlich. Wie hatte sie nur auf Philipe hereinfallen können? Das war doch von Anfang an klar gewesen. Jon drehte sich zu ihr um und sah fest in ihre Augen, dann fragte er noch einmal: „Was ist passiert?“ Verkrampft bohrte sie ihre Fingernägel in das Fleisch ihres Oberschenkels und versuchte seinem Blick auszuweichen. Jon jedoch kniete sich zu ihr nieder und fragte: „Was ist so schlimm, dass du es mir nicht erzählen kannst?“ Sie hielt es nicht mehr aus. Sie schlang die Arme um ihn und schluchzte: „Wie kann er nur? Wieso spielt er so mit meinen Gefühlen? Wieso tut er mir so weh?“ Sie drückte sich verzweifelt an ihn, in der Hoffnung bei ihm Halt zu finden. Sanft streichelte er über ihren Rücken und unterbrach ihr Klagen nicht. So verharrte er, bis sie sich beruhigt hatte. Dann erhob er sich vorsichtig und fragte, weil es sie schüttelte wie Espenlaub: „Möchtest du dir einen Pullover überziehen?“ Sie nickte. Schweigend ging er an seine Truhe und holte dort einen Pullover heraus, den er ihr gab. Während sie sich diesen anzog beobachtete er sie, sie spürte seinen Blick genau. Doch als sie zu ihm sah, schaute er abrupt weg und zündete sich eine Zigarette an. Er nahm einen Zug und fragte: „Geht es jetzt besser?“ Sie nickte. „Kannst du mir nun erzählen, was los ist?“ Sie war sich nicht sicher, ob sie es ihm erzählen sollte. Wie würde er wohl reagieren? Würde er es ihr vorhalten? Würde er sie auslachen? Kim wusste es nicht. Dennoch sagte sie: „Versprichst du mir, dass du es mir nicht vorhältst und auch nicht über mich lachst und nicht wütend wirst?“ „Wieso muss ich dir das versprechen?“, fragte er skeptisch. „Versprich es mir einfach“, antwortete sie. „Na gut.“ „Es war eine Wette“, sagte sie leise. Jon schien sie nicht verstanden zu haben und fragte nach: „Was?“ „Eine Wette.“ „Was war eine Wette?“, wollte er genauer wissen. „Philipe, Laffite und Terry haben gewettet, dass Philipe es nicht schafft mich in einer Woche dazu zu bringen mit ihm zu schlafen.“ Nun schwieg Jon. Eine gespannte und unangenehme Stille umgab sie auf einmal und Kim traute sich nicht diese zu durchbrechen. Er drehte sich von ihr weg und fragte leise: „Und hat er die Wette gewonnen?“ Nein, er hatte sie nicht gewonnen, aber eigentlich wünschte es sich Kim. Hätte sie doch nur nie von dieser Wette erfahren. Sie hätte mit ihm geschlafen und sich gut gefühlt, hätte geglaubt er liebe sie und hätte ihn geliebt. Auch wenn es eine Illusion gewesen wäre, wäre sie glücklich gewesen, aber so ging es nicht. Als sie ihm nicht antwortete, wandte Jon sich ihr wieder zu und sah sie fragend an. Einige Sekunden hielt sie seinem Blick stand, dann sah sie zu Boden, schüttelte den Kopf und flüsterte kaum hörbar: „Nein, hat er nicht.“ Sie sah wieder auf und erkannte, wie ihm ein Stein vom Herzen zu fallen schien. Er kniete sich zu ihr nieder, legte seine Hand auf ihre und sagte mit tröstender Stimme: „Meine kleine Kim, das wird schon wieder. Im Moment scheint dein Herz unheilbar, aber das vergeht; und dass du nicht mit ihm geschlafen hast beschleunigt die Sache nur. Glaub mir, ich muss es schließlich wissen.“ Das Gesicht ihm zugewandt sah sie ihm nicht in die Augen, tat in dem Moment nichts als atmen. Jon wollte gerade wieder ansetzen etwas zu sagen, da sagte sie: „Ich möchte etwas frische Luft schnappen.“ Ohne etwas zu erwidern erhob er sich und machte den Weg zur Tür frei. Sie war gerade aufgestanden, da begann sie zu schwindeln. Alles um sie herum begann sich zu drehen, schneller und schneller. Verzweifelt versuchte sie nach etwas zu greifen, woran sie sich festhalten konnte, aber sie griff ins Leere. Da spürte sie plötzlich, wie Jon sie hielt. Langsam setzte er sie wieder auf den Stuhl und sagte: „Kim, du bist noch längst nicht wieder gesund. Am Besten, ich bringe dich unter Deck, dass du dich schlafen legen kannst.“ Er wollte ihr schon anbieten sie zu tragen, da widersprach sie: „Nein, Jon, erspar mir diese Demütigung.“ Er verstand. Dennoch stützte er sie. Vor der Tür hatte Philipe nur darauf gewartet, dass sie herauskam, ergriff ihre Hand, lief neben ihr her und begann auf sie einzureden: „Kim, das war doch nicht böse gemeint, ich mag dich doch trotzdem, das musst du mir glauben, außerdem…“ Weiter kam er nicht, denn Jon riss der Geduldsfaden und er brüllte: „Scher dich zum Teufel, Philipe, oder sonst wo hin! Aber lass sie jetzt gefälligst in Ruhe! Siehst du nicht, dass sie krank ist und Ruhe braucht?“ Entgeistert blieb Philipe stehen. Solange sich ihre Hände noch berührten blickte Kim zurück zu ihm, doch kaum dass ihre aus der seinen geglitten war, richtete sie ihren Blick wieder nach vorne. Jon brachte sie in die Kajüte in der sie schon am Mittag gelegen hatte. Ihr Haar war vom Regen durchnässt, genau wie das seine. Es hatte von einem Moment auf den anderen begonnen zu regnen, aus heiterem Himmel. Sie lag in dem Bett und es herrschte Stille; sie wurde nur durch die Regentropfen durchbrochen, die gegen die Scheibe des Bullauges trommelten. Das Schiff begann nun stärker zu schwanken und erst vereinzelt, dann in kurzen Abständen, schwappten Wellen gegen die Flanke des Schiffes. Jon hielt ihre Hand. Angstschweiß trat ihr auf die Stirn. Sie glaubte hören zu können, wie an Deck die Männer umher rannten, in blinder Angst, dass sie den Sturm nicht überleben würden. Sie brüllten sich gegenseitig Kommandos zu und keiner verstand ein Wort, jeder tat, was er für richtig erachtete und zerstörte damit die Arbeit des Anderen. Der Himmel war schwarz geworden und man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Nur wenige Blitze durchzuckten den Himmel und erleuchteten die Umgebung, aber wenn es blitzte, dann wurde es taghell und die Piraten wünschten sich, dass es wieder finster würde, denn die Wellen türmten sich meterhoch auf, um dann zusammen mit dem Gebrüll des Donners tosend über der HMS Fire zusammenzubrechen. Das Heulen des Windes war allein schon kaum zu ertragen und drohte die Trommelfelle der Männer platzen zu lassen. Dazu kam noch das unbändigende Flattern eines Segels, das sich losgerissen hatte und nun drohte mit seinen Tauen die Männer zu erschlagen. Es brauchte fast die ganze Mannschaft, damit es sich fügte. Aber es hatte einen Riss davongetragen. Plötzlich erhellte einer der gewaltigen Blitze erneut das Geschehen und es wurde sichtbar, dass das Deck rot gefärbt war. Überall Blut und inmitten dessen lag einer der Männer; erschlagen. Aber da brach die nächste Welle krachend und tosend über dem Schiff herein und nahm ihn und das Blut mit sich. Das Meer gurgelte schäumend und machte sich gerade wieder zu einer neuen Attacke auf das Schiff, das nun eher einem Spielball glich, bereit. Die Männer prallten in ihrer Panik gegeneinander und fielen zu Boden, da nahm auch diese das Meer unter ihre Fittiche. „Jon! JON!“, schrie Kim. Sie spürte auf einmal, wie jemand sanft ihre Hand streichelte und drehte den Kopf nach links. Dort saß Jon, blinzelte sie verschlafen an und gähnte: „Es war nur ein Traum, Kim, nur ein Fiebertraum, mach dir keine Gedanken.“ Sie wollte sich aufsetzen, aber sie schaffte es nicht ihren Kopf anzuheben, er schien dreimal so schwer wie normal. Jon sah das. Er stand auf, beugte sich über sie, legte die Arme um sie, als wolle er sie umarmen und hievte sie hoch, dann rückte er sie näher an die Wand und schob ihr das Kissen in den Rücken. Kim war vollkommen aufgelöst. Es regnete noch immer und eine heiße Träne rann ihre Wange hinunter. Sie tropfte von ihrem Kinn auf ihr Dekollete, dort verharrte sie. Da wo die Träne die Haut ihres geröteten Gesichts benetzt hatte wurde es kalt und trocknete bald, was die Haut unangenehm zum Spannen brachte. Sie atmete aus und die inzwischen eisige Träne suchte sich weiter ihren Weg über ihren Körper. Jon streichelte ihr besorgt über den Kopf und fragte: „Was hast du denn geträumt?“ „Es hat gestürmt und gewittert! Keiner wusste, was er machen sollte und keiner konnte mehr mit dem Anderen kommunizieren, weil alles so laut war. Die Wellen waren unglaublich hoch und ein Segel hat sich losgerissen, es hat einen Mann erschlagen, den die nächste Welle, die auf Deck aufschlug, mit sich genommen hat. Oh Jon, es war grauenvoll! Allein der Wind hätte mich davonwehen können!“ Vorsichtig fasste er ihr an die Stirn und flüsterte dann besorgt: „Du fieberst wieder schrecklich hoch, ich mache dir am Besten wieder Wadenwickel.“ Er wollte gerade aufstehen, da hielt sie ihn fest und schluchzte auf: „Nein, Jon, geh nicht! Es war so real und ich habe Angst! Geh nicht.“ „Dann lass mich wenigstens nach Diego rufen, damit er alles besorgen kann“, bat er. Langsam nickte Kim und ließ ihn los. Er ging zur Tür, öffnete diese und ging hinaus auf den Flur. Wohin ging er nur? Er hatte doch gesagt, er wolle nach ihm rufen. Bedächtig fragte Kim in die Dunkelheit: „Jon? Jon, wo bist du?“ Als sie aber keine Antwort vernahm wurde sie hysterisch und brüllte: „Jon, wo bist du? Lass mich nicht alleine! Lass mich nicht allein!“ Abrupt wurde die Tür aufgestoßen und Jon stand im Türrahmen. Fragend musterte er sie, kam dann auf sie zu und erklärte nachsichtig lächelnd: „Keine Angst, Kim, Diego schläft nur ein paar Kajüten weiter. Ich werde ihn schnell wecken gehen. Danach komme ich sofort wieder.“ Sie schluckte schwer, nickte aber. Daraufhin ging er wieder auf den Flur. Es war vollkommen still. Sie hörte deutlich ihren Puls. Er ging schneller als normal. Sie hielt sich den Kopf, er tat so unwahrscheinlich weh und pochte im Sekundentakt. Sie traute sich kaum ihn zu bewegen, aus Angst er könne explodieren. Plötzlich öffnete sich die Tür wieder und Jon kam mit einer Kerze in der Hand herein. Das Licht brannte in ihren Augen und sie kniff sie zusammen, um möglichst wenig abzubekommen aber dennoch noch etwas sehen zu können. Jon schloss die Tür hinter sich und kam wieder an ihr Bett. Als er sah, wie sehr sie das Licht in den Augen zu schmerzen schien, blies er auf der Stelle die Kerze aus und sagte: „Entschuldige, Kim, ich hatte nicht daran gedacht, wie lichtempfindlich man bei einem Sonnenstich wird.“ Sie schüttelte den Kopf soweit es ihr möglich war um ihm zu bedeuten, dass sie es ihm nicht nachtrug. Diego ließ lange auf sich warten und Kim fielen langsam wieder die Augen zu. Jon seufzte leise, legte sie wieder hin und sagte ganz leise: „Kim, wenn ich dir die Wadenwickel anlege, dann muss ich dir die Hose ausziehen. Ist das in Ordnung?“ Die Augen schon geschlossen und wieder im Halbschlaf nickte sie kaum merklich. Es war ihr im Moment alles egal. Alles? Nein, eine Sache peinigte sie noch unendlicher als diese Krankheit. Es war die Wette. Diese unheilvolle Wette. Kim hätte schwören können, dass der Teufel da seine Finger im Spiel gehabt hatte. Es verfolgte sie in ihren Träumen, sie konnte an nichts Anderes mehr denken und das Fieber ließ alles noch viel schlimmer erscheinen. In nächster Zeit schlief sie viel und wenn sie wach war, dann rief sie nach Jon. Er kam immer nach nur wenigen Momenten, mit Wasser und Äpfeln. Die Äpfel rührte sie anfangs nicht an, sondern trank lediglich auf Jons Geheiß hin das Wasser. Er blieb dann so lange da und hielt ihre Hand, bis sie wieder eingeschlafen war. Nach einigen Tagen aß sie schließlich freiwillig einen Apfel, den Jon in ihrer Kajüte gelassen hatte. Sie fühlte sich schon wieder wohl genug um aufzustehen. Also erhob sie sich und zog sich an. Aber ihre Sachen passten ihr nicht mehr; das Hemd, das einstmals straff über ihrer Brust gespannt hatte, schlabberte, als hinge es an der Wäscheleine und ihre Hose wollte nicht oben bleiben. Schließlich nahm sie sich ein Band und befestigte damit die Hose an ihrer Hüfte. Als sie an Deck kam, verstummten die Piraten urplötzlich und sie starrten sie regelrecht an. Niemand von ihnen hatte sie gesehen, seit Jon sie in diese spiegellose Kajüte gebracht hatte. Sah sie denn tatsächlich so furchtbar aus? Sie lief in Jons Kajüte und stellte sich vor den Spiegel. Ihre Augen weiteten sich. Das konnte nicht sein! Das, was sie da anstarrte, war nicht ihr Spiegelbild! Unmöglich konnte sie das sein. Die Augen völlig trübe, ohne jeglichen Glanz, unter ihnen tiefe Ringe, die Haare ungewaschen und zerstrubbelt, die Haut aschfahl, die Wangen eingefallen und der ganze Körper hager. Völlig kraftlos sah ihr Spiegelbild in ihre Augen und sie begriff noch immer nicht, dass sie das war. Sie tat einen Schritt auf den Spiegel zu, fasste an die Wange ihrer Spiegelung; sie war kalt und hohl. Mit der anderen Hand fasste sie an ihre eigene Wange. Ihre Haut war trocken und dünn geworden. Erschrocken drehte sie sich weg. Sie sah unmenschlich aus, wie ein Geist. In dem Moment öffnete sich die Tür und Jon trat ein. Hastig kam er auf sie zu, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und musterte sie. Schließlich umarmte er sie und flüsterte: „Kim, du darfst noch nicht aufstehen! Du hast mir einen furchtbaren Schrecken eingejagt, als mir Diego sagte, du seist in meine Kajüte gegangen. Wenn du etwas brauchst, musst du es doch nur sagen.“ „Ich brauche Bewegung“, entgegnete Kim. „Ablenkung gegen die Langeweile.“ Jon seufzte vernehmlich. So kannte er Kim – immer mit dem Kopf durch die Wand; egal, wie schlecht es ihr ging, sie tat doch immer, was sie wollte. Er nahm sie bei der Hand, führte sie zum Tisch und bedeutete ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen. Als sie saß, kniete er sich zu ihr nieder und fragte: „Hast du wenigstens etwas gegessen?“ Sie nickte. „Einen Apfel.“ Jon schien anscheinend schon etwas erleichterter, denn er seufzte auf und seine Gesichtszüge entspannten sich ein wenig. „Heute Abend wirst du noch einmal etwas essen und egal auf was du Appetit hast, ich werde es dir besorgen, denn heute Nachmittag schon steuern wir den Hafen von Puerto Bello an.“ Kim lächelte etwas gequält und nickte. Von diesem einen Apfel war sie so satt geworden, dass sie glaubte, die nächsten drei Tage nichts essen zu müssen, aber Jon zuliebe würde sie es tun. Ihre Lippen waren trocken und gesprungen, bei jeder Bewegung schmerzten sie, doch Kim fragte: „Gehst du denn nicht in die Stadt?“ Jon lächelte und antwortete: „Einer muss ja auf dich und das Schiff aufpassen.“ Sie wandte den Blick gen Boden und fragte so leise, dass er sie kaum verstehen konnte: „Und Philipe?“ Und als hätte sie nach einem Sack Kartoffeln gefragt, antwortete er in beiläufigem Tonfall: „Der geht in die Stadt.“ Er hielt kurz inne und überlegte, dann fügte er hinzu: „Soll ich jemanden schicken einen Arzt holen?“ „Nein, es geht mir doch schon besser, mach dir doch nicht immer solche Umstände, Jon. Außerdem wäre das viel zu teuer.“ „Was du dir immer für Sorgen machst!“, meinte Jon. „Wir haben gerade erst dieses Marineschiff gekapert, Geld ist momentan unser geringstes Problem.“ Kim horchte auf. „’Geringstes Problem’?“, wiederholte sie seine Worte. „Was meinst mit ‚geringstes Problem’? Was haben wir denn noch für Probleme?“ „Nichts, was dich beschäftigen sollte“, lächelte er affektiert. Er glaubte doch wohl nicht im Ernst, dass sie sich damit so einfach zufrieden geben würde? Jetzt hatte er es schon angedeutet und es würde sie sicherlich noch einige Zeit beschäftigen, aber er versuchte abzulenken: „Und du bist dir sicher, dass du keinen Arzt möchtest?“ Bestimmt schüttelte sie den Kopf und lächelte: „Aber ich würde mich gerne wieder hinlegen.“ Sie wollte sich gerade erheben, da sprang auch Jon auf und bot ihr seinen Arm an, dass er sie unter Deck geleitete. Kapitel 8: Lawanda ------------------ Hey Kidd =) Vielen Dank wieder für deinen Kommentar, ich freu mich, dass du das liest, dafür bekommst du jetzt feierlich eine Packung Kekse geschenkt *diese überreicht* einen guten =) Nun war schon wieder eine Woche vergangen. Für die adligen Verlobten hatten sie ein beachtliches Sümmchen herausholen können und da es Kim nun wieder besser ging, saß sie gemeinsam mit Jon in einer Spelunke. Am nächsten Morgen würden sie wieder ablegen und Kim wollte wenigstens einmal noch an Land, da sie die restliche Woche nur auf dem Schiff verbracht hatte, jedoch erlaubte ihr Jon nichts Alkoholisches zu trinken. Also blieb es bei ihr bei Wasser. Sie war gerade mitten im Gespräch mit Jon, da trat eine seltsame Gestalt an ihren Tisch. Sie unterbrachen sich und sahen die Gestalt fragend an. Sie stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu Jon und Kim vor und fragte leise aber bestimmt: „Ihr seid Jon Genitson, der berüchtigte Pirat, nicht wahr?“ Kim und Jon wechselten einen vielsagenden Blick und Jon fragte, ebenso leise wie die Person: „Wer will das wissen?“ Der Mann setzte sich, öffnete den Kragen seines Mantels, sodass sein gut rasiertes Kinn und seine vollen Lippen zum Vorschein kamen und sagte: „Mein Name ist Toni und ich möchte bei Euch anheuern.“ Erneut wechselten Jon und Kim einen Blick und Jon erwiderte schließlich: „So? Toni heißt du also? Aber hast du denn nicht gesehen welches Schiff im Hafen mir gehört? Und wie kommst du dazu zu glauben, ich sei ein gesuchter Pirat?“ Nun hob der junge Mann seinen Hut vom Haupt und legte diesen vor sich auf den Tisch. Sein Gesicht war merkwürdig feminin und Kim musterte ihn argwöhnisch. Davon ließ er sich allerdings nicht beeindrucken, sondern erzählte: „Leugnet es nicht, Señor Genitson, ich habe Euer Bild schon auf etlichen Steckbriefen gesehen; auf der anderen Seite des Landes! Bitte, lasst mich anheuern, ich tue auch was ihr wollt, nur ich muss fort von hier!“ Erneut streifte Jons Blick Kim, die den Jungen ohne Unterlass anstarrte. Schließlich sagte er: „Nun gut, ich bin der nach dem du suchst. Von mir aus kannst du anheuern, allerdings musst du erst unterschreiben und mir die Treue schwören.“ Toni wirkte nicht sonderlich glücklich über diese Antwort und er entgegnete: „Ich danke Euch, aber könntet Ihr der Hure sagen, sie soll mich nicht so anstarren, das macht mich nervös, ich kann nämlich nicht so gut mit Huren.“ „Was hast du da gerade zu mir gesagt, Bürschchen?“, fuhr Kim auf. Jon allerdings legte ihr seine Hand auf die Schulter und sagte ruhig: „Reg dich nicht auf, Kim.“ „Aber er hat mich eine Hure genannt! Sehe ich etwa aus wie eine Hure? Noch nie in meinem Leben wurde ich dermaßen beleidigt, nicht einmal von Emilios beschränkten Freunden!“, brauste sie weiter auf. Toni gab sich verwirrt und fragte: „ Aber wenn Ihr keine Hure seid, was seid Ihr dann?“ Sie wollte ihm gerade eine zynische Antwort an den Kopf werfen, da kam Jon ihr zuvor: „Das tut jetzt nichts zur Sache. Viel wichtiger finde ich die Frage, warum du bei mir anheuern willst. Besonders glücklich scheinst du ja nicht zu sein, dass ich deinem Gesuch Folge geleistet habe…“ „Oh nein! Versteht das nicht falsch, Señor! Ich bin überglücklich, denn ich muss so schnell wie möglich hier weg. Ich werde nämlich gesucht; ich habe gemordet! Meinen… meine Frau!“ Jon hob erstaunt die Brauen. „Gemordet hast du? Deine Frau? Warum? So ein junger Spund wie du… wieso warst du überhaupt schon verheiratet?“ Erst schien Toni nicht die richtigen Worte zu finden und druckste ungeschickt herum, doch dann sagte er unsicher: „Meine Eltern zwangen mich zu dieser Hochzeit und ich tötete sie weil, ja weil…“ Er stockte und Jon musterte ihn forschend, schließlich fuhr er fort: „Weil ich es nicht ertragen habe. Sie war mehr wie meine Mutter, sie war schließlich auch zehn Jahre älter als ich. Und dann, eines Nachts nahm ich die Pistole aus der Schublade und habe sie erschossen.“ Kim glaubte ihm kein Wort, Jon allerdings nickte nur und meinte lediglich: „Soso…“ Dann winkte er die Kellnerin herbei und bestellte sich einen Rum, Toni folgte seinem Beispiel. Kim verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück und beobachtet die Szene misstrauisch; obwohl sie eher Toni im Auge behielt. Er stieß mit Jon an und während Jon sein Glas in einem Zug leerte, nippte er nur an seinem und nahm dann einen Schluck. Er fasste sich an den Hals. Als er jedoch Kims misstrauischen Blick auf sich spürte, räusperte er sich und fragte Jon: „Und wann soll ich mich dann morgen melden?“ „Wieso erst morgen?“, fragte Jon. „Komm, verbring den Abend mit uns und komm dann mit aufs Schiff. Das mit dem Anheuern bereden wir dann morgen in aller Ruhe.