Show me Love von DraySama ================================================================================ Kapitel 1: Die Welt zerbricht ----------------------------- Als Hyde aufwachte, hörte er die Stimme seines Vaters, aber das konnte nicht sein, sein Vater war ja ausgezogen. Vor vier Monaten und zwölf Tagen, das waren genau Einhundertvierunddreissig von den elenden, düsteren Tagen, wo sein Leben nicht mehr das war, welches es einmal gewesen war. Er richtete sich auf, schüttelte die Haare aus dem Gesicht und lauschte. Jetzt redete seine Mutter, wie immer, wenn sie aufgeregt war, klang ihre Stimme schrill und etwas gehetzt. Er konnte sich anstrengen, wie er wollte, mit horchen, er verstand nicht, was seine Mutter sagte. Als sein Vater wieder erklang, erkannte es der junge Mann nur an dem ruhigen und sanften Tonfall, sein Vater hatte immer ruhig und sanft gesprochen, auch in den allerschlimmsten Augenblicken. Vielleicht träume ich noch, dachte er. Natürlich habe ich das geträumt, man konnte auch im Wachsein träumen, das war ja bekannt. Besonderes in der Schule, wenn es langweilig war. Hyde liess sich wieder fallen, legte sich das Kissen auf das Gesicht und schloss die Augen. Er überlegte, welcher Tag heute war. Mittwoch. Mittwochs hatten sie immer erst zur Dritten, seit Sport ausfiel. Dieses Fach war praktisch im ganzen letzen Halbjahr ausgefallen, weil die Sportlehrerin ein Baby bekommen hatte und es offenbar keinen Ersatzlehrer gab. Seine Mutter regte sich schrecklich darüber auf, dass immer mehr Stunden ausfielen. Doch Hyde war ganz zufrieden so, Freistunden waren in jedem Fall besser als langweiliger Unterricht. Und mittwochs konnte man ausschlafen, das war einfach das Beste. Der Schwarzhaarige überlegte, was er heute anziehen sollte, er war froh, dass an seiner Schule keine Uniformpflicht mehr galt und sie anziehen konnten, was sie wollten. Gerade fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Trockner einzuschalten, nun war sein Lieblings-T-Shirt noch nass. Am liebsten hätte er laut geflucht. „Hyde? Bist du schon wach?“ Jemand zog sanft das Kissen von seinem Gesicht, auf einmal war es hinter den Lidern ganz hell. Da dieser jemand die Deckenlampe angeknipst hatte, blinzelte der junge Mann hilflos. Er drückte die Augen noch einmal fest zu, um sie dann wieder zu öffnen. Er sah seinen Vater ganz deutlich vor sich, keine fünf Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Die Haare kurz geschnitten, auf der Nase eine randlose Brille, braune, warme Augen, die lachen konnten, genau wie der Mund. Als sein Vater noch bei ihnen lebte, hatten sie viel gelacht. Seit dem er aber weg war, gab es nicht mehr viel zu lachen. „Vater?“, flüsterte Hyde, er konnte es nicht fassen, er war sich nicht sicher, ob er wachte oder träumte, „ Bist du es wirklich?“ „Ganz sicher.“ Nun konnte er auch das Rasierwasser riechen, es war immer noch dasselbe. Früher hatte das ganze Bad morgens nach diesem Duft gerochen. Es war die Marke, die seine Mutter so liebte. Jeden Geburtstag hatte er einen neuen Flakon bekommen. Französisch und teuer. Hyde hätte schwören können, dass er ein anderes benutzte, seit er mit seiner neuen Frau zusammenlebte. Aber er hatte sich geirrt, ob das ein gutes Zeichen war? Er konnte nicht anderes, er musste seinen Vater einfach umarmen. Er schlang seine Arme um seinen Hals, atmete den vertrauten Duft noch einmal tief ein, ehe er ihn aus der stürmischen Umarmung entliess. „Ich bin es wirklich, mein Junge. Hat dir deine Mutter denn nichts erzählt?“ Hyde zog die Knie an die Brust und schaute seinen Vater an. Erst jetzt sah er, dass er ziemlich feierlich aussah; dunkler Anzug, Weste, weisses Hemd, Krawatte, schwarze Socken und Schuhe. „Müsst ihr auf eine Beerdigung oder so was?“ Sein Vater schüttelte den Kopf, er lächelte, aber nicht richtig, wie Hyde fand. Er sah unsicher und ein bisschen verlegen aus. Sein Herz hämmerte kräftig in seiner Brust. Auf einmal keimte eine klitzekleine Hoffung in ihm auf, ganz klein wie ein Samenkorn, das ein winziges Keimblatt heraus treibt. Sie hatten das einmal in Bio beobachtet und der Lehrer hatte gesagt: Das ist das Prinzip von Hoffnung. Er hatte es damals nicht verstanden, was er meinte, aber später hatte ihm jemand erzählt, dass die Frau des Biolehrers schwer krank war und er immer noch hoffte, man würde ein Medikament gegen ihre Krankheit finden… Was hoffte Hyde? Er wagte es nicht einmal den Gedanken zu Ende zu denken, mit riesengrossen Augen, atemlos, blickte er seinen Vater an. Dieser räusperte sich: „Heute ist doch der Tag…“, sagte er rau und legte seine Hände gegeneinander, mit den Fingerspitzen, wie er immer machte, wenn er besonders verlegen war. „Was für ein Tag?“, fragte der junge Mann, sein Herz schlug sosehr, dass es an den Rippen richtig wehtat. Er hatte oft Herzschmerzen und alle möglichen Schmerzen. Seit vier Monaten und zwölf Tagen, seit sein Vater nicht nach der Geschäftsreise nach Hause gekommen war. Eine kurze Nachricht auf dem Anrufbeantworter war alles gewesen, was er an diesem Tag von seinem Vater gehört hatte. Er hatte miterlebt, wie seine Mutter weinend in das gemeinsame Schlafzimmer gerannt war und ihn einsam und alleine zurückgelassen hatte. Nicht wissend was denn nun geschehen war… Er hatte nicht verstehen können, wie sein Vater einfach von zu Hause wegblieb. Doch als dieser am nächsten Tag seine Sachen abgeholt und ihm von der anderen Frau erzählt hatte, hatte Hyde nur allzu gut verstandnen. Sein Vater hatte seine Mutter eingetauscht… Und er konnte ihm irgendwie nicht böse sein, andererseits war da aber ein lodernder Zorn in ihm. Doch nun sass sein Vater an seinem Bett und lächelte traurig. Die ganze Situation war einfach falsch. Er wagte es dennoch nicht seinem Vater in die Augen zu blicken, aus Angst er könnte darin lesen, dass er nicht nur seine Frau sondern in erster Linie seinen Sohn im Stich liess. Noch einmal fragte der Schwarzhaarige nach, was denn für ein Tag war, sein Vater seufzte tief. Er stand wortlos auf und ging zum Fenster, liess das Rollo hochschnappen, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schaute in den Hof hinunter. Hyde wusste, was er sah, seit der Zeit, in der er sie verlassen hatte, hatte sich auf dem Hof nichts verändert. Nur das es Winter geworden war, aber ein Winter ohne Schnee. Keine Blätter mehr an den Bäumen, keine Blumen mehr auf den Beeten, alles braun, matschig und nass. Hyde hasste den Winder. Seit sein Vater nicht mehr bei ihnen lebte, glaubte Hyde, dass es immer Winter bleiben würde. Grau und kalt. Er hatte seiner Mutter nie seine Gefühle offenbart, mit ihr sprach er ohnehin nur das nötigste, aus Angst etwas Falsches zu sagen. Fast alles war falsch gewesen, was Hyde in den letzten Wochen gesagt hatte. Wenn er lachte, rief seine Mutter empört, wie kannst du nur lachen, wenn wir solchen Kummer haben? Wenn er weinte, sagte seine Mutter streng: Hör auf mit diesem Selbstmitleid, das bringt gar nichts. Wenn er aber stattdessen einfach nichts sagte und beharrlich schwieg, platzte seiner Mutter der Kragen bei dem langen Schweigen und sie schrie Hyde aus heiterem Himmel an: Was bist du? Eine Salzsäule? Eine Schaufensterpuppe? Dann blickte er sie immer mit grossen Augen an und sagte ruhig „Ja“, stand auf und verliess das Zimmer, aber er knallte nicht mit den Türen. Das hatte er noch nie getan, nein, er zog seine Zimmertüre immer behutsam hinter sich zu, machte kein Geräusch. Er wusste, dass seine Mutter das noch schlimmer fand, wenn er die Tür hinter sich zugeschlagen hätte, mit einem lauten Knall, dass das Geschirr in den Schränken zitterte, dann hätte seine Mutter einen Grund gehabt ihn an zu schreien. Doch er lieferte ihr niemals einen Grund. Es war so still in ihrer Wohnung, dass Hyde manchmal dachte, dass es so sein musste, wenn man tot war. Ganz still, nur Gedanken, die im Raum herumfliegen wie unsichtbare Feen oder Geister, manche böse, manche gut. Und jetzt, an einem ganz normalen Mittwoch, war sein Vater auf einmal zurückgekehrt, in seinem schönen Anzug, mit geputzten Schuhen und der Krawatte, die Hyde ihm geschenkt hatte. Sie zeigte die Wüste mit Kamelen. Hyde liebte die Kamele, weil sie weiche Füsse hatten und Hunderte von Kilometern durch die Sahara gehen konnten, ohne Wasser zu sich zunehmen. Er liebte sie, weil sie traurige Augen mit langen Wimpern hatten und vor allem, weil sie in der Wüste lebten. Hyde wollte später auch mal in der Wüste sein zu Hause finden. Weg von allem hier, der Grossstadt, in der er kaum atmen konnte. In der er sich erdrückt und noch kleiner vorkam, als er selbst schon war. Er wollte die weitläufigen Dünen und den Sand sehen, der sich Kilometerweit erstreckte... Er wollte die Ruhe geniessen, die zweifellos in der Wüste herrschte. „Vater?“ Hyde setzte seine blossen Füsse auf den Boden, er spielte mit seinen Zehen, damit sie wieder warm wurden. „Ja?“ Er drehte sich nicht um, blickte immer noch aus dem Fenster. „Warum sagst du mir nicht endlich, was für ein Tag heute ist?!“ Er stand auf und stellte sich hinter seinen Vater, schob seine Hand in die seine, so als wäre er noch ein kleiner Junge. Doch irgendwie brauchte er diesen Halt nun, egal wie kindisch es war. Nun blickten beide aus dem grosszügigen Fenster in den Hof. Sein Vater atmete tief aus. „Hyde, mein Sohn…“, dann schwieg er wieder und der Schwarzhaarige erkannte, wie schwer es ihm fiel, über das zu sprechen. Der kleine Japaner konnte es spüren, weil er ihn so sehr liebte, weil er ihn so gut kannte. Er konnte spüren, wenn ihn etwas quälte. So wie damals, als diese neue Frau aufgetaucht war, in die sich sein Vater verliebt hatte. Wie ein Blitz hat es eingeschlagen, hatte er damals zu Hyde gesagt. Damals hatte Hyde zu seinem Vater gesagt, dass Gewitter vorbei ziehen, sein Vater hatte damals gesagt, dass es gut möglich war, dass es vorbei ginge. Und der junge Mann hatte gebetet, dass dieses Gewitter schnell vorbei zog, doch nun dauerte es schon über vier Monate. Doch vielleicht hatte sich sein geliebter Dad entscheiden und würde heute zu ihnen zurückkehren. „Vater.“ „Ja?“ „Sag endlich etwas!“ Sein Vater drehte sich ganz langsam zu ihm um, wie in den Filmen, dort drehten sich Leute auch immer in Zeitlupe um, wenn es um etwas wichtiges ging, und schauten dem anderen lange in die Augen, bevor sie den Mund endlich aufmachten. So als hätten sie Angst vor dem ersten Wort und dem, das danach folgte. Immer sah man diese Furcht den Menschen an, ausnahmslos, ob klein oder gross, ob alt oder jung. Und dem anderen, der zuhören musste, schnürte es die Kehle zu, weil er nicht wusste, was er sagen sollte. „Wir frühstücken zusammen und dann fahren wir los.“ Er wollte die Hände von Hyde in die seinen nehmen, doch dieser schlug sie von sich. „Wohin fahrt ihr?!!!“, schrie Hyde und jeder wusste, wenn er das tat, war es für ihn genug. Er war immer ein stiller, wohlerzogener, junger Mann und wenn er so aus seiner Haut fuhr, war etwas nicht mehr in Ordnung. „Wir haben doch diesen Termin, weißt du das denn nicht?“ „Nein! Ich weiss es nicht! Nichts!!!“, schrie er immer noch ausser sich. „Wir haben einen Termin auf dem Gericht“, sein Vater blickte auf Hydes zerwühltes Bett, liess seinen Blick über den Schrank, den Schreibtisch gleiten, als suche er etwas, an dem die Augen sich festhalten konnten. „Vor dem Scheidungsrichter. Heute werden wir geschieden.“ Hyde erstarrte, die Kälte kam von den Füssen und kroch die Beine hoch, seine Wirbelsäule, den Bauch, den Nacken. Alles eiskalt. Der Schmerz in seinem Kopf, wie ein Dröhnen, das plötzlich aus dem Nichts kam, nahm jede Sekunde zu… „Scheidungsrichter“, wisperte er leise. „Ja, hat deine Mutter denn nichts gesagt, Haido?“ Der junge Mann schüttelte hilflos den Kopf, sodass ihm die Haare strähnchenweise ins Gesicht fielen. „Das finde ich merkwürdig“, meinte sein Vater, „Warum hat sie dir nichts gesagt?“ „Das weiss ich doch nicht“, meinte er patzig, „Du hast es mir ja auch nicht gesagt!“ Er wollte seinen Vater schlagen, in den Bauch boxen, wollte ihm wehtun, irgendetwas in seinen Händen zerquetschen, oder etwas zu Bruch schlagen. Aber er konnte es nicht, er stand nur da, als wäre er aus Stein. Er warf sich herum und flüchtete in sein Bett, zog die Decke über den Kopf, krümmte sich, machte sich ganz klein. Sein Vater kam, streichelte ihn durch die Decke, sprach auf ihn ein, doch Hyde hörte ihm nicht zu, da war dieser Lärm in seinem Kopf. Er wollte nicht hören, was sein Vater sagte, wollte gar nichts hören, er presste die Hände gegen seine Ohren, rollte sich noch fester zusammen. Er war ein kleiner Junge, eiskalt von den Zehen bis zu dem Kopf, ein junger Mann von siebzehn Jahren, der den Tag damit begann, indem wer heulend im Bett lag. Als Hyde eine halbe Stunde später aus dem Bad kam, roch es in der Wohnung nach frisch gemachtem Kaffee. Ausserdem kitzelte der Duft frischgebackener Brötchen Hyde in der Nase, er blieb mit geschlossenen Augen stehen, es war einfach zu komisch. So hatte es früher morgens immerzu gerochen, wenn er aus dem Bad kam. Seine Eltern waren immer vor ihm aufgestanden, sein Vater war Chefarzt und musste immer schon um halb acht in der Klinik sein. Hyde hatte es immer geliebt mit seinen Eltern zu essen, es war ein Stück heile Welt, die er in den rauen, beinahe kalten Kosmos mitnehmen konnte. Das alles verband Hyde mit seinem Leben. Erst als sein Vater auf einmal nicht mehr da war, als es nicht mehr nötig war, Brötchen aufzubacken und sich gemeinsam an einen Tisch zu setzen, hatte er bemerkt, wie schön diese Stunde am Morgen doch gewesen war. Vorallem da sein Vater immer gut gelaunt war. Selbst wenn er früher verschlafen und etwas brummig an den Tisch kam, hatte es sein Vater immer wieder geschafft ihn aufzumuntern, doch seit er weg war, wurde nicht mehr so oft, ja eigentlich gar nicht mehr gelacht in diesem Haushalt. Es gab niemanden mehr, der die neuen Witze, die man gehört hatte, mit einem teilte. Keine spannenden Diskussionen mehr. Niemanden, der Hyde verstohlen ein paar Yen zusteckte, für eine gute Note oder eine hervorragende Arbeit in der Schule. Seine Mutter hatte immer etwas dagegen gehabt, dass man gute Leistungen gleich mit Geld honorierte. Sie hatte immer gesagt, dass Hyde viel zu sehr verwöhnt wurde, immer wieder verglich sie ihren Sohn mit den anderen Kindern. Es hatte ihn nie gross interessiert, er war Hyde, nicht jemand anderes sein Sohn. Doch inzwischen hatte es Hyde gelernt mit weniger Taschengeld zu Recht zu kommen, das war nicht das Problem. Er hätte sogar liebend gerne auf sein ganzes Taschengeld verzichtet, wenn dafür nur seine Eltern wieder zusammengelebt hätten. So wie früher eben, dafür hätte er einfach alles getan. „Hyde, bist du fertig?!“ Das war seine Mutter, er blieb im Gang stehen und blickte auf seine nackten Füsse hinunter. „Gleich.“ „Wir warten schon die ganze Zeit auf dich, willst du denn nicht mit uns frühstücken?!“ Hyde ging langsam den Flur hinunter. Sie wohnten in einer alten Häusersiedlung, seine Eltern wollten schon immer umziehen, doch er dachte sich nun, würde seine Mutter wohl hier bleiben. Das Parkett war vom häufigen Saubermachen schon ganz stumpf und matt. Dennoch wirkte die Wohnung freundlich und gepflegt. Die alten, traditionellen Schiebetüren hatte seine Mutter gerade frisch mit Papier bespannt. Langsam schob er diese auf, seine Eltern sassen auf den gleichen Plätzen, auf denen sie jahrelang beim Essen sassen. „Hallo“, sagte Hyde, weil ihm sonst nichts einfiel. „Die Brötchen sind noch ganz warm“, meinte seine Mutter, „Die magst du doch so gerne.“ Der Kleine wollte sagen, dass er sich gar nicht mehr daran erinnerte, wie frischgebackene Brötchen schmeckten. Er wollte sagen, warum gibt es wieder Brötchen? Nur weil Vater aufgetaucht ist?! Er wollte sagen, dass er wirklich dumm fand, dass sie ihm Frühstück servierte und nachher mit ihm ins Gericht ging, um sich scheiden zu lassen. Doch er blieb stumm, setzte sich mit hängenden Schultern auf seinen Stuhl, den er sicher schon seit ein paar Jahren besass. Niemand sass sonst hier, wenn die Familie gemeinsam ass. Es war der Stuhl, mit dem er den besten Blick auf das gerahmte Bild hatte, das gegenüber an der Wand hing, es zeigte eine Wüstenlandschaft, voller Dünen, ohne Tiere oder Sträucher, nur feiner gelber Sand. Vielleicht hatte sich Hyde in die Wüste verliebt, weil er bei jedem Essen dieses Bild betrachten konnte. Seine Mutter war ganz blass, sie hatte sich zwar geschminkt, doch die Schminke war auch blass. Sie trug das blaue Kostüm, das sie immer anzog, wenn es einen offiziellen Anlass gab. Dazu eine Seidenbluse und goldenen Schmuck. Hyde fand, dass seine Mutter in allen Sachen besser aussah als in diesem Kostüm. Aber er hatte es ihr niemals gesagt. Sie trank grünen Tee und die Tasse, die sie zum Mund führte, zitterte, der junge Mann sah auch, dass ihre Wimpern bebten. Er sah, dass der Lippenstift verschmiert war. Das passierte immer, wenn seine Mutter nervös war. Doch sein Vater zitterte nicht, er hatte die Beine nicht ausgestreckt wie sonst, dass Hyde mit den Zehen an seine Schuhe stiess. Er hatte die Knie zusammengestellt genau wie die Füsse. Wie ein Gast, nicht wie jemand, der sich zu Hause fühlte. „Soll ich Musik anmachen?“, fragte Hyde, als die drückende Stille für ihn unerträglich wurde. „Heute nicht…“ Sein Vater zwinkerte ihm zu, aber es war ein trauriges Zwinkern. Er schob ihm den Korb mit den Brötchen zu. „Komm, iss was.