“ „Aber ich kann nicht in der Kneipe bleiben! Ich…“, begann Toni, dann stockte er, als müsste er sich eine passende Ausrede überlegen, schließlich sagte er: „Ich bin nämlich eben erst hier angekommen und bin davor ohne Unterbrechung gereist, Ihr müsst verstehen, dass ich sehr erschöpft bin. Eigentlich sollte das hier meine Gaststätte werden, aber wenn Ihr mir für heute Nacht schon ein Quartier anbietet…“ Jon schien einen Augenblick nachzudenken, dann lächelte er: „Gut, dann warten wir noch, bis du dein Glas geleert hast und gehen anschließend zusammen aufs Schiff.“ Die Erleichterung stand Toni ins Gesicht geschrieben und er leerte seinen Rum so gut es ging in einem Zug. Kim beobachtete ihn mit Argusaugen. Jon jedoch klopfte ihm beim Gehen lachend auf die Schulter und meinte: „Du bist das Trinken wohl noch nicht gewohnt, was? Keine Sorge, das werden wir dir schon noch schnell genug beibringen, Toni!“ Kim blieb stumm und lief neben ihnen her. Als sie auch an Bord kam, fragte Toni an Jon gewandt: „Habt Ihr etwa so viel Geld, dass Ihr Euch eine Hure mitnehmen könnt? Gerade diese hier sieht mehr aus wie eine Kurtisane…“ Kim war erneut kurz davor zu explodieren, doch Jon lachte: „Wieso, willst du auch eine?“ Prompt lief der Junge puterrot an und schüttelte verlegen den Kopf. Jon lachte noch immer, schob den Jungen in Richtung Treppe und meinte an Kim gewandt: „Wartest du bitte in meiner Kajüte auf mich?“ Als er zu ihr in die Kajüte kam, traf ihn erst mal ein eiskalter Blick Seitens Kims. Etwas verwirrt fragte er: „Was ist denn los mit dir?“ „Er hat mich als Hure bezeichnet!“, fuhr sie auf und Jon korrigierte sie grinsend: „Nein, als Kurtisane und zwischen Huren und Edlehuren besteht ein Unterschied.“ „Und du hast es bestätigt!“, brüllte sie zornig. „Tatsächlich?“, fragte er, die Brauen hebend. „Du fragtest, ob er auch eine Hure wolle; auch!“ „Tatsächlich“, schmunzelte er. „Ich weiß gar nicht, was daran so komisch ist, Jon! Jetzt wird er das Gerücht verbreiten, wir schliefen miteinander und ich sei eine Hure!“, schrie sie ihn an. „Kurtisane“, verbesserte er sie. Nun vollkommen außer sich brüllte sie: „Jon! Alle werden denken, wir hätten ein Verhältnis!“ „Und was wäre daran so schlimm?“ Herausfordernd tat er einen Schritt auf sie zu. Beinahe verschluckte sie sich an ihren Worten, tat unsicher einen Schritt zurück und fragte: „Was sagst du?“ „War doch nur Spaß!“, lachte er. Wieder rief sie ermahnend seinen Namen aus und boxte ihm gegen den Arm. Er allerdings ließ sich nicht so leicht überwältigen, sondern warf sie sich über die Schulter und dann aufs Bett und dann grinste er: „So und nun darfst du entscheiden, wie es weiter geht.“ Einen Augenblick überlegte sie, dann richtete sie sich auf, packte ihn beim Kragen und zog ihn zu sich hinunter. Ein schelmisches Lächeln stahl sich auf ihre Lippen und auch Jon grinste siegessicher. Er wollte sich gerade weiter zu ihr vorbeugen, dass sich ihre Lippen berührten, da ohrfeigte sie ihn, allerdings nicht fest, und grinste hämisch: „Anschauen, aber nicht berühren, andernfalls muss ich Gebühren verlangen.“ Jon warf den Kopf in den Nacken und lachte überschwänglich, dann allerdings legte er sich auf sie und grinste siegesgewiss: „Ich zahle was immer du willst.“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht und als sich im nächsten Moment die Tür öffnete und Philipe im Rahmen stand, auch alle Farbe. Dieser schaute erst überrascht drein, dann allerdings grinste er: „Soll ich später wiederkommen, Captain?“ Jon und Kim tauschten einen schuldbewussten Blick, dann stand Jon auf, räusperte sich und sagte verlegen: „Versteh das nicht falsch, Philipe, das sieht anders aus, als es ist…“ Philipe aber grinste und meinte: „Na ich weiß ja nicht…“ Kim wandte das Gesicht ab und schwieg. Es hatte keinen Sinn etwas zu sagen und sein Gesicht zu sehen erfüllte sie nur mit Trauer. So wartete sie darauf, dass Jon die Situation bereinigt hatte und Philipe gegangen war. Dann stand sie auf, wünschte Jon eine gute Nacht und zog sich in ihre Kajüte zurück. Als sie im Bett lag dachte sie noch lange an Philipe. Sie musste ihn vergessen, er hatte sie ausnutzen wollen – schamlos. Aber es fiel ihr so unglaublich schwer. Warum hatte sie sich bloß in ihn verliebt? Es war doch von Anfang an aussichtslos gewesen, wieso also? Als sie erwachte, hörte sie Terry den Flur entlang poltern und die Piraten zusammenrufen. Gerade setzte sie sich auf, da platzte er auch in ihre Kajüte und rief: „Los, Kim, aufstehen!“ Sie antwortete nicht, sondern stand einfach auf und drehte ihm den Rücken zu. Seit sie von dieser Wette erfahren hatte, zeigte sie ihnen allen die kalte Schulter. Nur Laffite genoss das Privileg mit ihr sprechen zu dürfen, denn er hatte ein schlechtes Gewissen gehabt und versucht die anderen von der Wette abzubringen; allerdings waren die Gespräche mit ihm auch nicht von langer Dauer, schließlich hatte er mitgewettet. „Ach Kim, bist du etwa immer noch sauer? Glaubst du nicht, du hast uns inzwischen mit genug Ignoranz gestraft?“ „Genug?“ Sie wirbelte herum und funkelte ihn wutentbrannt an. „Habt ihr denn gedacht, es sei genug mit der Wette? Habt ihr an mich gedacht? Ich frage mich, wie ich euch nur vermissen konnte, um euch trauern!“ Terry schluckte schwer und erwiderte dann reumütig: „Es tut uns wirklich Leid, Kim, wir haben nicht gedacht, dass…“ „Genau das ist es ja!“, fiel sie ihm ins Wort. „Ihr habt nicht gedacht! Ihr denkt insgesamt sehr wenig!“ „Wie oft sollen wir uns denn noch entschuldigen, Kim? Es ist doch nichts passiert“, versuchte er sie zu beschwichtigen, aber sie brauste weiter auf: „Es ist egal, ob etwas passiert ist oder nicht! Ihr habt Philipe dazu verleitet mich zu verführen und zu benutzen! Was denkst du, wie ich mich fühle? Wie würdest du dich fühlen? Ich will euch nicht einfach verzeihen. Ihr habt mein Vertrauen missbraucht! Ich dachte, ihr wäret meine Freunde, aber ihr habt mich bitter enttäuscht.“ Sie spürte, dass ihr die Tränen in die Augen schossen und schluckte diese so gut es ging hinunter. Einige Sekunden trat vollkommene Stille ein, dann fragte Terry leise: „Aber was sollen wir denn tun um uns zu entschuldigen? Ich würde alles tun, glaub mir, es tut mir so unendlich Leid!“ „Oh nein, Terry, es tut dir nicht Leid. Dir tut nur Leid, dass ich nicht mehr mit dir rede. Du verstehst doch nicht einmal, was du mir angetan hast!“, zischte sie zornig. „Und nun verschwinde, damit ich mich anziehen kann!“ Terry schloss die Tür und es trat wieder Stille ein, dann sagte er: „Ich bleibe hier, bis das zwischen uns geklärt ist und wenn es den ganzen Tag dauert!“ Verblüfft musterte ihn Kim, wie er da mit seinem verbissenen Gesichtsausdruck vor der Tür stand. Dann konnte sie sich ein leises Kichern nicht verkneifen und flüsterte: „Du bist so ein Hohlkopf!“ Terry nickte nur und entgegnete: „Wenn du das sagst…“ „Und du bist ein Egoist“, fügte sie hinzu. Terry nickte wieder. „Und ein Narr!“, grinste sie. Diesmal nickte Terry nicht, sondern fragte: „Warum bin ich ein Narr?“ „Na weil du dich von mir beschimpfen lässt und mir auch noch zustimmst und das nur, damit ich dir verzeihe“, lachte sie. Auch Terry lachte und fragte: „Und funktioniert es?“ „Ich weiß nicht…“ Sie zuckte mit den Achseln. Nun grinste Terry: „Aber besser als ein ‚Nein’ ist das allemal.“ Kim nickte zustimmend und sagte: „Vielleicht kann ich dir ja doch verzeihen, wenn du mir versprichst so etwas nie wieder zu tun.“ Er hob seine Hand und antwortete mit ernster Miene: „Ich schwöre.“ Sie grinsten sich an und im nächsten Moment stand Terry vor ihr, schlang die Arme um ihre Taille und wirbelte sie lachend und glücklich durch die Luft. Nun war es schon zwei Tage her, dass sie mit Terry und Laffite Frieden geschlossen hatte und seit diesen beiden Tagen waren sie wieder auf See. Nur mit Philipe wechselte sie kein Wort und Toni schien sie zu meiden, was sie ihm gegenüber noch skeptischer werden ließ. War er wirklich der, für den er sich ausgab? Kim zweifelte daran, aber anscheinend stand sie mit ihrer Meinung alleine da, denn bei den restlichen Piraten schien er recht beliebt zu sein. Der Wind blies ihnen in die Segel und brachte sie gut voran, die Seeräuber lagen faul an Deck herum und Kim saß neben Jon, der genüsslich einen Apfel aß, und las ein Buch. Außerdem saßen bei ihnen noch Terry, Laffite und Diego. Gerade wollte sich Toni zu ihnen setzen, da hörten sie Tito aus dem Ausguck rufen: „Schiff in Sicht! Richtung Süd!“ Prompt erhob sich Jon und eilte im nächsten Moment zu Tito ins Krähennest, dass er sich das Schiff ansehen konnte. „Spanische Händler, Männer! Die schnappen wir uns! Wende!“ Die Piraten grölten und führten das Manöver voller Tatendrang aus. Der Kampf gegen die Spanier war hart, aber die Seeräuber waren ausdauernd, zäh und kampferprobt, ganz im Gegenteil zu den Spaniern. Jedoch machte ein Spanier Kim zu schaffen, er wich allen ihren Hieben aus und schaffte es, sie an der Flanke zu verwunden. Sie hielt sich ihre stark blutende Seite und versuchte den Schmerz zu ignorieren, um sich weiter auf das Duell zu konzentrieren, doch da stand ihr schon Toni zur Seite und löste sie ab. Leicht verwundert, sah sie zu, wie Toni den Spanier mit Leichtigkeit besiegte und sich dann dem nächsten widmete, sodass keiner an Kim rankam. Warum tat er das? Sie hatte doch geglaubt, er könne sie nicht ausstehen. Vielleicht hatte sie sich in ihm getäuscht? In diesem Augenblick allerdings war sie froh darüber, dass er ihren Konflikt niederlegte und sie verteidigte. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Toni das nicht getan hätte. Doch da kam schon der nächste Spanier auf sie zu. Er runzelte leicht die Stirn darüber, dass sie eine Frau war und wusste offensichtlich nicht, wie er sich verhalten sollte. Auch Kim überlegte fieberhaft, was ihr nächster Schritt sein würde. Wenn sie mit ihm kämpfte, würde sie unterliegen und als sie sich umsah, war niemand da, der ihr hätte zur Seite stehen können. Mit Sicherheit hätte sie ihm etwas vorspielen können, sodass er sich für sie einsetzte, aber Deserteure wurden für gewöhnlich mit dem Tod bestraft. Und da fiel sie doch lieber ehrenvoll in diesem Kampf. Sie wollte gerade zu kämpfen beginnen, da parierte er ihren Hieb und entledigte sie im nächsten Augenblick ihres Entermessers. Sie glaubte schon, es sei vorbei, da nahm sie der Spanier in den Schwitzkasten. Wieso tat er das? Er hätte sie so einfach erstechen können. Sie versuchte sich mit aller Kraft zu befreien, als sie ihn sagen hörte: „Sei still und wehr dich nicht, ich werde dir nichts antun. Ihr werdet gewinnen und ich könnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, wenn einer Frau dabei etwas zustieße. Also hör mir zu: Ich werde dich ins Innere des Schiffes bringen und dir da erst mal deine Wunden versorgen. Vertrau mir.“ Sie überlegte noch, ob sie ihm trauen konnte, da schleifte er sie schon mit sich unter Deck und selbst wenn sie gewollt hätte, hätte sie sich nicht mehr gegen ihn wehren können, also ließ sie sich mitziehen. Als er sich sicher war, dass niemand sie mehr sehen konnte, ließ er sie los und sagte: „Komm mit in meine Kajüte, da habe ich Verbandszeug.“ Aber sie bewegte sich keinen Zentimeter. Verwundert drehte er sich zu ihr um und fragte: „Was hast du?“ „Woher weiß ich, dass das nicht ein Vorwand ist, um mich zu vergewaltigen?“, fragte sie skeptisch. Er schwieg eine Weile und entgegnete dann: „Ich kann es dir nur versprechen. Außerdem, was für einen Vorteil hätte es für mich, wenn ich dich schänden würde? Dann würde euer Kapitän mir mit Sicherheit sofort eine Kugel durch den Kopf jagen.“ „Du gehst also davon aus, dass meine Mannschaft obsiegen wird?“, fragte sie skeptisch. Der Spanier lachte hell auf, nahm sie bei der Hand um sie mit sich zu ziehen und entgegnete: „Natürlich. Wir hatten keinerlei Chancen gegen euch; und nun komm, du blutest wie verrückt, falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte.“ Sie schwieg. Natürlich hatte sie es bemerkt, es tat schließlich auch weh wie verrückt. Als sie vor seiner Kajüte standen, öffnete er die Tür und sie konnte zwei Hängematten und zwei Holztruhen erkennen. Er zog sie mit sich hinein, schloss die Tür und ließ sie dann los. Während er an eine der Truhen ging, sagte er: „Leg dich in eine der beiden Hängematten und zieh dein Oberteil aus.“ Sie stockte und fragte: „Ich dachte du wolltest mich nicht…“ „Um Gottes Willen, nein!“, rief er lachend aus. „Ich will dir doch nur einen Verband anlegen und mit Hemd geht das schlecht.“ Trotzig entgegnete sie allerdings: „Ich werde mich aber nicht ausziehen, dessen kannst du versichert sein.“ Er drehte sich zu ihr um und auf seinen Lippen konnte sie ein warmes Lächeln sehen, dann sagte er: „Dann knöpf dein Hemd wenigstens von unten her bis zur Brust auf.“ Er wollte ihr anscheinend wirklich nichts tun und so tat sie, was er ihr gesagt hatte und setzte sich dann auf eine der beiden Hängematten. Er kam zu ihr und sah sich ihre rechte Flanke an. Er pfiff erstaunt durch die Zähne und meinte dann: „Da hat mein Kollege aber hart gekämpft.“ Er berührte die Stelle leicht und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Sofort nahm er seinen Finger von der Stelle, ließ seinen Blick aber starr darauf gerichtet und überlegte dann laut: „Ich würde die Wunde nähen, nur um sicherzugehen, wobei ich nicht weiß, ob das wirklich notwendig ist…“ Anschließend sah er ihr ins Gesicht und fragte ernst: „Soll ich es nähen?“ Allein schon bei dem Gedanken des schrecklichen Geräusches das es machte, fuhr es ihr durch Mark und Bein, doch als sie die Wunde ansah, da flüsterte sie: „Du solltest sie nähen.“ Er nickte langsam und drehte sich dann wieder zu der Truhe um. Die Stille die nun herrschte schien unerträglich und baute eine Spannung auf, dass man die Luft hätte schneiden können. Um dieses unangenehme Gefühl zu überbrücken fragte sie: „Wie heißt du eigentlich?“ „Raphael“, antwortete er, während er sich, Nadel und Faden in der Hand, wieder ihr zuwandte. „Und mit wem habe ich das Vergnügen?“, fragte er, als er sich niederkniete, um ihre Wunde zusammenzunähen. „Ich heiße Kim“, antwortete sie knapp und biss im nächsten Moment die Zähne zusammen, als er ihre Haut zusammendrückte und dann hindurchstach. Sie sah zu ihm hinab. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, sein mildes Lächeln hatte er zwar nicht abgelegt, aber er wirkte nun konzentrierter. Kurz bevor er das zweite Mal zustach, fragte er sie: „Und wie bist du ausgerechnet an Piraten gekommen?“ „Das ist eine merkwürdige Geschichte…“, sie stöhnte vor Schmerz auf, als er ihr die Nadel ein zweites Mal durchs Fleisch bohrte. Aber er herrschte sie an: „Erzähl weiter, los! Konzentrier dich. Dann sag mir eben, was vier Mal 28 sind!“ „Was?“, fragte sie konfus und er fuhr sie an: „Vier Mal 28! Na los, sag schon!“ Von seinem aggressiven Tonfall irritiert, begann sie zu rechnen. Vier Mal zwanzig waren achtzig. Und vier Mal acht waren 32. Das machte zusammen 112. Unsicher sagte sie ihm ihr Ergebnis, doch anstatt einer richtigen Antwort entgegnete er nur heiter: „Ich bin fertig.“ Verwundert sah Kim auf die Wunde, die er bemerkenswert sauber vernäht hatte. „Ich würde sie jetzt noch gerne säubern, aber das kann ich dann auch noch auf eurem Schiff machen“, fügte er hinzu, während er strahlend das Nähzeug wieder verräumte. „Da kann ich dir auch gleich einen Verband anlegen.“ „Wie hast du das gemacht?“, fragte sie unsicher. „Na die Haut zusammengedrückt und dann genäht“, antwortete er fröhlich. Sie aber fuhr ihn an: „Ich meine, dass ich nichts gespürt habe!“ „Oh das“, lachte er. „Ich habe dir eine Rechenaufgabe gestellt und dich vom Schmerz abgelenkt.“ Verblüfft schüttelte sie den Kopf, doch da fragte er sie: „Glaubst du nicht, deine Mannschaft müsste bald die Oberhand gewonnen haben?“ Und wie zur Bestätigung hörten sie jemanden ihren Namen rufen und den Gang entlangpoltern. Kim riss die Tür auf und rief: „Ich bin hier, es ist alles OK!“ Prompt kamen Terry und Laffite auf sie zugelaufen, schlossen sie in ihre Arme und drückten sie fest an sich. Aber als sie vor Schmerz aufstöhnte, ließen sie abrupt von ihr ab und sahen fragend in die Kajüte, aus der Raphael ihnen zuwinkte. Aber noch bevor die beiden irgendetwas sagen, geschweige denn tun konnten, erklärte Kim: „Versteht das nicht falsch, Raphael hat mich hierher gebracht, um mich zu verarzten, ohne ihn stünde ich jetzt vielleicht nicht mehr hier.“ Skeptisch musterten die Beiden ihn noch einmal, schleiften Kim aber dann mit sich auf die HMS Fire, die Jon erst kürzlich in Esperanza umgetauft hatte. Raphael ging ihnen freudestrahlend nach und fühlte sich offensichtlich schon zur Mannschaft gehörig. Doch als sie an Deck kamen, musste Kim sich schnell neben ihn stellen, damit ihn niemand gefangen nehmen konnte. Auf der Esperanza spürte sie die Blicke der Piraten auf sich haften, doch sie holte sich eine Flasche Rum, nahm einen großen Schluck und bot die Flasche dann Raphael ab. Dieser erwiderte allerdings lächelnd: „Nein, danke, ich habe gerade nicht das Bedürfnis etwas zu trinken und du solltest auch lieber nichts trinken…“ Sie schüttelte nur den Kopf über ihn und sagte dann: „Du bist irgendwie seltsam…“ „Das bekomme ich oft zu hören“, erwiderte er freundlich. „Komm, ich werde dich einigen vorstellen.“, schlug sie fröhlich vor und schleifte ihn dann hinter sich her, direkt zu Jon. „Jon, das ist Raphael“, stellte sie ihn vor. Jon allerdings musterte sie erst skeptisch, fuhr sie dann aber an: „Was machst du denn mit dem an Deck? Bring ihn zurück zu den anderen Gefangenen, aber schnell!“ Verblüfft entgegnete sie: „Raphael ist aber kein Gefangener, er gehört zu mir, weil er mich verarztet und gewissermaßen gerettet hat!“ Skeptisch hob Jon die Brauen und fragte: „Verarztet?“ „Ja, einer der Spanier hat mich an der Seite erwischt und er hat die Wunde genäht; glaub mir, wir können ihm vertrauen.“ „Bist du dir da sicher?“, fragte nun Toni, der gerade dazugekommen war. „Toni!“, rief Kim aus. „Mein Gott, was hätte ich eben nur ohne dich gemacht, hab vielen Dank!“ Sie umarmte ihn überschwänglich, doch er stieß sie von sich und lief kaum merklich rot an, anschließend drehte er sich um und verließ sie wieder unsicher. Was war denn in ihn gefahren? Hätte sie ihm vielleicht nicht danken sollen, oder ihn zumindest nicht umarmen? Später, es war schon dunkel geworden, saß sie grölend und lachend bei Laffite, Terry, Diego und Philipe, der sich einfach zu ihnen gesellt hatte. Sie hatten alle schon eine Menge Alkohol getrunken und waren dementsprechend gut gelaunt. Auch Kim war schon gut angeheitert und erzählte: „Und hätte Toni nicht eingegriffen, dann könnte ich jetzt wahrscheinlich nicht mit euch hier sitzen.“ „Na ein Glück!“, lallte Terry. „Hast du dich denn schon wenigstens bei ihm bedankt?“ Sie überlegte einen Moment angestrengt und entgegnete dann: „Ich hab ihn umarmt, aber er ist einfach so weggegangen…“ „Na ein Küsschen sollte dir dein Leben schon wert sein!“, rief Laffite aus und die beiden anderen Männer stimmten ihm zu. Kim kicherte und fragte: „Soll ich ihn jetzt etwa küssen?“ „Natürlich!“, grölte nun wieder Terry. „Das würde sich jeder Kerl hier wünschen! Ein Kuss von dir, davon träumt doch nachts die ganze Mannschaft!“ Sie boxte ihm freundschaftlich gegen den Arm und lachte: „Du bist ein Charmeur, Terry! Aber du hast Recht! Ich sollte mich bei ihm bedanken, mit einem Kuss. Deswegen werde ich jetzt zu ihm gehen und ihn küssen!“ Ruckartig stand sie auf, musste jedoch sogleich an der Reling Halt suchen, weil sich um sie herum alles drehte. Als es wieder ging, setzte sie sich in Bewegeung, um Toni zu suchen. Die anderen sahen ihr gespannt zu und fragten sich, ob sie ihn wohl wirklich küssen würde. Als sie ihn entdeckte, winkte sie ihn zu sich und rief: „Toni, komm mal bitte, ich muss dir etwas Wichtiges sagen!“ Er unterbrach sein Gespräch mit Jon und kam mit fragendem Blick auf sie zu. Als er unmittelbar vor ihr stand, schlang sie ihre Arme um seinen schmalen Nacken und wollte ihn gerade küssen, da stieß er sie von sich und rief aufgebracht: „Was machst du denn da? Ich will dich nicht küssen!“ „Aber warum denn nicht? Jeder andere Mann in der Mannschaft verzehrt sich nach einem Kuss von mir und du nimmst ihn nicht einmal als Dankeschön an! Du verdammter verklemmter Frauenmörder!“, schrie sie zornig und aus Leibeskräften. Es war still geworden. Alle Augenpaare waren auf sie gerichtet. Ungläubig schnappte Toni nach Luft und fragte: „Wie hast du mich gerade genannt?“ „Ich habe dich einen verdammten, verklemmten Frauenmörder genannt!“, wiederholte sie ihren Ausspruch. Er kam einen Schritt auf sie zu und zischte: „Nimm das zurück!“ „Nein, das werde ich nicht. Es ist doch so, du hast deine Frau erschossen. Die Huren im Hafen lassen dich völlig kalt und noch nicht einmal küssen willst du mich!“ „Und ich habe dich überschätzt“, erwiderte er gehässig. „Du bist viel zu gewöhnlich als dass du eine Kurtisane sein könntest, Pfennighure beschreibt dich besser. Ich hätte dich auf dem Schiff abschlachten lassen sollen, es hätte mir egal sein sollen, ich wünschte du würdest jetzt eine der Leichen sein, die wir ins Wasser geworfen haben und die dort jetzt aufweichen!“ Sie musste schwer schlucken. Das hatte gesessen. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, er wünschte sie sei tot. Sie spürte, wie ihr heiß und kalt zugleich wurde und sie wusste nicht, ob sie ihm nun eine spöttische Bemerkung an den Kopf werfen sollte, oder ob sie lieber weinend davonlaufen sollte. So stand sie nur da, still und stumm und sah in die zornig glitzernden Augen Tonis. Vollkommen aus der Fassung fragte sie leise: „Warum hast du das gesagt?“ In diesem Moment spürte sie, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und im nächsten Moment liefen ihr diese schon heiß über die Wange. Und noch leiser fragte sie, ihren Blick nicht abwendend: „Warum wünschst du dir, ich sei tot?“ Sein Blick wandelte sich kaum merklich und ein bisschen Reue blitzte in ihnen auf. Er sagte aber nichts. Er blieb einfach nur stehen und starrte sie an. Dann drehte er sich um und ging wieder zu Jon, um das Gespräch mit ihm erneut aufzunehmen. Auch die Piraten nahmen ihre Gespräche wieder auf und begannen von neuem ihre Lieder zu singen. Kim jedoch stand da und verstand nicht, warum er das zu ihr gesagt hatte. War es denn tatsächlich wünschenswert, dass sie starb? Hätte sie allen damit einen Gefallen getan? Wie ein geprügelter Hund schlich sie unter Deck in ihre Kajüte. Dort legte sie sich vorsichtig in ihr Bett – es kam ihr auf einmal viel zu groß und leer vor. Die ganze Kajüte schien auf einmal viel größer zu sein. Sie wollte nicht alleine sein. Sie wollte, dass irgendjemand ihr sagte, dass er sich nicht wünschte, dass sie tot sei. Aber niemand kam, um ihr das zu sagen. Niemand kam, um ihre Tränen zu trocknen. Und niemand kam, um sie nicht allein in dieser viel zu großen, viel zu leeren Kajüte zu lassen. Mitten in der Nacht wurde sie von starken Schmerzen in der Seite geweckt. Erst blieb sie liegen und versuchte die Schmerzen zu ignorieren, doch das gelang ihr nicht. So stand sie auf, um ein bisschen frische Luft zu schnappen und sich etwas zu Trinken zu holen. Als sie das Deck betrat stellte sie verwundert fest, dass noch einige Piraten an Deck beieinander saßen oder einfach nur auf den noch wohlig warmen Planken eingeschlafen waren. Unter ihnen konnte sie auch Jon ausmachen und sie wollte sich schon wieder umdrehen, um unter Deck zu laufen, da hatte anscheinend auch er sie entdeckt und winkte sie zu sich. Seufzend schlurfte sie zu ihm und fragte: „Was ist denn, Jon?“ „Was machst du denn so spät noch an Deck, Kim? Ich glaubte, du würdest deinen Rausch ausschlafen…“ „Ach lass mich damit in Ruhe!“, unterbrach sie ihn ruppig. Das was sie in diesem Moment am wenigsten gebrauchen konnte war, dass er sie an die Szene mit Toni erinnerte. Es war ihr so schrecklich peinlich. „Du hast ja ganz schön tief ins Glas geschaut“, fuhr er fort und grinste sie schadenfreudig an. Kim allerdings ging nicht auf die Anspielung ein, sondern entgegnete lediglich müde: „Ich gehe mir etwas zu Trinken holen.“ „Warte, ich komme mit!“, rief Jon, sprang auf und folgte Kim in die Vorratskammer. „Gibst du mir bitte auch einen Schluck?“, fragte Jon. Kim reichte ihm schweigend das Glas und vermied es, ihm ins Gesicht zu sehen. Er trank etwas, gab ihr dann das Glas zurück und sagte: „Nun schau mich doch mal an! Es ist bei Gott kein Weltuntergang, was heute Abend passiert ist. Schon in einer Woche wird keiner mehr etwas davon wissen. Außerdem war doch jeder betrunken.“ „Ja, nächste Woche!“, entgegnete sie aufgebracht und sah auf. „Bis dahin werden sie es mir ständig vorhalten!“ Doch plötzlich begann ihre Seite wieder zu schmerzen und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Besorgt fragte Jon: „Was ist los? Hast du Schmerzen?“ Sie griff sich an die Flanke und antwortete gequält lächelnd: „Nicht der Rede wert, Raphael hat die Wunde schon vernäht.“ Jon allerdings wollte sich nicht mit der Antwort zufrieden geben, sondern tat einen Schritt auf sie zu und sagte: „Lass mich mal sehen…“ Widerwillig nahm sie ihre Hand von der Wunde. Jon stockte. Was war denn? Sie sah besorgt an sich herab und erkannte, dass sie wieder zu bluten begonnen hatte. Schnell hob sie den Saum ihres Hemdes hoch, sodass sie die Wunde an sich sehen konnte. Leicht panisch sah sie zu Jon, der sie auch nur fassungslos anstarrte und fragte: „Wie ist das denn passiert?“ „Ich weiß es auch nicht so genau“, keuchte sie. „Während dem Kampf wurde ich verletzt, aber Raphael hat es eigentlich genäht.“ Das Blut lief nun über ihre Hüfte und wurde vom Saum ihrer Hose aufgesogen. „Du solltest dich besser wieder hinlegen“, sagte Jon. „Aber ich will nicht alleine sein“, entgegnete sie und neigte den Kopf beschämt gen Boden. Jon allerdings lächelte: „Dann werde ich bei dir bleiben, bis du eingeschlafen bist.“ Erleichtert sah sie auf und in seine freundlichen Augen. Als sie sich hingelegt hatte, setzte Jon sich an die Bettkante. Er hatte einen Krug mit Wasser, eine Flasche Rum, einen Schwamm, eine Schüssel und einen Verband mitgenommen. Er befahl ihr, sich auf die Seite zu legen, dass er sich um die Wunde kümmern konnte. Sie tat brav, was er sie geheißen hatte und musste die Zähne zusammenbeißen, als er den Rum über ihre Seite goss. Mit leicht sarkastischem Unterton in der Stimme entschuldigte sich Jon: „Tut mir Leid, Kim, aber das muss sein, das weißt du ja.“ Zähneknirschend verkniff sie sich einen bissigen Kommentar, sondern wartete, was als nächstes kommen würde. Er goss etwas Wasser aus dem Krug in die Schüssel, tauchte den Schwamm hinein und begann, sie vom Blut zu reinigen. Als der mit dem kalten Wasser vollgesogene Schwamm sie berührte, zuckte sie unwillkürlich zusammen und bekam eine Gänsehaut. Ein kurzer Blick zu Jon verriet ihr, dass ein sanftes Lächeln seine Mundwinkel umspielte. Ganz vorsichtig begann er den Schwamm über ihre Haut fahren zu lassen. Sie genoss die Zärtlichkeit mit der er mit ihr umging und seufzte leise. Sie hatte schon Angst Jon könnte es gehört haben und würde nun Witze über sie machen, doch er schwieg. Schließlich legte er den Schwamm weg und sagte leise, mit weicher Stimme: „Setz dich hin, damit ich dir den Verband anlegen kann.“ Sie tat, was er ihr gesagt hatte. Er nahm den Verband und begann ihn um sie herumzuwickeln; währenddessen lief er leicht rötlich an, weil er immer wieder um sie herumgreifen musste und so sein Gesicht ziemlich nah an ihren Busen kam. Als er fertig war, legte sie sich wieder hin und ließ sich von ihm zudecken. Sie ergriff seine Hand und schloss die Augen. Er war bei ihr und das zählte. Er ließ sie nicht im Stich, egal was sie tat. Ihre Schmerzen hatten aufgehört und sie fühlte sich so leicht, als könne sie schweben. Langsam schlummerte sie ein und drückte seine Hand noch einmal. Als sie die Augen am nächsten Morgen wieder aufschlug, hielt er noch immer ihre Hand. Er saß, den Kopf an ihr Bett gelehnt, auf dem Boden und schlief friedlich. Kim setzte sich auf und musterte ihn im sanften Dämmerlicht, das spärlich durch das Bullauge in ihre Kajüte eindrang. Die Luft war verbraucht. Sie hatte sich kaum aufgesetzt, da glaubte sie, ihr Kopf würde bersten. Einen solchen Kater hatte sie schon lange nicht mehr gehabt und ganz langsam und vorsichtig ließ sie ihren pochenden Schädel wieder zurück auf das Kissen sinken. Sie schloss die Augen in der Hoffnung, dass es besser würde. „Kim, wach auf, es ist Zeit“, hörte sie Jons sanfte Stimme und er rüttelte sie zart. Widerwillig öffnete sie die Augen und gewahrte Jon, der über ihr gebeugt stand und sie liebevoll anlächelte. „Mein Kopf! Er tut so weh!“, jammerte sie sogleich, doch Jon zog sie hoch und grinste: „Wer abends saufen kann, kann morgens auch arbeiten. Los, wir haben heute einen anstrengenden Tag vor uns.“ „Wieso?“, murrte sie und rieb sich gähnend, so gut es ging, den Schlaf aus den Augen. „Na die Beute muss aufgeteilt und die Gefangenen gerichtet werden“, lachte er arglos. Sie erhob sich und wollte ihm gerade in Richtung Tür folgen, da setzte der stechende Schmerz in ihrer Seite wieder ein und sie zuckte zusammen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ sie sich auf der Bettkante nieder und sagte: „Ich weiß nicht, ob ich heute arbeiten kann, Jon.“ Ironisch lächelnd entgegnete er: „Natürlich, du kannst gerne liegen bleiben, eine Kraft mehr oder weniger macht ja nichts!“ Zornig, weil er ihr offensichtlich nicht glaubte, fauchte sie ihn an: „Ich will mich nicht vor der Arbeit drücken, Jon, es tut wirklich schrecklich weh!“ Nun doch etwas besorgt fragte er: „Kannst du es denn nicht wenigstens versuchen? Komm doch zumindest hoch an Deck.“ Die Zähne zusammenbeißend nickte sie, fragte ihn aber noch: „Kannst du mir dann noch ein Hals- und ein Kopftuch aus der Truhe geben?“ Er nickte und gab ihr die Sachen. Nachdem sie sie sich angelegt hatte, gingen sie gemeinsam an Deck. Die Sonne stach ihnen im ersten Moment unbarmherzig in die Augen, aber schon nach kurzer Zeit gewöhnten sie sich daran. Jon ging als erstes zum Steuermann auf dem Achterdeck, um mit ihm noch etwas zu besprechen und Kim ging schüchtern auf Toni zu. Dieser stand bei einer Gruppe Männern, die das Lachen anfingen, als sie Kim sahen. Toni hingegen verstummte und wollte Kim keine Beachtung schenken, doch Kim zog ihn ein wenig beiseite und begann sich zu entschuldigen: „Also, Toni… Das mit gestern Abend, du weißt schon, als ich dich… na ja… küssen wollte…“ Die Situation schien auch ihm unangenehm zu sein und er schielte immer wieder zu seinen Kameraden rüber, die sie lachend beobachteten. Er kratzte sich verlegen am Hinterkopf und fragte: „Was willst du, Kim?“ Den Blick gen Boden gerichtet sagte sie, etwas lauter als eigentlich geplant: „Es tut mir Leid, was ich gestern Abend getan habe!“ Und kleinlaut fügte sie hinzu: „Oder tun wollte… Aber ich hatte so viel getrunken und dann…“ „Schieb es nicht auf den Alkohol“, entgegnete er schlicht und wollte sich gerade abwenden, da hielt Kim ihn am Arm fest und sagte: „Nein, nein! Es war meine Schuld! Aber bitte sei nicht böse auf mich!“ Wieso hatte sie das jetzt gesagt? Wieso hatte sie das gesagt? Es konnte ihr doch egal sein, was er von ihr hielt, wieso zum Teufel also hatte sie ihm das gesagt? Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt, doch da fragte er: „Wieso sollte ich sauer auf dich sein?“ „Naja, du bist so abweisend…“, erwiderte sie verdutzt. „Tut mir ja Leid, aber mit Huren verstehe ich mich generell nicht so gut“, antwortete er schlicht und wandte sich zum Gehen. „Du bist doch ein Blödmann! Ich bin keine Hure! Merk dir das ein für alle Mal! Weder eine Pfennig-, noch eine Edelhure!“ Wieder wandte er sich ihr zu, sah sie leicht erstaunt an und fragte: „Nicht?“ Wild schüttelte sie den Kopf. „Was bist du denn dann?“, wollte er wissen. „Na Pirat“, sagte sie selbstsicher und etwas Herausforderndes schwang in ihrer Stimme mit. „Für einen Piraten bist du aber ziemlich ungeübt mit der Waffe“, entgegnete er schnippisch. Gerade wollte sie wieder etwas einwenden, da kam Jon zu ihnen und fragte, die Mimik düster und die Stimme ernst: „Was habt ihr jetzt schon wieder am schaffen?“ „Ich wollte mich nur bei ihm entschuldigen!“, warf Kim rasch ein und Jon fragte weiter: „Und warum keift ihr euch dann an wie zwei Waschweiber?“ „Das weiß ich auch nicht“, antwortete Kim, den Blick starr und selbstgefällig auf Toni gerichtet. Dieser wandte sich nun endgültig von ihr ab und sagte: „Ja, versteck dich nur hinter dem Captain, das passt zu dir.“ Das reichte, jetzt war er zu weit gegangen. Sie versteckte sich nicht hinter Jon, das hatte sie nicht nötig. Sie schnaufte, als versuchte sie, ihren Zorn zu unterdrücken, doch er brodelte aus dem Bauch heraus in ihr auf und als sie bebte und es nicht länger zurückhalten konnte, da sprang sie auf ihn zu, riss ihn am Arm herum, verpasste ihm eine Faust ins Gesicht, dass seine Nase anfing zu bluten und brüllte: „Sag das noch mal und ich bring dich um!“ Als er das Blut sah, geriet auch er in Raserei und schlug sie zurück. In der ersten Schreckenssekunde starrten alle sie nur gebannt an, dann hielten zwei Piraten Toni zurück und Jon hatte Mühe, Kim unter Kontrolle zu behalten. Als es Jon zu bunt wurde, brüllte er, alle anderen übertönend: „Ruhe, verdammt noch mal! Der nächste, der einen Streit anfängt, wird über die gottverdammte Planke springen und kann sich zum Teufel scheren!“ Alles wurde mucksmäuschenstill und keiner rührte sich. Wenn Jon wütend war, dann war nicht mit ihm zu spaßen, das wussten sie alle. Er ließ Kim los und sprach weiter: „Ich glaube, ich muss euch undiszipliniertem Haufen mal beibringen, was Gehorsam bedeutet, und wenn ich es euch einprügeln muss! Ich habe allmählich die Schnauze voll von euren weibischen Zankereien! An Land könnt ihr machen was ihr wollt, doch solange ihr auf meinem Schiff seid, gelten meine Regeln und wer die nicht befolgt, bekommt meine Bestrafung zu spüren! Ihr solltet nicht vergessen, was ihr seid, ein Haufen Piraten! Abschaum, Dreck! Mehr seid ihr nicht, seid euch dessen immer und überall bewusst!“ „Na er ist aber auch nicht mehr!“, raunte einer einem anderen Piraten grinsend ins Ohr. Jon wirbelte herum, lief auf den Kerl zu, der diesen Kommentar von sich gegeben hatte, packte ihn beim Kragen und brüllte: „Du wagst es, mir zu widersprechen? Du wagst es, mir, deinem Captain, dem Besitzer deines Lebens und deiner Seele zu widersprechen?“ Wie erstarrt und mit weit aufgerissenen Augen starrte der Pirat Jon an und schüttelte langsam den Kopf. Jon warf ihn gegen die Planken, spuckte aus und fuhr fort: „Oh ja, eigentlich hat er Recht! Ich bin der schlimmste von uns! Der abscheulichste, der boshafteste! Deswegen gehört ihr mir! Mit Haut und Haaren, kein anderer könnte euch führen so wie ich! Kein anderer hätte euch aus den Fängen der Marine befreit, so wie ich! Kein anderer hätte euch zu dem Kopfgeld gebracht, das auf eure Köpfe ausgestellt ist, so wie ich! Und kein anderer hätte euch so berühmt wie berüchtigt gemacht, wie ich! Wenn die Menschen von uns hören, dann schlottern ihnen die Knie und die Zähne klappern ihnen wie bei vierzig Grad unter Null. Sie fürchten uns! Tausende Legenden ranken sich um uns: Man erzählt sich, wir seien unsterblich, wir seien die Vorboten der Hölle und des Teufels, wir würden niemals Überlebende lassen, wir seien verflucht und müssten bis in alle Ewigkeiten als Piraten auf den Weltmeeren unser Unwesen treiben, ja man erzählt sich sogar, wir seien Dämonen aus einer anderen Welt und alles träfe auf einmal zu! Aber wir wissen es besser. Wir wissen, dass all das nichts ist als Humbug! Legenden, wie sie die Helden umrahmen. Wir wissen, dass wir nicht mehr sind als Menschen, wir sind sterblich, und unsere Kräfte sind begrenzt. Wir sind eher noch weniger als Menschen, wir sind der Abfall der Menschheit, wir gehören nicht mehr zu ihnen! Und das macht uns stark: Wir haben nichts zu verlieren! Wir kämpfen, bis der letzte Tropfen Blut aus unseren Adern gequetscht ist, wir gehen noch ohne Haupt vom Schafott und laufen an unseren Kameraden vorbei um sie zu befreien, bis der Henker uns einen Schemel zwischen die Füße wirft! Wir müssen uns um nichts, rein gar nichts scheren; die Gesetze der Menschlichkeit gelten bei uns nicht, wir haben unsere eigenen Gesetze und mit denen stürzen wir alle Regeln der Reichen, der Adligen, der Hochwürdigen! Wir sind die Herrscher über die Meere! Wir allein!“ Als er geendet hatte, schwiegen die Piraten für einen Augenblick, den Bruchteil einer Sekunde, dann brachen sie in Beifall und Jubelchöre aus; sie grölten und riefen. Kim jedoch hatte sich während seiner Rede gegen die Reling gelehnt niederlassen müssen, denn ihre Seite hatte wieder begonnen zu schmerzen, nach dieser Anstrengung. Aber auch sie grölte und rief Jons Namen aus. So laut sie nur konnte. Laffite half ihr wieder auf die Beine, stützte sie und jubelte gemeinsam mit ihr. Als es Mittag wurde und die Sonne heiß auf ihre Häupter brannte, schickte Jon nach den Gefangenen. Die Beute hatte er bereits aufgeteilt. Sie mussten sich in Reih und Glied aufstellen und sich von Jon mustern lassen. Ein paar schob er auf die Seite seiner Crew, die anderen ließ er stehen. Nun wandte er sich an die Crew: „Seid ihr mit meiner Wahl zufrieden?“ Und noch bevor jemand etwas erwidern konnte, rief Kim: „Nimm Raphael zu uns! Wir schulden es ihm!“ Gabriel, der noch bei den Übriggebliebenen in der Reihe stand, lächelte ihr dankend, aber leicht melancholisch zu. Dann sagte Jon: „Er ist desertiert und nur du bist ihm etwas schuldig.“ „Aber er hat sich auf unsere Seite geschlagen!“, warf Kim ein, doch Jon widersprach ihr: „Und das wird er immer so machen, er wird sich immer auf die vermeintlich stärkere Seite schlagen und so weit werde ich es erst gar nicht kommen lassen. Er wird hingerichtet, sage ich.“ „Und ich sage nein!“, widersprach Kim. Zornig brauste Jon auf: „Du widersprichst mir?“ „Ja“, sagte sie trotzig. „Wage es nicht, nachher, in meiner Kajüte werde ich dich schon zurechtstutzen, aber jetzt ist es mir zu dumm. Mein Urteil ist gefällt. Philipe, du wirst sie töten und du, Kim, kommst mit in meine Kajüte!“ Erst hatte sie vor, einfach nicht mit ihm zu gehen, doch als er ihr einen bedrohlichen Blick zuwarf, blickte sie noch einmal entschuldigend zu Raphael und trottete dann hinter Jon her. Als dieser die Tür hinter sich geschlossen hatte, klarte seine Miene schlagartig auf und er grinste: „Vollkommen egal, welchen Kurs ich jetzt einschlage, sie werden mir folgen und nicht einmal in ihren kühnsten Träumen an eine Meuterei denken.“ Kim musterte ihn fragend und wartete auf eine Erklärung, doch anscheinend erwartete auch er eine Reaktion von ihr, denn er fragte, leicht verwirrt: „Und? Was sagst du?“ „Das ist schön, aber wieso sollte mich das interessieren?“ Er sah sie ungläubig an, hob die Brauen ein wenig und fragte: „Wieso dich das interessieren sollte? Wer wollte denn vor nicht allzu langer Zeit den skurrilsten Kurs einschlagen, von dem ich jemals gehört habe?“ Kims Augen blitzen auf; nun hatte sie begriffen, was er meinte. „Du meinst, wir können zu Lawanda?“, fragte sie und er nickte. „Wie war doch gleich der Kurs, den du mir aufgetischt hast?“ „Immer dem Wind folgen!“, antwortete sie hastig. „Also gut“, sagte er und trat vor die Tür. „Dann schauen wir mal, in welche Richtung der Wind weht…“ Damit ging er aus seiner Kajüte und aufs Achterdeck zum Steuermann. Kim folgte ihm, gespannt, ob er diesen grotesken Kurs wirklich einschlagen würde. Er stellte sich neben den Steuermann, sah erst auf den Kompass, dann auf die Flaggen. Er zögerte, bis er endlich den ersten Befehl gab: „Großschot fieren!“ Sie waren schon eine ganze Woche unterwegs. Es war der Abend des siebten Tages, noch ungefähr eine Stunde würden sie segeln. Um sie herum waren, wie Krümel, überall kleine Inseln verstreut. Die Stimmung an Deck war ehrfürchtig. Kim stand an Deck, die Unterarme auf die Reling gelehnt und sah zu, wie sie an den kleinen Inseln vorbeifuhren. Irgendwann stellte sich Jon neben sie und schwieg. Ihre Schultern berührten sich leicht. Plötzlich rief Kim: „Stopp! Haltet sofort dieses gottverdammte Schiff an! Holt die Segel ein und werft den Anker!