“ „Ich habe keinen Hunger.“ „Aber du musst etwas essen!“, sagte seine Mutter. Hyde blickte seine Mutter trotzig an. „Warum?“ Darauf wussten beide keine Antwort, früher hatten sie immer gesagt: „Damit du gross und stark wirst.“ Doch nun war er beinahe erwachsen… Er war 1.68 gross, wog fünfzig Kilo. Er hatte zwar immer noch die stille Hoffnung noch ein Stück zu wachsen, doch es sah leider nicht danach aus. Er sass am Tisch und hatte seinen Kopf gesenkt, sein mittellanges, pechschwarzes Haar fiel ihm in geordneten Strähnchen ins Gesicht. Vor ihm stand eine Tasse, doch es war kein Tee in ihr, doch er wollte nicht aufstehen, um sich welchen zu holen. Er dachte sich, dass er welchen trinken würde, wenn sie gegangen waren. Aber sie gingen nicht, sie sassen einfach nur stumm da. Hydes Mutter rührte ununterbrochen in ihrer Teetasse und sein Vater zerrupfte ein Brötchen, ohne sich auch nur einen Bissen in den Mund zustecken. Er lächelte ihn an, das spürte er, doch er hob nicht den Kopf, um seinen Vater auch anzulächeln. Denn es gab weder etwas zu lächeln noch etwas zu sagen. „Dein Vater hat es dir also gesagt“, meinte seine Mutter schliesslich, nachdem sie mit der Serviette die Lippen getrocknet hatte. „Dann weißt du es ja.“ Hyde nickte. „Um zehn Uhr ist der Termin“, sprach sie weiter, „Wir wissen nicht genau, wie lange es dauert, danach gehen dein Vater und ich vielleicht noch eine Kleinigkeit essen.“ Hyde fand das Gespräch vollkommen pervers und absurd. Erst lassen sie sich scheiden, dann gehen sie essen, dachte er, merken die gar nicht, wie lächerlich das alles ist? „Wenn du willst, kannst du ja zu uns stossen“, meinte nun sein Vater, „Wir könnten uns jetzt schon verabreden.“ Der junge Mann räusperte sich, „Ich hab lange Schule.“ „Dann kommst du eben später dazu“, sagte seine Mutter, „Und isst Sushi.“ „Ich hab aber keine Lust!“ Seine Mutter seufzte. „So ist er immer in der letzen Zeit“, meinte sie. Das galt aber nicht mehr Hyde sondern seinem Vater „Hat zu nichts Lust, egal was ich ihm vorschlage, er hat zu nichts Lust!“ Sie seufzte noch einmal. „Ehrlich Hyde, du machst es mir nicht leicht, aber vielleicht kann dich dein Vater ja überzeugen.“ Sie stand auf, beim Hinausgehen legte sie kurz ihre Hand auf die Schultern ihres Sohnes. Diese Hand war kalt, so kalt wie Eis und zitterte. Meine arme Mutter, dachte Hyde. Als sie verschwunden war, hörte man die Badezimmertüre, die langsam zugeschoben wurde und dann ein Geräusch, das klang wie ein Aufschluchzen, ein Hilfeschrei. Hyde kannte dieses Geräusch nur zu gut. Seine Mutter hatte in den letzen Monaten sehr oft so geweint, immer dann, wenn sie meinte, dass er schlief oder es nicht mitbekam. Vielleicht war es ihr auch egal, ob er es hörte oder nicht. „Ist alles in Ordnung mit dir? Ich muss mir deinetwegen doch keine Sorgen machen, oder?“, meinte sein Vater nun leise, währendem er seinen Sohn aufmerksam musterte, er schob seinen Stuhl näher an die Tischecke, näher zu dem Stuhl, auf dem sein Sohn sass. „Sieh mich einmal an!“ Hyde hob den Blick flüchtig, streifte das Gesicht seines Vaters, um dann wieder seine leere Tasse zu mustern. „Dass deine Mutter…und ich…uns scheiden lassen“, meinte sein Vater wispernd, „hat wirklich nichts mit dir zu tun.“ Er machte eine Pause. Wartete wohl darauf, dass Hyde etwas sagen würde, doch dieser machte keinen Mucks. „Das weißt du doch, oder? Das hab ich dir Hundertmal gesagt.“ „Ich hab nicht mitgezählt“, sagte er. Sein Vater fing an zu lachen, doch dieses Lachen blieb ihm im Halse stecken, als Hyde den Blick hob und ihn musterte, natürlich hatte er bemerkt, dass sein Vater nur künstlich gelacht hatte. „So ist es Recht, nur den Humor nicht verlieren. Weißt du noch, wie wir früher immer gelacht haben? Ab deiner ausgeprägten, sarkastischen Ader?“ Hyde wusste es, doch er würde den Teufel tun seinen Vater zu bestätigen. Er blickte ihn nur weiterhin todernst an. „Wie ging er noch, dein Lieblingswitz?“, kam es etwas unsicher über die Lippen des Arztes. Hyde schob den Stuhl zurück. „Ich muss los.“ Doch sein Vater hielt ihn fest, zwang ihn dazu ihn anzusehen. „Du bist sauer auf mich, stimmt’s?“ Hyde holte tief Luft, „Ich weiss es nicht“ „Du kannst es mir ruhig sagen, ich werd nicht böse auf dich sein, wirklich…“ „Ich hab keine Lust.“ Der Klammergriff seines Vaters wurde fester, es tat ihm schon beinahe weh, er sah, wie sich die Haut langsam rötlich färbte. Sein Vater war aufgeregt und angespannt, das fühlte er. Er machte sich Sorgen und das alles ging ihm wahrscheinlich auch auf die Nerven. Sein Vater liebte die Harmonie. So lange er bei ihnen gewohnt hatte, war er es immer, der für gute Stimmung, für Harmonie und Frieden gesorgt hatte. Seine Mutter hätte gerne einmal einen Streit vom Zaun gebrochen „Sich Luft machen“ hatte sie das genannt. Doch sein Vater war anderes, er hielt Zankereien nicht aus. Er wollte, dass alle immer freundlich und respektvoll zu einander waren. Und trotzdem hatte er sie verlassen und dieses ganze Chaos hier angerichtet. „Komm sag es mir.“ „Das ist doch bescheuert.“ „Nein, das ist es nicht! Es ist in Ordnung, du bist sauer auf mich oder auf deine Mutter. Und du hast allen Grund dazu. Genau so wie es vielerlei Gründe gibt, warum wir uns scheiden lassen…“ „Ich will sie nicht wissen“, fiel ihm Hyde ins Wort. „Lass mich los, ich muss in die Schule, heute schreiben wir einen Vokabeltest.“ „Das macht doch nichts, den kann man nachholen.“ Hyde riss sich los… Sein Vater liess ihn gehen, auch wenn er ihm in den Gang folgte, ihn dabei beobachtete, wie er seine Strassenschuhe anzog. „Und was habt ihr über mich beschlossen?“ „Was?“ „Na, bei wem soll ich bleiben?“ „Natürlich kannst du bei deiner Mutter bleiben.“ „Ach… Damit ich dich und deine neue Frau nicht störe?! Damit sie nicht sieht, was für eine Familie sie kaputt gemacht hat? Damit sie nicht sieht, dass du einen Sohn hast?!“ Erschrocken hielt Hyde die Hand vor seine Lippen, doch es war endlich mal alles draussen, was er sich tief ins Herz gefressen hatte. „Hyde, kommst du denn nicht mit deiner Mutter klar? Du störst mich doch nicht... Ich…“ „Ich will es nicht wissen!“, schrie der kleine Japaner, schlug die Eingangtüre hinter sich zu und rannte die Treppen, die sich endlos vor ihm erstreckten, hinunter. Nein, er wollte keine Erklärungen mehr hören, er wollte nichts mehr hören… Er verliess das Haus ohne sich auch nur einmal umzusehen und rannte zur nächsten U-Bahnstation. Kapitel 2: Lügen.. ------------------ Gackt stand an dem eisernen Tor zu der leer stehenden Fabrikhalle, dort wo das Kampftraining stattfinden sollte. In dieser Fabrik wurden früher Fenster und Türen hergestellt. Nun hatte ein alter Sensei, der Mitleid mit den Jungs gehabt hatte, gesagt sie würden von ihm hier unterrichtet. Der junge Mann war skeptisch ob der Alte überhaupt auftauchen würde, denn er hatte ihnen erst aufgetragen die Halle von den Glasscherben und dem anderen Unrat zu befreien. Nun war sie mit einem alten Teppich ausgelegt und sah beinahe heimelig aus. „Glaubst du wirklich dass er kommt Ga-chan?“ Der Angesprochene blickte zu seinem besten Freund hinüber und musterte ihn eine Weile. Er kannte You schon seit dem Kindergarten, das war schon lange Zeit her, dennoch verstanden sie sich immer noch gut. Auch wenn You nun eine Freundin hatte und dementsprechend nicht mehr so viel Zeit für ihn, liebte Gackt ihn immer noch wie ein Bruder. Schliesslich hatten sie Beide sehr viel durchgemacht. „Haifisch ich rede mir dir...“ „Er wird kommen You...bestimmt.“ Der grosse, blonde Japaner schmunzelte. Haifisch. Dieser Spitzname hatte er von seinem Freund im Kindergarten bekommen, da er damals nie nach Hause gehen wollte. Und um zu verhindern dass man ihn einfach vor die Türe stellte, hatte er damals einfach in eine Tischplatte gebissen. Dieser Kosename, so dämlich wie er auch war, liess ihn seit damals nicht mehr los. Dabei war er nach dem Horoskop gar kein Fisch, sondern Krebs. Aber das war vielleicht so was Ähnliches, er interessierte sich nicht für Sternzeichen. In der Schule hatten sie an diesem Mittwoch darüber gesprochen, in Geografie, als es um die Planetensysteme und um die Sterne ging. Manche wussten sogar die Sternenpositionen und Konstellationen am Himmel. Der Lehrer hatte Alle gefragt, der Reihe nach, wer regelmässig sein Horoskop las. Die Mädchen natürlich Alle. Das war Gackt klar gewesen, es war mehr als typisch. Die Jungs hatten alle mit „Nein“ geantwortet. Nur Hyde hatte gesagt: „Früher habe ich es öfters gelesen, aber jetzt nicht mehr.“ „Und warum tust du es nicht mehr?“ hatte der Lehrer gefragt. Hyde hatte es nicht einmal für nötig befunden aufzusehen, und das obwohl Gackt ihn immer als höfflichen Menschen wahrgenommen hatte. Als der Kleine antwortete hätte man meinen können er redet mit seinem Tisch. „Weil es Quatsch ist. Weil man doch immer nur sein Horoskop liest, in der Hoffnung, dass irgendetwas besser wird. Dass sich irgendein Traum erfüllt. Doch das passiert ja dann doch nie, nichts wird besser.“ „Was soll denn besser werden?“ hatte der braunhaarige Lehrer gefragt. Hyde hatte bei dieser Frage den Blick gehoben und seinen Lehrer verständnislos angesehen. Es sah so aus als quäle ihn etwas, doch der junge Mann schwieg nur. Der Lehrer hatte gemeint, es sei doch nicht so schlimm wenn man auch mal über seine Träume sprach, irgendetwas ganz Privates. „Wir kennen uns doch schon so lange. Wir sind zusammen auf Klassenfahrt gewesen, haben gefeiert und zusammen getrauert, damals als Jin von uns gegangen ist. Da haben wir doch auch mal über persönliche Dinge gesprochen.“ „Ich habe aber keine Lust dazu“ hatte Hyde geantwortet und als er abermals aufsah, hatte er Tränen in den Augen. In diesen wundervollen, warmen, braunen Augen. Das hatte Gackt einen Stich ins Herz getrieben, als er den Kleinen so sah. Als er an die Reihe kam, hatte er nur gesagt: “Hyde hat Recht. Es geht Niemanden etwas an was man sich wünscht. Niemanden!“ Da hatte sich Hyde zu ihm umgedreht, einen kleinen flüchtigen Augenblick lang. Beide blickten sich das erste Mal in die Augen. Gackt war sich sicher dass er dem Kleinen das erste Mal richtig auffiel, da er nicht im Geringsten etwas vorzuweisen hatte. Seine Familie war nicht gerade das was man reich nannte. Er konnte sich nicht wirklich etwas leisten und trug meistens die gleichen Klamotten, die vom vielen Waschen schon ausgebleicht waren. Als sein Vater die Familie wegen einer anderen Frau verliess, war seine Mutter gezwungen worden sich wieder Arbeit zu suchen, daher war er immer schon viel alleine gewesen. Er musste zu Hause helfen den Haushalt zu machen und hatte dementsprechend nicht viel Freizeit. Gackt kam es manchmal so vor als würden sich die Anderen ihre Freunde nur nach den Klamotten oder dem Geld aussuchen. Manche in der Klasse wurden von den Eltern mit Taschengeld zugeschüttet, doch der Blonde hatte nie einen Yen in der Tasche. Woher auch? Seine Tante half zwar seiner Mutter immer wieder mit Geld aus, doch das reichte nur für das Allernötigste. Nach diesem kleinen Augenblick, wo es ihm vorkam als hätte er direkt in die Seele des jungen Takarais gesehen, beschloss er ihn einfach mal anzusprechen. Was war schon dabei? Schliesslich waren sie beide Jungs? Und die durften doch befreundet sein, oder? Er hatte nämlich irgendwie das Gefühl, dass Hyde und er sich viel zu sagen hatten. Aber da könnte er sich auch nur getäuscht haben. „Da kommt er.“ Die Stimme seines besten Freundes riss Gackt aus seinen Erinnerungen an den letzen Schultag. Er blickte in dieselbe Richtung wie You und erkannte den alten Mann, der langsam über den Hof kam und sich dabei musternd umsah. Als er die Halle betrat meinte er mit einem Lächeln auf den Lippen, dass nun die Zeit gekommen war mit dem Training zu beginnen. Früher als noch alles in Ordnung gewesen war, hatte Gackt jeden Samstag bei einem Sensei Unterricht. Den letzen Gürtel den er erreicht hatte war der braune gewesen. Eigentlich war alles was der alte Mann ihnen beibrachte, für Gackt eine Wiederholung. Doch er war dankbar dass er nun wenigstens einmal pro Woche etwas für sich selbst tun konnte. Etwas das nur ihm gehörte, das er mit Niemandem teilen musste. Wie oft hatte sich der junge Japaner gewünscht, dass sein Vater wieder zu der Familie zurückkehren würde? Nicht weil er dann wieder Taschengeld besass oder wieder seiner Kampfausbildung nachgehen konnte, sondern weil er seine Mutter wieder glücklich sehen wollte. Doch das würde nicht mehr passieren. Sein Vater war nämlich vor einem Jahr ins Ausland gezogen, um mit seiner neuen Frau, einer Amerikanerin, ganz neu anzufangen. In Amerika, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Gackt war traurig darüber, dass sein Vater ihn einfach verlassen hatte. Doch er blieb für seine Mutter stark. So hoffte er dass ein Mann kommen würde der seine Mutter wieder zum lächeln brachte. „Hey Haifisch“ Gackt blickte zu seinem Freund auf. Es war erstaunlich wie weich und sanft die Stimme von ihm klingen konnte, wenn er mit ihm sprach. You hatte ein schönes Gesicht, grosse, samtene Augen, weiche und schön geschwungene Lippen. Sein Haar trug er bis zu den Schultern, doch nun da es kühler geworden war, trug er immer eine knallrote Wollmütze. Gackt fand die Mütze einfach klasse, auch die Jacke die You trug, mit all den Army- Abzeichen, fand er irgendwie passend. Selbst wenn er selbst niemals so etwas anziehen würde. Er war gegen den Krieg und das zu hundert Prozent. Er war wie sein Geschichtslehrer der Meinung, dass man Kriege um jeden Preis vermeiden musste. So würde er auch später nicht ins Militär gehen. Vielleicht konnte er sich irgendwie drücken, mit seinem Asthma zum Beispiel, wenn es denn wirklich Asthma war. Der Schularzt hatte gesagt, er solle sich mal gründlich untersuchen lassen, es sei ja kein Problem da seine Eltern ja eine Krankenkasse hätten. Aber da war sich Gackt nicht so sicher. Seine Mutter konnte nicht alles regelmässig zahlen, Miete, Strom, sogar das Telefon nicht. Im Augenblick war es mal wieder abgestellt. Er wünschte sich nichts sehnlicher als ein Handy. Das musste cool sein, wenn man so ein Ding in der Hosentasche trug und plötzlich, wenn man mit ein paar Freunden die Strasse runterschlendert, klingelt es. Und dann war You oder sonst wer dran und fragte Einen ob man Lust hatte etwas essen zu gehen, oder rumzuhängen. Und die Anderen würden Riesenaugen bekommen vor Ehrfurcht und Neid. Doch nun war er es der neidisch auf die Anderen war. Auf Tetsu zum Beispiel, der hatte zu seinem siebzehnten Geburtstag ein Handy geschenkt bekommen. So konnte jeden Monat für etwa neuntausend Yen telefonieren, seine Patentante bezahlte alles. Manche Leute hatten eben mehr Glück als Verstand. Gackt hatte Tetsu oft beobachtet, wie er sein Handy verlieh. Meistens war es nur an Hyde gewesen, der kurz seine Eltern angerufen hatte, wenn er zu seinem Freund ging, oder noch vor hatte ins Kino zu gehen mit ein Paar aus seiner Clique. Manchmal wallte in ihm Zorn auf wenn er Tetsu mit Hyde lachen sah. Doch sie waren nicht immer so albern. Heute Morgen hatte Hyde Tränen in den Augen gehabt und das definitiv. Er hätte gerne gewusst was los war. Liebeskummer vielleicht, obgleich es keinen Hinweis darauf gab dass dieser eine Freundin hatte. Aber ihm erzählte ja Keiner was, er würde solche Dinge wie immer als letzter erfahren. „Was ist los mir dir?“ You legte ihm die Hände auf die Schultern und blickte ihm in die Augen. „Los? Warum los? Nichts ist los“ murmelte Gackt. Er wurde rot und wusste selbst nicht warum. „Du warst gut heute, schnelle Reaktion...“ meinte er leise. „Kinderspiel, ich kenne die Abläufe, ich habe doch schon den braunen Gürtel.“ „Du, was ist mit Sonntag, ich habe deinen Namen nicht auf der Liste gefunden.“ So ein Mist dachte sich Gackt, er hatte gehofft dass You sich die Liste erst ansehen würde wenn er schon weg war. „Hast du etwa keinen Kugelschreiber dabei? Ich leih dir sonst meinen, Haifisch.“ „Du leihst mir doch sonst schon genug, You“ meinte er leise. „Also hör mal“ entrüstete er sich nun ein wenig lauter „Wenn ich dir nicht mal meinen Kuli leihen würde, wäre ich ein beschissener Freund. Für wen hältst du mich denn?!“ Gackt blickte ihn an doch er sagte nichts. Er dachte sich das er You für einen richtig guten Typen hielt, einer der Besten der ihm in seinem Leben begegnet war. Doch er schwieg lieber, es war ihm peinlich solche Sachen zu sagen. „Also trägst du dich nun ein?!“ Der Blonde zögerte, dann schüttelte er den Kopf „Geht nicht, ich kann nicht mit.“ Am Sonntag wollten You und seine anderen Freunden zu einem Rockkonzert. Es war eine amerikanische Band, Leute die kurz davor waren eine mega Kariere hinzulegen, das sagte jedenfalls You. „Ich kann dann einfach nicht. Weisst du...“ „Ach nein?“ Er blickte ihn missmutig an „Warum nicht?“ „Ich habe etwas Anderes vor.“ Gackt senkte die Lieder, es war verzwickt, er konnte nicht lügen. Die Leute sahen ihm das immer auf zwei Meter Entfernung an. Er bekam eine weisse Nasenspitze, flatternde Lieder und war unfähig dem Gegenüber in die Augen zu sehen. Eine ziemlich blöde Situation für Jemanden der ständig zum Lügen gezwungen wurde, Gackt hasste es. „Was hast du denn vor?“ wollte You wissen „Geht dich das was an?“ meinte er patzig. Kapierte sein Freund denn nicht, dass er nicht darüber reden wollte? „Och komm schon, gib mir einen kleinen Tipp in welche Richtung es geht. Bist du mit einem Mädchen verabredet?“ Gackt schüttelte den Kopf. „Familienfeier“ presste er mühsam hervor. „Hat Jemand Geburtstag?“ „Ja mein Opa.“ Gackt schloss die Augen. Er wusste dass You es bemerken würde dass er log. Er hatte noch nie über seinen Grossvater gesprochen. Wie auch, er hatte nämlich keinen. Seine Mutter war von Zuhause abgehauen als sie noch ein junges Mädchen gewesen war. Und als sie ihren Eltern einmal einen Brief geschrieben hatte, ihnen erzählt hatte, das sie nun eine ehrbare Frau war, und einen Sohn namens Gackt hatte, kam der Brief ungeöffnet mit einem hässlichen, grossen „Annahme verweigert“ Stempel zurück. „Sie mich einmal an, Ga-chan.“ Gackt hob den Blick und sah seinem Freund in die Augen, dieser meinte nach einiger Zeit: „Schade.“ „Ja, finde ich auch, es tut mir wirklich leid.“ „Ich meinte nicht das Konzert, sondern dass du kein Vertrauen in mich hast… Sag mir doch was mit dir los ist, bitte“ bat er. Gackt konnte nicht glauben was er da hörte, was war denn heute nur für ein komischer Tag? Erst kam der Lehrer mit lauter persönlichen Fragen, über Träume und Wünsche und dann kam auch noch You. Warum liessen ihn die Leute nicht einfach in Ruhe? „Nichts ist los.“ „Wir sind doch sonst so ein gutes Team, hast du denn nun gar kein Vertrauen mehr in mich? Hast du Ärger Zuhause?“ „Kann sein.“ Gackt blickte an You vorbei. Niemand war mehr in der grossen Fabrikhalle, sie waren die Letzen. Lange, so dachte sich der Blonde, würde You eh nicht so stehen bleiben wollen, denn wenn man sich nicht bewegte kroch einem die Kälte die Beine in den Körper hoch. „Hat deine Mutter wieder mal etwas zu meckern gehabt?“ „Nichts Besonderes, es geht schon ich komme schon damit klar. Danke der Nachfrage.“ „Willst du denn nicht darüber reden?“ Gackt schaffte es, You für eine Sekunde in die Augen zu sehen. „Nein,“ sagte er „Ich will nicht.“ Sein Freund seufzte leise und drehte sich von ihm weg. Bereit um los zu düsen. „Nächsten Mittwoch sehe ich dich wieder hier? Gleiche Zeit?“ fragte Gackt, weil er einfach noch Irgendwas sagen wollte. You wandte sich noch einmal zu Gackt um, sein Gesicht sah ernst, ja fast traurig aus. Der Brünette legte dem Blonden die Hand auf das Haar. Gackt hatte dicke, blonde Haare, er ging nie zu einem Friseur, schnitt sich immer selbst an den Haaren herum. Dadurch sahen sie ein wenig fransig aus, aber das machte nichts, solche Frisuren waren gerade in. Dass sein sonst dunkles Haar gefärbt war, verdankte er You, denn jeden Monat schleppte er ihn zu seinem Onkel der sie neu aufbleichte. „Mach es gut Haifisch.“ Gackt nickte und presste seine Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, beinahe hätte er angefangen zu weinen. Kapitel 3: Ungeliebt und verraten... ------------------------------------ „Bist du das, Gackt?“ Gackt hatte die Wohnungstür ganz leise ins Schloss gezogen, trotzdem hatte seine Mutter ihn gehört. Dabei lief der Fernseher, einer dieser Talkshows, die er so hasste, doch seine Mutter fand, dass es nichts Besseres gab, um die Hausarbeit zu erledigen. Sie hatte das Bügelbrett vor der Flimmerkiste aufgestellt und erledigte die Wäsche. Mittwochs arbeitete seine Mutter nur bis Mittags, daher hatte er an diesem Tag ein wenig mehr Zeit für sich. Doch er hasste es zuhause zu sein, wenn sie bügelte, man konnte sich nirgends mehr hinsetzen, überall lagen Klamotten. Es roch immer nach Chemie, da sie diese Stärke auf alle Sachen sprühte. Chemie, die wahrscheinlich die Ozonschicht zerstörte, aber über so was konnte er mit seiner Mutter noch nie reden. Junge. Ich hab wirklich andere Probleme, sagte sie jedes Mal, wenn er mit ihr darüber diskutieren wollte, wie unvernünftig sie sich der Umwelt gegenüber benahm. Ja, sie trennte ja nicht einmal den Müll. „Gackt!“ „Jaha“, er verdrehte die Augen. Er hatte noch nicht einmal die Schuhe ausgezogen und schon hatte er den Wunsch gleich wieder wegzugehen. Denn nie liess sie ihn in Ruhe. Er schlurfte in den Hauschuhen in die Küche, goss sich ein Glas Milch ein, trug das durch den Flur und blieb an der Wohnzimmertüre stehen. „Hey“, er schluckte, „Was ist denn hier passiert?!“ Seine Mutter lächelte. Ihre Wimpertusche war verschmiert genau so wie der Lippenstift auch, ihre linke Backe war geschwollen. Sie stellte das Bügeleisen ab und kam auf Gackt zu. „Dein Vater ist aus Amerika zurückgekommen, doch er zieht es vor nicht hier zu wohnen.“ „Warum räumt er uns dann die Wohnung aus?“, fragte er leise, „Die ganzen Möbel?“ Das Wohnzimmer war leer, bis auf den Fernseher, zwei Gartenstühle, die früher auf dem Balkon gestanden hatten, sie waren ziemlich gemütlich, doch im Vergleich zu dem urgemütlichem Sofa mit taubenblauem Samtbezug waren sie nichts. Es gab auch keinen Teppich mehr. Seine Mutter stand mit ihren Hauschuhen auf einem Holzfussboden, den er noch nie wahrgenommen hatte. „Den Fernseher haben wir behalten“, sagte seine Mutter stolz, „Um den habe ich gekämpft.“ Sie kam zu Gackt, nahm sein Gesicht in beide Hände und lächelte ihn an, er sah wie der Fleck auf ihrer Wange langsam dunkler wurde, auch dass sie kaum mehr aus dem linken Auge sehen konnte, bemerkte er. „Hat er dich geschlagen?“ „Ach mein lieber Junge“, sie nahm ihn in den Arm. Er schloss die Augen, es war kaum mehr auszuhalten. Nun hatten sie nicht einmal mehr Möbel… „Hat er oder hat er nicht?!“, fragte er nun böse. Sie liess ihn los, schob ihn ein wenig von sich weg, drehte sich um und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. „Gar nicht schlimm“, sagte sie, „Geht schon wieder.“ „Du müsstest dich mal im Spiegel sehen“, meinte Gackt leise. Ungebügelte T-Shirts lagen auf dem Fensterbrett. Seine Mutter hatte Töpfe mit den Alpenveilchen auf den Boden gestellt, unter das Fenster. Das sah eigentlich ganz cool aus, die Bücher standen auch auf dem Fussboden, an der Wand, wo früher das Sofa gestanden hatte. Besonders viele hatten sie so oder so nicht, Gackt musste sich alle, die er lesen wollte, in der Bibliothek holen. Seine Mutter hatte ihm eine Büchereikarte zu seinem Geburtstag geschenkt, doch es war etwas anderes Bücher auch behalten zu dürfen. Die Bücher, die er hatte, hütete er wie einen Schatz. Er stutzte, „Und mein Zimmer?“, meinte er dann. „Ich hab keine Ahnung.“ Er machte auf dem Absatz kehrt, fegte über den Flur und stiess die Türe zu seinem Zimmer auf, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Wehe, sein Vater hatte es gewagt irgendetwas in seinem Zimmer anzufassen. Wehe, wenn er ihm etwas von seinem Besitz geklaut hatte, er spürte, wie er schon wieder fast keine Luft mehr bekam. Das Stechen in seiner Brust, das Ringen nach Luft, es war einfach zum Verzweifeln. Die „Anfälle“ kamen immer zur falschen Zeit. Sein Herz schlug nun, als hätte er an einem Marathon mitgemacht, er blickte sich gehetzt um. Auf dem ersten Blick fehlte nichts. Das Bett war da, das Kopfkissen, die Daunendecke. Auf diese Decke war er stolz, weil er sie sich selbst gekauft hatte, als er Geld verdient hatte weil er Werbematerial für ein neues Restaurant ausgetragen hatte. Das war letzten Sommer gewesen, in diesem Sommer würde er den Job wieder bekommen, das wusste er. Wenn die anderen ans Meer fuhren oder in die Berge, zum Klettern oder Surfen, dann blieb er in der Stadt und stellte jeden morgen den Wecker auf fünf Uhr. Na ja, lieber nicht daran denken. Die Decke war jedenfalls noch da. Und der Schreibtisch und der Stuhl. Sein Atem stockte, die Lampe, die Schreibtischlampe fehlte. Er hätte es wissen müssen. Er hatte es die ganze Zeit geahnt, die Lampe war einfach zu schön gewesen, um sein Eigen zu bleiben. Sein Vater hatte sie auf einem Flohmarkt entdeckt und mitgebracht. Eine Lampe, wie aus den alten Detektivfilmen, Gackt hatte immer vorgehabt auch mal so cool wie ein Philip Marlowe zu werden. Er wollte ein Detektivbüro aufmachen und Gangster jagen. Und dann mit Kriminalromane reich und berühmt werden, er hatte seine Zukunft schon ziemlich geplant. Er brauchte diese Träume, um die Wirklichkeit besser ertragen zu können. Wenn er die Lampe sah, dieser grüne Glasschirm über dem Messingständer, der vier Scharniere hatte und den man nach allen Seiten biegen konnte, dann dachte er sich immer. „Ja und die Lampe nehme ich mit.“ Doch nun hatte sie sein Vater einfach mitgenommen. Das Gequassel aus dem Fernseher brach plötzlich ab. Entweder eine Bildstörung. dachte Gackt. oder sie hat den Leuten tatsächlich mal den Hahn zugedreht. Er hörte Schritte auf dem Holzboden im Flur, da hatten sie auch einen Teppich gehabt, doch dass der weg war. konnte der Blonde verschmerzen, denn er hatte ihn total hässlich gefunden. „Alles in Ordnung, Junge?“. fragte seine Mutter. Gackt drehte sich um. Ihr linkes Auge war jetzt fast vollkommen zu geschwollen, sie blinzelte und das sah ein bisschen aus, als ob sie lächeln würde. Aber der Blonde wusste, selbst wenn sie lächelte, ging es ihr hundeelend. „Die Lampe“, sagte er, „Warum hast du ihm das erlaubt?!“ „Ich habe ihm gar nichts erlaubt.“ „Warum hast du mir nicht Bescheid gegeben?“ „Wie denn?“ „Du hättest in der Schule anrufen können und mich verlangen. Ich wäre sofort gekommen! Scheiss auf den Unterricht.“ „Und alle in deiner Klasse hätten gewusst, was bei uns los ist? Hättest du das gewollt?“ Gackt schwieg. „Ich weiss doch, Junge, dass du dich sowieso schon schämst“, sagte seine Mutter, „Für mich, für deinen Vater.“ „Das ist doch gar nicht wahr!“, nuschelte Gackt, „Für dich nicht.“ Aber ein wenig stimmte es eben schon. „Ich werde mir eine neue Lampe holen müssen“, meinte er traurig und sah noch einmal auf den leeren Schreibtisch. „Ich werde sie dir bezahlen, wie teuer ist so eine denn?“ „Die war unbezahlbar“, sagte der Blonde, „Das war eine Philip-Marlowe-Lampe. Das war das erste Möbelstück, für mein Büro später.“ Seine Mutter starrte ihn an, sie verstand nichts. Natürlich nicht, sie hatte bestimmt nie einen Marlowe Film gesehen oder eines seiner Bücher gelesen. Sie wusste nichts über Gackts Träume und Pläne, über solche Dinge sprach er mit seinen Eltern nicht. Niemals. Seine Mutter setzte sich auf sein Bett und strich die Bettdecke glatt. „Er hat die Wohnzimmermöbel mitgenommen, doch ich habe das Schlafzimmer und den Rest behalten können. Und für das Wohnzimmer überlege ich mir etwas Provisorisches. Vielleicht nehme ich das zweite Bett aus dem Schlafzimmer, beziehe die Matratze und wir machen ein schönes, gemütliches Sofa daraus. Hey“, sie lachte plötzlich, ganz stolz über den Einfall, „Wie wäre das?“ „Ich finde das doof“, sagte Gackt, „Aber mach, was du willst.“ Er stopfte die Schulbücher wahllos in seinen Rucksack und warf ihn über die Schulter. „Ich muss los.“ „Wohin gehst du denn?“ „Schularbeiten machen.“ „Aber das kannst du doch auch hier tun?!“ „Nein“, sagte Gackt nun leise, „Kann ich nicht. Ich habe keine Lampe.“ „In der Küche ist doch eine Lampe!“, seine Mutter lief ihm den Flur entlang nach, „Oder ich gebe dir meine Nachtischlampe!“ „Vergiss es.“ Gackt kniete sich hin und zog seine Schuhe an, er nahm seine kurze Jeansjacke vom Haken, zog sie an und hob den Rucksack wieder auf. „Lass mich nicht alleine, Gackt“, flüsterte seine Mutter. Tränen traten ihr in die Augen „Bitte, nicht heute. Ich kann doch nichts dafür, dass er gekommen ist.“ Er blickte seine Mutter an, sie sah sehr schlimm aus, geschwollene Lider, zitternde Lippen, trauriger Blick. Er schleuderte den Rucksack in die Ecke, rannte zu ihm hin und gab ihm noch einen kräftigen Fusstritt. Und dann noch einen, dann atmete er tief durch. „Okay, ich werde hier bleiben, soll ich dir einen Tee machen?“ Seine Mutter lächelte ihn an und wischte ihre Tränen von den Wangen. „Sehr gerne.“ Der Blonde ging in die Küche, das Fenster stand offen. Er konnte über Ecke auf den Balkon der Chans sehen. Ein altes Ehepaar, die standen am Geländer und starrten neugierig zu ihm hinüber. Gackt nickte ihnen zu, machte eine leichte Verbeugung so weit es eben ging und knallte dann das Fenster zu. Hyde sass auf dem Fensterbrett vor dem Klassenzimmer und versuchte den Sinn eines englischen Textes zu begreifen, den er ungefähr schon Tausendmal gelesen hatte. Aber es funktionierte nicht. Der Titel: Many reasons why Betty Brown is happy today. Ein wirklich dummer Text, man konnte ihn auch singen, hatte der Lehrer gesagt, er war in Versform, doch Hyde hasste Gedichte. Er hasste Englisch, die Schule, diesen zugigen Platz vor dem Fensterbrett, den Schulhof, das Lachen der Schüler, die den Gang heraufkamen. Und wie sie ihre Mützen vom Kopf zogen und sich schüttelten wie Hunde, wenn sie ein nasses Fell haben. Manchmal bekam Hyde einen Spritzer ab, das brachte ihn fast zur Weißglut, diese Tropfen, die nach nasser Wolle rochen, nach fremder, nasser Wolle. Außerdem war ihm schlecht, er hatte nicht gefrühstückt und nachts, anstatt zu schlafen, hatte er im Bett gelegen und zugehört, wie seine Mutter telefonierte. Erst mit ihrer besten Freundin Hana, seine Mutter sprach leise, sie flüsterte fast, aber Hyde war aufgestanden und machte die Türe einen Spaltbreit auf. So konnte er alles verstehen, danach war er ins Bett zurück geschlüpft und hatte gelauscht. Das hätte er besser gelassen. So erfuhr er nun alles, wie gemein sein Vater gewesen war, wie oft er seine Mutter betrogen hatte. Erst mit der Sekretärin, dann mit einer Stewardess, die er auf einem Langstreckenflug kennen gelernt hatte und dann ließ er überall Rechungen liegen von Restaurants, in denen er wahrscheinlich mit seiner Freundin gewesen war und jede Menge Hotels waren da auch dabei gewesen. Sie hatte das nachgeprüft. Er hatte sie immerzu belogen und betrogen. Und sie hatte seinetwegen ihre Kariere geopfert. Sie hatte gekämpft für eine kleine, fröhliche Familie. Er wollte doch das Kind, er wollte doch nicht, dass sie abtrieb, als sie schwanger war. Ihretwegen hätte sie kein Kind haben müssen… Hyde saß aufrecht im Bett in seinem dunklen Zimmer, den Mund halb geöffnet und dachte: Gleich sterbe ich, gleich bin ich tot. Aber seine Mutter redete weiter, halblaut, manchmal schluchzte sie, manchmal lachte sie auch, aber ganz hysterisch, erzählte, wie verliebt sie mal in Hydes Vater gewesen war und wie er sie schon damals ausgenutzt hatte. Sie hatte seine Diplomarbeit auf ihrem Computer geschrieben, weil er damals noch zu blöd gewesen war einen PC zu bedienen. Achtzehn Jahre war das nun her. Hyde konnte sich nicht vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, in der Leute noch nicht mit einem Computer umgehen konnten. So was war doch kinderleicht. Dann hatte seine Mutter den Hörer aufgelegt und wieder eine Nummer gewählt. Der Schwarzhaarige wusste sofort, dass seine Mutter jetzt mit seinem Vater sprach. An der Stimme konnte er es erkennen, an der Eiseskälte in ihr. Ich wollte nur fragen, ob du jetzt zufrieden bist, hatte sie mit dieser eiskalten Stimme gesagt. Jetzt, wo du uns los bist. Irgendwas hatte sein Vater erwidert, doch seine Mutter lachte nur höhnisch auf und hatte gesagt: Du machst es dir ja verdammt einfach. Wieder eine Pause. Dann: Vergiss das Geld, du denkst mit Geld kannst du alles regeln, was? Du hast dich mit Geld von deiner Verantwortung freigekauft. Mir gegenüber und deinem Kind gegenüber. Weißt du, wie ich das finde? Seine Mutter hatte nach Luft geschnappt und dann geschrieen. Erbärmlich finde ich das. Dann wieder eine Pause, sein Vater sprach offenbar einen längeren Text. Und dann sagte seine Mutter ein paar Sätze, die Hyde ihr wahrscheinlich niemals verzeihen würde können. Und was würdest du sagen, wenn ich dir dein Kind einfach vor die Türe stellen würde? Mit aller Kleidung, Schulsachen und andere Dinge? Deine neue Frau würde sich schön bedanken, einen jungen Mann mitten in der Pubertät. Einen jungen Mann, der immer launisch ist und zu nichts Lust hat? Kein Wunder, was er schon alles wegen dir durchmachen musste, doch deine Frau würde sicher nicht mit ihm zusammenleben wollen. Hyde hatte dagesessen und die Luft angehalten, vor seinen Augen tanzten rote Sterne. Er dachte, sein Kopf würde platzen, aber er platzte nicht. Natürlich nicht, man musste alles aushalten. Man konnte alles aushalten. Ach hör doch auf, hatte seine Mutter wütend gerufen. Das ist doch alles nur dummes Gerede. Als wenn du es nur einen einzigen Tag mit deinem Sohn aushalten würdest. Wann hast du dich zuletzt um ihn gekümmert? Na? Wann denn? Du hast doch immer nur an diese Tussi gedacht. Uns hast du doch gar nicht mehr wahrgenommen. Weißt du was, ich würde es dir wünschen, wenn Hyde euch bei eurem Schäferstündchen stören würde. Das würde ich euch wünschen, dass deine neue Flamme nicht zum Zug kommt. Wer weiß, vielleicht mach ich es. Schick dir das Kind einfach vorbei, mit dem Taxi. Sie legte auf. Einen Augenblick war es vollkommen still. Totenstill. Hyde fürchtete schon, seine Mutter würde merken, dass die Türe nur angelehnt war. Aber seine Mutter dachte nur an ihren eigenen Schmerz. Hyde hörte sie weinen, die ganze Nacht. Immer, wenn Hyde aus dem Halbschlaf hochfuhr und auf die Uhr sah, hörte er das Weinen seiner Mutter. Doch der Schwarzhaarige stand nicht auf, ging nicht zu ihr, um sie zu trösten, nein, er lag wie versteinert in seinem Bett. Und nun würde in fünf Minuten die Englischstunde anfangen und er hatte den Text nicht gelernt. Er konnte den Text nicht begreifen. Many reasons why Betty Brown is happy today. Niemand ist happy, dachte er sich. Die tun einfach nur so. Oder kapieren nichts. Wissen nicht, dass es ihnen morgen schon so beschissen gehen kann wie mir jetzt. Das ganze Leben war ein riesiger Betrug. Oh Mann, wie alle immer gefunden hatten, dass es doch toll war eine solche süße Mutter zu haben und sooo einen tollen Vater. Nichts ist. Sie haben mich beide nicht gewollt. Wahrscheinlich haben sie bei der Scheidung nur versucht die Verantwortung für mich loszuwerden. Ich will Hyde nicht. Du musst ihn aber nehmen. Warum denn? Er ist auch dein Sohn. Ich arbeite den ganzen Tag. Und ich? Du arbeitest nur den halben Tag und außerdem bist du die Mutter. Was soll das denn heissen? Mütter haben von Natur aus ein engeres Verhältnis zu ihren Kindern. Ha, so einfach macht ihr Männer es euch. Aber ich will Hyde nicht. Ich auch nicht. Na schön, dann werfen wir ihn auf den Müll und vergessen ihn einfach. Klasse. Hyde schluckte, die Tränen stiegen ihm in die Augen, bis sie überquollen, er konnte nichts tun. Mit dem Jackenärmel wischte er die Tränen weg und versuchte weiter zu lesen. Er blieb immer an dem verdammten Wort „Happy“ hängen. Am liebsten hätte er geschrieen. Zittrig zog er ein Papiertaschentuch aus dem Ärmel, er wollte sich damit die Tränen abwischen, aber stattdessen stopfte er es sich einfach in den Mund, weil plötzlich gespürt hatte, das er schreien wollte. Ganz laut und grässlich. Ein furchtbarer Schrei, der so laut war und so hell, dass die Fensterscheiben platzten, die Schindeln vom Dach fielen und alles unter sich begruben. So einen Schrei müsste es geben. Und dann müsste man noch den Mut haben ihn wirklich auszustoßen, aber er hatte keinen Mut, er war feige, erbärmlich und feige. Kein Wunder, wenn man weiß, dass niemand einen haben will, oder? Wie soll man da mutig sein? Ich habe es immer geahnt, dachte Hyde, sie wollen mich nicht. Sie haben mich nie wirklich geliebt, ich war ein Betriebsunfall. Seine Mutter war schwanger geworden und sie hatten keinen Arzt gefunden, der die Schwangerschaft wieder abbrechen konnte. Er stockte. Das Blut pochte in seinen Schläfen. IHN wegmachen lassen. Oh, Nein, dachte er und riss das Taschentuch aus dem Mund, Beinahe wäre er erstickt. Er hob den Blick und sah sich um. Es war auf einmal so still, so anders. Was war los? War er ohnmächtig gewesen? Er saß immer noch auf dem Fensterbrett. Und vor ihm stand Gackt. Kapitel 4: Happy like Betty Brown --------------------------------- Vor ihm stand Gackt und hielt das englische Liederbuch in den Händen. „Das Buch ist dir runter gefallen“, meinte er. Hyde wurde rot, Gackt hatte so eine komische Art ihn anzusehen, er nahm ihm das Buch sanft ab. „Danke.