“ Vollkommen perplex starrten die Piraten sie und Jon, der neben ihr stand und sie mindestens genauso erstaunt musterte, an. Kim konnte sich nicht erklären warum, aber sie wusste, dass sie nicht mehr weiterfahren mussten, dass sie am Ziel waren – nicht weiterfahren durften. Erwartungsvoll sah auch sie nun zu Jon, damit er ihren Befehl bestätigte. Dieser fasste sich schnell wieder und brüllte: „Aye! Ihr habt gehört, was sie gesagt hat! Holt die Segel ein und werft den Anker! Aber schnell!“ Sofort führten die Piraten seinen Befehl aus. Er aber drehte sich zu Kim um und fragte sie: „Wieso sollen wir anhalten? Ist etwas?“ „Wir sind da“, entgegnete sie und starrte auf eine kleine Einmündung, die in die Mitte einer der Inseln führte. Jon folgte ihrem Blick und fragte: „Und wieso bist du dir da so sicher?“ „Ich weiß es einfach, vertrau mir.“ „Terry, Philipe, Laffite, Toni und Kim.“, zählte Jon auf. Die ausgewählten traten nach vorne; sie würden mit an Land kommen. Die Sonne war schon untergegangen und der Himmel verdunkelte sich langsam. Philipe musste rudern. Ehrfürchtig sahen sich die anderen um. Nebel legte sich heimlich über sie und ihre Umgebung. Bis auf ihre Laterne spendeten ihnen lediglich die Glühwürmchen Licht, die um sie herumschwirrten. Und bis auf die Wellen die ihre Paddel verursachten hörten sie nichts, alles war still und das Wasser schien pechschwarz. Doch auf einmal vernahmen sie Gesang. Er war so lieblich, dass selbst Philipe das Rudern ließ und sich umsah. Es klang als sängen Gottes Engel höchstpersönlich. Träumerisch lauschten sie diesen Klängen, doch plötzlich machte Terry Anstalten von Bord zu springen. Mit Müh und Not schaffte Kim es, ihn festzuhalten, doch er protestierte: „Lass mich los! Ich muss zu der, die dieses wundervolle Lied singt!“ Nun wollte auch Laffite ins Wasser, doch Toni hielt ihn zurück. Schockiert tauschten der und Kim einen ungläubigen Blick, dann ging Toni ein Licht auf. „Sirenen!“, brüllte er. „Das sind Sirenen! Haltet euch sofort die Ohren zu!“ Aber die Männer hatten nur noch Ohren für den Gesang. Hastig nahm Kim Terrys Hände und presste diese auf seine Ohren. Kaum hörte er nichts mehr, legte er den Widerstand nieder und sah sie verwundert an. Sie bedeutete ihm, sich weiterhin die Ohren zuzuhalten und tat das gleiche nun auch bei Jon. Sie warf einen flüchtigen Blick zu Toni und Laffite, diese hielten sich ebenfalls die Ohren zu. Aber da erhob sich Philipe erneut. Schnell sprang Kim hinter ihn, verschloss seine Ohren mit ihren Händen und drückte ihn wieder hinunter. Er warf Jon einen fragenden Blick zu, doch der bedeutete ihm mit einem Nicken weiter zu rudern. Kim lauschte weiterhin dem Gesang. Auf sie hatte er keinerlei Wirkung und doch fühlte sie sich entspannter. Nach einigen Minuten verklang das Lied der Sirenen wieder und sie nahm ihre Hände von Philipes Ohren. Die anderen nahmen auch wieder ihre Hände runter und atmeten auf. Ohne sich umzudrehen, oder innezuhalten, flüsterte Philipe: „Danke, Kim.“ Sie jedoch beachtete es nicht weiter, sondern starrte auf die Hütte, die da auf Pfählen mitten im Flusslauf stand. Auch die anderen musterten das Haus voller Argwohn und sprachen kein Wort. Dahinter lichtete sich der Nebel und sie konnten die bewachsenen Flussufer sehen. Als sie anlegten, fiel von oben eine Strickleiter herab. Sie warfen sich scheue Blicke zu, bis Jon sich endlich ein Herz fasste. Er erklomm die Strickleiter, das Entermesser zwischen den Zähnen. Es kam Kim vor wie eine Ewigkeit, bis er sich über das Geländer lehnte und schweigend nickte. Einer nach dem anderen kletterten sie nun nacheinander hoch, jeweils mit dem Entermesser oder einer geladene Pistole zwischen den Zähnen. Als letztes kam Kim; bevor sie jedoch hinaufkletterte, band sie das Boot an einem der Pfeiler fest, auf dem das Haus stand. Als auch sie oben ankam, sah sie sich um. Bis auf die Piraten war niemand da. Die Männer rührten sich nicht, so ging sie auf die Tür zu. Vorsichtig öffnete sie diese; sie knarzte. Der Raum war wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte: mit Regalen voll gestopft, an den Wänden hingen Masken und viel größer, als sich von außen schätzen ließ. Ehrfürchtig trat sie ein, die Piraten gingen ihr nach, den Atem anhaltend. Als sie in der Mitte des Raums angelangt war, blieb sie stehen und sah sich nach ihren Mannschaftskameraden um, diese sahen sie allerdings nur auffordernd an. So drehte sie sich wieder um, holte tief Luft und brüllte dann: „Lawanda!“ Von oben her konnte man ein Rumpeln vernehmen und kurz darauf stand die Hexe vor Kim. Diese schrak zurück und stolperte in Jons Arme. „Du ließt aber lange auf dich warten, Kimberley“, stellte Lawanda fest. „Und wen du alles mitnahmst: Jon, deinen Captain, das war mir klar, und Terry und Laffite, deine besten Freunde, aber warum sind Philipe und Toni hier? So unwohl wie du dich in ihrer Gegenwart fühlst…“ „Also ich wäre jetzt auch lieber auf dem Schiff“, murmelte Toni, aber die Hexe hatte es offenbar verstanden, denn nun brüllte sie: „Schweig still, elendes Weib! Mit dir spreche ich nicht!“ Unwillkürlich zuckte Toni zusammen und schien unter den Blicken seiner Kameraden förmlich einzugehen. Weib hatte sie ihn genannt? Konnte das sein? Die Antwort auf diese Frage sollte nicht lange auf sich warten, denn Jon stellte sich schweigend vor ihn und riss sein Hemd auf. Und tatsächlich! Er… Sie hatte sich einfach ihre Brust abgebunden. Sie hatte alle die ganze Zeit zum Narren gehalten. „Na warte, das wird ein Nachspiel haben!“, knurrte Jon und wandte sich zornig von ihr ab. Verzweifelt suchte sie sich das Hemd zuzuhalten, doch gelang es ihr nicht und sie wich immer weiter zurück, von den Blicken der anderen verfolgt. „Nun gebt ihr doch etwas zum Anziehen, nackt muss sie ja auch nicht dastehen“, forderte Lawanda die Männer auf. Prompt entledigte sich Terry seines Hemdes und warf es Toni zu, die es dankbar auffing und überzog. Kaum hörbar murmelte sie: „Danke.“ „Aber nun wieder zu euch“, lächelte Lawanda. „Folgt mir hinauf.“ Damit ging sie in Richtung Treppe. Kim folgte ihr bereitwillig, aber die Piraten musterten die Treppe misstrauisch. Von außen sah es schließlich so aus, als habe die Hütte nur ein Geschoss. „Ich erwartete dich früher, Kimberley“, sprach Lawanda munter weiter, nicht auf die Männer achtend. „Nachdem dein Geist hier war, dachte ich, du würdest dir nicht allzu viel Zeit lassen… Aber nun bist du ja da und ich weiß auch schon, was du willst.“ Sie ging an einen Herd, der hier stand, nahm einen Teekessel von der Platte und holte Tassen aus dem Regal. Dann deckte sie den Tisch damit und fragte: „Tee?“ „Was ist mit dem Tee?“, fragte Kim misstrauisch. „Soll der uns gegen Alice helfen? Hat er irgendwelche besonderen Eigenschaften?“ Erstaunt musterte Lawanda Kim und entgegnete dann: „Nein.“ „Wofür soll der Tee sonst gut sein?“, erkundigte sich Kim. Lawanda winkte sie zu sich heran und flüsterte ihr verschwörerisch ins Ohr: „Gut, du hast mich durchschaut, dieser Tee hat eine ganz besondere Fähigkeit, diese wirst du für dein restliches Leben noch sehr oft in Anspruch nehmen müssen, kleine, junge Kimberley…“ Nun wurde Kim ungeduldig und hakte nach: „Was ist es denn für eine?“ „Nun, er löscht den Durst“, lachte sie. Kim musste an sich halten, um nicht loszubrüllen, aber Lawanda kullerten schon Tränen vor Lachen die Wange hinunter und sie wiederholte immer wieder: „Löscht den Durst! Der war gut, Lawanda, jetzt hast du die richtig an der Nase herumgeführt!“ Kim seufzte nur und sagte dann: „Danke, ich möchte keinen Tee.“ „Und deine kleinen Freunde?“, fragte sie und sah an Kim vorbei auf die Piraten. Diese schüttelten allerdings nur die Köpfe und bleiben stumm. Lawanda zuckte mit den Achseln, goss sich selbst eine Tasse Tee ein und setzte sich dann, einen Schluck trinkend. Unschlüssig blieb Kim vor ihr stehen; als sie das bemerkte, bot sie an: „Oh, wie unhöflich von mir, setz dich doch.“ „Danke“, erwiderte Kim schlicht und ließ sich der Hexe gegenüber nieder, ohne den Blick von eben der abzuwenden. Die Minuten verstrichen, ohne dass eine von ihnen das Wort ergriff. Auch die Piraten, die hinter Kim standen, wagten es kaum zu atmen. Die Luft schien zum Schneiden dick, bis Lawanda endlich den Anfang machte und leise fragte: „So, ihr wollt also das Buch? Ist euch auch klar, dass es von Alice und den Untoten bewacht wird?“ „Ja“, erwiderte Kim langsam. „Und wisst ihr auch, warum sie es bewachen?“ „Nein.“ Kim sah die Frau ihr gegenüber erstaunt an und wartete auf eine Erklärung. „Es wurde ihnen von der Besitzerin aufgetragen“, grinste Lawanda verschmitzt. Kim klappte der Mund auf, sie blinzelte immer wieder und schüttelte ungläubig den Kopf, als hätte sie sich verhört, doch Lawandas Kichern zufolge musste sie wohl richtig gehört haben. „Aber wieso…?“, fragte Kim. „Damit niemand kommt und es stiehlt, wozu sonst?“ „Ich will es doch nicht stehlen!“, entrüstete sich Kim und Lawanda entgegnete lächelnd: „Aber du willst es mitnehmen und für sie kommt das einem Raub gleich.“ „Warum tut sie denn nichts dagegen?“, fragte Kim fassungslos. „Nun, einst standen sie unter ihrem Befehl, doch dem ist schon lange nicht mehr so. Sie haben sich selbstständig gemacht und vor ein paar Jahren einen neuen Anführer gefunden.“ „Wen?“, fragte Kim, sich auf die Lippen beißend. „Ihr kennt sie sicher besser als ich, zumindest euer Hauptmann…“ Sie sah zu Jon und grinste hämisch. „Alice“, knurrte dieser. Lawanda erhob sich und sagte: „Genau, gut geraten, Jonathan…“ „Nenn mich nicht so!“, zischte Jon und blickte wutentbrannt zu der Frau, die nun erwiderte: „Ach ja, richtig. Verzeih mir mein Missgeschick, Jon, ich vergaß, dass sie dich immer so nannten.“ Verwundert fragte Laffite: „Sie?“ Auch Kim wandte sich zu ihm um. Er schien sich äußerst unwohl in seiner Haut zu fühlen, presste aber die Lippen aufeinander; Kim wusste nicht wieso. „Nun, sie sind all jene, die eurem Hauptmann einmal etwas bedeutet haben, beispielsweise seine Eltern. Er liebte sie über alles, nur das Problem war, dass sie es nicht taten, sie liebten ihn nicht, sie liebten nur…“ „Stopp!“, rief Jon. „Nicht weiter, bitte!“, flehte er. Lawanda strafte ihn mit einem erbarmungslosen Blick und fragte dann: „Ist es dir zuwider? Schmerzt es dich? Willst du nicht, dass deine Männer um deine Vergangenheit bescheid wissen?“ Nun wandte sie sich den anderen Piraten zu und fragte diese: „Wollt ihr es denn wissen?“ Terry und Laffite tauschten einen verschwörerischen Blick, grinsten sich an und nickten im nächsten Augenblick. Lawanda holte gerade Luft, um mit dem Erzählen zu beginnen, da rief Kim: „Nein!“ Wütend fragte Terry: „Warum denn nicht?“ „Weil er es nicht will und es uns nichts angeht!“, zischte Kim. Sie drehte sich noch gerade rechtzeitig zu Lawanda um, um mitzubekommen, dass diese lächelte, aber im nächsten Augenblick wirkte ihr Gesicht wieder vollkommen ernst und sie sagte: „Du bist wahrhaftig genau wie sie.“ „Ich hätte da eine Frage: Wieso hast du Alice geholfen?“, lenkte Kim vom Thema ab. „Ich muss unparteiisch bleiben“, erwiderte Lawanda mit einem Unterton in der Stimme, der klarmachte, dass sie keine weiteren Informationen preisgab. Eine gespannte Stille trat ein, aber schließlich fragte Lawanda: „Nun gut, kommen wir zum Geschäftlichen. Die Karte habt ihr ja, das bedeutet, ihr braucht nur noch Waffen und…“ „Ehm…“, unterbrach Kim sie. „Das mit der Karte…“ Erstaunt hielt Lawanda inne und fragte: „Was ist mit der Karte, ihr habt doch das Portrait?“ Kim spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete und gestand kleinlaut: „Wir haben es verloren…“ „Ihr habt was?“, schrie die Frau außer sich. Ängstlich wich Kim zurück. „Wir haben es verloren…“ „Jaja, ich habe verstanden, was du sagtest, aber ich kann es einfach nicht fassen! Wie kann man denn nur so unglaublich dumm sein?“, fauchte Lawanda. Kim tat noch einen Schritt zurück und stotterte: „Es… es tut mir Leid…“ „Es tut dir Leid! Denkst du, es ist damit getan?“ Nun trat Jon vor sie und sagte: „Es war meine Schuld. Ich habe es fallen gelassen und dann hat der Wind es davongeweht.“ „Ach, und durch dieses Geständnis kommt das Bild jetzt wieder?“, fragte Lawanda verächtlich und musterte ihn garstig. Jon schluckte schwer und sagte: „Nein, aber…“ „Ach verdammt, Lawanda, das bringt jetzt auch nichts mehr, du schüchterst sie nur ein“, beruhigte die Frau sich selbst. Vorsichtig fragte Kim: „Und was machen wir jetzt?“ „Na eine neue zeichnen“, entgegnete die Frau genervt. Erstaunt erkundigte sich Kim: „Zeichnen? Wie geht das denn, so ganz ohne Vorlage?“ Lawanda lächelte und erklärte: „Ich gab Alice meine letzte Karte. Ich muss nur meinen Geist lösen und zu ihr.“ Nun fehlten Kim die Worte. Wie würde sie das wohl machen? Gespannt starrten die Piraten und Kim sie an, in der Hoffnung, dass sie sich nun in Trance begab, doch Lawanda sah sie ihrerseits nur auffordernd an. Nachdem niemand Anstalten machte, sich zu bewegen, zischte Lawanda: „Nun geht endlich runter! Ich brauche dafür absolute Ruhe und muss mich konzentrieren!“ Wie aus einer Starre gelöst trotteten die Piraten die Treppe hinunter. Kim hingegen sah Lawanda noch einen Moment länger an, in der Hoffnung, dass Lawanda ihr sagte, sie könne bleiben. Aber Lawanda hob nur drohend eine Braue und so ging Kim ihren Mannschaftskameraden nach. Nun waren sie schon seit einer geschlagenen halben Stunde unten und hatten noch kein einziges Wort miteinander gewechselt. Kim schritt unruhig auf und ab, Jon hatte sich auf die Treppe gesetzt und der Rest hatte sich auf dem Boden niedergelassen. „Was haltet ihr von ihr?“, fragte Laffite und brach damit die gespannte Stimmung. „Irgendwie ist sie mir suspekt…“, erwiderte Terry und sah die Treppe hinauf. „Ich finde, wir sollten einfach gehen, hier drinnen ist es mir nicht geheuer“, sagte Philipe. Abrupt blieb Kim stehen und zischte: „Nein, wir werden nirgendwo hingehen, bevor sie uns entlassen hat!“ „Na du hast leicht Reden!“, warf Terry ein. „Dich kann sie ja auch gut leiden, bei uns sieht das ganz anders aus.“ „Na bitte, fragt doch euren Captain, ihr elenden Feiglinge!“, fauchte Kim und setzte ihren Weg fort. Erwartungsvoll sahen die Piraten zu Jon und setzten gerade an ihn zu fragen, da sagte dieser, ohne sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen: „Wir bleiben.“ „Aber Captain…“, begann Laffite ihm zu widersprechen. „Kein Aber, ich bin euer Captain! Und was ich sage wird gemacht, also bleiben wir hier und nun seid endlich still.“ Wie ihnen befohlen verstummten die Männer; jedoch nur für einige Minuten, dann fluchte Terry: „Verflucht noch mal! Ich halte das nicht länger aus! Was macht das Weib denn da oben? Los, Kim, dich mag sie, geh und sieh nach!“ „Genau!“, pflichtete ihm Philipe bei. „Und dann sagst du uns, was sie da oben macht.“ „Ich soll was?“, fragte Kim entgeistert und blieb erneut stehen. „Was wäre denn, wenn sie es bemerkte? Sie würde mich umbringen!“ Hilfesuchend sah sie zu Jon, der ihren Blick erwiderte und schließlich sagte: „Mich würde es auch interessieren.“ Sie warf ihm einen zornigen Blick zu, als er jedoch nur demütig wegsah, schaute sie zweifelnd die Treppe hinauf und fragte: „Wenn es euch doch so interessiert, warum geht ihr dann nicht selbst hinauf und schaut nach?“ „Ganz einfach“, erklärte Terry. „Dich kann sie ausstehen, uns nicht…“ Kim seufzte und sagte schließlich: „Also gut, ich mach’s, aber ihr müsst still sein!“ Die Piraten nickten. Leise schlich sich Kim die Treppe hinauf und kauerte sich auf eine der letzten Treppenstufen, sodass sie gerade noch etwas sehen konnte, Lawanda sie aber nicht bemerkte. Diese saß am Tisch und schien jemanden anzusehen, der ihr gegenübersaß; aber da war niemand. „Ich brauche jetzt die Karte, Alice! Zum letzten Mal, oder muss ich erst kommen?“, fragte sie nachdrücklich und zog die Augenbrauen zusammen; anscheinend hörte sie jetzt zu. „Ja dann hol sie gefälligst!“, brüllte sie auf einmal und Kim zuckte unwillkürlich zusammen. „Nicht zu fassen“, brummte Lawanda nun. „Wie begriffsstutzig kann man denn sein? Warum bin ich ausgerechnet an zwei so Hohlköpfe geraten? Die eine verliert die Karte und die zweite ist zu blöd, sie zu holen… Ah, da bist du ja wieder, Alice.“ Auf einmal war sie wieder ganz freundlich und lächelte. Erst jetzt bemerkte Kim, dass vor ihr auf dem Tisch Feder, Tusche und Papier lagen. Lawanda griff zu der Feder, schraubte das Tuschefässchen auf, tauchte die Feder hinein und begann auf dem Papier zu malen. „Sei still, ich muss mich konzentrieren und gaff gefälligst nicht so!“, keifte sie plötzlich erbost. Erschrocken wich Kim zurück und wäre beinahe die Treppe hinuntergefallen. Hatte Lawanda sie gemeint? Sie wollte kein Risiko eingehen und stieg so wieder die Treppe hinab. Unten warfen ihr die Männer gespannte Blicke zu. Als sie jedoch nichts sagte, fragte Laffite: „Und? Was macht sie da oben?“ „Sie spricht mit Alice“, antwortete Kim schlicht. „Mit Alice?“ Jon fuhr auf und fragte entgeistert: „Ist sie etwa da oben?“ Kim schüttelte den Kopf und erklärte: „Lawanda telepathiert nur. Jetzt zeichnet sie gerade die Karte ab.“ „Hat sie Alice erzählt, dass wir kommen?“, fragte Jon und setzte sich wieder. Kim zuckte mit den Achseln und ließ sich neben ihm auf der Treppe nieder. „Wieso weißt du es nicht?“, hakte Jon nach. „Ich habe ja nicht das ganze Gespräch mitbekommen“, zischte Kim provozierend. „Ist ja gut!“, beschwichtigte Jon sie. „Es war doch nur eine Frage.“ Endlich kam Lawanda wieder die Treppe herunter und durchbrach mit ihrer hellen Stimme die angespannte Stille: „Ich habe die Karte jetzt. Hier.“ Sie drückte Kim das zusammengerollte Blatt Papier in die Hand. „Jetzt muss ich nur noch eure Waffen weihen“, fuhr sie fort. „Unsere Waffen weihen?“, fragte Kim verblüfft. „Wozu denn das?“ „Natürlich damit ihr die Untoten töten könnt, wozu denn sonst?“, erwiderte Lawanda erstaunt. „Aber wir konnten sie doch auch so töten“, entgegnete Kim. Lawanda lachte herzlich und wiederholte sie: „Ihr konntet sie auch so töten! Fräulein, du hast dich wohl noch nie gefragt, warum sie im Kampf nicht weniger wurden, nicht wahr?“ Verwundert schüttelte Kim den Kopf und Lawanda kicherte: „Warum heißen sie wohl ‚Untote’? Wohl kaum, weil der Name furchteinflößend klingt. Oh nein, zwar können sie fallen, aber sie erheben sich jedes Mal aufs Neue. Nur Waffen, die mit einem Fluch geweiht wurden können sie töten – ein für alle Mal.“ „Meinst du nicht eher ‚verflucht’?“, fragte Philipe vorlaut. „Erstens heißt es für dich immer noch ‚Ihr’ und zweitens nenne ich es geweiht, weil ich verflucht so negativ finde und damit basta!“, fuhr sie ihn an. „Verzeiht…“, flüsterte Philipe demütig und Lawanda lächelte zufrieden: „Geht doch. Gehe ich denn recht in der Annahme, dass nur ihr sechs auf Rum Cay gehen werdet?“ Jon nickte schweigend und Lawanda fuhr fort: „Dann gebt mir eure Waffen.“ Noch immer etwas misstrauisch und nur widerwillig überließen die Piraten der Frau ihre Entermesser und Pistolen und beobachteten genau, was sie damit machte. Aber anscheinend wollte Lawanda auch diesmal ungestört sein, denn sie sagte: „Geht ihr nur in den Nebenraum und legt euch hin, ich regle das schon alleine.“ Murrend gingen die Piraten auf die Tür zu, auf die Lawanda gewiesen hatte und die ganz gewiss noch nicht da gewesen war, als sie das Haus betreten hatten. In dem Raum befanden sich drei Stockbetten; offensichtlich würde es länger dauern, als sie erwartet hatten. Misstrauisch blieben sie im Türrahmen stehen und begutachteten die Betten. „Nun geht schon rein und legt euch hin, morgen wird ein anstrengender Tag“, sagte Lawanda und drückte sie in den Raum. Hinter ihnen schloss sie die Tür wieder. Terry, Laffite und Philipe warfen sich kurz einen Blick zu und drängelten sich dann um das Schlüsselloch, um einen Blick auf das zu erhaschen, was Lawanda da mit ihren heiß geliebten Waffen anstellte. Aber auf einmal brüllte Lawanda: „Geht sofort vom Schlüsselloch weg!