“ „Hast du den Text gelernt?“ Der Schwarzhaarige schüttelte leicht den Kopf, so dass ihm die widerspenstigen Strähnen ins Gesicht fielen. „Er ist bescheuert“, sagte Gackt. „Stimmt.“ „Wenn ich das Wort „Happy“ schon lese, dreht sich mir der Magen um.“ Hyde blickte ihn verwundert an. Komisch, dachte er, er denkt ja wie ich. „Wahrscheinlich will uns der Lehrer irgendwie positiv polen“, sagte Gackt leise, „ Damit wir alles rosig finden, würde mich nicht wundern, wenn er noch mit dem Spruch kommt, dass man immer pink denken soll. „Think Pink“ Der gottverdammte, blödeste Spruch, den es gibt.“ Hyde ließ sich von der Fensterbank auf den Boden gleiten. Er zerrte seinen Pulli runter, der hoch gerutscht war und den nackten Bauch entblößt hatte. Hyde trug, auch wenn es kälter wurde, nie etwas unter seinen Pullovern, doch die mussten weich, flauschig und angenehm sein, dann war es okay. „Es geht mich zwar nichts an“, murmelte Gackt, „Aber dein Gesicht sieht noch ziemlich verheult aus. Ich meine, vielleicht solltest du noch kurz in den Waschraum gehen. Es sei denn, du willst, dass es alle sehen.“ „Bist du bescheuert? Warum sollten es alle sehen sollen?“ „Keine Ahnung. Liebeskummer ist doch irgendwie sexy.“ „So einen Mist hab ich noch nie gehört!“ Gackt lächelte. „Ich auch nicht. Hab ich mir eben ausgedacht. Ich weiß, ich rede nur blöden Mist. Ich wollte nur sagen, es tut mir leid.“ Hyde schloss die Augen zu einem Spalt. „Was tut dir leid?“, fragte er argwöhnisch. Gackt hob die Schultern. „Dass du traurig bist. Ich meine, ich hab keine Ahnung, warum, aber ich merke es eben. Und ich glaube, es gehört sehr viel dazu, wenn man sieht, wie du dir mit einem Taschentuch die Tränen abwischen willst und es dir dann in den Mund steckst, um nicht zu schreien.“ „Das hast du gesehen?“, flüsterte Hyde fassungslos. Der Blonde nickte. „Ich kam zufällig hier vorbei, ich glaube, ich habe im Moment eine Antenne für Unglück.“ Hyde schwieg und starrte Gackt an. Ihm fiel ein, dass er mit ihm bestimmt seit einem Jahr nicht so viele Sätze gewechselt hatte wie jetzt. Gackt gehörte irgendwie zu einer anderen Clique. Wenn irgendwo eine Party war, zu der Hyde eingeladen war, tauchte Gackt nie auf. Er gehörte zu dem Clan um You und Chachamaru, jedenfalls nahm Hyde das an. Genau wie Gackt wurde You und Chacha nie zu einem Fest eingeladen, die er besuchte. Hyde wusste selbst nicht genau warum. Vielleicht weil Gackt in einer anderen Gegend wohnte, mehr in Richtung Meguro, dort war er selbst noch nie gewesen. Es gab Schulen, die für Gackt viel näher gewesen wären, aber aus irgendeinem Grund hatten seine Eltern diese ausgesucht. Die Schule hatte ja auch einen guten Ruf. Heutzutage war es wichtig, dass man eine Schule mit einem solchen Ruf besuchte, behauptete seine Mutter. Hyde war nicht sicher, ob das irgendeine Bedeutung hatte. Der Ruf der Schule interessierte ihn nicht. Für ihn war es wichtig, ob die Lehrer gerecht oder ungerecht waren, ob er viele Hausaufgaben bekam und ob die faire oder unfaire Zeugnisse schrieben und natürlich wie die Stimmung in der Schule war. In Hydes Klasse war sie nicht besonders gut, aber auch nicht wirklich unangenehm, irgendwie hatte jeder genug mit sich selbst zu tun. Und dann hatte Hyde ja auch noch Tetsu, er fand, dass ein guter Freund eigentlich genügte, dennoch hing er manchmal noch mit Yuki und Ken herum. Aber jetzt lag Tetsu zu Hause mit einem Virus im Bett. Er hatte ihn morgens angerufen und seine Stimme war nur ein Krächzen gewesen wegen den Schmerzen. Hals und Kopf hatte er geflüstert. Es sei die Hölle. Das hatte Hyde den Rest gegeben, nun konnte er nicht einmal Tetsu von dieser Horrornacht erzählen. Dabei war er sich nicht sicher, ob er auch von dem Telefongespräch erzählt hätte, wo seine Mutter seinen Vater angefeilscht hatte. Wie er verscherbelt worden war. Hyde schloss die Augen. Nicht daran denken. Nicht schon wieder daran denken. „Da kommt Ufo“, wisperte Gackt. Hyde drehte sich um. Ufo bog gerade um die Ecke, wie immer trug er diesen weiten, schwarzen Mantel, der wie ein Teller um ihn herumflog, wenn er schnell ging. Ufo ging immer schnell. Das heißt, er ging nicht, er schwebte auf zentimeterdicken Gummisohlen auf seinen kleinen, kurzen Beinen, er schwebte heran wie ein Ufo. Daher hatte er seinen Spitznamen. „Ich tauche mal ab“, flüsterte Hyde, „Kannst du dir etwas ausdenken, wenn Ufo fragt?“ „Klar mach ich.“ Gackt stellte sich breit mitten in den Gang und gab Hyde Rückendeckung. Blitzschnell floh dieser nach hinten über eine kleine Treppe, die zum Physiksaal führte. In der nächsten Sekunde war Ufo bei Gackt. „Good morning“, rief dieser fröhlich. „Guten Tag, Sensei.“ „Well? Everybody happy?“, fragte er, während er gönnerhaft eine Hand auf Gackts Schulter legte. „Happy like Betty Brown“, sagte Gackt und der Lehrer lachte. „Übrigens, Hyde kommt gleich. Er hat irgendwas in das Auge bekommen. Ich hab gesagt, er soll es mit Wasser ausspülen.“ „Good idea“, flötete der Lehrer. Ufo redete, wenn Englisch Unterricht angesagt war, immer nur Englisch. „Come in and close the door.” Bevor Gackt die Tür zuzog, warf er noch einen Blick den Flur entlang, von Hyde war aber nichts zu sehen. Hyde tauchte erst gegen Ende der Stunde wieder auf, mit einem verlegenen Lächeln und, wie Gackt feststellte, mit völlig verquollenen Augen. Er stellte sich vor, wie er im Waschraum gehockt hatte, auf der Klobrille, und sich die Seele aus dem Leib geweint hatte. Warum ist jemand so traurig?, dachte er. Warum tun sich die Menschen so was immer wieder an? Warum konnten sie nicht cool sein? Bis ins Herz, sodass alles an ihnen abprallte? Manchmal glaubte er, dass er schon so weit war, der ganz coole Typ, der Einzelgänger, der niemand mehr an sich ranließ, den nichts aufregte, dem nichts Angst machen konnte. Dann kamen Augenblicke wie gestern, als er auf einmal in einem ausgeräumten Wohnzimmer gestanden hatte und wo ihm nichts mehr eingefallen war. Gar nichts. Er beobachtete Hyde, der schüchtern hereinkam, leise die Tür hinter sich zuzog und versuchte unbemerkt auf seinen Platz zu schlüpfen. Aber bei Ufo blieb nichts unbemerkt. Er schnellte herum und legte Ken, der gerade die zweite Strophe des Happy Gedichtes vortrug, die Hand auf die Schulter. „Oh Hyde“, meinte er, „Nice to see you. You have a problem with your eyes?” “Wie?...Was?”, stotterte Hyde. Ein hilfloser Blick streifte Gackt und der senkte die Augen um zu signalisieren: Keine Panik, alles unter Kontrolle “Yes…yes My eyes“, flüsterte Hyde. „Ah, I can see this. Your Eyes look pretty bad. Take your seat.” Seine Augen, du Schlaukopf, sehen schlecht aus, weil Hyde geweint hat, dachte Gackt. Aber besser, wenn Ufo nicht so genau wusste, was los war. Hyde setzte sich jetzt und schüttelte seine schwarzen Haare so vor das Gesicht, dass man nichts mehr von ihm erkennen konnte. Ziemlich praktisch, dachte Gackt, solche Strähnen, die wie ein Vorhang waren. Die perfekte Tarnung. Ken durfte endlich weiter lesen, dieser hatte einen grauenhaften Akzent, wenn er englische Texte vortrug. Ein paar Leute kicherten. Das machte Ken nur noch unsicherer. Ufo korrigierte bei jedem zweiten Wort sanft die Aussprache, doch das machte die Sache nur noch schlimmer. „Okay, Gackt, this is your turn“, Ufo blickte ihn an. Gackt holte tief Luft und legte los. Englisch war sein Lieblingsfach, er hatte mal davon geträumt, als Austauschschüler nach Amerika zu gehen, für ein Jahr oder auch zwei. Er hatte sich schon erkundigt, welche Organisation so was betreute. Roatry Club zum Beispiel. Aber dafür mussten die Eltern Mitglied in dem piekfeinen Club sein. Und der bestand nur aus Ärzten, Anwälten und reichen Firmenchefs. Keine Chance für Gackt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ihm klar wurde, dass er das sowieso keinem amerikanischen Schüler zumuten konnte, mit ihm zu tauschen. Sollte der vielleicht in einem Wohnzimmer hocken, in dem es nicht mal einen Sessel gab? Und mit einer Frau frühstücken, die kein Wort Englisch redete? Und zusehen, wie sie nachts die Wohnungstür verbarrikadierte, aus Angst, dass Gackts Vater zurückkam und randalierte? War das überhaupt jemandem zuzumuten? Egal ob er Amerikaner, Finne oder sonst was war? Wahrscheinlich war er der einzige Junge der Welt, der stark genug war so etwas auszuhalten: So ein Elternhaus, das keines war. Solche Eltern, die sich immer nur bekriegten. Gackt las den englischen Text ohne ein einziges Mal über den Inhalt nachdenken. Er hatte es darin zur Perfektion gebracht: Gleichzeitig etwas zu lesen und an etwas anderes zu denken. Gleichzeitig Kampftraining haben und dabei Vokabeln repetieren. Gleichzeitig schlafen und träumen, das war das Beste an allem. Jedenfalls wenn es ihm gelang von etwas Gutem zu träumen. Wie von seinem Leben später in Amerika. Dann ging es ihm gut. Er stellte sich das Zimmer vor: am Hafen, mit Rollos, die schräge Lichtstreifen durchließen, mit einem Ventilator an der Decke. Und er in dem kühlen Zimmer, die Ärmel hochgekrempelt, die Füße auf dem Tisch, während seine Sekretärin ihm erzählte, wer alles angerufen hatte. Natürlich lauter Hollywood-Leute, die seine Dienste als Detektiv brauchten. „Gackt, did you hear my last question?“ Er zuckte zusammen und blickte auf. Ufo stand direkt neben seinem Stuhl. Warum hatte er nicht gemerkt, dass Ufo sich von hinten an seinen Platz geschlichen hatte? Dass er ihm über die Schulter schaute? Ich muss trainieren drei Dinge gleichzeitig zu können, dachte Gackt: Lesen, denken und nach hinten zu sehen. „Yes“, sagte er. „Now, will you repeat my question?“ Gackt schluckte, er begann hilflos zu stottern. Er hatte keine Ahnung, was Ufo gefragt hatte und das wusste dieser genau. Er hatte einen Riecher für Leute, die mit ihren Gedanken wegdrifteten, raus aus dem Klassenzimmer. Da meldete sich Hyde, der eine Reihe vor Gackt saß, schräg links am Fenster. „Please Sensei, can I answer this question?“ Ufo lächelte, er trat einen Schritt vor, wandte sich um und blickte Hyde an. „Okay go ahead“, sagte er. Und Hyde begann etwas zu fantasieren, etwas über die amerikanische Forderungen, die im Civil Code verankert war: The Pursuit of Happiness. Darauf hatte jeder amerikanische Bürger ein Recht, ein Recht auf Glück. Tolle Geschichte. Ufo war begeistert. Gackt ließ sich aufatmend zurückfallen. Das war wirklich nett von Hyde, dass er ihm aus dieser Patsche geholfen hatte. Er wollte sich damit für vorhin bedanken. Klar. Aber er hätte es nicht tun müssen. Andere hätten es wahrscheinlich nicht getan. In der Pause blieb Gackt vor Hydes Tisch stehen. „Thanks“, sagte er. Hyde grinste leicht, „Die Englischstunde ist vorbei, können wir nun auch wieder Japanisch reden?“ Seine Augen sahen nicht mehr so schlimm aus wie vorher. Er schob die Haare aus der Stirn. Das tat er ungefähr zehnmal in einer Stunde hatte Gackt festgestellt. Immer das Spiel mit den Haaren. Vorhang auf, Vorhang zu. An manchen Tagen trug Hyde seine Haare allerdings auch zurückgekämmt, so dass nur ein paar Strähnen in die Stirn fielen. Das sah auch cool aus, fand Gackt. „War klasse, wie du mich da raus gehauen hast“, sagte der Blonde nun, „Ich hatte echt keinen Schimmer, was Ufo gefragt hatte.“ „Hab ich bemerkt“, Hyde packte seine Sachen zusammen und erhob sich. Gackt folgte ihm aus dem Klassenzimmer. „Warum hast du das bemerkt?“ „Weil ich dir zugesehen habe, als du gelesen hast, ich wusste hundertprozentig, dass du mit deinen Gedanken total woanders warst. Ich hab auch mitgekriegt, wie Ufo sich angeschlichen hat. Der hat dir die ganze Zeit über die Schulter gesehen, aber du hast es nicht bemerkt.“ „Woher weißt du das?“ „Weil sich deine Stimme nicht verändert hat beim Lesen. Weil du die Schultern nicht hochgezogen hast. Das tun sonst alle. Ist doch normal, dass man irgendwie den Kopf zwischen die Schultern zieht, wenn ein Lehrer hinter einem steht“, er grinste, „Alter Reflex. So alt wie die Schule nehme ich an.“ Gackt starrte Hyde an. „Du hast mich die ganze Zeit beobachtet?“ „Ist das verboten?“ Der Blonde schüttelte den Kopf, sogar ein Lächeln flog über sein Gesicht. „Quatsch, nicht verboten, ich find es nur komisch.“ „Dann vergiss es einfach“, Hyde bog links zur Bibliothek ab. Zum Pausenhof wäre es geradeaus gegangen, durch die Glastüre. „Ich will es aber nicht vergessen“, Gackt blieb stehen, er fasste Hyde am Pulloverärmel. „Warte!“ Dieser blieb stehen und drehte sich ganz langsam zu ihm um. „Was?“ Gackt musste schlucken, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Und wieder bekam er nicht genug Luft, um ruhig zu atmen und anständig zu sprechen, ruhig, deutlich und ohne die geringste Verlegenheit. „Was machst du…sagen wir…heute um drei?“ „Heute um drei?“ Hyde runzelte seine Stirn. Er blickte Gackt von oben bis unten an. Und dieser wurde rot. Ihm fiel ein, dass sein Sweatshirt, das er am Leib trug, vollkommen ausgebeult war und verblichen. Früher war es einmal schwarz gewesen, doch es war nur noch grau und das Logo war schon längst verblasst. Er hatte es einfach vom Stapel genommen und übergestreift. Seine Mutter hatte noch im Bett gelegen. Er hatte sich einen Tee gemacht und ein Stück Brot hinunter gewürgt. Es war steinhart gewesen. Hätte er es nicht in den Tee getaucht, hätte er sich womöglich noch die Zähne daran ausgebissen. Aber besser so ein Frühstück als eines in Gesellschaft seiner verheulten Mutter. In der Nacht hatte es gegen die Wohnungstüre geschlagen, er war davon aufgewacht. Er war sicher, dass seine Mutter es auch gehört hatte. Aber sie hatten sich beide nicht gerührt. Hatten einfach Mäuschen gespielt. Irgendwann hatte der Lärm aufgehört, noch bevor jemand die Polizei rufen konnte. Das hätte noch gefehlt, dass die Bullen vor der Türe gestanden hätten und gefragt, warum man den armen Mann nicht rein ließ. In die Wohnung, die er gerade erst ausgeräumt hatte. „Heute um drei hab ich überhaupt nichts vor“, sagte Hyde, „Ich wollte eigentlich mit Tetsu ins Kino. Aber der ist krank.“ „Kino geht nicht“, sagte Gackt, „Welchen Film wolltest du dir denn ansehen?“ „Den neuen Horrorfilm, der angelaufen ist.“ „Wow“, meinte der Blonde. Hyde mochte Horrorfilme! Da lagen sie ja ziemlich auf einer Welle, er hatte alle Horrorfilme im Fernsehen gesehen. Wenn man lange genug wartete, nämlich genau zwei Jahre, kamen fast alle Filme im TV. „Warum geht Kino nicht?“, fragte der Kleine. Gackt grinste verlegen, er steckte die Hände in die Taschen, zog sie wieder raus, drehte die Handflächen nach außen. „No money.“ „Oh.“ Jetzt schaut er sich wieder meine Klamotten an, dachte Gackt. Solche Turnschuhe wie er hatte keiner. Alte ausgetretene Dinger. Keine anständige Profilsohle, tausendmal zusammengeknotete Schuhbänder, keine modische Farbe, nicht die richtige Marke. Seine Hose war auch kaum mehr vorhanden. Eine Jeans, die ihm zu weit war und von einem alten Gürtel zusammengehalten wurde. Nichts an ihm war richtig. Nicht mal die Frisur, er wusste es ja, aber bisher hatte es ihm nichts ausgemacht. Wenn Hyde ihn aber so ansah, so langsam, beinahe abschätzend von oben bis unten, dann fand er es ziemlich zum Kotzen.. „Okay“, sagte er, „Schätze, das war es. Viel Spass.“ Er drehte sich um, die Hände wieder in den Taschen vergraben und schlenderte lässig davon. Er war schon beinahe aus der gläsernen Türe, als er Hyde nach ihm rufen hörte. „Gackt! Warte!“ Er blieb starr stehen und drehte sich nicht um. Er hörte seine Schritte und spürte, dass Hyde dicht hinter ihm stehen geblieben war. Der Kleine war rot, hatte ein verlegendes Lächeln auf den Lippen, er hustete, als wenn er plötzlich von Tetsu der Grippevirus befallen wäre. „Heute ist Mittwoch“, sagte er. „Ich weiß“, Gackt blickte cool an ihm vorbei. „Mittwochs kostet es im Kino immer nur die Hälfte“, meinte Hyde. „Geht trotzdem nicht.“ „Klar geht das! Ich krieg zwei Karten für eine. Ich lade dich ein! Meine Mutter hat mir heute Geld neben das Frühstück gelegt.“ „Oh, so was kriegst du einfach zum Frühstück?“ Hydes Blick verdunkelte sich, „Es waren besondere Umstände. Ich schätze, Mutter wollte sich irgendwie wieder bei mir einschmeicheln.“ „Ach ja?“ „Ja!“ „Hmhhh“ Hyde räusperte sich und hustete schon wieder. „Ich hab zu Hause im Augenblick einen Haufen Probleme. Kein Liebeskummer. Ich wollte nur, dass du das weißt.“ Gackt holte tief Luft, blickte cool. „Klar.“ „Vielleicht erzähl ich es dir mal, wenn ich Lust hab“, sagte Hyde, „Aber nur vielleicht.“ Gackt nickte. „Leben deine Eltern zusammen?“, fragte er, nachdem er zehn Sekunden geschwiegen hatte. „Meine Eltern? Wie kommst du darauf?“ „Nur so. Reg dich nicht auf.“ „Ich reg mich nicht auf. Ich frag mich nur, wie du von Kino auf meine Eltern kommst.“ Kann ich hellsehen oder was?, dachte Gackt in einem Anfall von Panik. Er hatte einen heißen Kopf. Nicht leicht cool zu wirken, wenn der Kopf glühte. „Ich hab bloß so gefragt. Wahrscheinlich wollte ich sagen, dass meine Eltern gestern geschieden wurden. Getrennt, verstehst du? Vor Gericht. Ganz legal und so. Unterschrift, Stempel, geschieden, aus.“ Gackt sah den Kleinen an, er sah, wie seine Augen auf einmal wieder so verräterisch schwammen. Es tat ihm leid, dass Hyde schon wieder traurig wurde, dass er seine Verzweiflung nicht in den Griff bekam. Er hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Aber das ging natürlich nicht. Aus irgendeiner Klasse stürmten Leute an ihnen vorbei. „Mein Vater hat gestern unser Wohnzimmer ausgeräumt“, sagte er, „falls du mit der Antwort etwas anfangen kannst.“ Beide blickten sich an. „Für immer?“ Gackt zuckte mit den Schultern, „Ja, ich denke es.“ Lehrer kamen und gingen. Eine Putzfrau schleppte einen stinkenden Seifenwassereimer an ihnen vorbei. Ein Schüler warf einen Gummiball auf den Boden und fing ihn wieder auf, bevor ein Lehrer es sah. Doch Gackt wie auch Hyde bemerkten von all dem nichts, beide blickten sich in die Augen, vergaßen die Zeit. „Um drei vor dem Kino?“, fragte Gackt leise. Hyde nickte. „Komm fünf Minuten früher. Dann können wir noch eine Tüte Popcorn kaufen.“ „Die bezahl ich aber“, meinte Gackt. „Ich dachte, du hast kein Geld?“ „Um drei hab ich das Geld.“ Sie lächelten sich an. Gackt sah dabei zu, wie Hydes Augen immer heller wurden und die Pupillen in diesen warmen, sanften, rehbraunen Augen immer größer und schwärzer wurden. Ein Loch, das sein Blick wie magisch aufsaugte. Das magische Loch, das war spannend. Es brauchte richtig Kraft sich von diesem intensiven Blick zu befreien. „Ich muss in die Bibliothek“, sagte Hyde, um sich irgendwie aus der Verlegenheit zu befreien. „Klar, okay, ich geh mal hinunter in den Hof.“ Sie nickten sich zu und dann trennten sich ihre Wege. Kapitel 5: Ewiger Streit...... ------------------------------ Als die U-Bahn in den Tunnel einfuhr und in dem Waggon das Licht anging, konnte Gackt sein Gesicht im Fenster sehen. Und er sah, dass er lächelte. Fassungslos schaute er dieses Gesicht an, das ihm vorkam wie ein Fremdes. Er lächelte! Ja, es kam ihm vor, als habe er eben sogar ein Lied gesummt, vielleicht nicht laut, doch die Melodie war immer noch in seinem Kopf. Er starrte sein Spiegelbild an. „Hey“, flüsterte er, „ Bist du das, alter Freund? Warum bist du nur auf einmal so gut drauf? Nur, weil du eine Verabredung zum Kino hast? Mit einem gewissen Hyde, den du schon seit genau drei Jahren kennst, weil ihr nämlich im selben Klassenzimmer sitzt, Tag für Tag… Kannst du dich nicht erinnern, dass du sie früher immer genauso albern wie Tetsu fandest? Oder schlimmer, wie dieser Chacha und Ken? Alles vergessen? Was ist denn nur los mit dir?“ Die U- Bahn schoss wieder aus dem Tunnel heraus und er sah sein Gesicht jetzt zwischen vorbeihuschenden Bäumen und auf Häuserfassaden. Die Bäume hatten keine Blätter, die Balkone keine Blumen, die Häuser waren Grau wie der Himmel und es begann wieder zu regnen, aber Gackt lächelte trotzdem. Es gefiel ihm, so sehr dass er sein lächelndes Gesicht eine Weile behalten wollte. Er überlegte sich, wann er von zuhause los musste, um rechtzeitig vor dem Kino zu sein. Vor lauter Gedanken hätte er beinahe die Station verpasst, er bemerkte es erst, als die Fahrgäste ausgestiegen waren und die anderen vom Bahnsteig schon hineindrängten. Gackt schnappte sich seinen Rucksack und drängte sich durch die Leute, jemand fluchte, doch Gackt lächelte weiter. Er ging mit seinem typisch federnden Schritt zur Rolltreppe. Hielt sich am Geländer fest und stellte sich mit einem Bein auf die Stufe, das andere winkelte er an, um auszuholen für den Sprung. Gackt sprang immer noch fünf Stufen vorher ab. Aus keinem besonderen Grund, er hatte es sich eben so angewöhnt. Vor dem Zeitungskiosk von Toshi lehnten die Fahrräder der Austräger. Hier hatte er auch schon gearbeitet, bis man ihm sein Fahrrad gestohlen und er dadurch seinen Job verloren hatte. Gackt blieb einen Augenblick stehen und betrachtete die Zeitungsstapel, die gebündelt auf dem Bürgersteig lagen. Er las sich die Sonderangebote im Mini Markt durch, irgendwelche Crevetten wurden billiger. Und noch eine Vielzahl an anderen Produkten. Im Winter wurden viele Dinge, die man zum Grillen benötigte günstiger und nach Weihnachten wurde sowieso alles preiswerter, weil die Leute kein Geld mehr hatten. Alles für das Fest ausgegeben, na ja so dachte es sich Gackt zumindest. Eigentlich wollte er auch gar nicht an solch ein Fest denken, denn sein Letztes war ein einziger Alptraum gewesen. Vom 22. Dezember bis Neujahr, jeder Tag noch eine größere Katastrophe. Lieber nicht daran denken. Aber warum die Leute gerade an Weihnachten oder anderen Festen, die man mit der Familie verbrachte, immer besonders sentimental wurden und wieso sie deshalb ausrasteten, das müsste ihm mal jemand erklären. Er jedenfalls hatte noch nie so viel im Bett rumgelungert wie in diesen Ferien – eigentlich war er aus dem Bett überhaupt nicht mehr herausgekommen. Jedenfalls dann nicht, wenn seine Eltern gemeinsam in der Wohnung waren und sich unentwegt angifteten. Lieber nicht daran denken. Lieber an was anderes. Was noch mal genau? Ach ja, an Hyde, den süßen wundervollen Hyde. Einen Horrorfilm sehen mit ihm. Wer hätte gedacht, dass er auf solche Filme steht. Die Melodie in seinem Kopf war immer noch da, er summte leise vor sich hin. Ein Hund raste quer vor ihm über den Bürgersteig und verschwand unter einem Lieferwagen. „Pass auf Kumpel“, rief Gackt, „Der Laster!“ Er hob den Kopf, um zu sehen, ob der Hund heil über die Strasse gekommen war und erstarrte. Auf der anderen Straßenseite stand sein Vater, war einfach plötzlich da. Gackt spürte, wie er sich verkrampfte, die Musik in seinem Kopf war weg. Wie ausgeknipst, genau wie das Lächeln… Hatte er je gelächelt? War er irgendwann in der letzen halben Stunde wirklich guter Laune gewesen? Sein Vater winkte. Es war zu spät, um einfach weiterzugehen und so zu tun, als habe er ihn nicht gesehen. Sein Vater winkte mit beiden Armen. Er trug keinen Wintermantel, nur dieses Jackett, das er seit einem Jahr jeden Tag trug und das ausgebeulte Taschen und einen abgewetzten Kragen hatte. Darunter einen dieser Baumwollpullis mit einem Reißverschluss. Gackt blickte nach rechts und links. Autos von beiden Seiten. Also noch eine kleine Verschnaufpause. Sein Vater gestikulierte auf der anderen Seite. Die Passanten machten einen Bogen um ihn. „Ich muss mit dir reden!“, brüllte er, „Renn nicht weg!“ Als wenn ich weglaufen würde, dachte Gackt. Ich bin doch kein Baby. Ich halte das schon aus, ich halte alles aus. Er setzte einen Fuß auf den Asphalt, sein Atem ging schwer, er bekam schon wieder keine Luft. Doch das ging niemanden etwas an. Nur ihn alleine. Seinen Vater schon gar nicht. Er wartete, zog ganz langsam die Luft ein. Nicht aufregen, nicht in Panik geraten, dann wird es nur schlimmer. Ganz langsam tief Luft holen, bis weit in die Lungen, eine Weile so verharren, ausatmen. Sein Vater stürzte über die Strasse auf ihn zu, mit ausgebreiteten Armen, er lächelte, doch er sah furchtbar aus. „Was ist, Kleiner, willst du warten, bis sie hier eine Ampel für dich bauen, die jedes Mal, wenn du die Strasse betrittst, auf Grün schaltet?“ Sein Vater grinste, Gackt verzog das Gesicht. „Komm Kleiner, lach mal.“ „Ich lach doch“, meinte Gackt „War doch ein guter Joke, oder etwa nicht?“ „Besser als mancher andere.“ „Oh Mann, der Herr Sohn ist schlecht gelaunt. Was ist passiert?“ „Das weißt du doch am besten.“ Gackt umklammerte den Schulterriemen seines Rucksackes. Er brauchte was, an dem er sich festhalten konnte. „Wegen deiner Mutter? Was hat sie dir denn erzählt?“ „Nichts, was ich nicht vorher schon gewusst hab“, brummte der Blonde „Warum könnt ihr euch nicht wie andere Eltern verstehen? Warum geht das nicht? Warum ist bei uns immer alles beschissen?!“ „Bei anderen Leuten ist auch nicht alles süßer Honig“, sagte sein Vater, „Außerdem ist noch nicht aller Tage Abend, es kommen auch wieder bessere Zeiten.“ „Mann, wenn man dir zuhört, wie du redest!“ „Wie red ich denn?“ Gackt zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Alles, so auswendig gelernte Sprüche. Nicht aller Tage Abend, Mensch ich bin siebzehn! Warum sollte für mich aller Tage Abend sein?! Ich will nichts anderes als ein normales Zuhause. Warum ist das so schwer zu kapieren?!“ „Ich hab mich bemüht, Kleiner, das weißt du, aber es ist nicht einfach. Der Job, deine Mutter, die immer so nervös ist, die politischen Zeiten. Hör dich mal um, anderen geht es auch nicht besser.“ „Andere haben kein leeres Wohnzimmer.“ Gackt bückte sich, um den Hund zu streicheln, der eine Weile neben ihm hergegangen war, ganz nah an ihm. Doch als er jetzt sein Fell berührte, jagte der Hund in Panik davon. Auch so ein Einzelgänger, dachte sich Gackt, der nichts an sich ran lassen will. Er blickte wieder seinen Vater an. „Ich dachte, die Schreibtischlampe hättest du mir geschenkt?“ Sein Vater lachte aus voller Kehle. Richtig erleichtert hörte es sich an. „Oh die Lampe, ach du, natürlich hatte ich dir die geschenkt. Wie konnte ich dich nur so enttäuschen, dir einfach die blöde Lampe wegzunehmen.“ Er hörte einfach nicht auf zu lachen. „Genau, wie konntest du das nur machen!!!“ Gackt versuchte seine Stimme so kühl klingen lassen wie Phillip Marlowe. „Junge, Kleiner! Deshalb bin ich gekommen. Ich wollte es dir selbst sagen.“ „Was?“ Gackt blieb stehen, blickte zu seinem Vater auf. Sein Vater war mindestens ein halben Kopf größer und doppelt so breit wie Gackt. Ein muskulöser Mann, mit einem großen freundlichen Mund. Und schönen sanften Augen. Nicht zu fassen, wenn er jemanden erzählen würde, dass sein Vater schon mal von der Polizei abgeführt worden war, weil er seine Mutter halb tot geprügelt hatte, das würde ihm keiner glauben. Nachher hat es ihm ja auch wahnsinnig leid getan, schrecklich leid. Wie er da geweint hatte. Richtig geschluchzt. Und sie beide um Verzeihung gebeten, Gackt und seine Mutter. Damals war Gackt acht Jahre alt gewesen und hatte, während sich die Eltern stritten, vor Angst in die Hose gemacht. Das würde er seinem Vater nie im Leben verzeihen, dass er ihn dazu gebracht hatte, mit acht Jahren noch in die Hose zu machen. Aber daran wollte er lieber nicht mehr denken. Er schämte sich immer noch dafür. Es gab Sachen, die fallen einem immer wieder ein, und jedes Mal wird man wieder rot und denkt: Ey, das darf echt nie ein Mensch erfahren, nie im Leben! Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schulter, eine Pranke, die eine Tonne wog. „Komm, wir gehen was essen. Eine gute Schüssel Ramen Wie klingt das?“ „Ich hab keinen Hunger.“ „Klar hast du Hunger! Jeder Mensch hat Hunger!“ Gackt gab zögernd nach: „Okay, aber nur am Imbiss.“ „Warum denn das? Wir setzen uns schön wohin. Dann können wir richtig reden und gemütlich dabei essen. Im Stehen essen ist ungesund.“ „Du willst doch bloß was trinken“, sagte Gackt. Sein Vater blickte ihm in die Augen, mit seinen braunen Augen, die so treu und ehrlich waren wie Hundeaugen. „Junge, traust du mir das zu? Heute? Wo ich mich bei dir entschuldigen will?“ „ Ich trau dir alles zu“, meinte Gackt. Sein Vater schnaubte nur. „Außerdem hab ich keinen Hunger. Also, was willst du mir sagen?“ Sein Vater holte tief Luft, er knurrte etwas, er war jetzt nicht mehr so gut gelaunt und Gackt hatte auch nicht das Gefühl, dass er sich wirklich entschuldigen wollte. „Gut, wenn du es eilig hast…“ Sein Vater blickte ihn durchdringend an. Die steile Falte auf seiner Stirn wurde tiefer. „Ja“, sagte Gackt, „Ich hab nachher noch etwas vor.“ „Ah klar, das ist natürlich wichtiger als ein Gespräch mit seinem Vater.“ Gackt stöhnte leise auf, „Rate mal, wie oft wir schon versucht haben miteinander zu reden. Wie viel tausendmal. Und was es letzten Endes gebracht hat!“ „Natürlich gibst du mir die Schuld“, schnaubte sein Vater. „Nein, tu ich nicht. Es ist mir inzwischen egal, wer die Schuld hat. Ich will bloß nicht darüber reden. Was ist nun mit der Lampe?“ Sein Vater zögerte, „Du könntest sie zurückhaben.“ „Bedingungen?“, fragte Gackt. „Dass du heute Nachmittag mit mir kommst. Ich will dir was zeigen.“ „Heute geht aber nicht.“ „Es ist aber wichtig!“ „Okay, morgen. Was willst du mir zeigen?“ „Das kann ich dir nicht sagen. Offenbar interessiert es dich auch nicht besonders, sonst würdest du gleich heute mitkommen.“ „Vater, ich hab heute etwas vor. Das hab ich schon zweimal gesagt. Was willst du mir zeigen?“ „Meine neue Arbeitsstelle.“ „Du hast eine neue Arbeit?“, Jetzt war Gackt wirklich überrascht, sein Vater lächelte stolz. „Jawohl. Eine sehr gute Spedition, fahren immer Japan - Kiew und zurück.“ „Prima, freut mich“, lächelte Gackt nun ein wenig, „Dann kannst du Mutter ja ein wenig Geld geben, sie ist nämlich total pleite.“ „Wer ist das nicht heutzutage?“ Gackts Vater steckte seine großen Hände in die Jackentasche und holte ein paar Yen aus ihr und stopfte die Scheine in die Jackentasche von Gackt. „Das ist schon mal eine kleine Anzahlung.“ „Oh“, meinte der Blonde überrascht, „Danke.“ „Du musst dich nicht bedanken. Ich weiß selbst, dass ich dir seit Monaten kein Taschengeld mehr bezahlt habe.“ „Stimmt“, sagte Gackt, „deshalb fall ich dir ja auch nicht gleich aus Dankbarkeit um den Hals.“ „Also, wann kommst du dir meine neue Wohnung ansehen?“ „Ich weiß noch nicht, nächste Woche vielleicht, hängt von der Menge der Schularbeiten ab.“ Eigentlich hatte der Blonde überhaupt keine Lust zu seinem Vater zu fahren. Er fürchtete sich davor, mit ihm allein in einer fremden Wohnung zu sein. Das hatte etwas Unberechenbares. Er wusste schließlich nicht, in welcher Stimmung er seinen Vater antreffen würde. Und es gab Stimmungen, da war man besser weit weg. Wer Gackt jetzt beobachtete, wie er mit seinem Vater die Strasse hinunterschlenderte, wäre nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, dass Gackt Panik vor ihm hatte. Doch Gackt hatte Angst. Immer, wenn er mit seinem Vater zusammen sein musste, war er in Alarmbereitschaft. Man wusste nie, wann dessen Laune umschlug, wie lange er es durchhielt, so leutselig und freundlich zu sein, den lieben Papa zu spielen. Manchmal hielt er einen halben Tag durch, manchmal aber auch nur eine halbe Stunde. Gackt blieb stehen. „Ich komm doch nicht mit essen“, meinte er leise, „Es ist schon spät. Und ich muss noch etwas für die Schule machen, bevor ich los muss.“ „Was ist das denn für eine Verabredung?“ Gackt zögerte. Sein Vater lächelte, zwinkerte kumpelhaft. „Musst gar nichts sagen. Es ist eine Frau nicht?“ Der Blonde nickte ein wenig beklommen. „Eine aus der Schule?“ Gackt nickte wieder. „Und? Ist sie hübsch?“ „Ja, glaub schon“, murmelte Gackt, da er sich an keines der Mädels in der Klasse erinnern konnte und er würde sich lieber die Zunge abbeißen, als seinem Vater zu sagen, dass es sich um einen Jungen handelte. Er war froh, als sein Vater nicht mehr auf das Thema einging. „Na dann muss ich dich wohl ziehen lassen, wenigstens hab ich mit dir sprechen können und weiss, dass du nicht mehr böse auf mich bist. Und die Lampe nimmst du mit, wenn du mich besuchst. Ist das ein Angebot?