“ Prompt traten die Drei einen Schritt zurück und warfen dann grinsend Kim einen Blick zu. „Und wagt es ja nicht, Kimberley noch einmal zu schicken!“, ertönte erneut Lawandas Stimme. Niedergeschlagen ließen sich die Piraten auf den unteren Betten nieder und schwiegen eine Weile, dann fragte Philipe: „Was machst du jetzt eigentlich mit Toni, Captain?“ Alle Blicke richteten sich auf sie, die zusammengekauert in der finstersten Ecke saß und nun angsterfüllt zu Jon sah. „Wie heißt du wirklich?“, fragte Jon ruhig. Als hätte er sie angebrüllt zuckte sie zusammen und antwortete leise: „Ich heiße wirklich Toni, zumindest werde ich so gerufen, meine Eltern tauften mich allerdings auf den Namen Antonia.“ „So, Antonia“, fuhr Jon fort. „Und was hat dich dazu veranlasst bei uns anzuheuern?“ „Ich habe meinen Mann erschossen“, entgegnete sie. „Ich wurde gezwungen ihn zu heiraten, obwohl ich es nicht wollte. Ich wollte nicht sein kleines Frauchen, mit dem er alles machen konnte, sein, ich wollte nicht, dass er mich einmal gegen meinen Willen liebte und im nächsten Moment schlug, ich konnte es nicht ertragen, da habe ich irgendwann die Pistole genommen und ihn erschossen. Und was bleibt einem Mörder anderes übrig, als sich zu seinesgleichen zu gesellen? Ich sah Euren Steckbrief in meiner Heimatstadt und beschloss, Euch zu suchen; zu verlieren hatte ich nichts.“ Als sie geendet hatte, wandten sich die Blicke zu Jon und dieser sagte: „Ich sage, sie bleibt.“ „Noch ein Weibsstück an Bord?“, fragte Philipe fassungslos und Kim fauchte: „Pass auf, was du sagst, Elender!“ „Lass nur, Kim, wenn es ihm nicht passt, steht es ihm frei über die Planke zu springen.“ Jon grinste Philipe hämisch an und dieser schluckte die Verwünschungen, die ihm auf der Zunge lagen, zornig hinunter. „Legt euch endlich in eure Betten und seid still! Ich mache das Licht gleich aus!“, hörten sie auf einmal Lawandas aufgebrachte Stimme. Die Bettenaufteilung war schnell geregelt, Terry und Laffite teilten sich ein Stockbett, Laffite schlief oben, Terry unten. Philipe warf Antonia einen auffordernden Blick zu, woraufhin sie zügig hinaufkletterte und er sich in das untere Bett warf und auch Kim legte sich ins obere Bett, Jon unter sich wissend. Im nächsten Moment verfinsterte sich das Zimmer, sodass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Kim wälzte sich unruhig hin und her und versuchte das Schnarchen der Piraten zu überhören, drückte sich das Kissen auf die Ohren, aber es half nichts, so legte sie sich auf den Rücken und starrte in die Finsternis. Irgendetwas quietschte unerträglich laut und weckte Kim. War sie etwa doch eingeschlafen? Anscheinend, aber was quietschte denn so? Nachdem sie sich einen Moment lang besonnen hatte, glaubte sie, dass es Jon sein musste, der sich unter ihr hin und her wälzte. Vorsichtig fragte sie: „Jon? Bist du wach?“ Sie hatte es nur geflüstert und ihre Stimme selbst kaum vernommen, aber prompt hörte das Quietschen auf und eine kurze Weile lang hörte sie gar nichts mehr, dann fragte Jon, genauso leise: „Habe ich dich geweckt?“ „Was ist denn los?“, fragte Kim nun wieder und ging gar nicht erst auf seine Frage ein. Jon seufzte und antwortete: „Ich kann nicht schlafen.“ „Und warum nicht?“, hakte Kim nach. „In meinem Kopf jagt ein Gedanke den anderen, es fühlt sich an, als könne er jeden Augenblick zerplatzen…“, antwortete Jon. Kim kletterte kurzerhand hinunter und konnte seine Silhouette erkennen. Er saß auf seinem Bett und sah sie anscheinend an. Sie setzte sich ihm gegenüber und fragte: „Und was geistert dir durch den Kopf?“ „Unwichtige Sachen; Nichtigkeiten“, versuchte Jon sich rauszureden. Kim hob skeptisch die Augenbrauen und entgegnete: „Wären es tatsächlich Nichtigkeiten, dann könntest du einschlafen. Was bedrückt dich also in Wirklichkeit? Jon, die anderen schlafen und du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst, oder?“ „Ja schon…“ Er brach ab und senkte den Blick. „Es geht darum, was Lawanda vorhin sagte.“ „Und was hat sie gesagt?“, wollte Kim genauer wissen. „Über mich. Warum ich nicht bei meinem vollen Namen genannt werden will“, erklärte er. „Und?“ „Ich hatte es all die Zeit verdrängt. All die Zeit, seit ich ein kleiner Junge war. Es ist nur immer ein bisschen aufgeflackert, wenn jemand meinen Namen nannte. Aber als Lawanda vorhin das Thema anschnitt, ist das Feuer dieser Erinnerung erneut entfacht. Und jetzt wird mich diese Erinnerung wieder verfolgen, Tag und Nacht, wann immer ich mich nicht ablenken kann.“ Er hatte die Beine angewinkelt und die Arme auf die Knie gelegt. „Aber was ist denn so schlimm an deinem Namen?“ Kim verstand nicht, was er ihr sagen wollte, dabei würde sie ihm so gerne helfen. „Es liegt nicht an meinem Namen, es liegt an den Menschen, die ihn mir gaben und die mich so riefen.“ „Und was haben die gemacht?“ „Du wirst mich hassen, wenn du es weißt, du wirst mich abgrundtief hassen, du wirst…“ Beruhigend legte Kim ihre Hand auf die Seine und sagte: „Scht, ich werde dich nicht hassen, erzähl mir doch einfach, was passiert ist, vielleicht geht es dir dann besser…“ „Glaubst du das wirklich?“ Jon sah auf. Er kam ihr jetzt nicht mehr wie ihr dreißigjähriger Kapitän vor, sondern eher wie ein kleiner Junge, der etwas gestohlen hatte und nun Beichte ablegen musste. „Ganz sicher“, versicherte sie ihm und streichelte zärtlich über die raue Haut seiner Hand. „Es war damals, ich war noch ein kleiner Junge“, begann er zu erzählen. „Meine Eltern liebten mich über alles, meine Welt war in bester Ordnung, aber dann bekam meine Mutter Zwillinge. Ich hasste meine Geschwister über alles. Sie zogen alle Aufmerksamkeit auf sich, sie waren so süß, so brav und so liebenswert; viel liebenswerter als ich, denn meine Eltern begannen mich zu vergessen. Sie kümmerten sich nur noch um die Zwillinge, vergaßen, mir einen Teller zu decken, nahmen mich nicht mit zu den Spaziergängen, gaben mir keinen Gutenachtkuss mehr. Alle Gespräche drehten sich um das Wohl meiner Geschwister. Und mein Hass auf sie schürte sich. An meinem zehnten Geburtstag dann hielt ich es nicht mehr aus. Meine Eltern hatten Vergessen, dass ich Geburtstag hatte. Meine Mutter war gerade noch etwas in ihrem Zimmer holen gegangen und hatte die Zwillinge ins Treppenhaus gesetzt. Ich konnte es nicht mit ansehen, wie sie mit diesen tollen neuen Spielsachen spielten, während meine Eltern doch meinen Geburtstag vergessen hatten. Ich trat an meine Geschwister heran und schob sie ganz nahe an den Treppenansatz, da kam meine Mutter. Als sie sah, was ich vorhatte, rief sie: ‚Oh mein Gott! Nein, Junge! Tu es nicht!’ Sie wusste nicht einmal mehr meinen Namen! Da gab ich den Zwillingen den letzten Schubs und sie stürzten die steile Treppe hinunter. Meine Mutter begann zu rennen, wollte zu meinen Geschwistern, doch sie stolperte über eine ihrer Puppen und stürzte ebenfalls die Treppe hinunter; in den Tod. Während sie fiel schrie sie, dass es mir durch Mark und Bein ging, ich musste mich am Geländer festhalten, das hatte ich nicht gewollt, meine Mutter hatte ich nicht umbringen wollen. Von diesem Geschrei angelockt kam mein Vater angelaufen, er kam von unten die Treppe herauf gerannt und stieß auf dem Absatz auf die Leichname meiner Mutter und der Zwillinge. Erst starrte er sie fassungslos an, dann kniete er sich zu ihnen nieder und schluchzte laut auf. Er barg sein Gesicht an ihrer leblosen Brust, die kein Lufthauch mehr füllte. Dann sah er zu mir hoch, wie ich dort stand, mich am Geländer festhaltend und entsetzt auf meine tote Mutter schauend. In seinem Blick war nichts mehr, als purer Hass. Langsam richtete er sich auf und kam auf mich zu. Im ersten Moment war ich vor Angst wie gelähmt, dann rannte ich weg so schnell ich konnte. Den Flur entlang, bis ins hinterste Zimmer, das Arbeitszimmer meines Vaters. Ich drehte den Schlüssel im Schloss und hockte mich unter den Schreibtisch. Dort kauerte ich und hörte zitternd, wie mein Vater gegen die Tür hämmerte und wie von Sinnen brüllte: ‚Mach auf, verdammter Drecksbengel! Du hast deine Brüder und deine Mutter umgebracht! Du hast sie umgebracht! Du bist ein elender Mörder!’ Dann brach die Tür aus den Angeln und ich konnte sein Schnaufen hören. Seine langsamen Schritte kamen immer näher und schließlich packte er mich am Arm und zog mich unter dem Schreibtisch hervor. Ich glaube, ich habe geschrieen wie am Spieß, aber seine Stimme übertönte die meine mit Leichtigkeit. Er begann auf mich einzuprügeln und schrie immer wieder: ‚Du bist ein Mörder! Ein Mörder, Jonathan!’ Ich versuchte mich zu wehren, die schmerzenden Schläge abzufangen, zurückzuschlagen, aber es half nichts, ein Schlag nach dem anderen traf mich. Halb bewusstlos suchte ich mit meiner Hand auf dem Schreibtisch nach irgendetwas, mit dem ich mich zur Wehr setzten konnte und das erste, was mir zwischen die Fingerchen kam, schlug ich auf seinen Arm, der mich wieder und wieder schlug. Aber es prallte nicht ab, nein, es versank förmlich in dem Arm. Laut aufschreiend zog er seine Faust zurück und meine Waffe, die ich fest umklammert hielt, glitt aus seinem Arm. Es war sein Brieföffner. Er wollte gerade wieder auf mich einprügeln, da stach ich erneut zu. Und wieder, und wieder, und wieder. Bis ich keinen Widerstand mehr spürte, bis er ganz still und reglos war; und blutüberströmt. Ich wusste nicht, wie oft ich auf ihn eingestochen hatte, aber ich wusste genau, dass ich jetzt auch ihn getötet hatte. Und mit seinem letzten Atemzug hatte er gehaucht: ‚Sei verflucht, Jonathan, Mörder deiner Geschwister, deiner Mutter und deines Vaters!’ Ich habe meine ganze Familie umgebracht. Alle sind sie durch meine Hand gestorben. Als mir das klar wurde, lief ich aus dem Haus, durch die Straßen der Stadt in Richtung Stadttor, bis mich ein Passant abfing. Es war unser Nachbar. Als er sah, dass ich vor Blut triefte, dachte er, es sei nur mein eigenes und brachte mich nach Hause, dort aber stieß er auf die Leichen meiner Geschwister und meiner Eltern. Er rief die Polizei. Diese befragte mich und man brachte mich in ein Heim, dort traf ich auf Maury und Brian. Mit 15 brachen wir gemeinsam aus.“ Damit endete er. Kim war sprachlos. Sie hätte alles erwartet, aber nicht so etwas. „Jetzt hasst du mich doch“, sagte Jon und wandte den Kopf zur Seite. „Nein, ich hasse dich doch nicht Jon, ich bin nur erschüttert. Und du hast noch nie jemandem davon erzählt?“, fragte Kim mit zitternder Stimme. „Nur Maury und Brian“, sagte er ausdruckslos. „Hast du jetzt Angst vor mir?“ „Nein…“, antwortete sie mit einem flauen Gefühl im Magen. „Oh doch, hast du“, stellte er traurig fest. „Wir haben immer Angst vor dem, was wir nicht kennen und nicht verstehen. Und du kannst es nicht verstehen und wirst es niemals verstehen können. Deine Eltern liebten dich gleichermaßen wie deine Geschwister, wenn nicht sogar noch mehr und auch deine Geschwister liebten dich über die Maßen, deswegen hast du nun Angst vor mir.“ „Vielleicht habe ich wirklich ein bisschen Angst vor dir, aber nicht mehr als damals, als du Alice umbrachtest, das ist…“ „Ach, Kim! Ich bringe all jene um, die ich liebe, die mir etwas bedeuten! Am besten wäre es, wenn du ganz schnell wegliefst, wenn du mich nie wieder sehen würdest, denn ich habe Angst, auch dich umzubringen.“ „Aber ich bin nicht schlecht. Auf deine Geschwister schürtest du neidischen Hass, dass deine Mutter starb, war mehr ein Unfall und deinen Vater tötetest du aus Notwehr. Alice hingegen wollte mich umbringen und Maury und Brian waren verdorben“, widersprach ihm Kim. „Wir sind Piraten, wir hätten es auch verdient zu sterben, aber kein Mensch schafft es, uns zum Galgen zu führen, oder gar aufzuhängen!“ „Nun reicht es aber, Jon!“, unterbrach sie ihn. „Dein Selbstmitleid ist ja unerträglich! Jetzt bemitleidest du dich schon selbst, weil du stärker und klüger bist, als die meisten Menschen dieser Erde! Ich will kein Wort mehr von diesem Unfug hören, hast du mich verstanden?“ „Ja“, flüsterte er. „Dann schlaf jetzt“, sagte sie leise, beugte sich zu ihm vor, nahm ihn in den Arm, streichelte ihm durchs Haar und küsste ihn auf die Stirn; dann kletterte sie wieder nach oben und schloss die Augen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, schliefen die anderen noch und der Morgen brach gerade erst an. Während der Regen gegen die Fenster klopfte reckte sie sich, rieb sich den Schlaf aus den Augen und gähnte herzhaft. Anschließend kletterte sie nach unten und schlich leise zur Tür; sie war nicht abgeschlossen. Als sie sie einen Spalt breit öffnete und hinausspähte war dort keine Spur von Lawanda. Kim öffnete die Tür ganz und ging hinaus. Auch als sie sich nun umblickte konnte sie Lawanda nicht finden. Sie ging hinaus, um etwas frische Luft zu schnappen. Der Himmel war grau und trostlos und die Regentropfen waren das einzige Geräusch, das man vernehmen konnte, wenn sie leise auf die Wasseroberfläche trafen. Kim stützte sich auf das Geländer und begann leise zu singen: „Wir fürchten ihn nicht, heijo, heijo Des Galgens Strick, heijo, heijo…“ „Du kannst nicht singen; lass es“, hörte sie Jon sagen. Prompt stoppte sie, drehte sich zu Jon um und fragte: „Wie geht es dir?“ „Wie? Kein ‚Guten Morgen’? Kein ‚Hast du gut geschlafen’?“, lächelte Jon und stellte sich neben sie, mit glasigem Blick über das Wasser schauend. „Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, fragte jetzt Kim. „Na jetzt hat es seinen ganzen Reiz verloren…“ Jon zuckte mit den Achseln. Seufzend entschloss Kim sich nichts darauf zu erwidern. Schließlich aber ergriff Jon das Wort: „Wieso willst du denn wissen, ob es mir gut geht?“ Erstaunt musterte sie ihn und entgegnete: „Nun ja, nach unserem Gespräch gestern Nacht bin ich mir da nicht so sicher.“ Nun hob auch er sein Angesicht, schaute ihr prüfend in die Augen und fragte: „Haben wir uns letzte Nacht wirklich unterhalten? Habe ich das nicht nur geträumt?“ Verwirrt schüttelte Kim den Kopf und antwortete ihm: „Nein, wir haben wirklich miteinander gesprochen.“ Jon wandte sein Gesicht wieder ab und sagte nichts darauf. „Ist es dir unangenehm?“, fragte Kim unsicher. „Ich weiß es nicht genau. Eigentlich nicht, aber ich spreche nicht gerne über dieses Thema.“ „Oh ja, natürlich, das verstehe ich.“ Nun standen sie nebeneinander und sahen schweigend dem Nieselregen zu, wie er gemächlich heruntertropfte. „Nun kommt endlich rein, ihr vermaledeiten Piraten!“, rief plötzlich Lawanda aus dem Inneren des Hauses. Kim und Jon warfen sich noch einen vielsagenden Blick zu und traten dann in die Stube ein. Es war nun wirklich eine Stube, klein, aber gemütlich eingerichtet. In der Ecke, vor einer Eckbank, stand ein rechteckiger Tisch, an dessen anderen beiden Seiten noch Stühle gestellt waren. In der nächsten Ecke stand ein Herd, auf dem eine Pfanne stand, daneben auf einer Küchenzeile stand ein Teller dampfender Pfannekuchen. Überall war Mehl verstreut und auf dem Boden war ein Ei gelandet. Lawanda, auf deren Nase und Stirn auch Mehl waren, herrschte sie an: „Steht nicht nur so faul da, sondern macht euch nützlich und deckt den Tisch!“ „Aber…“, setzte Kim gerade an sie zu fragen, wo sich Geschirr und Besteck befänden, da fauchte Lawanda: „Geschirr ist in den Hängeschränken über den Tresen und Besteck in den Schubladen darunter.“ Jon und Kim wollten sie nicht unnötig reizen und machten sich sogleich ans Werk, während Lawanda die Tür ihres Schlafzimmers aufstieß und brüllte: „Na los, ihr faulen Scharlatane, aufstehen! Ich habe extra Frühstück gemacht!“ Nach einigen Minuten kamen die Männer und Toni, etwas brummig, aus dem Zimmer und begutachteten entgeistert die Stube. Kim und Jon hatten ihre Aufgabe inzwischen erledigt und saßen auf der Bank. Terry verzog das Gesicht und hatte augenscheinlich Mühe, den Bissen im Mund zu behalten und hinunterzuschlucken. Auch die anderen mussten an sich halten, damit sie nicht alles wieder ausspuckten. Die Pfannekuchen, die da dampfend auf dem Tisch standen, schmeckten süßer als Zucker und hatten einen seltsamen Beigeschmack. Angewidert beobachteten sie Lawanda, die summend einen Pfannekuchen nach dem anderen verspeiste. Kim versuchte, den widerlichen Nachgeschmack mit der Milch, die vor ihr stand, hinunterzuspülen, doch auch diese schmeckte nicht; sie war nicht mehr nur leicht säuerlich. Kim hatte das Gefühl, dass wenn sie etwas von der Milch verschüttet hätte, diese ein Loch in den Tisch geätzt hätte. Vorsichtig fragte sie: „Lawanda? Hättest du vielleicht noch etwas anderes zu trinken? Die Milch scheint mir etwas sauer…“ Schockiert starrten die Piraten auf die mit Milch gefüllten Gläser vor sich, die sie bisher nicht angerührt hatten. Sie konnten sich vorstellen, wie sehr Kim untertrieb. Lawanda sah etwas erstaunt auf, griff ungläubig nach ihrem Glas und leerte es in einem Zug. Mit offenen Mündern schauten die Piraten auf Lawanda, die gut gelaunt verkündete: „Ich weiß gar nicht, was du hast, Kim, ich finde die Milch sehr gut.“ „Könnte ich aber trotzdem etwas anderes bekommen? Wasser hast du doch sicher…“ „Ich habe nichts, auch kein Wasser“, unterbrach sie Kim knurrend. Nicht aufgebend fragte Kim: „Wirklich nicht?“ Sie hatte schrecklichen Durst und würde fast alles trinken, wenn Lawanda tatsächlich nichts anderes hatte, sogar die Milch. „Rum“, sagte Lawanda plötzlich. „Ich habe nur noch Rum da.“ „Dann trinke ich den“, entgegnete Kim hastig und nahezu gleichzeitig riefen die restlichen Piraten am Tisch: „Wir wollen auch Rum!“ Seufzend erhob sich Lawanda und sagte: „Den muss ich aber erst aus dem Keller holen. Wartet solange hier und bedient euch.“ Mit diesen Worten verschwand sie hinter der Tür, hinter der noch heute Nacht ihr Schlafquartier gewesen war. „Warum hat die olle Hexe keinen Hund, dem wir den Fraß verfüttern können?“, fragte Philipe genervt. „Das wäre auch keine gute Idee. Bei dem Essen würde der doch elendig verrecken!“, lachte Terry. „Aber was machen wir jetzt mit dem Zeug?“, fragte Laffite und sah von einem ratlosen Gesicht ins nächste. „Vielleicht können wie ihr auch einfach nur sagen, dass wir satt sind“, schlug Kim vor. Entgeistert starrten die Männer sie an, dann blaffte Philipe sie an: „Sag mal, wie naiv bist du eigentlich? Die Frau ist psychisch total am Ende und wenn wir sagen, wir seien satt, obwohl sie uns extra diese verdammten Dinger gemacht hat; sie wird explodieren, oder zumindest uns in die Luft jagen…“ „Wen werde ich in die Luft jagen?“, fragte Lawanda, die gerade wieder in die Stube gekommen war, einige Flaschen Rum in der Hand. „Wir hatten nur Bedenken, wie du reagieren würdest, wenn wir dir sagten, dass wir keinen Hunger mehr hätten“, lächelte Kim freundlich. Philipe zuckte bei diesen Worten zusammen und beobachtete die Frau ängstlich. Diese entgegnete höflich: „Ich würde sehr verletzt sein und mich in meiner Hausfrauenehre gekränkt fühlen und sehr wütend werden.“ „Na ein Glück, dass wir noch hungrig sind!“, lachte Philipe affektiert und stopfte sich ein Stück seines Pfannekuchens in den Mund. Kim jedoch grinste nur süffisant und sah belustigt zu, wie er sich abmühte, ein zufriedenes Gesicht zu machen. „Ich bin satt“, sagte Kim. „Nun, dann musst du natürlich nicht weiter essen“, lächelte Lawanda. Die Piraten tauschten einen vielsagenden Blick untereinander aus, schoben ihre Teller von sich und sagten nahezu gleichzeitig: „Wir sind auch satt.“ Lawanda hob die Augenbrauen und meinte: „Aber ich dachte, du hättest noch Hunger, Philipe?“ Sie stellte die Rumflaschen auf den Tisch und verzog scheinbar keine Miene, nur Kim bemerkte, wie ihre Mundwinkel immer wieder nach oben zuckten. Der Angesprochene hingegen geriet ins Stottern und suchte nach einer Ausrede, sich zu drücken. Lawanda ging nicht weiter darauf ein, sondern setzte sich wieder und sagte: „Ihr wart wenigstens höflicher als Alice und ihre Rüpel, die haben das Essen gleich wieder ausgespuckt.“ Kim, die den Nachgeschmack mit einem ordentlichen Schluck Rum heruntergespült hatte, reichte die Flasche an Laffite weiter, der diese dankbar entgegennahm, und grinste: „Wir haben eben noch Anstand.