“ Gackt nickte. „Deine Mutter beobachtet uns übrigens die ganze Zeit“, sagte sein Vater. Der Blonde wirbelte herum. Er bemerkte jetzt erst, dass sie wieder vor seinem Haus angekommen waren. Seine Mutter stand am Küchenfenster. Das Fenster war geschlossen, aber man konnte ihre Silhouette sehr klar gegen den Kegel der runden Glaslampe sehen. Unbeweglich stand sie da und starrte auf die Strasse herunter. Auch das noch, dachte Gackt. Jetzt löchert sie mich, was Vater wollte, was er gesagt hat und was ich geantwortet hab. Und gibt nicht Ruhe, bis sie haarklein alles weiß. Nur um sich dann noch mehr aufzuregen. Egal, was er sagen würde. Sie würde sich immer aufregen, das wusste Gackt. Ob er lügen oder die Wahrheit sagen würde, ganz egal. Allein die Tatsache, dass er mit seinem Vater gesprochen hatte, lange und offenbar freundschaftlich und noch vor dem Haus. Sodass alle Nachbarn es mitbekamen, das würde seine Mutter für Verrat halten. Denn sie dachte, dass Gackt und sie auf einer Seite kämpften. Und sein Vater auf der anderen. Aber der Blonde war sich da nicht hundertprozentig sicher. Denn es gab immer noch winzige Augenblicke, in denen er seinen Vater liebte, oder etwas empfand, was er für Sohnesliebe hielt. Es war genau so, wie er es sich vorgestellt hatte: Als Gackt die Wohnungstüre aufschloss, stand seine Mutter im Flur, die Hände in die Hüfte gestemmt. „Na? Was hat er gesagt?“, rief sie. Gackt seufze. „Ich muss Schularbeiten machen.“ Er versuchte an seiner Mutter vorbeizugehen. Aber sie stellte sich ihm in den Weg. „Nein, du machst nicht Schularbeiten! Wem interessieren diese überhaupt, wenn bei uns die Hölle los ist?!“ „Gut dass du es endlich einsiehst“, Gackt schob seine Mutter grob zur Seite. „Dass bei uns die Hölle ist? Ja, ist das vielleicht meine Schuld?“ Seine Mutter folgte ihm, zu Gackts Leidwesen war sie schneller im Zimmer als er seine Zimmettüre zuschlagen konnte. „Mensch Mutter, warum lasst ihr mich nicht einfach in Ruhe?“ „Gleich, Gackto, gleich lass ich dich in Ruhe. Ich will nur wissen, welche Lügengeschichten dein Vater dir erzählt hat. Über das hier, das Ende, seinen letzten großen Auftritt?“ „Wir haben über etwas anderes gesprochen.“ Gackt setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und zog die Schlappen von den Füssen, dann zog er sich seine Socken aus. Er lebte ständig in Panik, Schweißfüsse zu haben. Er wollte auf jeden Fall frische Socken anziehen, wenn er sich mit Hyde traf. Nicht, dass er ihm seine Füße auf den Schoss legen wollte. Aber trotzdem. Es war ein besseres Gefühl, mit sauberen Socken neben ihm zu sitzen. „Was soll das denn?“ Seine Mutter starrte ihn an. „Willst du am helllichten Tag ins Bett gehen? Ist das deine Antwort auf alles? Sich einfach ins Bett zu verkriechen?“ „Ich zieh mir bloß frische Socken an, reg dich nicht auf.“ Seine Mutter setzte sich auf die Bettkante. Sie sah blass aus, müde und elend. Eigentlich tat sie ihm leid. Sie machte sich Sorgen um die Zukunft, um ihr Leben, auch um sein Leben, das wusste er. Bestimmt dachte seine Mutter öfters über ihn nach als sein Vater, der war auch meistens gar nicht in der Lage dazu. „Ziehst du zweimal am Tag frische Socken an?“, fragte sie fassungslos. „Was ist das für ein neuer Tick?“ „Überhaupt kein Tick, ich hatte bloß Lust dazu.“ Er blickte seine Mutter kampfbereit an. Wenn du wegen dieser Sache Krieg haben willst, dachte er, kannst du ihn haben. „Und ich stell mich nach der Arbeit hin und wasch dem Herrn die Socken, ja? Stellst du dir das so vor?“ „Ich mach es selbst, reg dich nicht auf.“ Gackt hob die schmutzigen Socken auf und ging an seiner Mutter vorbei. Als er die Küche betrat, öffnete er die Tür der Waschmaschine und warf die Socken herein. Als er sich umdrehte, war seine Mutter schon hinter ihm. „Bist du verrückt?“, schrie sie. „Wegen ein paar Socken die Waschmaschine anzustellen?“ „Hab ich gesagt, dass ich sie anstellen will?“ Gackt griff sich an den Kopf. „Oh Mann, ich halt das alles einfach nicht mehr aus!“ „Hat dein Vater gesagt, dass er eine neue Arbeit hat?“, fragte sie und folgre ihm wieder über den Flur in sein Zimmer. „Ja, hat er.“ „Bei dieser Firma die Sachen nach Russland importiert?“ „Ja. Wenn du es weißt, warum fragst du mich dann?“ „Ich wollte nur wissen, ob er uns beiden verschiedene Lügen erzählt. Du glaubst doch nicht etwa, dass das wahr ist?“ „Warum sollte es gelogen sein?“ „Denk doch mal nach, Junge, weil dein Vater schon seit Jahren keinen Führerschein hat! Weil sie ihm den dreimal abgenommen haben, zweimal wegen Trunkenheit und einmal, weil er diesen Unfall hatte, bei dem zwei Menschen verletzt wurden.“ Scheisse, dachte Gackt, das stimmt. Warum hab ich das vergessen? Warum erzählt er dann solch einen Mist? Er spürte, dass seine Mutter ihn beobachtete, in seinem Gesicht zu lesen versuchte. Trotzig hob er den Blick. „Er hat nicht gesagt, dass er als Fahrer eingestellt wurde. Er kann doch Beifahrer sein, oder? Einfach nur Packer. Die brauchen jemanden, der den Laster fährt und jemanden, der die schweren Kisten umlädt und so. Was meinst du, wie schwer die sind?“ Seine Mutter schwieg. Sie blickte ihn an und hatte Tränen in den Augen. Sie kam zu ihm, nahm ihn in den Arm, bevor er sich abwenden konnte und küsste ihn. „Mein Junge, es tut mir so leid, so leid.“ Sie strubbelte durch seine blonden Haare und küsste ihn immer wieder. Gackt schloss die Augen, warum lassen die mich nicht in Ruhe, warum ziehen sie mich immer in den Kram mit rein. „Du nimmst ihn immer noch in Schutz, deinen Vater.“ Seine Mutter lächelte unter Tränen, wischte mit dem Handrücken die Tränen von der Wange, verschmierte ihre Wimperntusche, aber merkte es nicht. „Du liebst ihn immer noch, nach allem, was er dir angetan hat.“ „Mir hat er nichts getan“, murmelte Gackt, „Ich bin ja nicht mit ihm verheiratet gewesen.“ „Aber du bist sein Sohn!“ Der Blonde schwieg. Er wartete mit hängenden Armen, bis seine Mutter ihn endlich wieder losließ. „Sonst hat er nichts gesagt?“ „Nein“, meinte Gackt, „Kann ich nun meine Schularbeiten machen?! Bitte!“ „Klar. Nur noch eine Frage: Hat er sich entschuldigt wegen heute Nacht, dass er im Flur randaliert hat? Hat er sich da nur ein einziges Mal schuldig gefühlt?“ „Mutter, bitte, frag ihn selbst, wenn du das wissen willst. Ich hab genug, verstehst du?“ Er starrte seine Mutter an, als wolle er sie hypnotisieren. „Ich kann nicht mehr! Verstehst du das?! Lass mich in Ruhe verdammt noch mal.“ Er schob sie einfach aus dem Zimmer und knallte die Türe zu. Sofort schnappte er nach Luft, warf sich aufs Bett, die Augen geschlossen. Langsam atmen, dachte er. Vorsichtig atmen. Dann kommt es wieder. Wenn ich mich nicht aufrege, hab ich genug Luft. Und ich ersticke nicht. langsam und ruhig. Dann geht es schon. Es geht immer. Siehst du? Schon besser. Kein Grund zur Panik. Kapitel 6: Kinobesuche und andere Missgeschicke ----------------------------------------------- Hyde wartete im Foyer des Kinos, weil draußen wieder so ein Schneeregen angefangen hatte, er hatte seine Kapuze abgenommen und das Tuch vom Hals gewickelt, welches er sich in die Jackentasche seines Mantels steckte. Das Foyer war mit rotem Kunstteppich ausgelegt, auf dem sich richtige kleine Pfützen gebildet hatten. Die Leute schüttelten ihre Schirme aus,. Bevor sie sie zusammenklappten und an der Garderobe abgaben. Zwei junge Mitarbeiterinnen waren nur damit beschäftigt, die Neuankömmlinge zu bitten, ihre Schirme doch draußen auszuschütteln, aber wenn sie erst einmal durch die Drehtüre gekommen waren, war es zu spät. Hyde hatte einen freien Platz ergattert neben der Türe zu den Waschräumen. Neben ihm schmuste ein Pärchen so ungeniert, dass es Hyde richtig peinlich war. Das Mädchen sah aus wie zwölf, auch wenn sie schon geschminkt war. Der Junge hingegen sah aus wie achtzehn. Sie unterhielten sich zwischen den Küssen flüsternd, sodass Hyde nichts verstand. Einerseits hätte er gerne gehört, was die beiden miteinander redeten, andererseits wollte er auch nicht neugierig wirken. Er rutschte bis an den Rand seines Stuhles und fixierte die Drehtüre. Gackt musste jeden Augenblick kommen. Er war sich nicht sicher, ob er sich darüber eigentlich wirklich freute. Er hatte von Tetsu einen guten Rat bekommen, sich nur dann mit jemandem zu verabreden, wenn man mit ihm gehen will. Tetsu hatte das auch immer so gemacht. Er verknallte sich in ein Mädchen, lud sie zur nächsten Schulfete ein, tanzte mit ihr, knutschte in einem dunklen Zimmer und schenkte ihr am nächsten Tag ein selbst geflochtenes Freundschaftsband. Wenn sie es umband, war für die Clique klar: Tetsu hatte eine Neue. Dann kamen die gemeinsamen Verabredungen, Kino, Pizzaessen, Nachmittage zu Hause vor dem Fernseher (wenn die Eltern nicht da waren), Spaziergänge. Superromantisch eben. Hyde wurde über den Fortschritt genau auf dem Laufenden gehalten, über Handy. Tetsu brauchte das einfach. Manchmal hatte Hyde den Verdacht, dass er sich nur mit einem Mädchen traf, um nachher darüber reden zu können. Ob er sie angefasst hatte, wie sie Hand in Hand gegangen waren, wie sie ihn im Kino geküsst hatte. Und wie es war, als er auf einmal in seinem Zimmer das Licht ausgeknipst hatte, als sie eigentlich auf dem Teppich Scrabble spielen wollten… Alles haarklein musste Hyde sich anhören. Tetsu drückte sofort auf seinem Handy die eins, da war seine Telefonnummer gespeichert. Wenn er zufällig nicht zu Hause war, redete Tetsu auf das Band. Und machte es so spannend, als wenn bei ihnen ein Feuer ausgebrochen wäre: Du musst sofort zurückrufen, Hyde, ich hab dir was Superwichtiges zu erzählen… Und so weiter. Die intimen Details besprachen sie aber nie am Telefon, sondern morgens auf dem Schulweg. Sie verabredeten sich immer an der Ecke unten und gingen den Rest zusammen zu Fuß. Tetsu redete und Hyde hörte zu. Tetsu lachte, kicherte, giggelte, schwärmte, weinte, fluchte und merkte nicht, dass Hyde immer nur schwieg, stumm neben ihm herging und ab und zu das Gesicht ein wenig verzog. Manchmal fragte sich Hyde, was für eine Freundschaft das war: Wenn immer nur der eine erzählte und der andere zuhörte. Wenn immer nur der eine solche tollen Sachen erlebte, wie zum Beispiel,dass ein Mädchen ihm einen Brief aus Amerika schickte und schrieb, dass sie jetzt erst wüsste, wie verliebt sie in ihn wäre. Und dass er doch auf sie warten sollte, bis das Austauschjahr vorbei wäre. So einen Brief hatte Kim an Tetsu geschrieben, er hatte ihn dem Schwarzhaarigen zehnmal vorgelesen. Dabei war Tetsu überhaupt nicht in Kim verliebt. Eigentlich hatte er sie richtig schäbig behandelt. Aber dieser Brief war für ihn wie eine Trophäe. Und Hyde hatte nichts. Nur Eltern, die sich scheiden ließen. Eine Mutter, die immerzu den Tränen nahe war, und einen Vater, der sich aus dem Staub machte, ganz leise, ganz unbemerkt. Immer ein bisschen mehr, bis man vergaß, dass es ihn überhaupt gab… Tetsu hatte Hyde angerufen, zwei Minuten bevor er aus dem Haus gehen wollte. „Weißt du was?“, hatte Tetsu ins Telefon gerufen. „Sie kriegen nicht raus, was das für ein Virus ist, den ich in mir trage. Ich habe immer noch 39 Grad Fieber. Du darfst mich nicht besuchen, sagt der Arzt, weil das vielleicht ansteckend ist. So eine Gemeinheit, nicht?“ Hyde hatte nicht gesagt, dass er mit Gackt verabredet war. Nichts von dem Kinobesuch. Eigentlich komisch, dachte er, Tetsu erzählt mir alles. Und nun bin ich zum ersten Mal mit jemanden verabredet, bei dem ich so ein komisches Gefühl habe, und habe kein Wort darüber gesagt. Vielleicht weil er ein Junge ist, dachte Hyde, außerdem hätte es dem armen Tetsu nur noch mehr wehgetan, dass er krank war, wenn Hyde den Film mit jemandem anderen sah. Der arme Tetsu. Vor den Kassen hatten sich lange Schlangen gebildet. Hyde hatte eine Weile überlegt, ob er die Karten schon kaufen sollte, hatte sich aber nicht getraut. Insgeheim rechnete er damit, dass Gackt doch nicht kommen würde. Das war zu peinlich, mit zwei Karten dazustehen und vergeblich auf den Begleiter zu warten. Ganz abgesehen davon, dass er dann sein schönes Geld verplempert hätte. Hydes Blick wanderte zwischen der Drehtüre, den nassen Regenschirmen und den Schlangen vor den beiden Kassen hin und her. Normalerweise war es nachmittags nicht so voll. Aber erstens waren gerade die neuen Filme angelaufen und zweitens war Mittwoch – Kinotag. Alle Karten zum halben Preis. Das Mädchen neben ihm legte ihre Beine über die Knie des Jungen. Der Junge schob seine Hand unter ihren Pulli, das Mädel kicherte. Der Junge flüsterte etwas und das Mädchen lachte leise auf. Hyde stand auf, das junge Ding grinste Hyde an: „Das ist dir peinlich, was?“ Der Schwarzhaarige wurde rot. „Quatsch“, meinte er. „Ich dachte schon.“ Das junge Mädchen streckte die Zunge raus und schob sie dem Jungen zwischen die Lippen. Das tun die extra, dachte Hyde, um mich zu provozieren. Wie blöd sind sie eigentlich? Glauben die, ich weiß nicht, wie so ein Kuss geht?! Glauben die, ich sei neidisch?! Nein ganz bestimmt nicht, die kann sich ihren Typen sonst wo hin stecken. Er ging auf die Glastüre zu, genau in diesem Augenblick entdeckte er Gackt. Er war noch draußen, rannte durch den Regen, eine Zeitung über dem Kopf. Er hüpfte über die Pfützen und wich den Schirmen aus. Er lief, als hätte er einen Ball auf den Fußspitzen, wie ein Profi beim Drippeln, es sah witzig aus, da der Ball fehlte. Hyde musste lächeln. Vor dem Eingang knüllte Gackt die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb, der zehn Meter entfernt war, mindestens. Die Zeitung fiel genau hinein und Gackt grinste zufrieden. Er schob sich hinter einem jungen Typen mit kahl geschorenem Kopf in die Drehtüre. Hyde trat einen Schritt auf ihn zu. „Da bist du ja.“ Er blieb stehen, blickte ihn an, als hätte er ganz vergessen, wie er aussah. Oder dass er mit ihm verabredet war. Er machte irgendwie ein ganz verblüfftes Gesicht. Und Hyde wurde sofort unsicher und bekam einen roten Kopf. „So ein Scheisswetter“, fluchte Gackt, „Kein Schnee, kein Frost, kein richtiger Winter. Nichts Halbes, nichts Ganzes.“ “Stimmt, echt blöd“, Hydes Blick wanderte zu den Schlangen vor den Kassen. „Und?“, fragte Gackt, als er seinem Blick folgte. „Was, und?“ „Welche Kasse?“ „Die Zwei“, meinte Hyde. „Okay“, Gackt zog seine Yen aus der Tasche. „Du musst mich nicht mehr einladen, ich bin reich geworden.“ „Ich dachte, du willst Popcorn kaufen?“ Gackt blickte Hyde an. „Für alles Geld Popcorn? Sag mal, spinnst du?!“ Wenn der so mit mir redet, dachte Hyde, dann geh ich gleich nach Hause. Er presste die Lippen aufeinander. „Scheisse“, sagte Gackt, „Nun bist du beleidigt.“ „Unsinn, so leicht kann man mich nicht beleidigen!“ „Offenbar doch. Tut mir Leid. Von mir aus können wir Popcorn kaufen.“ „Ich brauch überhaupt keines.“ „Was dann?“ „Gar nichts. Ich brauch gar nichts.“ „Vielleicht magst du eine Cola? Oder einen Schokoriegel?“ Beide starrten sich mit großen Augen an. Und wahrscheinlich dachten sie in diesem Augenblick genau das gleiche: Wie benehmen uns wie unsere Eltern. Hyde dachte an die Unterhaltungen, die ihr Vater und ihre Mutter abends am Tisch führten und Gackt kam sich vor wie ein Idiot. Er schlug sich mit den Yenscheinen gegen die Stirn. Er lächelte verlegen und etwas nervös. „Können wir bitte mit diesem Blödsinn aufhören?“ „Ich hab gerade gedacht“, Hyde lächelte nun auch, „dass meine Eltern sich bestimmt genauso streiten, wenn sie zusammen ins Kino gehen.“ Gackt warf ihm einen flüchtigen Blick zu. „Deine Eltern gehen zusammen ins Kino?“ „Nicht mehr“, antwortete Hyde. Er deutete auf die Schlange vor der Kasse 2. „Ich stelle mich da an, okay?“ „Und warum nicht mehr?“ Gackt blieb neben ihm stehen. „Weil sie geschieden sind.“ Der Blonde blickte hinunter auf seine Füße, da er nicht wusste, wo er sonst hinsehen sollte. „Und wie ist das so?“ „Was?“ „Geschiedene Eltern zu haben“, flüsterte der Blonde leise. „Genau so wie vorher.“ Hyde atmete tief durch. „Beschissen. Können wir jetzt vielleicht über was anderes reden? Die Reihen 8 bis 10 sind schon ausverkauft. Siehst du? Welche Plätze wollen wir nehmen?“ Gackt beobachtete Hyde von der Seite. Er wirkte noch immer nicht fröhlich. Überhaupt nicht cool. Er dachte daran, wie er ihn morgens auf dem Fensterbrett vor dem Klassenzimmer gefunden hatte. Seine Tränen. Er dachte daran, wie verzweifelt er gewirkt hatte. Und plötzlich war ihm klar. Wehalb er sich auf einmal zu ihm hingezogen fühlte: sie hatten das gleiche Problem, ein riesiges sogar. Und das Problem hatte auch einen Namen. Es hiess SCHEIDUNG. Sie hatten zu lange herumgetrödelt. Hatten die Schlange einmal verlassen, um eine Tüte Popcorn zu kaufen. Sie wollten schon von dem salzigen Mais essen, währendem sie in der Schlange warteten, das war der Fehler gewesen. Als sie endlich an der Kasse standen und das Mädchen mit der randlosen Brille vom PC zu ihnen sah und fragte „Ja?“ und als Hyde sagte „Zwei Karten, 12 bis 15. Reihe, für die Fünf- Uhr Vorstellung, da schüttelte das Mädchen in der kleinen Kabine nur den Kopf, schaute wieder auf den Bildschirm und sagte „Ausverkauft.“ „Was?!“ schrieen Gackt und Hyde gleichzeitig. Die Bedienung deutete mit einer Kopfbewegung auf die Anzeigetafel, die sich ständig änderte: „Steht dran. Die letzten Karten hab ich den beiden da verkauft.“ Hyde blickte sich um. Das Pärchen, das neben ihm auf den Hockern geknutscht hatte, verschwand gerade im Eingang zu Kino 2. „Scheisse“, sagte Gackt „Und was machen wir nun?“ „Warum muss immer alles schief gehen?“ Hyde war schon wieder den Tränen nahe. „Warum schaffe ich es nicht mal, Karten fürs Kino zu kaufen?!“ „Das hat doch überhaupt nichts mit dir zu tun, mach doch nicht gleich ein Drama draus“, meinte der Blonde, „Ich hab genauso Schuld.