“ „Oder einfach nur genug Angst“, erwiderte Lawanda mit Blick auf Philipe und aß dann ihren Pfannekuchen weiter. Der Rest des Essens verlief leise; Lawanda aß noch einen Pfannekuchen und die Piraten nippten schweigend an den Rumflaschen. „Ihr spült ab!“, beschloss Lawanda offensichtlich bester Laune. Als die Piraten jedoch das Murren begannen, blaffte sie sie an: „Ich habe die ganze Nacht für euch durchgeschuftet und heute Morgen dann auch noch für euch verlumptes Pack das Frühstück gerichtet, dann kann ich doch wohl erwarten, dass ihr Müßiggänger den Abwasch erledigen könnt!“ Mit diesen Worten erhob sie sich und ging die Treppe hinauf. „Na los, Toni, du bist doch ’ne Frau und die können ja bekanntlich am besten putzen, also wäschst du ab“, kommandierte Terry. Toni aber rührte keinen Finger und knurrte: „Halt bloß dein vorlautes Maul, Terry, sonst stopf ich es dir mit meiner Faust! Außerdem ist sie ja wohl auch eine Frau.“ Sie zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Kim, diese jedoch zuckte nur mit den Achseln und meinte: „Ich werde das nicht machen, schließlich habt ihr es mir zu verdanken, dass ihr die Pfannekuchen nicht essen musstet.“ „Dann spült Philipe und Terry und Laffite trocknen ab“, bestimmte Jon. „Und warum nicht du?“, fragte Laffite, der sich etwas auf den Schlips getreten fühlte. Jon aber grinste nur: „Ich bin der Kapitän, mit solch niederen Diensten gebe ich mich nicht ab.“ Kim, Jon und Toni gingen derweil schon mal die Treppe hinauf zu Lawanda. Sie saß da und starrte aus dem Fenster. Der Regen klopfte leise dagegen und Lawanda schien die Drei gar nicht zu bemerken, bis Kim sie ansprach: „Ehm, Lawanda? Wir wollte…“ Sie unterbrach sich, als Lawanda den Zeigefinger an die Lippen legte und sah fragend zu Jon. Dieser zuckte nur mit den Achseln und beobachtete die Frau. Sie saß da und schien mit sich selbst völlig im Einklang zu sein. Ein verklärtes Lächeln zierte ihr Gesicht und ihr Blick strahlte Ruhe aus. So quirlig und lebendig die Piraten sie bis jetzt kennen gelernt hatten, so schien ihren Charakter in diesem Moment genau das Gegenteil auszumachen. Lawanda seufzte, wandte sich vom Fenster ab und den Piraten zu. Dann fragte sie: „Ihr wollt die Waffen, nicht wahr?“ Kim nickte langsam; der melancholische Unterton in Lawandas Stimme war ihr keinesfalls entgangen und verwirrte sie etwas. Schwerfällig erhob sich die Frau und ging an eine Truhe in der Ecke des Zimmers. Sie öffnete diese und holte die Waffen heraus. Als sie sie auf den Tisch ausbreitete, staunten die Drei nicht schlecht. Die Metalle waren schwarz, nicht mehr silbern und schimmerten blass in bunten Farben, wenn Licht auf sie traf, so wie Benzin. Ehrfürchtig flüsterte Jon: „Was hat du mit ihnen gemacht?“ „Sie geweiht“, antwortete sie ihm schlicht. Kim trat nach vorne und wollte eines der Entermesser berühren, da rief Lawanda: „Sei vorsichtig! Sie sind extrem scharf.“ Erschrocken zog Kim die Hand zurück und sah Lawanda fragend an. Diese nickte nur, so griff sich Kim ihr Entermesser und begutachtete es, sehr darauf bedacht die Schneide keinesfalls zu berühren. Es war ein merkwürdiges Gefühl das Messer in der Hand zu halten, schwer zu beschreiben. Von ihm ging eine eigenartige Macht aus, es war ihr fast, als spürte sie einen Puls, der das Entermesser durchströmte. Schnell legte sie es wieder zu den anderen und starrte immer noch wie gebannt darauf, bis Toni sie fragte: „Was ist los? Ist es nicht gut?“ Kim fühlte sich wie aus einer Trance gerissen. Langsam drehte sie sich um und schüttelte den Kopf. Dan sagte sie zu Lawanda: „Es macht mir Angst; es scheint einen eigenen Geist zu haben…“ Lawanda aber schmunzelte lediglich und nickte. In dem Moment kamen Terry, Laffite und Philipe heraufgepoltert, sich lautstark streitend. Doch kaum standen sie in dem Raum, sahen sie sich ehrfürchtig, fast schon ängstlich, um. Vorsichtig fragte Terry: „Was ist hier los?“ Eine unangenehme Stille breite sich über dem Raum aus und erdrückende Kälte machte sich breit; Kim fröstelte. Schließlich trat Lawanda vor, nahm ihr Entermesser, betrachtete es einen Moment lang und sagte: „Es hat nun einen eigenen Geist. Es kann töten, muss aber nicht. Es kann alles und jeden töten, wenn es ihm passt. Eure Waffe bleibt es nach wie vor und größtenteils beugt es sich eurem Willen, aber nicht immer. Und mit so einer Waffe zu kämpfen ist sehr anstrengend für eure Psyche. Ihr müsst euch stets darüber im Klaren sein, was ihr tut, euer Handeln muss ständig von euren Gedanken kontrolliert sein, sonst kontrolliert es euch.“ Kim schauderte und nahm die Waffe entgegen, die Lawanda ihr reichte. Und in dem Moment, in dem sie es berührte, durchströmte es sie heiß. „Ich halte sie immer noch für Irre“, brummte Philipe, der wieder zum Rudern verordnet worden war. Jon, der auch heilfroh war, von der Frau wegzukommen erwiderte jedoch: „Sei still und rudere weiter.“ Kim sah sich unruhig um, sie hatte Angst, dass die Sirenen wiederkämen, aber ihre Überfahrt verlief reibungslos. Das nächste Kapitel ist das letzte =) Kapitel 9: Gin Hill Manor ------------------------- Heyhey =) So, das ist das letzte Kapitel. Ich möchte mich bei dir bedanken, Kidd, dass du dir die ganze Geschichte durchgelesen hast, obwohl sie so lang und am Anfang wirklich grottig war. Mein Respekt gehört dir. Und nun viel Spaß beim Lesen! „Gib mir auch ’ne Zigarette!“, forderte Laffite Philipe auf, der sich gerade eine drehte. Sie machten auf einer Lichtung der Insel Rum Cay Rast. Den halben Tag waren sie schon durch die dschungelartige Vegetation getrottet und waren doch nicht wirklich vorangekommen; zu verwildert war ihr Weg. „Was ist los mit euch?“, fragte Kim abwertend und musterte die Erschöpften geringschätzig. „Lass uns wenigstens zehn Minuten verschnaufen, Kim!“, forderte Jon und setzte sich, an einen Baum gelehnt, auf den Boden. „Na ihr seid mir Luschen!“, wetterte Kim. „Nicht mal einen Tag marschieren könnt ihr! Reißt euch gefälligst zusammen!“ „Männer“, rief da Jon. „Wir machen nicht nur zehn Minuten, sondern gleich eine ganze Stunde Rast!“ Entrüstet warf Kim ihm einen garstigen Blick zu, erwiderte aber nichts, setzte sich etwas abseits der Gruppe ins Gras und beobachtete wie sie ausgelassen scherzten und lachten. Es war ihr, als säßen sie schon stundenlang auf dieser Lichtung, als sie aufsprang und fragte: „Wann gehen wir endlich weiter, Jon?“ Vollkommen gelassen holte der seine Taschenuhr hervor, warf einen kurzen Blick darauf und entgegnete dann ungerührt: „In einer dreiviertel Stunde, Kim.“ „Ich kann aber nicht mehr warten, Jon!“, brauste Kim auf. Nun mischte sich Toni ins Gespräch ein: „Denkst du, das interessiert uns in irgendeiner Weise? Wir sind Piraten und die kämpfen nun mal; Dauerlaufen ist nicht unsere Stärke. Sei froh, dass wir dich überhaupt begleiten, eigentlich ist das ja das reinste Himmelfahrtskommando!“ „Aber…“, setzte Kim an, doch Terry unterbrach sie barsch: „Nun gib endlich Ruhe!“ Beleidigt ließ sie sich neben Jon nieder und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wollte diese Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Auch sie war außer Atem und ihre Beine schmerzten wie die der anderen, aber in diesem Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine kalte Dusche; sie wollte nicht mehr in den verschwitzten Kleidern auf dem feuchtem Gras sitzen und je schneller die Sache erledigt war, umso schneller konnten sie wieder zurück. Eine Mücke stach sie in den Nacken und sie klatsche mit der Hand auf die Stelle, in der Hoffnung das Mistvieh noch zu zerquetschen, aber es war schon auf und davon. Missmutig kratzte sie sich an der juckenden Stelle und musterte finster die erschöpften Gestalten auf der Lichtung. Plötzlich legte Jon ihr die Hand auf die Schulter und fragte besorgt dreinschauend: „Bist du in Ordnung, Lilay? Du siehst so blass aus.“ „Unsinn, mich hat nur eine Mücke gestochen“, gab sie kalt zurück. „Eine Mücke? Willst du dich nicht lieber ein wenig hinlegen? Du weißt schon, wegen der Malaria…“, fragte Jon fürsorglich weiter, aber Kim zischte: „Drehst du jetzt völlig durch? Was hast du eigentlich gerade für ein Problem?“ Anstatt ihr eine Antwort zu geben, wandte er das Gesicht von ihr ab, beobachtete die anderen und schwieg. Das ließ Kim stutzig werden. Was war nur mit ihm los? Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass er versuchte die Aktion unnötig auszudehnen, aber warum? Hier vor den anderen würde er es ihr keinesfalls verraten, so packte sie ihn am Arm, zog ihn hoch und hinter sich in den Wald, bis sie außer Hörweite waren. Verwundert fragte Jon: „Was soll das denn jetzt? Wieso schleifst du mich mit dir in den Wald?“ „Warum versuchst du die Sache in die Länge zu ziehen?“, erkundigte sich Kim ungerührt. Noch verdutzter starrte Jon sie an und entgegnete dann: „Ich versuche doch nichts in die Länge zu ziehen, ich…“ „Du kannst mir nichts vormachen, Jon, und versuch bloß nicht, es zu leugnen. Ich will einfach nur wissen, warum du das machst.“ Verlegen fuhr er sich mit der Hand durch die Haare und ließ sie dann im Nacken. Er suchte offensichtlich nach den richtigen Worten und Kim musterte ihn fragend. Nachdem er dreimal stotternd begonnen hatte zu sprechen, fragte sie ihn nachdrücklich: „Was ist denn jetzt?“ „Ich habe ein bisschen Angst…“, sagte er leise und sah zu Boden. Kims Mund fiel auf und sie fragte ungläubig, während sie den Kopf schüttelte: „Du hast Angst? Vor den Untoten? Das ist doch wohl ein schlechter Scherz, oder?“ Noch immer nicht aufsehend entgegnete er: „Nein, nicht vor den Untoten…“ „Vor was dann? Vor einer Begegnung mit Alice?“ Sie hob ungläubig die Augenbrauen, doch er schüttelte den Kopf und sagte: „Das ist nicht das Problem. Aber denk doch mal nach, wenn wir das Buch haben, was bindet dich dann noch an uns?“ Und ganz leise, sodass sie es kaum noch verstehen konnte, fügte er hinzu: „An mich?“ Eine betretene Stille entstand. Sie wusste, was er meinte. Einst war sie nur bei ihnen geblieben, um nach diesem Buch zu suchen und hatte vor, dann gleich wieder zu gehen und das hatte Jon die ganzen Jahre lang gewusst und er glaubte, es sei auch heute noch so. Sie seufzte. Sie hatte sich noch gar nicht überlegt, was sie machen wollte, wenn sie dieses Buch hatte. Wollte sie dann wirklich weggehen? Wohin sollte sie denn gehen? Zu ihren Eltern konnte und wollte sie nicht mehr zurück, und ihren Mann hatte Alice ermordet. Außer den Piraten hatte sie niemanden, der ihr freundlich gesinnt war. Sie lächelte und sagte freundlich: „Schau mich an, Jon.“ Langsam sah er auf und sie konnte nun die Angst, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, sehen. Sie schluckte schwer, fasste sich aber gleich wieder und sprach weiter: „Ich kann euch Haufen kleiner Jungs in Männerkörpern doch nicht alleine lassen, ohne mich wärt ihr absolut aufgeschmissen. Mit wem könnte Laffite sonst französisch reden, mit wem sollte Terry seinen Schabernack treiben, Toni wäre die einzige Frau an Bord, Philipe hätte keinen Gegenpol und du…“ Sie hielt inne, holte tief Luft und fuhr dann fort: „Wie sollte ich ohne dich…“ In diesem Moment hörten sie lautes Geschimpfe zweier Männerstimmen, ganz eindeutig die Laffites und Philipes. Erneut unterbrach sich Kim und sah in die Richtung aus der sie die Stimmen vernahmen. Im nächsten Augenblick standen vor ihnen Philipe und Laffite. Ersterer schimpfte: „Zur Hölle, Captain, du musst wieder kommen und was unternehmen! Terry und Toni treiben es schon fast auf der Lichtung, das ist kaum auszuhalten!“ Und Laffite bekräftigte seine Aussage: „Oui, absolut widerlich ist das!“ Kim und Jon warfen sich einen fragenden Blick zu und gingen dann Laffite und Philipe nach, die sie zurück zur Lichtung führten, auf der Toni und Terry saßen, Toni mehr auf Terry, und sich stürmisch küssten. Kims Augen weiteten sich. Sie hatte bisher geglaubt, dass Terry, seit er wusste, dass Toni eine Frau war, einen großen Bogen um sie machte, aber anscheinend hatte sie sich geirrt. Jon, der nicht minder erstaunt schien, fragte an Philipe gewandt: „Seit wann läuft das so?“ „Die haben gerade erst angefangen, das aber heftig!“, antwortete dieser und spuckte aus. Jon jedoch schüttelte nur den Kopf, räusperte sich vernehmlich und fragte dann: „Könnt ihr das vielleicht auf später verschieben? Wenn wir wieder auf dem Schiff sind; und ihr eine Kajüte habt?“ Verwundert lösten sich die Beiden voneinander und sahen ihre vier Zuschauer erstaunt an. Terrys Miene verfinsterte sich allerdings und er knurrte: „Na und? Du und Kim, was habt ihr denn gerade bitte gemacht?“ Jon hob drohend eine Augenbraue und fragte beunruhigend ruhig: „Willst du dich etwa meinen Befehlen entziehen, Terry?“ Dieser hob jedoch abwehrend die Hände und entgegnete: „In Dreiteufelsnamen! Nein, Jon! Das würde ich nicht wagen!“ Toni war die Sache offensichtlich peinlicher als Terry, denn sie war puterrot angelaufen, stand von Terry auf, klopfte sich die Kleider ab und vermied jeglichen Blickkontakt zu Jon oder den anderen. Damit war ihr Ruf hinüber, nun war sie nichts weiter als eine Frau. Sie hatte Gefühle zugelassen und Kim sah ihr an, dass sie diese nun nicht mehr unterdrücken konnte. Vollkommen entsetzt sah Toni auf ihre zitternden Hände. Nun stand auch Terry auf, nahm ihre Hände und fragte besorgt: „Was ist denn mit dir?“ Sie schüttelte jedoch nur den Kopf und wandte sich von ihm ab, dann fragte sie leise: „Können wir weiter, Captain?“ Dieser nickte nur und herrschte die Männer an, ihre Sachen zu holen, Terry und Philipe hatten ihre Hemden ausgezogen und in das Gras gelegt, und dann weiterzugehen. Er selbst hielt Kim am Handgelenk fest, blieb einen Moment stehen und setzte sich erst in Bewegung, als sie flüstern konnten, ohne dass die anderen sie hörten. „Was wolltest du mir vorhin noch sagen?“, fragte Jon so leise, dass sie ihn kaum verstand. Sie jedoch ging nicht auf seine Frage ein, sondern deutete auf Toni und Terry, die nur einige Meter vor ihnen, hinter Laffite und Philipe, gingen und meinte: „Sind sie nicht ein hübsches Paar?“ Terry schien leise auf Toni einzureden und ergriff vorsichtig ihre Hand. Sie wehrte sich nicht gegen diese Annäherung, sondern trat ein wenig dichter zu Terry. Jon seufzte. Was er sich so sehr wünschte, würde er wohl niemals von ihr zu hören bekommen. Warum schien es bei anderen immer so leicht, nur bei ihm nicht? Am liebsten wäre er stehen geblieben, doch als Kapitän konnte er sich einen solch trotzigen Luxus nicht leisten. Der Wald lichtete sich langsam und bald standen nur noch vereinzelt Bäume da. Die sechs trauten sich kaum mehr ein Wort zu sagen und liefen schweigsam, mit gebeugten Rücken von Baum zu Baum. Die Erde stieg langsam an, bis sie einen steilen Hang empor klettern mussten. Als sie diesen erklommen hatten, konnten sie die einstmals stolze, weiße Villa sehen, die nun überwuchert von Unkraut und verwittert dastand. Sie hielten inne. Kim stockte der Atem. Sie war wirklich hier, es war nicht wieder nur eine Vision, eine Illusion. Ihre Kleider waren wirklich verschwitzt, ihre Stirn war wirklich nass und sie biss sich auf die Lippen, aus Angst ein erschöpftes Seufzen ertönen zu lassen. Sie sah zu Jon, der neben ihr stand und genauso ehrfürchtig wie die anderen Piraten auf dieses Bauwerk starrte, wie es immer noch heroisch zwischen all dem Bewuchs hervorstach. „Was jetzt?“, fragte Laffite leise an Jon gewandt und hob fragend die Brauen. Jon schien für einen Moment nachzudenken, dann sagte er: „Wir teilen uns auf: Kim kommt mit mir, Toni mit Laffite und Philipe mit Terry.“ „Warum darf ich denn nicht mit Antonia eine Gruppe bilden?“, fragte Terry entrüstet. Antonia. Kim schüttelte den Kopf. Er hatte sie nun wohl vollkommen als Frau entdeckt. Jon rollte genervt mit den Augen und entgegnete leise: „Weil ich sonst fürchten muss, dass ihr beiden etwas ganz anderes treibt…“ „Frechheit, mir das zu unterstellen, Captain! Dass du mir nach all den Jahren der Treue und des Gehorsams noch nicht vertraust!“ „Ist ja gut, ist ja gut. Dann geht ihr eben zusammen und Laffite und Philipe bilden die letzte Zweiergruppe“, stöhnte Jon und fuhr dann fort zu erklären: „Wir werden uns im Kreis um das Haus postieren und zur vollen Stunde rücken wir langsam und vorsichtig vor. Im Haus treffen wir dann wieder aufeinander.“ Die anderen nickten schweigend. Terry und Toni gingen rechts rum, Philipe und Laffite links und Kim und Jon blieben an Ort und Stelle. Sie knieten im Gras, noch hinter den letzten Bäumen und beobachteten das Anwesen. Sie hörte, wie sich Jon neben ihr bewegte und etwas näher zu ihr rutschte. Er fragte ganz leise: „Du hast vorhin nicht fertig gesprochen, was wolltest du mir noch sagen?“ „Nichts von Belang“, versuchte sie sich herauszureden und noch bevor er etwas erwidern konnte, fügte sie hastig hinzu: „Wie viel Uhr ist es eigentlich?“ Seufzend zog er seine Uhr hervor, sah darauf und meinte: „Viertel vor.“ Nun schwieg er und sah nicht mehr zu ihr. Sie fühlte sich mehr als unwohl in ihrer Haut. Sie wusste nicht genau, was sie vorhin zu ihm hatte sagen wollen und sie wusste auch nicht, ob sie es wirklich hatte sagen wollen. Es war zum Verzweifeln, sie hatte keine Ahnung was sie wollte. Sie sah zu Jon. War es wirklich gut, wenn sie blieb? Er starrte verbissen auf die Mauern des Gebäudes, als könnte er hindurchschauen. Warum tat er das für sie? Er zog erneut seine Uhr und stierte einige Sekunden darauf, bis er den Blick wieder auf das Haus wandte, die Uhr jedoch in der Hand behielt. Sie traute sich nicht ihn zu fragen, wie lange sie noch ausharren mussten. Das Warten war immer am schlimmsten. Man konnte nichts machen, absolut nichts. Schließlich erhob sich Jon, jedoch mit gebeugtem Rücken, und nickte Kim langsam mit ernstem Gesicht zu. Es war wohl Zeit. Auch sie erhob sich, zog ihr Entermesser und schlich ihm nach. Die Spannung war unerträglich. Was würde sie in der Villa wohl erwarten? Die Untoten und Alice? Der Geist Sibyls? Kims Herzschlag verdoppelte sich. Sie beeilte sich, um neben Jon zu kommen. Sie wusste nicht warum, aber plötzlich hatte sie eine Heidenangst. Was sie da taten war so leichtsinnig, so unendlich stumpfsinnig. Warum taten sie es? Ängstlich blickte sie sich um, auf der Suche nach etwas unnatürlichem, das etwas Böses verriet. Aber da war nichts. Es war absolut still. Aber das beruhigte sie keinesfalls, im Gegenteil. Ganz unbewusst ergriff sie Jons Hand und drückte sie unwillkürlich. Sie spürte seinen verwunderten Blick auf sich haften, starrte aber stur geradeaus. Er ließ ihre Hand nicht los, sondern führte sie daran in Richtung des Hauses. Sie waren auf der Seite der Terrasse und traten durch die Türe, die hinaus in den Garten führte, hinein. Kim erschauderte. Sie standen nun im Salon. Über dem Raum hing Tabakduft und ein süßliches Frauenparfum schimmerte hindurch. Der Ort hatte etwas Prächtiges, Erhabenes an sich. Das Holz der Möbel war dunkel, aber Kim erkannte auf den ersten Blick, wie wertvoll es war. Die Sessel und das Sofa waren einst mit prunkvollem, rotem Stoff überzogen gewesen, der nun verblasst war und das Parkett, das nun fast schwarz war, hatte früher einmal in einem goldenen Braun gestrahlt. Einst hatte Kim den Salon ihres Gatten als groß empfunden, doch dieser hier übertraf ihre kühnsten Vorstellungen. Anerkennend pfiff Jon durch die Zähne und flüsterte: „Also eines muss man der Hexe lassen: Stil hatte sie.“ „Komm, lass uns nach den anderen schauen“, schlug Kim vor und Jon nickte, noch immer beeindruckt den Raum musternd. Sie traten durch die große Flügeltür, deren eine Hälfte aus den Angeln war, und kamen in die Eingangshalle. Obwohl sie so leise gingen, wie es ihnen möglich war, hallten ihre Schritte. Der Boden war mit weißem, noch immer glänzendem Marmor befliest und es führte eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock. „Weißt du, wo das Buch ist?“, fragte Jon flüsternd. Sich kaum trauend zu atmen antwortete Kim: „Ja, sie hat es mir gezeigt.“ In diesem Moment wurde eine Tür zu ihrer Linken aufgestoßen. Sie wirbelten herum und erkannten Philipe, der die Tür aufgetreten hatte, und hinter ihm Laffite, der genervt seufzte. Zornig zischte Jon: „Bist du noch bei Trost? Sei gefälligst leise, Philipe!“ Der zuckte allerdings nur mit den Schultern, sah sich geringschätzig um und spuckte aus. „Na hier möchte ich auch wohnen“, meinte er und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Allein der Marmor hier muss schweineteuer gewesen sein.“ In dem Moment öffnete sich eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite. Aus dieser traten nun Terry und Toni, Terry sie hinter sich an der Hand führend, was ihr aber offensichtlich nicht sehr recht war, denn ihr Gesichtsausdruck war verbissen. Bei diesem Anblick musste Kim grinsen. Sie hatte sich schon gedacht, dass er den Beschützer raushängen lassen würde. „Dann sind wir also vollzählig“, stellte Jon fest und sah zur Treppe. „Hier unten ist augenscheinlich niemand. Dann müssen wir jetzt oben nachsehen.“ Er ging auf die Treppe zu. Die Stufen waren abgetreten und nicht mehr regelmäßig hoch. Als Kim ihre Hand am Treppengeländer hinaufgleiten ließ, stutzte sie. Jetzt wusste sie, was sie auch schon zuvor gestört hatte: Es lag kein Staub. Vorsichtig tippte sie Jon auf die Schulter und als er sich zu ihr herunter beugte, fragte sie leise: „Fällt dir denn nichts auf?“ Er sah sich verwirrt um und schüttelte dann den Kopf. Sie blieben stehen. Auch die anderen sahen sich fragend um, bis Kim sagte: „Nirgendwo liegt Staub.“ Jon schien zu verstehen, doch die restlichen Piraten musterten sie verständnislos und Toni fragte: „Na und? Wozu sollte denn hier Staub liegen? Was interessiert’s uns?“ Jon jedoch fuhr sie an: „Idiot! Normalerweise müsste zentnerweise Staub hier liegen, schließlich sollte schon seit einigen hundert Jahren keiner mehr hier gewesen sein.“ „Wieso ‚sollte’?“, fragte Terry. „Seid ihr denn wirklich so schwer von Begriff?“, stöhnte Jon. „Hier war jemand und der hat sauber gemacht!“ „Und wer?“, fragte nun Philipe. Jon stützte die Stirn in die Hände und sagte schließlich: „Alice.“ „Aber wer ist denn diese Alice?“, wollte Toni wissen. Sie hatten sich wieder in Bewegung gesetzt und waren jetzt im ersten Stockwerk. Es war dunkel und Jon meinte, die Frage geflissentlich überhörend: „Kim, geh du voran, du weißt doch, wo es lang geht?“ Sie nickte und ging los. Trotz der absoluten Finsternis wusste sie genau, wo sie hin musste; schon so oft war sie diesen Flur in ihren Träumen entlang gegangen, doch plötzlich hörte sie, wie sich hinter ihr jemand ein Streichholz anzündete. Sie drehte sich ruckartig um und sah, dass es Philipe gewesen war. Das schwache Licht leuchtete warm auf sein Gesicht und erleuchtete blass seine Umgebung. Er sah sich um und als er auf einem kleinen Tisch, der an der Seite des Flures stand, einen Kerzenleuchter erblickte, ging er zu diesem und zündete die Kerzen darin an. Als er bemerkte, wie ihn alle atemlos anstarrten, hob er Hände und Schultern und fragte verständnislos: „Was denn? Hier war es ja dunkel, dass man die Hand vor Augen nicht gesehen hat.“ Kim seufzte und meinte: „Lass ihn stehen, wir sind gleich am Büro, schon die nächste Türe.“ „Woher weißt du das eigentlich?“, fragte Toni skeptisch und bissig gab Kim zurück: „Das geht dich nichts an!“ Verwirrt und auch leicht beleidigt fragte wieder Toni: „Was ist denn in dich gefahren?“ Aber Kim achtete nicht darauf, sondern war schon weitergegangen. Toni schüttelte nur den Kopf und schloss zu Terry auf, der direkt hinter Jon und Kim ging. Vor einer Tür blieb Kim abrupt stehen und sah ehrfürchtig auf diese. Jon legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter. Nun waren sie also da. Hinter dieser Holztüre war das, wonach sie fast fünf Jahre gesucht hatten. Wollte sie es wirklich haben? Jon und die anderen würde sie keinesfalls verlassen das stand jetzt für sie fest, doch Laffite riss sie aus ihren Gedanken: „Und jetzt?“ „Jetzt bleiben wir hier stehen, bis sie sich endlich dazu entschlossen hat hineinzugehen; also los, Leute, packt die Picknickkörbe und den Rum aus, das kann noch ’ne Weile dauern!“, lachte Philipe daraufhin gehässig. „Halt die Klappe!“, blaffte Laffite ihn an, „Ich habe schließlich nicht dich gefragt.“ „Wir gehen rein“, antwortete Kim mit fester Stimme, ohne auf Philipes Kommentar einzugehen, drückte die goldene Türklinke herunter und öffnete die knarzende Tür. In diesem Moment überflutete sie eine Woge gleißenden Lichtes und hüllte sie vollkommen ein, es war nach der Dunkelheit so hell, dass sie für ein paar Sekunden geblendet waren. Aber als sich ihre Augen an das helle Licht gewöhnt hatten, sahen sie einen kleinen Raum, dessen Seitenwände mit Bücherregalen aus dunklem Holz zugestellt waren. An der Wand zur Tür hin hing das Bild einer Frau und einigen Jungen, offenbar ihrer Söhne und die Wand gegenüber dieser war eine einzige Fensterfront. Hier lag noch Staub. Und als die Tür geöffnet wurde, wirbelte er auf und die einzelnen Staubpartikel brachen sich im Licht. Jon war der erste, der sich wieder traute zu sprechen und er befahl leise, flüsterte fast: „Toni, Terry, Philipe, Laffite, ihr wartet unten und haltet die Augen offen.“ Ohne ein Murren drehten sich die Angesprochenen um und gingen in Richtung Treppe. Kim und Jon waren inzwischen eingetreten. Letzterer hatte die Türe hinter ihnen geschlossen und blieb nun vor ebendieser stehen. Kim wusste, wo das Buch war. Sie hätte einfach nur hingehen und es mitnehmen müssen, doch sie ging erst zu den Bücherregalen, um zu sehen, was dort für welche standen. Aber sie las die Titel nicht. Es interessierte sie gar nicht; sie wollte lediglich Zeit schinden, aber schließlich meldete sich Jon zu Wort: „Weißt du denn nicht, wo es ist?“ Sie fühlte sich wie auf frischer Tat ertappt. Schuldbewusst warf sie noch einmal einen Blick zu Jon und ging dann zu dem Schreibtisch, der vor der Fensterfront stand. Kim wusste genau, in welcher Schublade es war und doch zögerte sie erneut, bevor sie die Hand an den Griff legte, um sie aufzuziehen. Doch sie zog sie gleich wieder weg. Sie zitterte und eine Gänsehaut überkam sie. Anmerken lassen wollte sie sich jedoch nichts. So fasste sie erneut den Griff fester und wollte ihn aufziehen, aber die Schublade ließ sich nicht öffnen. Verwirrt blickte Kim zu Jon auf und versuchte es noch einmal mit mehr Kraftaufwand. Als sie sich dennoch nicht öffnen ließ, kniete Kim sich vor ihr hin und erst jetzt bemerkte sie das kleine silberne Schlüsselloch. Noch verwirrter erhob sie sich wieder und sagte: „Es ist verschlossen.“ Ungläubig hob Jon die Brauen, kam zu ihr hinter den Schreibtisch, sah sich das Schloss an der Schublade an, rüttelte an ihr, warf einen vielsagenden Blick zu Kim, die diesen nur Achselzuckend erwiderte. „Hast du eine Ahnung, wo der Schlüssel sein könnte?“, fragte Jon und Kim schüttelte den Kopf. „Meint ihr etwa diesen Schlüssel?“ Kim und Jon schraken auf. Sie sahen zum Eingang. Im Türrahmen stand Alice angelehnt und hielt einen kleinen, silbernen, blanken Schlüssel in die Höhe, während sie hämisch grinste. Neben sich konnte Kim Jon keuchen hören: „Alice?“ Diese tat einen Schritt auf die Beiden zu und zischte erbittert: „Ja, die bin ich, Jon.“ „Du hast dich kein bisschen verändert“, flüsterte Jon. Alice lachte hart auf. Nichts, gar nichts Fröhliches war in ihrem Lachen zu hören und sie erwiderte: „Oh, welch Wunder, ich bin ja schließlich auch tot!“ Jon war zusammengezuckt, als sie das Wort ‚tot’ so geschrieen hatte. Alice Brust hob und senkte sich schnell. Ihr Blick haftete an Kim, klebte an deren Gesicht. „So, eine Frau bist du also über die Jahre geworden?“, höhnte sie. „Und schön noch obendrein! Warst verheiratet mit einem reichen Mann, obgleich dir so viele Männer zu Füßen liegen. Aber was wolltest du schon mit einem armen Schlucker, der sich als Pirat versucht, wenn du auch den Besitzer riesiger Tabakplantagen haben kannst?“ „Ich weiß, dass du ihn umbrachtest“, knurrte Kim, den starren Blick Alice erwidernd. Diese grinste süffisant und sagte: „Oh, und ich weiß, dass du es sahst. Denk nicht, ich sei so unwissend. Ich pflege auch Kontakte zu einer gewissen Dame namens Lawanda.“ Monoton entgegnete Kim: „Dann weißt du es also von ihr?“ Alice nickte stumm, fuhr aber sogleich fort zu reden, noch einen Schritt auf Jon und Kim zutuend: „Du weißt, dass ich mit dir auf Leben und Tod kämpfen werde?“ Plötzlich hörten sie von unten Stimmengewirr. Die Namen Jons und Kims wurden gerufen, dann vernahmen sie wilde Kampfgeräusche. „Dann haben meine Männer also inzwischen angegriffen?“ Kim schluckte schwer. Nun würde sie also gegen Alice kämpfen müssen. Sie hatte unglaubliche Angst. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so vor einem Kampf gefürchtet. Dennoch zog sie, wenngleich auch mit nassen Fingern, ihr Entermesser, dessen Klinge bunt im Licht schillerte. Alice grinste ihr selbstgefällig zu und zog ebenfalls das Messer. Aber Jon stellte sich, ebenfalls mit gezücktem Schwert, vor Kim und knurrte: „Lass sie da raus, das ist eine Sache zwischen dir und mir, sie hat nichts damit zu tun.“ „Oh nein!“, brüllte Alice aufgebracht, „Schon so lange ist es keine Sache mehr zwischen uns beiden, Jon, eigentlich war es noch nie eine! Und hör endlich auf sie zu beschützen, sie ist kein Kind mehr! Schau sie dir doch an! Sie hat weder den Körper, noch den Blick eines Kindes und nun tritt beiseite!“ „Bitte, Jon“, flüsterte Kim, die sich unter seinem Blick gar nicht wohl fühlte, angespannt. Noch einmal warf er einen Blick auf Alice, dann spuckte er verächtlich aus, presste die Kiefer aufeinander und trat zur Seite. „Ich habe eine Bedingung!“, sagte Kim laut und trat vor den Schreibtisch, „Ich will, dass du den Schlüssel hier auf den Schreibtisch legst.“ „Wieso sollte ich das tun?“, fragte Alice verblüfft. „Nun“, erwiderte Kim. „Dir liegt nichts an dem Buch, mir schon. Tust du es nicht, lasse ich mich einfach von dir abstechen.“ Jon wollte gerade etwas einwerfen, da spottete Alice: „Denkst du tatsächlich, dass es mich stört, wenn du einfach so in mein Messer rennst?“ „Ja“, sagte Kim schlicht und sah ihrer Gegenüber fest in die Augen. Verwundert fragte Alice: „Und wie kommst du darauf?“ Nun war Kim diejenige, die grinste: „Du willst Rache. Du willst sehen, wie ich blute. Mich einfach nur umzubringen genügte dir nie im Leben, also musst du tun, was ich sage.“ Auch auf Alice Lippen stahl sich wieder ein Grinsen und sie meinte anerkennend: „Intelligent bist du also auch noch geworden. Nun denn, dann werde ich den Schlüssel auf den Schreibtisch legen.“ Kim nickte und Alice legte den Schlüssel auf die Arbeitsfläche. „Und du!“, fuhr sie Jon an, „Du wagst es nicht, ihn anzurühren!“ Dieser zuckte unwillkürlich zusammen und nickte kaum merklich. „Nun denn“, grinste Alice, „Ein gerechter Kampf wird es wohl kaum werden, ich hoffe nur, dass ich viel Freude daran haben werde.“ Sie lachte auf, hob ihr Schwert und schritt auf Kim zu, die ebenfalls ihre Waffe erhoben hatte. Alice blonde Haare glänzten unnatürlich hell in dem Licht und Kim parierte ihre starken Hiebe. Dann platzierte sie einen Schlag. Ein Pulsschlag ließ Kim innehalten. Alice sah sie verwundert an und ging wieder in den Angriff über. Kämpfe!, rief eine Stimme ihr zu, Töte sie! Doch sie fragte sich, warum sie Alice umbringen sollte. Sie ist es nicht wert zu leben, außerdem sollte sie schon längst tot sein. Du kannst sie also nicht mehr töten. Du tust nichts Unrechtes! Es stimmte, Alice tat als Untote nur Schlechtes. Brächte Kim sie um, wäre die Welt von ihr bereinigt. Nun griff Kim wieder an. Sie war wie berauscht. Ein Schlag folgte dem anderen; sie war wie in einer Trance. So ist es gut! Na los, geh weiter! Die Stimme befahl ihr und sie gehorchte. Es war ein gutes Gefühl, als wäre sie nicht für ihre Taten verantwortlich, als kämpfte sie selbst nicht, sondern jemand anderes. Männerstimmen kamen näher und dann sah Kim einige Untote, die Toni und Terry bekämpften, die offenbar hier hoch gekommen waren. Jon wartete nicht lange, sondern eilte ihnen zu Hilfe. Nun strömten auch einige Untote in das Büro. Kim störte sich nicht daran. Während sie mit Alice kämpfte stach sie einen nieder. Dann noch einen. Und noch einen. So ist es gut! Weiter so! Tränke mich! Tränken? Wen sollte sie tränken? Sie stutzte, wollte innehalten, doch kämpfte ihr Körper weiter. Immer weiter und weiter, als könne er nicht mehr aufhören. Töte sie! Töte sie! Die Stimme wurde lauter, schrie sie an und sie konnte sich nicht wehren. So sehr sie es auch wollte, sie konnte nicht aufhören. Alice Gesicht war verschwitzt und ihr Gesichtsausdruck Angstverzerrt. „Was ist los mit dir?“, rief Alice plötzlich. „Du kämpfst nicht mehr menschlich! Du bist kein Mensch mehr! Hör auf!“ In ihrer Stimme konnte Kim die nackte Panik hören, doch so sehr sie es auch wollte, sie konnte es nicht. Bring sie um! Nähre mich mit ihrem Blut! Ein Schmerz durchströmte Kims linken Arm. Alice hatte ihr flach atmend das Entermesser hindurch gerammt und zog es nun wieder hinaus. Sie hat dich verletzt! Dafür muss sie büßen! Dafür wird sie büßen! Kim wollte aufschreien und in die Knie gehen, aufgeben, doch kämpfte ihr Körper weiter, er stand nicht mehr unter ihrer Kontrolle. Wie wild setzte sie einen Hieb nach dem anderen und schlug nach der atemlosen Alice. Sie wirbelte das rabenschwarze Entermesser umher, ohne auf ihre Umgebung zu achten. Nun schillerte es nicht mehr bunt, sondern nur noch schwarz und hin und wieder blitzte es im Licht rot auf; Kim hatte Alice verwundet. Es schmeckt gut; es ist köstlich! Gib mir mehr! Plötzlich spürte sie, wie sie jemand festhielt. Sie war heilfroh und unglaublich dankbar, dass dieser jemand sie zurückhielt. Ihr Körper wehrte sich dennoch dagegen. Er hält dich fest! Er hindert dich! Er muss auch sterben! Sie müssen alle sterben! Damit wandte sie ihre Hüfte zur Seite und rammte dem hinter ihr stehenden Mann das Schwert in den Bauch. Dann drehte sie sich um, um zu sehen, wen sie durchbohrt hatte. Ein gellender Schrei erfüllte die Zimmer und Gänge des Gin Hill Manors. Die Hände verkrampft auf den Bauch gepresst, aus dem Unmengen Blut quollen, lag da gekrümmt Terry auf dem Boden, das Gesicht schmerzverzerrt, der Blick angsterfüllt. Kim hatte geschrieen und für einen Moment war alles still geworden. Er ist egal! Er wollte dich aufhalten! Er stirbt! Er ist schwach! „Nein!“, brüllte sie. „Verschwinde aus meinem Kopf, du kannst mich nicht kontrollieren!“ Ich kann es doch. „Nein!“, brüllte sie noch einmal und Tränen rannen über ihre erhitzten und geröteten Wangen. Ihre Finger hielten sich verkrampft am Griff des dunklen Entermessers fest. Sie umklammerten es geradezu. Sie wollte es wegwerfen, doch schaffte sie es nicht. Du kannst es nicht. Du bist zu schwach. Ohne mich kannst du es nicht. „Ich kann es wohl!“, schrie sie und schaffte es schließlich das Entermesser loszulassen. Es fiel scheppernd zu Boden und blieb liegen. Terry stöhnte auf und Kim fiel vor ihm auf die Knie. „Terry, es tut mir so Leid!“, schluchzte sie. Doch da kam Toni angestürzt, stieß Kim unsanft zur Seite, dass diese zu Boden fiel und kümmerte sich selbst um Terry. Kim blieb auf dem schmerzenden Arm liegen, machte keine Anstalten aufzustehen. Toni beugte sich über Terry und küsste ihn sanft. Sie zitterte und auch sie weinte. Immer wieder flüsterte sie: „Du darfst nicht sterben! Bitte!“ Sie hatte seine Hand ergriffen und hielt sie fest gedrückt an ihre Brust, nicht auf das Blut achtend. Doch Terry sah sie verständnislos an und fragte: „Wo ist Kim?“ „Kim?“, schluchzte Toni verzweifelt auf. „Du willst mit Kim deine letzten Worte wechseln?“ „Wo ist Kim?“, wiederholte er seine Frage und achtete nicht darauf, dass Toni in lautes Schluchzen ausbrach. „Warum bist du so grausam? Dabei hast du mir deine Küsse geschenkt! Mir, nicht ihr!“ „Wo ist sie?“ Toni stand auf, ließ seine Hand los und legte sich eine Hand auf die Brust, die andere über den Mund. Vorsichtig stand Kim auf und ging zu Terry, vor dem sie erneut in die Knie ging. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lächelte er sie an und brachte zwischen zusammengepressten Zähnen hervor: „Du warst mir immer die liebste Freundin! Ich meinte es nie böse mit dir, schließlich liebte ich dich immer, wie man nur seine besten Freunde lieben kann.“ „Nein! Geh nicht, Terry!“, flehte sie. „Du kannst mich nicht alleine lassen! Ich kann nicht damit leben, wenn ich weiß, dass ich dich umgebracht habe! Ich kann es nicht! Bitte geh nicht! Terry!“ Noch einmal lächelte er sie nachsichtig an und sagte dann an die anderen gewandt: „Captain, es war mir stets eine Ehre unter deinem Roger zu segeln. Laffite, friss nicht zu viele Frösche, sonst wirst du noch grün, Philipe, lass Kim in Ruhe und Toni...“ Er holte unter Schmerzen Luft und sein Atem rasselte. „Toni. Dass es nicht länger dauern konnte... Es tut mir Leid.“ Mit diesen Worte setzte er sich auf, zog seine Pistole, entsicherte sie und schoss sich durch den Kopf, woraufhin sein Oberkörper leblos zu Boden fiel. Toni schluchzte Markerschütternd auf. Sie stürzte auf Terry zu, packte seinen Leichnam beim Kragen, schüttelte ihn und brüllte: „Du Bestie! Wieso tust du mir das an? Wie kannst du das nur tun? Warum lässt du Unmensch mich allein zurück? Ich verstehe es nicht und du bist nicht einmal mehr da um es mir zu erklären! Du verdammter Ignorant!“ Sein Kopf baumelte leblos an seinem Hals, als sei er eine kaputte Puppe. Kim legte ihr beruhigend die Hand auf den Oberarm und zog sie sanft von ihm. Dann verfiel Toni ins leise Schluchzen und barg ihr Gesicht an Kims Brust, die ihr tröstend über den Rücken streichelte. „Wieso hast du ihn umgebracht?“, fragte Alice fassungslos. Kim sah auf. Alice stand da, das Entermesser schlaff in ihrer Hand, und sah sie mit weit geöffneten Augen an. Kim zuckte mit den Schultern, nicht fähig zu sprechen, geschweige denn einen Grund zu nennen. Toni schluchzte erneut laut auf und ließ sich neben Terrys Leichnam nieder, über den sie leise weinend gebeugt sitzen blieb. „Hätte Jon oder irgendjemand sonst hinter dir gestanden, hättest du auch ihn umgebracht?“, fragte Alice weiter. Kim sah zu Jon. Auch dieser starrte sie gebannt an und erwartete ihre Antwort. Sie musste schwer schlucken. Die Wahrheit war, dass sie jeden, der hinter ihr gestanden hätte, erdolcht hätte. Jon wandte den Blick von ihr ab; er wusste, welche ihre Antwort war. „Nimm dein Schwert wieder auf und kämpfe gefälligst mit mir!“, rief Alice. Sie sollte wieder mit dem Entermesser kämpfen? Mit der Waffe die die Kontrolle über ihren Körper erlangt hatte und durch die sie Terry getötet hatte? „Ich kann nicht!“, rief sie verzweifelt, doch Alice blaffte sie an: „Warum? Deinen Freund konntest du töten, gegen mich willst du aber nicht mehr kämpfen?“ „Ich kann nicht“, wiederholte Kim leise; es war eher ein Wimmern. „Nun nimm endlich dein Entermesser und tritt gegen mich an! Ich nahm tausende Qualen auf mich, nur um dir den Gar auszumachen, das lasse ich mir nicht einfach nehmen, nur weil du behauptest, du könntest nicht mehr! Mein Tod war noch die geringste Pein! Du hast ja keine Ahnung von Schmerzen und Leiden! Deine Freunde nahmen alles auf sich nur um dich zu beschützen. Du denkst, du wüsstest, was es heißt Schmerz zu fühlen, aber du weißt nicht im Geringsten was Leid ist! Nun trage einmal selbst die Verantwortung für dich und kämpfe gegen mich!“ Alice hatte sie angeschrieen, es ihr befohlen. Kim rührte sich nicht, blieb unbeweglich auf einem Fleck stehen und ließ Alice Worte auf sich ruhen, bis diese ihre Waffe fester umschloss und auf Kim zu rannte. Im ersten Moment war Kim überrumpelt, doch sie ließ sich fallen, um Alice Hieb zu entkommen. Auf dem Boden robbte sie zu der Stelle an der ihr Entermesser rot aufblitzte und ergriff es. Sie würde sich nicht noch einmal kontrollieren lassen, nicht noch einmal würde ihr das passieren! Sie stand auf und sah, wie Alice sie angrinste. „Hast du dein Schwert nun endlich unter Kontrolle?“, fragte sie höhnisch. Kim spuckte ihr vor die Füße und fauchte: „Halt dein vorlautes Maul! Ich dachte, du wolltest kämpfen?“ Alice beantwortete ihre Frage mit einem Hieb ihres Entermessers. „Ho, ho!“, spottete Alice, „Nicht schlecht, nicht schlecht. Aber an der Wortwahl muss noch gefeilt werden, du klingst so vulgär.“ „Spräche ich gehoben, verstündest du es nicht!