“ „Vielleicht könnt ihr die Leute vorbeilassen und eure Probleme woanders diskutieren, als vor meinem Schalter?“ Das Mädchen blitzte Hyde und Gackt durch die Glasscheibe an. Hyde wurde rot. „Klar.“ Der Platz, auf dem Hyde vorher gesessen hatte, war schon wieder besetzt. Drei Typen, die genau gleich angezogen waren und den gleichen Irokesenhaarschnitt trugen, saßen da und tranken Cola aus drei gleich großen, rotweiß gestreiften Pappbechern. Hyde starrte sie an genau so wie Gackt. Dann platzten sie beide los: „Mann, wenn die wüssten, wie beknackt das aussieht“, prustete Gackt. „Die wollen für den Film entdeckt werden.“ „Ja, genau. Der Titel: Das dreifache Ottchen.“ Hyde blickte den Blonden verwirrt an. „Was?“ „Kennst du nicht den Film: Das doppelte Lottchen? Kinderfilm? Nach einem Buch von Eric Kästner? Geht um Zwillinge, die ihre Eltern tauschen, und die Eltern merken es nicht.“ „Typisch Eltern“, meinte Hyde, „Die merken nie etwas, weil sie immerzu mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind.“ „Okay“, Gackt verschränkte die Arme vor der Brust. „Willst du darüber reden? Über deine Probleme?“ „Nein“, Hyde grinste tapfer, „Ist mir bloß aus Versehen rausgerutscht.“ Das dreifache Ottchen erhob sich, alle drei reckten gleichzeitig ihre Beine nach vorn, zogen die schwarzen, engen Hosen über den Knien herunter, mit der rechten Hand, währendem sie mit der linken die Coladosen ihre Füße stellten. Und schnellten auf Kommando von den Hockern. Als hätten sie sich innerlich eins gegeben. Dann bückten sie sich. Hoben die Becher auf, warfen sie nacheinander in den Müll und schlenderten zum Kinoeingang Nummer 2. „Die haben auch Karten“, sagte Hyde, so als hätte das Gackt noch nicht begriffen. „Bloß wir nicht. Fang nicht schon wieder an“, der Blonde schob Hyde entschlossen Richtung Drehtüre. „Ich wette, es hat aufgehört zu regnen.“ „Vielleicht schneit es nun?“ „Ich wette, es ist schön draußen.“ „Schön? Um fünf Uhr nachmittags im Februar. Bestenfalls ist es dunkel draußen.“ „Dunkelheit kann auch schön sein“, grinste der Blonde Japaner vielsagend… Kapitel 7: Körperwarme Popkorn ------------------------------ „Mann, was bist du denn für ein Philosoph?“, grinste Hyde zurück. Aber Gackt deutete nur auf die spiegelnden Scheiben der Drehtür. „Warte ab.“ Als sie draußen standen, wehte ihnen ein kalter, trockner Ostwind entgegen, auf allem lag eine Schicht von weißem Puderzucker, es hatte geschneit. „Nun blick zum Himmel hoch.“ Hyde hob den Kopf, ein wenig trotzig, dennoch tat er, um was er gebeten wurde. „Was siehst du?“ „Wolken“, antwortete der kleinere Japaner. „Und, was siehst du da?“ Gackt drehte seinen Kopf ein bisschen weiter nach rechts. „Einen Stern.“ „Na also! Was hab ich gesagt? Sterne sind fantastisch, was?“ Gackt schob die Popkorntüre in die Jackentasche, beobachtete die Wagen, die am Bordstein hielten. Leute beim Ein- und Aussteigen, er blickte dem Bus nach, der an ihnen vorbeifuhr, dann wieder nach oben zu dem Stern und dann sah er den kleinen Japaner an, der ihn die ganze Zeit mir großen Augen gemustert hatte. „Ich habe eine Idee“, meinte er dann. „Klasse. Nämlich?“ „Wir gehen spazieren.“ Hyde stöhnte, „Das ist nicht dein Ernst?“ „Doch und ich erklär dir auch die Vorteile gegenüber dem Kino. Erstens, es kostet nichts. Zweitens, es ist gesund. Drittens, man kann beim Gehen reden, nachdenken, Quatsch machen, lachen, was auch immer. Viertens…“, er stockte. „Naa?“, fragte Hyde. „Viertens…äh…“, Gackt überlegte fieberhaft. „Okay. Ich habe es. Es ist gut für die Verdauung.“ „Das gilt nicht. Das gehört zur Abteilung Gesundheit.“ Gackt grinste: „Du meinst, das alles, was gut für die Gesundheit ist, auch die Verdauung fördert?“ „Klar.“ „Das ist Unsinn. Also fünftens…“ Sie gingen die Strasse hinunter auf die Lichter der großen Einkaufshäuser zu. Hyde überlegte, ob sie vielleicht ein wenig Rolltreppe fahren konnten. Das hatte er mit Tetsu immer getan, wenn ihm kalt war. So hatte man sich prima aufwärmen können. „Wir könnten Rolltreppe fahren“, meinte Hyde, „Dort im Kaufhaus.“ „Ach nee.“ „Doch. Ich erklär dir mal die Vorzüge“, Hyde zählte auf, „Rolltreppe fahren kostet nichts. Mann ist nicht draußen, wo es kalt ist, sondern an der Wärme.“ „Sind das zwei Vorteile oder einer?“ „Einer“, sagte Hyde großzügig, „Das ist doch ein Punkt. Entweder ist man drinnen, wo es warm ist, oder draußen, wo es bitterkalt ist. Rolltreppen sind drinnen.“ „Nicht immer, denk mal an die Rolltreppen bei der U Bahn.“ „Jaa, aber die fangen draußen an und enden drinnen. Außerdem rede ich ja von dem Kaufhaus.“ „Okay, das sind bis jetzt drei Vorteile. Ich war bei fünf. Bislang ist Spazierengehen viel vorteilhafter als Rolltreppe fahren.“ Hyde lachte und Gackt baute sich vor ihm auf und versperrte ihm den Weg. „Warum lachst du nun?“, fragte er streng. „Weil du komisch bist.“ „Ich? Komisch? Das Neuste, was ich höre.“ „Klar bist du witzig. Merkst du das nicht?“ „Hier.“ Er zog die Popcorntüte raus und reichte sie ihm. „Bedien dich. Das ist auch noch ein Vorteil am Spazierengehen. Man kann dabei essen. Außerdem bin ich nicht komisch, das bildest du dir ein.“ Hyde nahm ein Popcorn und steckte es in seinen Mund. „Und? Wie schmeckt es?“ „Gut.“ „Ich frag nur, weil es jetzt meine Körpertemperatur hat. Müsste eigentlich viel besser schmecken.“ Hyde spuckte das zweite Popcorn aus, er lachte und musste sich den Bauch halten. Gackt stand mit der Tüte in der Hand da und beobachtete ihn, wie er von einem Lachanfall geschüttelt wurde. Einem Passanten, der ihnen einen schiefen Blick zuwarf, sagte Gackt: „Das hat er nun davon, lebende Goldfische zu essen. Das bekommt keinem, was? Aber er isst nichts anderes.“ Der Passant, ein älterer Mann, runzelte die Stirn. Hyde richtete sich auf, prustete vor Lachen. Der Mann machte eine ärgerliche Armbewegung und ging weiter. „Der Typ kann einen guten Witz nicht von einem Schlechten unterscheiden“, sagte er verächtlich, „Typisch für sein Alter.“ Hyde kicherte, „Gibt es ein Alter, in dem man besonders leicht gute Witze von Schlechten unterscheiden kann?“ Gackt schüttelte den Kopf, „Nicht direkt. Aber ich kann dir einen Typen beschreiben, der das schafft. Also der Typ ist etwa 17 Jahre alt, hat eine gerade Nase und einer winzigen Narbe an der Stirn, halb lange, seidige schwarze Haare, so tiefschwarz“, Er nah eine Strähne und betrachtete sie, „Wie nennt man diese Haarfarbe?“ „Schwarz“, meinte Hyde leise. Er blickte Gackt mit großen Augen an. Dieser drehte die Strähne in den Fingern herum und lächelte leicht. „Haare, die sich wunderbar anfühlen“, sagte er, „So seidig irgendwie.“ Er ließ das schwarze Haar los und ging einfach weiter, als wäre nichts passiert. Hyde folgte ihm und lief neben ihm her. „Die Narbe hab ich beim Skifahren gekriegt“, meinte der Kleine, „Da war ich mit meinen Eltern in Österreich, in den Weihnachtsferien, im Skikurs. Die erste Fahrt mit dem Schlepplift und so ein Idiot aus unserer Anfängergruppe vor mir ließ den Bügel los und der knallte mir direkt an den Kopf. „Wow“, sagte Gackt, „Und? Ohnmächtig?“ „Klar. Ich lag im Schnee, wie tot. Der Sessellift musste abgeschaltet werden und sie haben mich auf eine Trage gelegt. Die war so wackelig, dass ich sofort wieder munter geworden bin.“ „Ja ja, das sind die Vorteile des Winters“, meinte Gackt trocken. Hyde kicherte „Oh jaa, meine Stirn war ganz grün und blau und das wochenlang. Ich bin froh, dass wir uns damals nicht gekannt haben.“ „Warum?“ „Weil ich so schrecklich ausgesehen habe. Wir wären bestimmt heute nicht ins Kino gegangen, so wie ich ausgesehen habe.“ Gackt blieb stehen, starrte Hyde mit großen Augen an „Wir waren im Kino? Ich muss echt was verpasst haben. Mann, das passiert mir immer öfter. Totaler Filmriss. Du, erzähl doch mal, wie war denn der Film?“ Hyde holte tief Luft. „Kannst du irgendwann auch mal ganz normal reden? So wie in der Schule? Ich meine, so ganz normal, dass ich nicht immer Bauchschmerzen vor Lachen habe?“ „Kann ich schon“, meinte Gackt, „Aber will ich vielleicht nicht. Ich will vielleicht, dass du lachst, weil du mir so viel besser gefällst, wenn du ein fröhliches Gesicht machst.“ „Ach so“, wisperte Hyde leise und schwieg. Nun musste er sofort wieder an seine Mutter denken, an die letzte Nacht. Und all die nächsten, die noch kommen würden. „Mein Vater hat eine Neue“, sagte Hyde, als sie eine Weile geschwiegen hatten. „Sie ist nur zehn Jahre älter als ich. Stewardess. Mein Vater ist nun zu ihr gezogen. Ganz offiziell, gestern war der Termin der Scheidung.“ Gackt sagte nichts, er starrte auf den Weg vor seinen Füssen. „Hmhh“, machte er, „Stewardess. Bestimmt bekommt sie Freiflüge. Die haben immer Stand-bys oder so was, hab ich gelesen. Wenn die nach New York wollen oder Los Angeles, also in ihrer Freizeit, im Urlaub, dann fahren die an den Flughafen, zeigen ihren Ausweis vor, und wenn noch Platz in der Maschine ist, dürfen sie einsteigen und fliegen umsonst mit. Oder für ein paar mickrige Yen. Das muss ein Superleben sein.“ „Mir ist Scheissegal, was die für ein Leben hat.“ „Vielleicht schenkt sie dir auch mal einen Freiflug, um sich bei dir einzuschmeicheln.“ „Das tut die nie!“ „Woher weißt du das? Kennst du sie?“ Hyde schüttelte den Kopf. „Meine Mutter sagt, wenn ich ein Wort mit ihr wechsle, dann bin ich nicht mehr ihr Sohn.“ „Verstehe.“ Hyde blickte Gackt an, dieser hob den Kopf, bis sie sich in die Augen blickten. Dann gingen sie weiter, sie waren in einer Gegend mit wenigen Geschäften. Dafür gab es hier mehr Bars. Manchmal wurde die Türe geöffnet, dann konnte man die schrillen Melodien oder Stimmen der Karaoke Bars hören, oder man roch den Imbiss um die Ecke mit dem verführerischen Ramen Nudeln. Hyde kramte in seinem Mantel herum, bis er sein Geld gefunden hatte. „Sag mal, hast du auch Hunger?“, fragte er. „Hast du etwa Hunger?!“ „Ein wenig schon“, meinte der Kleinere. „Aber wir haben doch noch das ganze Popcorn.“ „Ich könnte dich zu Mc Donalds einladen“. sagte Hyde. „Ich hab ja noch das ganze Kinogeld.“ „Bewahre es lieber auf. Wir können es ja morgen noch mal versuchen.“ „Aber morgen ist Donnerstag. Da kostet es wieder das Doppelte.“ „Oder dann am nächsten Mittwoch. Glaubst du, der läuft dann noch?“ „Der ist doch gerade erst angelaufen.“ Gackt nickte zufrieden. „Gut, dann versuchen wir es nächste Woche noch einmal. Wie findest du das? Du lässt das Geld schön stecken und wir schieben uns noch ein paar körperwarme Popcorn rein.“ Hyde lächelte. „Schau mal da oben“, sagte Gackt. Er deutete in den Himmel. „Ganz viele Sterne auf einmal. Ich hab es doch gewusst.“ „Was?“ „Dass es schön wird“, erwiderte Gackt. „Dass was schön wird?“ Gackt blieb stehen und musterte den Kleinen. „Mit dir“, sagte er, „Ich hab es gewusst.“ Hyde war froh, dass Gackt in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie er errötete. Sie liefen die halbe Nacht herum, durch Strassen, in denen Hyde nie gewesen war. Gackt auch nicht, aber er tat, als wisse er immer genau, wo sie waren. Dabei kamen sie an Plätzen vorbei, mit Brunnen, die Hyde nicht kannte, und wenn er die Straßennamen suchte, fand er keine Schilder. Dann begann es wieder zu schneien. Die Autos zogen schmutzige Spuren in den frischen weißen Schnee. Gackt stellte sich auf einen Brunnenrand, die Handflächen nach oben, das Gesicht gegen den Himmel gerichtet. „Was machst du da?“ „Ich sammle Schnee“, sagte Gackt, die Augen geschlossen. „Du bist verrückt“, kicherte Hyde, „Der Schnee schmilzt doch in der warmen Hand.“ „Nicht, wenn ich es lange genug aushalte.“ “Wie lange ist das?“ „So lange, bis meine Hand kalt ist wie der Schnee. Dann schmilzt er nicht mehr und türmt sich auf der Handfläche zu einer Pyramide. Ich wünsche mir zwei Pyramiden aus Schnee – Setz dich hin und schau zu, wenn du Lust hast. Oder geh weg.“ Hyde setzte sich hin und schaute zu. „Was willst du mit ihnen machen?“, fragte er. „Ich werde ihnen Namen geben.“ „Und welche?“ „Eine Pyramide, die linke, heißt Gackt und die andere, die rechte, die bestimmt viel schöner wird, heißt Hyde.“ Hyde dachte, ich hab noch nie so einen verrückten Kerl getroffen. Und er dachte, es gefällt mir, mit so einem verrückten Kerl zusammen zu sein. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, weil er fror. „Es ist ziemlich kalt“, sagte er, „Und ich krieg auf dem Brunnenrand einen nassen Hintern.“ Gackt schüttelte die Arme, klatschte in die Hände und hüpfte in die Luft. „Dann müssen wir das Experiment abbrechen“, sagte er, „Und stattdessen Wärmeübungen machen. Die macht man in jedem Sport, damit die Muskeln die richtige Temperatur haben. Damit man sich nicht die Sehnen reißt oder so.“ „Was du alles weißt.“ „Ich mache eben gerne Sport!“, sagte Gackt ein wenig stolz. Es deutete auf das U- Bahn Schild. „Wollen wir zurück laufen, oder willst du fahren?“ „Mir egal“, meinte Hyde, „Wie spät ist es eigentlich?“ Gackt wartete, bis sie die nächste Straßenlaterne erreicht hatten, dann schob er den Ärmel zurück, um auf die Armbanduhr zu sehen. „Wow.“ „Was? Wie spät ist es?“ „Halb zwölf schon.“ Hyde schrie auf: „Das glaub ich nicht! Halb zwölf? Sag, dass es nicht wahr ist!“ Gackt zog seinen Ärmel wieder hervor und sagte: „Es ist nicht wahr.“ „Lass sehen“, Hyde nahm seine Hand, versuchte auf die Uhr zu sehen. Sie kämpften ein wenig miteinander, aber dann ließ Gackt ihn gewinnen. Hyde drehte sein Handgelenk so, dass er das Zifferblatt erkennen konnte. „Halb zwölf!“ „Hab ich gesagt.“ „Nein, du hast gesagt, es sei nicht wahr.“ „Weil du wolltest, dass ich das sage.“ „Du bist verrückt.“ „Klar“, meinte Gackt. „Oh Mann, ich glaub, ich fahr doch lieber mit der U-Bahn. Was glaubst du, wie heißt die Station?“ „Wenn ich es dir sage, dann glaubst du es doch nicht.“ „Sag es mir.“ „Paradies.“ „Quatsch“, Hyde stieß ihn in die Seite. „Solch eine Station gibt es in ganz Japan nicht!“ „Okay, dann frag mich nicht mehr, ja? Wenn du mir nicht glaubst.“ Die Station hieß nicht Paradies, aber das war Hyde egal, sie lag viele Stationen vom Kino entfernt. „Ich bin noch nie so weit gelaufen, nicht hier in Tokyo“, meinte der Kleine. „Gut für die Gesundheit, hab ich dir doch schon gesagt“, meinte der Blonde trocken. Sie gingen die Treppenstufen zum Bahnsteig hinauf. Die Leute hatten sich die Schals um den Hals gewickelt und standen mit dem Rücken zum Wind, es war wohl die erste oberirdische Station, die Hyde gesehen hatte. Selbst wenn er wusste, dass es welche gab, hatte er noch nie eine benutzen müssen. „Es wird Zeit, dass es Frühling wird“, sagte Gackt, „Da macht das Spazierengehen viel mehr Spass.“ Hyde fiel plötzlich ein, dass sein Vater ihm versprochen hatte, in diesem Frühling mit ihm in den Tennisclub zu gehen. Sein Vater hatte früher Tennis gespielt und er wollte es Hyde beibringen. Dazu mussten sie in einen Club eintreten und er hatte ihm versprochen, dass es ein Geschenk werden würde. „Was macht dir zum Beispiel mehr Spass im Frühling?“, fragte Gackt. „Ach“, sagte Hyde, „nichts.“ Er wandte sich ab. Er überlegte, ob sein Vater jetzt wohl mit der Stewardess in ihrem Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Oder ob er mit ihr in ein Restaurant ging. Ob sie sich küssten. Seine Mutter hatte geschrieen: Bumst sie besser?, als sie erfuhr, dass sein Vater bei einer anderen Frau war. Ist sie besser im Bett? Macht der Sex mit ihr mehr Spass? Sein Vater hatte traurig gelächelt und gesagt, sie solle nicht so vulgär sein. Was ist es dann? Bin ich dir zu alt? Unsinn, hatte sein Vater gesagt. Wie alt ist denn deine Geliebte? Das sage ich nicht, hatte sein Vater gesagt. Doch seine Mutter hatte solange gebohrt, bis er endlich seufzend ihr Alter genannt hatte. Es war ihm peinlich, er war verlegen, er wollte es nicht sagen und Hyde wollte es auch nicht hören. Sie saßen in einer Pizzeria und er hatte erst seine Gabel voll probiert. Eigentlich sollte es ein Friedensessen werden, weil es vorher immer so viel Streit gegeben hatte und weil Hyde geschrieen hatte: Ich halte es nicht mehr aus! Ich schrei, wenn ihr euch weiter zofft. Ich schreie ganz laut, wenn hier in der Wohnung immer so eine furchtbare Stimmung ist. Und er hatte geweint und mit den Türen geschlagen und war überhaupt nicht zu beruhigen. Da hatten seine Eltern einen Schreck bekommen und gesagt: Okay, wir machen ein Friedensessen. Und sind mit ihm in die Pizzeria gegangen, obwohl er gar keinen Hunger hatte. Als sie angekommen waren, waren sie freundlich miteinander, solange der Kellner neben ihnen gestanden und die Bestellung aufgenommen hatte. Aber war er verschwunden, ging es los. Hydes Mutter konnte nicht aufhören immerzu Fragen zu stellen, warum und wieso. Und wie alt sie war, die neue Frau. Seine Mutter stellte das Glas ab, aus dem sie eben trinken wollte. Es war Rotwein. Wenn sie früher Rotwein tranken, dann sagten sie immer zu Hyde: Im Sommer fahren wir nach Italien. Da gibt es eine Landschaft, die heißt Chianti. Da suchen wir uns ein Ferienhaus mit Pool, mitten in den Hügeln. Das wird jeden Tag ein Fest! Aber sie waren nie nach Italien gefahren. Fünfundzwanzig?, schrie Hydes Mutter. So jung? Schrei nicht so laut, hatte sein Vater gezischt und versucht, ihr den Mund zuzuhalten. Das hatte Hydes Mutter nur noch zorniger gemacht, sie hatte ihn weggestossen, hochrot im Gesicht. Fahr mir nicht über den Mund!, hatte sie getobt. Hyde war aufgestanden, hatte seinen Teller mit Pizza genommen und sich an einen Tisch in der anderen Ecke des Lokales hingesetzt. Da waren seine Eltern sofort still gewesen. Sein Vater war gekommen, hatte sich ihr gegenüber gesetzt und sich entschuldigt. Hyde hatte nichts gesagt, sondern einfach still seine Pizza hinuntergewürgt. Komm wieder zu uns an den Tisch, hatte sein Vater gefleht. Aber Hyde hatte sich nicht bewegt. Da war seine Mutter aufgestanden, hatte die Gläser, den Wein und das Wasser von Hyde hinübergetragen. Dann aßen sie wieder alle drei zusammen. Und zuerst redeten sie über Hydes neuen Mathelehrer. Das war auch nicht viel besser, denn Hyde hasste Mathe. Dann redeten sie über Weihnachten, was Hyde sich wünschte und was es zu essen geben würde. Und Hyde sagte: Es ist mir egal, ich wünsche mir gar nichts. Natürlich wünschst du dir etwas, jedes normale Kind wünscht sich etwas, hatte seine Mutter streng gesagt. So, als würde sie gleich seine Schultern packen und schreien: Los! Wünsch dir was! Damit wir eine ganz normale Familie mit einem ganz normalen Kind sind! Hyde hatte dann gemeint, dass er eben nicht normal sei. Egal was Hyde sagte, sie reagierte immer gereizt. Nachts nahm sie Baldriantropfen, weil ihre Nerven so schlecht waren. Aber sie sagte, sie müsste schon ein Fläschchen trinken, wenn es helfen sollte. Hyde zuckte zusammen, als die Lichter der U-Bahn im Schneegestöber auftauchten. Er merkte plötzlich, dass seine Füße vor Kälte beinahe abgestorben waren, er stolperte vorwärts. Gackt nahm ihn am Arm. „Hey, willst du dich auf die Gleise werfen? Würde ich dir nicht raten. Da kommt eine Riesen Schadenersatzforderung auf dich zu. Grosse Schweinerei, wenn die deine Leiche wegmachen müssen. Das lassen die dich bezahlen.