“, gab Kim bissig zurück und die Klingen schlugen geräuschvoll aneinander. Einen Augeblick verharrten sie atemlos in dieser Position und starrten sich hitzig in die Augen. Kim hatte das Gefühl, sie hatte das Entermesser nun vollkommen unter Kontrolle, doch kaum hatte sie das gedacht, sprang Alice einen Schritt zurück, tat jedoch gleich wieder zwei auf Kim zu und hielt die Spitze ihres Entermesser unter Kims Kinn. „Steh nicht nur gedankenverloren da rum, sondern konzentrier dich, sonst macht es mir keinen Spaß!“, grinste Alice siegesgewiss. Kim schluckte schwer. Sie wusste, dass Alice nur mit ihr spielte. Diese ließ das Entermesser ein Stück weit sinken und durchtrennte die Naht des Knopfes, den sie als obersten zugeknöpft hatte. Kims Atem ging flach und ihre Brust hob und senkte sich stark. „Hast du etwa Angst, kleine Kim?“, flüsterte Alice verächtlich, doch Kim erwiderte mit kräftiger Stimme: „Wieso sollte ich vor dir Angst haben? Du bist nichts weiter als eine Leiche, die nicht sterben kann; verdammt, in der Ewigkeit ihr Dasein zu fristen.“ Wütend aufgrund dieser Worte bohrte Alice Kim die Spitze ihres Schwertes in ihr Fleisch, sodass Kim aufstöhnte, ihr Entermesser wieder erhob und den Kampf aufnahm. Sie drängte Alice zurück, bis diese im Flur an die gegenüberliegende Wand stieß. Erst huschte der Blick der Blonden nervös über ihre Umgebung, dann schlug sie zurück. Schreie drangen an ihre Ohren, doch sie nahm sie nicht wahr, sie war nicht in der Lage dazu. Von ihrer Umgebung nahm sie nahezu nichts wahr, sie hatte keine Ahnung, ob die anderen noch kämpften, aber sie wusste, dass Jon sie im Auge behielt, sie beobachtete. „Du bist zu langsam!“, grinste sie Alice außer Atem an. „Fängst wohl doch schon an zu modern, alte Moorleiche!“ „Sei still und nenn mich nicht Moorleiche! Von meiner Schönheit habe ich nichts eingebüßt!“, keifte Alice. Kims Glieder waren steif und taten weh. Ihre Arme konnte sie kaum noch oben halten, was bei dem einen auch daran liegen konnte, dass er stark blutete, an der Stelle, wo Alice ihn durchbohrt hatte, und ihre Füße wollten sie kaum mehr tragen. Wenn sie schnaufend nach Luft gierte, brannte ihre Lunge und sie hatte den Geschmack eisernen Blutes im Rachen. Ihre Haare fielen ihr immer wieder hinderlich ins Gesicht und blieben dort am Schweiß kleben. Auch Alice Körper war verschwitzt und auch sie bewegte sich nicht mehr so graziös wie zu Beginn des Kampfes. Es war zu einer Sache der Ausdauer verkommen. Wer länger durchhielt würde gewinnen. Immer wieder triezte Kim Alice mit Beleidigungen, in der Hoffnung Alice würde mehr Energie auf die Entkräftung dieser verbrauchen, als Kim für das Erdenken derselben benötigte: Anfangs klappte es, doch schon bald durchschaute Alice ihr Spiel und ging auf keine Kims Beleidigungen mehr ein. Nun würde sie sich etwas Neues überlegen müssen. Sie stöhnte auf und musste gleich darauf schrecklich husten. Alice hatte sie am Bauch verwundet und im ersten Moment durchzuckte sie ein ziehender, grausamer Schmerz, doch sie hatte keine Zeit an diesen zu denken, sondern musste sich gegen Alice nächsten Schlag wehren. Hitze durchströmte sie und die Schweißperlen rannen ihr Gesicht entlang, als säße sie seit Stunden in einer Sauna. Aber warum wurde ihr schlagartig so heiß? Ihre Schatten tanzten über Boden und Wände wie Marionetten und als es Kim schaffte Alice am Bein zu verletzen, gewährte sie sich einen Blick auf ihre Umgebung. Sie standen im Flur, doch war dieser nicht dunkel wie zuvor, sondern hell erleuchtet und die Luft flimmerte. Doch da hatte sich Alice wieder gefasst, ging wieder auf Kim los und fragte geringschätzig: „Was schaust du dich so abwesend um? Ich bin dein Gegner, oder suchst du etwa nach einer Fluchtmöglichkeit?“ „Sei doch ruhig!“, rief Kim, „Ich wundere mich nur, warum es so heiß ist und auch so hell!“ Sie musste husten und ihre Augen tränten. Nun hielt auch Alice inne und schnupperte. Ihre Augen weiteten sich und sie keuchte: „Es richt so, als brenne hier etwas.“ Und wie zur Bestätigung hörte sie jemanden panisch „Feuer!“ schreien. Nun sah Kim, wie die Flammen auf sie zu rollten wie eine Wand. Sie hörte das unheilvolle Knistern und sah wieder zu Alice. Diese grinste sie an: „Du lässt dich von den paar Flammen doch nicht in Panik versetzen, oder etwa doch?“ Zur Antwort spuckte Kim den lodernden Flammen entgegen und nahm den Kampf gegen Alice wieder auf. Doch in dieser immer größer werdenden Hitze fiel es ihr auch zunehmend schwerer sich zu bewegen und ihre nun zahlreichen Wunden brannten fürchterlich. Sie biss jedoch die Zähne zusammen und versuchte sich weiterhin nur auf ihr Duell zu konzentrieren. „Kim!“ Jon riss sie aus ihrer Aufmerksamkeit, als er ihren Namen rief und es gelang Alice erneut sie zu verwunden. „Kim!“, rief er noch einmal ihren Namen und im nächsten Moment hörte sie ihn stark husten. Ihr selbst rasselte der Atem und der Rauch nahm ihr nahezu vollständig die Sicht. Plötzlich spürte sie eine Hand nach ihr greifen und Jon sagte, ganz nahe an ihrem Ohr: „Wir müssen hier raus! Alles steht in Flammen!“ „Ich kann nicht!“, rief sie zurück und wurde gleich darauf von ihrem Husten geschüttelt. Alice aber mischte sich gehässig ein: „Geh nur, Kim! Du könntest umkommen, Kimilein!“ „Halt die Schnauze, Alice!“, blaffte Jon sie an und Alice hielt inne. „Was hast du gerade zu mir gesagt?“, zischte sie, doch Jon ging nicht auf sie ein, sondern lief in Richtung Treppe und zog Kim hinter sich her. Als sie unten waren, wurde die Luft besser und auch die Hitze ließ nach. Sie hörten wie Alice ihnen nachrannte und laufend Flüche ausstieß, doch achteten sie nicht darauf, sondern stießen die große Eingangstür auf und stolperten ins Freie. Kim gierte nach dieser klaren Luft, doch als sie ihre Lungen damit füllte, zwang sie ein erneuter Hustenanfall in die Knie. Jon jedoch zog sie unbarmherzig auf die Beine und zerrte sie vom Haus weg. Sie keuchte schwer. „Warte doch einen Moment!“ „Dazu haben wir keine Zeit!“, rief Jon ihr zu. Er wollte sie in Sicherheit bringen, wenigstens zu den anderen Piraten, die bei den ersten Bäumen standen und ehrfürchtig auf das brennende Haus starrten. „Bleib stehen! Wir waren noch nicht fertig!“, hörte sie Alice rufen. Ruckartig riss sie sich von Jon los und drehte sich um, zu der ihr hinterherhinkenden und ebenfalls schwer hustenden Alice. „Komm nur!“, rief sie ihr entgegen und erhob ihr Entermesser wieder. In diesem Moment konnte sie an nichts anderes denken, als den Kampf gegen Alice, doch Jon hatte umgedreht und war mit einer solchen Geschwindigkeit auf sie zu gerannt gekommen, dass er nicht mehr rechtzeitig hatte abbremsen können und sie so mit voller Wucht umwarf. Sie überschlugen sich einige Male, bis sie, er über ihr gebeugt, liegen blieben. Er drückte ihre Hände auf den Boden und brüllte sie an: „Kim! Komm endlich zu Vernunft! Den Kampf kannst du nicht gewinnen! Sie ist viel erfahrener als du! Ist viel ausdauernder! Hör auf sie noch weiterhin zu provozieren!“ Kim wehrte sich vehement gegen den schweren Körper, der da auf ihr lag und sie zu Boden drückte, sie am Aufstehen und weiterkämpfen hinderte, aber schaffte sie es nicht ihn von sich zu stoßen. „Sieh es dir an!“, donnerte er, „Sieh dir das brennende Haus an!“ Eine seiner Hände löste sich und er zeigte auf die brennende Villa. „Du bist nicht mehr bei dir! Du hättest da drinnen weitergekämpft, hätte ich dich nicht rausgeholt!“ Sie folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger und ihre Augen weiteten sich. Das Gebäude stand in Flammen, es brannte lichterloh. Wie hatte das nur geschehen können? Der Kerzenständer! Irgendjemand musste im Gefecht den Kerzenständer umgestoßen und dadurch das Haus in Brand gesteckt haben. „Terry!“, keuchte sie auf einmal. Jon sah ihr fragend in die Augen und schüttelte verwirrt den Kopf. Was meinte sie damit? „Terry ist noch da drinnen!“, schrie sie plötzlich auf, doch Jon versuchte auf sie einzureden: „Terry ist tot, wir würden seinen Leichnam ins Meer werfen. Wo ist der Unterschied?“ Aber Kim begann wieder sich zu wehren und rief: „Er ist Seemann, nicht Feuerwehrmann! Er würde nicht verbrennen wollen! Ich muss ihn da raus holen! Geh runter von mir, Jon!“ Noch einmal brachte sie all ihre Kraft auf und schaffte es, den perplexen Jon von sich zu stoßen. Sie rappelte sich auf und lief den Flammen entgegen in das brennende Haus. Als sie an Alice vorbei rannte, drehte die sich verwundert um und als sie die Flammen sah, die aus dem Haus züngelten, schrie sie auf: „Nein! Das Buch! Das Buch darf nicht verbrennen!“ Sie schlitterte einige Meter auf dem Rasen, als sie abbremste, musste sich mit einer Hand abstützen und eilte dann abermals Kim hinterher. Eine brütende Hitzewelle schlug Kim entgegen, als sie das Haus betrat. Schützend hielt sie die Arme vor das Gesicht und die Augen zu Schlitzen verengt, versuchte sie sich zu orientieren. Vor ihr lag die Treppe. Sie lief diese gebeugt hinauf und als sie oben war, zog sie sich als erstes das Halstuch über Mund und Nase. Ihre Augen brannten und unentwegt liefen Tränen aus ihnen. Die Flammen brummten und der monotone Klang dessen wurde nur vom Knacksen und bedrohlichen Bersten des Holzes durchbrochen. Sie kam sich vor wie in der Hölle. Alles um sie herum war glühend heiß. Sogar der Steinfußboden unter ihren Füßen verbrannte ihre Fußsohlen durch ihre Schuhe hindurch. „Bleib gefälligst stehen!“, hörte sie plötzlich Alice hinter ihr kreischen. Und im nächsten Moment packte sie Kim an der Schulter und riss sie zu sich. Alice’ Haar haftete verschwitzt und rußbedeckt an ihrem Hals und ihre Haut glänzte schweißnass. Auch ihre Kleider klebten an ihrem Körper. Ihre Augen starrten Kim glasig an und im nächsten Moment zog sie ihr Entermesser. Kim tat es ihr gleich. Sie ging immer weiter zurück, in der Hoffnung bald an das Zimmer zu gelangen, in dem Terrys lebloser Körper lag. Alice folgte ihr und begann anzugreifen. Kim bemerkte, wie zögerlich die Attacken waren und beschleunigte ihre Schritte. Der dicke Rauch hing schwarz unter der Decke, doch langsam senkte er sich. Die Flammen um sie herum versengten ihr Haut und Haare. Am liebsten wäre sie einfach davongerannt. Hinaus aus diesem Höllenfeuer und in das kühle, paradiesische Nass des Ozeans; aber sie konnte nicht ohne Terry gehen. Endlich war sie an dem Zimmer angelangt. Bedacht lenkte sie ihre Schritte ins Innere des Raumes. Ihr Blick schweifte auf die Bücherregale. Alle standen sie in Flammen. Hier drinnen war es noch heißer und der Rauch noch beißender. Mit ihrer freien Hand wischte sie sich so gut es ging den Schweiß aus dem Gesicht. Sie keuchte ebenso schwer wie Alice. Ihr wurde plötzlich unglaublich schwindelig. Sie schwankte. Fiel zu Boden. Für einen kurzen Moment hörte sie, wie Alice hart auflachte, da meinte sie erkennen zu können, dass auch diese schwankte und dann stürzte. Im nächsten Moment spürte sie, wie Alice auf sie fiel. Die Entermesser hatten beide nicht mehr in der Hand. „So sollen wir also sterben?“, fragte Alice, anscheinend nicht mehr fähig sich zu rühren, „Im selben Raum? Unter denselben Bedingungen? Welche Ironie.“ Aber Kim mobilisierte ihre letzten Kräfte. Sie wandte sich solange hin und her, bis Alice von ihr herunterrollte, dann krabbelte sie auf allen Vieren, um dem schwarzen Rauch möglichst gut zu entkommen, zu Terry. Sie ergriff seine Hand und rief Alice zu: „Vielleicht wirst du hier sterben, ich ganz gewiss nicht!“ Sie versuchte Terry hinter sich herzuschleifen, aber er war zu schwer. Verzweifelt kniete sie sich hinter ihn und versuchte ihn zu schieben, doch ihre Kraft reichte bei weitem nicht mehr aus. So ergriff sie wieder seine Hand, schloss seine Augen, die noch immer geöffnet waren, und flüsterte: „Es tut mir so leid, Terry, aber wenigstens sterbe ich hier bei dir, dann bist du nicht alleine.“ Alice lachte erbittert auf: „So stirbst du also doch bei mir, kleine Kim. Ja, diesen Tod wünsche ich dir, nichts könnte dich mehr quälen!“ In dem Augenblick übertönte die Flammen noch eine andere Stimme. Es war die eines Mannes. Es war die Jons. Er rief ihren Namen. Sie konnte nicht mehr antworten. Nur noch husten. Noch immer hielt sie Terrys Hand, als er in den Raum gestolpert kam. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er zu Alice, dann kam er auf Kim zu. „Nicht ohne Terry“, murmelte sie halb bewusstlos. Verständnislos brüllte er, um die Flammen zu übertönen: „Ich kann euch nicht beide tragen!“ „Jon!“, schrie plötzlich Alice schrill auf. „Jon, rette mich! Bitte! Du liebst mich doch noch! Ich liebe dich noch!“ Jon sah kurz zu ihr, wandte sich dann aber wieder, nichts erwidernd, Kim zu. Diese entgegnete: „Trag ihn, ich gehe!“ „Kim, ich…!“, setzte er an, doch sie unterbrach ihn: „Ohne ihn gehe ich nicht!“ Sie erkannte, wie er mit sich selbst rang, immer wieder nach Luft schnappend. Dann nickte er und sagte: „Ist gut.“ Er lud sich erst Terry auf die Schultern und half dann Kim so gut es ging auf. Sie konnte kaum aufrecht stehen, da verfiel er ins Joggen und zog sie an der Hand hinter sich her. Hinter sich hörten sie die schrillen Schreie Alice’, die sich immer noch nicht rühren konnte und verzweifelt nach Jon rief. Kim wandte noch einmal den Blick zu ihr um. Es war ein erbärmlicher Anblick. Nichts erinnerte mehr an ihre einstige Schönheit. Ihre Haare waren nun verschwitzt, angesengt und sie leuchteten kein bisschen mehr. Ihre Haut war rußbedeckt und ebenso mit Schweiß bedeckt, auch ihre Kleider waren zerfetzt. So lag sie da am Boden, in den Augen pures Entsetzen und Todesangst. Schnell wandte Kim den Blick wieder von ihr ab. Sie ertrug dieses Bild einfach nicht, aber der Anblick hatte sich ihr ins Hirn gebrannt. Sie stolperte und stürzte. Jon, zu schwach zum fluchen, beugte sich zu ihr hinunter, um ihr aufzuhelfen und gerade als er ihre Hand erfasste, da brach eine Frage aus ihr heraus, die sie nicht loslassen wollte: „Jon, du liebst Alice nicht mehr?“ Er zog sie unter großem Kraftaufwand auf die Beine, legte sich ihren Arm zusätzlich um die Schulter und schnaufte und hustete unter der Last. Als er wieder begann zu laufen, weil knapp hinter ihnen der erste Balken zusammenkrachte, schüttelte er den Kopf. „Liebst du denn mich noch?“, fragte sie dann. „Nicht jetzt!“, brachte er unter zusammengebissenen Zähnen hervor und lief die Treppe hinunter, sehr darauf bedacht unter der Last, die er zu tragen hatte, nicht zu straucheln. Endlich hatten sie es geschafft. Die Tür lag direkt vor ihnen und kühle Luft strömte ihnen entgegen. Es war Nacht geworden, als sie aus der Eingangstür gestolpert kamen. Sofort kamen Philipe und Laffite auf Jon zu. Toni blieb bei den Bäumen stehen. Laffite nahm ihm Kim ab und Philipe Terry. Als sie außer Reichweite des Brandherdes waren, ließ sich Jon erschöpft auf das kühle, feuchte Gras fallen. Er saß da mit gebeugtem Rücken und gesenktem Kopf. Schwer schnaufend. Kim machte sich von Laffite los und humpelte zu Jon. Kurz bevor sie bei ihm ankam, ließen ihre Beine sie allerdings im Stich und sie robbte auf dem Bauch zu ihm. Die Untoten waren verschwunden. Mit dem Buch waren auch sie verbrannt und als sie aus der Tür gekommen waren, hatten sie noch einen letzten, markerschütternden Schrei von Alice vernommen, dann war es still geworden. Als sie seine Schnallenschuhe berührte, deren Schnallen nun rußbedeckt waren und ebenso schwarz wie das Leder, hob er das Angesicht. Er erfasste ihre Hände und zog sie näher an sich heran. Er umarmte sie fest und flüsterte: „Nun ist es vorbei.“ Eine Träne rann ihre Wange herunter. „Ja“, erwiderte sie und ließ sich erschöpft in diese Umarmung fallen. Und als sie so dasaßen und sich ihre Wangen berührten, da musste sie schluchzend auflachen und meinte: „Ich bin jetzt wohl so hässlich wie nie.“ Er hielt sie von sich, beäugte sie genau, lachte dann auch und nickte. „Aber ich liebe dich trotzdem“, sagte er leise. „Wenn das deine Frage von eben beantwortet.“ Er wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. Aber sie hielt seine Hände fest, sah ihm prüfend in die Augen, berührte dann zart seine Lippen mit den Ihren und flüsterte: „Ich dich auch.“ Seine Augen leuchteten auf. Er drückte sie an sich; konnte sein Glück nicht fassen. „Und du lügst mich auch nicht an?“, fragte er unsicher und musterte sie. Aber Kim schüttelte nur den Kopf und murmelte: „Zu schwach.“ Dann stützte sie sich mit den Händen auf seine Oberschenkel, beugte sich erneut zu ihm vor und küsste ihn. Und er erwiderte ihren Kuss. „Habt ihr’s dann bald?“, rief schließlich Philipe genervt. Er und die beiden anderen befanden sich unter den ersten Bäumen, während Kim und Jon mitten auf der Wiese lagen. Seufzend sah Kim zu ihnen. Toni hatte sich an einen Baum gelehnt niedergelassen und ließ ihren stummen Tränen freien Lauf, Laffite hockte neben ihr und streichelte ihr schweigend über Haupt und Rücken, ihr Trost zu spenden; einzig Philipe stand zwei Meter von ihnen entfernt und verlagerte das Gewicht ständig vom Einen auf das andere Bein. „Befehle gebe immer noch ich!“, rief Jon da und Kim konnte ihm anhören wie müde er war. „Und nun hilf mir auf, du hast immerhin noch die wenigsten Blessuren.“ Es stimmte. Kim hatte wohl die meisten Verletzungen: Verbrennungen, Schnitt- und Stichwunden. Danach kam Jon, er war ebenfalls über und über Schweiß- und Rußbedeckt und blutete auch aus einigen Wunden, unter anderem hatte er eine Wunde an der rechten Augenbraue, weswegen sein halbes Gesicht blutüberströmt war. Laffite und Toni hatten die üblichen Blessuren vom Kampf und Philipe, der sah aus als hätte er gar nicht gekämpft. Dennoch kam eben der nun murrend zu seinem Kapitän und tat, was der ihn geheißen hatte. „Du trägst Terry. Und Toni, du stützt Kim“, befahl er dann und wollte sich gerade in Bewegung setzen, da trat er mit dem anderen Fuß auf und ein Schrei des Schmerzes entrann seiner Kehle. „Verdammt! Das muss eben beim rausrennen geschehen sein! Zum Teufel!“, fluchte er, setzte aber dennoch seinen Weg fort. Kim, die ja von Toni gestützt wurde, warf nun Laffite einen auffordernden Blick zu und der verstand sie offensichtlich, denn er ging zu seinem Kapitän und legte sich dessen Arm um seine Schulter, um ihn zu stützen. Einige Tage später sprach noch immer niemand von ihnen über die Geschehnisse auf dieser Insel. Kim hatte sich die angesengten Haare abgeschnitten und hatte nun kurze Männerhaare. Um Arm und Bauch und auch einige andere Glieder hatte sie Verbände. Jon war für zwei Tage auf Krücken gegangen, bis es wieder einigermaßen gegangen war, nun humpelte er zwar noch, aber er beteuerte, dass es ihm blendend ginge und die ganzen Blutergüsse und besonders das Veilchen ihn nur noch Furcht einflößender wirken ließen. Kim hatte daraufhin nur gelacht und den Kopf geschüttelt, denn mit diesen Blessuren sah er mehr aus wie ein nichtsnutziger Trunkenbold, der sich geprügelt und verloren hatte. Toni sprach mit kaum jemandem ein Wort, es war zu viel für sie gewesen und Laffite, auch wenn sein bester Freund nun den Fischen Gesellschaft leistete und er sich ein melancholisches Lächeln dann und wann doch nicht verkneifen konnte, hatte sich seine lebhafte Art behalten. Und auch Philipe schien nicht verändert, noch ebenso mürrisch und schleimig wie zuvor. Aber auch er, was Kim eigentlich verwunderte, erzählte niemandem von den Begebenheiten, die sich auf der Insel zugetragen hatten. Die größte offensichtliche Veränderung hatte wohl die Beziehung zwischen Jon und Kim druchgemacht, denn nun schlief sie in seiner Kajüte, in seinem Bett, in seinen Armen und war glücklich, wenn sie in seinen Armen lag, einfach nur glücklich. Sie liebte dieses Leben. Für andere mochte es ein schreckliches Leben sein, immer zwischen töten und getötet werden, immer zwischen Suff und Langeweile, zwischen Flaute und Sturm. Ihr Leben mochte von einer Laune Gottes abhängen, ob er einem Schützen einen guten Schuss erlaubte, ob er die See ein weiteres Mal dem Teufel überließ, aber es war ihr Leben. Anders wollte sie es nicht. Und es wehte frischer Wind in die Segel; die Sonne schien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)