“ Die Bahn hielt mit kreischenden Bremsen, die Türen gingen auf und Leute stiegen aus. Hyde war so verwirrt, dass er sich gar nicht mehr rührte. „Jetzt ein großer Schritt!“ Als wäre man mit einem dreijährigem Jungen unterwegs, dachte sich der Blonde schmunzelnd. Er schob Hyde zu einem Sitzplatz und ließ sich neben ihn fallen. „Du kannst mit offenen Augen träumen“, sagte Gackt, „Ich hab es gesehen, war unheimlich faszinierend.“ Hyde versuchte zu lächeln. „Ich weiß auch nicht, was los war. Irgendwas hast du gesagt und dann sind mir die Gedanken weggeschlittert.“ „Mach dir nichts draus. Das passiert mir auch manchmal, das kommt davon, wenn man zu viel im Kopf hat. Aber war unheimlich faszinierend, dir dabei zu zusehen, richtig sauer hast du ausgesehen.“ Hyde lachte ungläubig. „Wütend?“ „Ja, so“, Gackt zog die Stirn kraus, bis die Augenbrauen sich in der Mitte trafen. Er machte ganz schmale Lippen und knurrte wie ein Hund. Hyde lachte. „So hab ich nicht ausgesehen!“ „Doch, ganz genau so“, er drehte sich um und betrachtete die Fahrgäste. „Warte, die Frau da hinten, die hat neben dir gestanden. Ich frag sie mal eben, ja? Sie kann das bestimmt bestätigen.“ Er wollte aufstehen, aber Hyde hielt ihn am Jackenärmel fest. „Du bist verrückt, du kannst die Frau doch nicht so was fragen!“ „Und warum nicht?“ Gackt ließ sich auf den Sitz fallen, er grinste, als er sah, dass Hyde lachte. „Mann, das war ein Haufen Arbeit, dich endlich wieder zum Lachen zu bringen. Kannst du mir was versprechen?“ Hyde nickte und sah ihn abwartend an. „Okay, versprich mir, dass du nicht mehr an deine Eltern denkst, bis ich dich zu Hause abliefere. Ist das zu schwierig, was meinst du? Oder kannst du es schaffen?“ Hyde lachte. „Ich kann es schaffen. Aber du willst mich echt nach Hause bringen?“ „Klar“, sagte Gackt, „Das macht man so als echter Gentleman.“ Der junge Schwarzhaarige lächelte leicht und ließ seinen Kopf an die Schulter von Gackt sinken, es war einfach zu schön, dass sich jemand um ihn kümmerte. Kapitel 8: runaways ------------------- „Hyde?? Bist du das??“ Das war sein Vater, er stand oben im zweiten Stock und beugte sich weit über das Treppengeländer, um nach unten zu sehen. Die Haustüre war gerade hinter Hyde zugefallen, mit einem lauten Knall, von dem er selbst ein klein wenig zusammengezuckt war. Warum war sein Vater da? Was machte er hier? „Hyde!“ „Ja ich bin es“, rief er zurück. Er rannte die Treppen nach oben. Irgendwas ist passiert, dachte er. Oh Gott, etwas mit meiner Mutter. Ich hab ihr nicht mal einen Zettel hingelegt. Außer Atem kam er oben an. Sein Vater empfing ihn auf der obersten Treppenstufe. Er hatte ein weißes Gesicht, eine ganz schmale, weiße Nase und rote Augen. „Hallo Vater“, sagte Hyde leise, „Ist etwas passiert?“ Sein Vater starrte ihn an. „Das fragst DU…uns? Mich?“ Er fasste ihn grob am Arm und zog ihn hinter sich her in die Wohnung. Hyde sträubte sich. „Aua! Das tut weh!“ „Und wenn schon“, knurrte sein Vater, „Mir tut auch manchmal was weh. Geh da rein und erklär es deiner Mutter.“ Er schob Hyde ins Wohnzimmer. Seine Mutter hockte am Esstisch, die Haare vollkommen zerzaust. Vor ihr lag das dicke Telefonbuch von Tokyo, daneben das Telefon. Und eine Anzahl von Fotos, die über den Tisch verteilt waren. Hyde sah mit einem Blick, dass es Fotos von ihm waren, die Tetsus Mutter auf der letzten Geburtstagsparty gemacht hatte, im Sommer von einem lachenden Hyde. „Wo bist du gewesen?“, fragte seine Mutter. Sie fragte das in einem seltsamen Ton, mit einer seltsamen schweren Stimme. Hyde lächelte verlegen, wickelte sich den schwarzen Schal von seinem Hals und knöpfte seinen Mantel auf, den er über den Stuhl warf. Doch dann fiel ihm ein, dass es seine Mutter hasste, wenn man seine Sachen liegen ließ, also ging er schnell in den Flur, um sie aufzuhängen. „Hyde!!!! Ich hab dich was gefragt!!“, schrie seine Mutter. Er dachte, sein Kopf würde platzen, so laut seine Mutter schon wieder schrie. Sie hatte nicht bemerkt, dass er ihr nur einen Gefallen hatte tun wollen. Nun, eher sich selbst, da er gehofft hatte, sie würde ihn nicht anschreien, weil er seine nassen Sachen liegen ließ. „Ja doch“, murmelte er, „Ich komme ja schon.“ Er stand wieder im Wohnzimmer, seine Mutter hatte die Fotos mit einer Armbewegung vom Tisch gewischt. Das Telefonbuch war zugeklappt, Hyde bemerkte, dass sein Vater hinter ihm stand, so ging er noch einen Schritt mehr in den Raum hinein. „Ich wollte ins Kino“, sagte er. „Was?“, sagte seine Mutter, „Was ist das denn für eine Antwort??“ „Aber wir haben keine Karten mehr bekommen.“ „Wir? Wer ist wir?“ „Den kennst du nicht“, sagte Hyde. Er wollte sich auf das Sofa setzen und einfach den TV anstellen. Aber sein Vater hielt ihn fest, ein eiserner Klammergriff, der ihm an den Schultern schmerzte. „Deine Mutter hat dich etwas gefragt und du wirst gefälligst vernünftig darauf antworten.“ „Mein Gott“, stöhnte Hyde, „Was ist hier los? Was habt ihr denn bloß?“ „Schau mal auf die Uhr“, sagte seine Mutter. „Muss ich nicht“, meinte Hyde, „Ich weiß, wie spät es ist.“ „Genau Viertel nach zwölf“, sagte sein Vater, seine Stimme war eisig. „Ja, ich sag doch, ich weiß es.“ „Wann hast du die Wohnung verlassen?“ „Ich weiß nicht mehr genau, gegen vier oder so.“ „Und jetzt, um Viertel nach zwölf, kommst du wieder zurück“, sagte seine Mutter. Hyde schwieg, was hätte er auch sagen sollen. „Ich komme um fünf nach Hause, finde von dir keine Nachricht, keinen Zettel, nichts. Ich dachte natürlich, du bist bei Tetsu. Ich hab mir zuerst auch keine Sorgen gemacht.“ „Tetsu ist krank“, sagte Hyde leise. „Das weiß ich auch. Weil er nämlich angerufen hat, um mitzuteilen, dass er im Krankenhaus liegt und sich freuen würde, wenn du die Schularbeiten vorbeibringen würdest.“ „Das glaube ich nicht“, sagte Hyde, „dass er sich über Schularbeiten freut.“ Sein Vater ging zu ihm hin, stellte sich vor ihm auf und zog ihn wütend vom Sofa hoch. „Sieh deine Mutter an, wenn du mit ihr sprichst!“ Hyde blickte aber seinen Vater an. Er sah, dass er vor Zorn einen roten Kopf hatte, und er verstand das nicht. „Ihr macht vielleicht einen Aufstand“, sagte er trotzig. „Sonst regt sich keiner auf, wenn ich mal weg bin.“ „Wir haben uns immer aufgeregt“, sagte seine Mutter, „Oder wirfst du uns nun vor, wir kümmern uns nicht um dich?“ „Deine Mutter hat mich angerufen, ich dachte, du bist entführt oder dir ist weiß was passiert.“ „Keine Angst“, sagte Hyde, „Mich entführt schon keiner.“ „Aber dass ich deswegen eine Geschäftsreise umbuchen musste, das interessiert dich wohl nicht, oder?!“ Hyde senkte den Kopf. Es interessierte ihn wirklich nicht, dass sein Vater eine Geschäftsreise absagen musste. „Und ich…“, schrie seine Mutter, „ich musste mich demütigen und deinen Vater bei seiner…seiner…bei dieser Frau anrufen. Sie war auch noch am Telefon…und ich musste mir das antun, dass ich mit der… mit der“, sie brach plötzlich in Tränen aus. Hydes Vater straffte sich, knöpfte die Anzugjacke zu. „Wenn wir also wieder bei deinem Lieblingsthema sind“, sagte er eisig, „dann geh ich nun.“ Er drehte sich um. Hydes Mutter sprang auf. „Nein!“, schrie sie. „Du gehst nicht, du gehst nicht wieder zu ihr!“ Hyde legte die Hände an die Ohren, wollte seinen Kopf verschließen. „Natürlich geh ich zu ihr, das weißt du“, sagte sein Vater kalt. Er sagte es ruhig und entseelt. Hyde liefen Schauer über den Rücken. Es war furchtbar. Seine Mutter, wie gebannt von der Kälte, ließ sich auf den Stuhl zurückfallen. „Geh doch“, zischte sie, „Geh doch. Lass uns allein.“ Hyde sah seinen Vater mit großen Augen an. „Und du?“, fragte sein Vater. „Was ich?“ „Sagst du mir wenigstens auf Wiedersehen?“ „Auf Wiedersehen“, sagte Hyde. Sein Vater wartete noch eine Sekunde, Hyde rührte sich nicht, seine Mutter rührte sich auch nicht, er ging durch die Tür in den Flur und dann fiel die Wohnungstüre hinter ihm zu. Seine Mutter stand auf und rannte ins Badezimmer, Hyde hörte von da ihr verzweifeltes Schluchzen. Und er wünschte sich, dass er tot wäre. Gackt wartete auf ihn neben dem Schultor. Er hatte den Rucksack zwischen die Knie geklemmt und sich die schwarze Wollmütze so tief ins Gesicht gezogen, dass man nicht mal mehr seine Augenbrauen sah. Perfekte Tarnung. Zuerst erkannte Hyde ihn gar nicht. Erst, als er die Mütze aus der Stirn schob, den Rucksack auf den Boden fallen ließ und sagte: „Ich dachte schon, du schwänzt heute“ sah er, dass es Gackt war. „Hast du hier auf mich gewartet?“, fragte er. „Klar. Der Weihnachtsmann kommt erst im Dezember wieder vorbei.“ Hyde lachte und Gackt atmete zufrieden tief durch. Er schulterte den Rucksack. „Wie war der Abend so bei dir?“, fragte er möglichst beiläufig, als er neben ihm herging. Hyde erzählte ihm alles und anders als bei Tetsu hörte Gackt zu, ohne gleich von sich anzufangen. Als Hyde geendet hatte, fragte er, „Und bei dir?“ „Anderes“, sagte er, „Aber auch schaurig. Jemand vom Jugendamt war da. Er wollte wissen, wie meine Mutter zurechtkommt. Sie hat gesagt, prima. Aber der Typ hat es ihr nicht geglaubt. Er meint, vielleicht sollte ich besser in ein Heim. Und meine Mutter könnte in Ruhe wieder einen Entzug machen.“ Gackt sprach, als sei das alles nichts, als sei das ein ganz normales Leben. Und Hyde merkte plötzlich, dass es ihm hundertmal besser ging als ihm. Und er dachte schon, so schlimm wie er hätte es niemand auf der Welt getroffen. Verstohlen fasste er nach Gackts Hand und drückte seine Finger. Gackt ließ sich nichts anmerken, aber er ging etwas dichter neben ihm her. So dicht, dass sie sich berührten. „Beinahe wäre ich nicht zur Schule gekommen“, meinte Gackt. „Ich auch nicht.“ „Ich bin nur gekommen, weil ich hoffte, dass du hier bist.“ Hyde lächelte, er wollte nicht sagen, dass es ihm genau so gegangen war. „Heute“, sagte Gackt, „geh ich nicht nach Hause. Das weiß ich bestimmt. Heute nicht und morgen auch nicht.“ „Und wo willst du hin?“, fragte Hyde. Gackt zuckte mit den Schultern. „Ich frag You, dem fällt bestimmt was ein.“ „Na dann hast du wenigstens einen, der zu dir hält“, meinte Hyde leise, „Meine Freunde sind alle so brav, sie würden es nicht zu lassen, dass ich wegrenne, oder mich gleich verpetzen.“ „Und sonst hast du niemanden, außer deinen Eltern?“, fragte Gackt. Hyde schüttelte den Kopf. „Niemanden. Ich würde abhauen, ehrlich. Doch wohin soll ich gehen?“ Sie waren jetzt vor dem Klassenzimmer. Sie ließen sich los. „Wir reden nachher weiter“, flüsterte Gackt. Hyde nickte. Hintereinander traten sie ins Klassenzimmer, gingen auf ihre Plätze. Niemand beachtete sie. In der ersten Stunde schrieben sie eine Englischtest in der zweiten hatten sie Mathe, dann eine Freistunde, weil Sport ausfiel. Hyde suchte Gackt, fand ihn aber nirgends. Enttäuscht setzte er sich in die Bibliothek und studierte den Katalog mit den neuen Büchern. Aber er konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder ging er zum Fenster und blickte hinunter auf den verschneiten Hof. In der Nacht hatte es gefroren und nun gab es eine dünne Schicht frostigen Schnee in der Stadt. Die Krähen hüpften auf dem Schnee herum, pickten und scharrten. Die Autos fuhren mit Licht, obwohl es hell war, aber der Himmel war einheitlich grau. Hyde fand, dass der Himmel genau die gleiche Farbe hatte wie seine Seele. Er war sich sicher, dass eine Seele eine Farbe hatte. Er ging zu seinem Platz zurück, nahm den Katalog wieder auf. Als es klingelte, die Freistunde zu Ende war, hatte er weder irgendwas Vernünftiges gelesen, noch sich auf die Physikstunde vorbereitet. Einen flüchtigen Augenblick dachte er an Tetsu, der im Krankenhaus lag, und dass er versprochen hatte, ihn zu besuchen. Seine Mutter hatte einen Zettel auf den Küchentisch gelegt mit der Adresse des Krankenhauses. Und darunter geschrieben: „Ich komme heute Abend spät. Ich gehe noch zu Tante Beate. Kuss, Mom.“ Beate war die Freundin seiner Mutter. Eine Heilpraktikerin, die ein wenig außerhalb wohnte, und dort eine kleine Praxis hatte. Im Bad standen lauter kleine Fläschchen und Salben, alles von Tante Beate. Alles, damit es seiner Mutter wieder besser ging. Aber Hyde konnte nicht sagen, dass es seiner Mutter besser ging. Gackt erschien nicht zur vierten Stunde, sein Platz blieb die ganze Zeit leer. Der Lehrer gab die Tests zurück und bemerkte erst dadurch, dass er fehlte. „Hat jemand eine Ahnung, was mit ihm ist?“ Chacha, der neben Gackt saß, deutete auf seinen Rucksack. „Die ersten Stunden war er hier“, sagte er, „Und seine Sachen sind auch noch da, bestimmt kommt er zurück.“ „Also gut, dann kannst du ihm seine Arbeit zurückgeben und ihm sagen, es ist die schlechteste der ganzen Klasse. Es ist die mieseste überhaupt, die ich je korrigiert habe.“ Chacha grinste. „Ihr nehmt die Schule alle nicht ernst“, sagte der Lehrer, „Doch das werdet ihr noch bereuen, alle, wie ihr da sitzt. Heute haben nur Leute mit guten Noten eine Chance, mit einer guten Schulausbildung! Ist euch das klar?!“ Er stand nun bei Hyde. „Ist dir klar Hyde, was Physik ist?“ Er lächelte verlegen, „Klar.“ „Kannst du in einem Satz sagen, was Physik ist?“ Hyde schluckte, er überlegte fieberhaft. Was für eine blöde Frage, dachte er. Was soll Physik schon sein. Es ist die… „Es ist die Lehrer von… von“, stotterte er. „Die Lehre ist schon richtig“, sagte der Lehrer, „Besser wäre allerdings zu sagen, die Wissenschaft. Aber Wissenschaft von was?“, fragte er. „Na ja, von den physikalischen Gesetzen“, sagte Hyde. Der Lehrer holte tief Luft, „Und was sind die physikalischen Gesetze? Um was handelt es sich da?“ „Um Gesetze, die in der Natur sind.“ „Gut, schon richtig. Also sag mal ein Beispiel für so ein Gesetz.“ „Schwerkraft“, murmelte Hyde. „Ja, richtig. Also, das Gesetz der Schwerkraft beschreibt das Verhalten zweier Körper zueinander oder zweier Elemente.“ Er legte Hydes Arbeit auf den Tisch. „Du hast gerade eine Vier geschafft. Mit Ach und Krach“, meinte er. Hyde schloss die Augen, er war froh, als der Lehrer weiterging. Er war nun bei Chacha, an dem er nun eine Frage richtete. „Und was ist das Hebelgesetz? Gilt da auch das Gesetz der Schwerkraft?“ Da ging die Tür auf und Gackt kam herein, er war etwas außer Atem und hatte einen roten Kopf. Er zog sich die Mütze vom Kopf, stopfte sie hastig in die Hosentasche, verbeugte sich und setzte sich ganz klein an seinen Platz. Aber der Lehrer hatte ihn bemerkt. „Gackt“, sagte er, „deine Arbeit war miserabel. So schlecht, dass ich mich geweigert habe sie zu benoten,. Ich möchte, dass du sie von seinen Eltern unterschreiben lässt.“ „Von beiden?“, fragte Gackt. Hyde und er tauschten einen Blick aus. „Von beiden natürlich nicht, einer reicht.“ „Gut“, sagte Gackt und faltete die Arbeit ohne einen Blick darauf zu werfen zusammen. Auf die Rückseite schrieb er etwas und wartete, bis der Lehrer ihm den Rücken zuwandte, und ließ den Zettel auf Hydes Platz flattern. Hyde legte ihn auf seine Knie und las, „Es geht in Ordnung“ stand da. Er blickte zu Gackt, dieser strahlte. Er versuchte ihm etwas zu signalisieren, aber das verstand er nicht. Er dachte, was geht in Ordnung? Als es klingelte, sprintete der Kleine dem Blonden auf den Flur nach. „Also, was geht in Ordnung?“, fragte er. „Ich hab mit You gesprochen, dem seine Eltern sind verreist für ein paar Monate und er hängt viel bei seiner Freundin rum. Wir können also bei ihm wohnen für einige Zeit.“ Hyde starrte Gackt an, „Was?!“ Der Blonde wiederholte seine Worte noch einmal, klar und deutlich. Hyde nickte, in seinem Kopf drehte sich alles. Wir können in einer fremden Wohnung sein. Wer hat gesagt, dass ich bei jemandem sein will? „Also, You ist ein begabter Kerl, und arbeitet ehrenamtlich neben der Schule für das Jugendamt, du weißt schon, Partys organisieren, oder Ausflüge. Er hat mir den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben. Wie findest du das? Er meinte wir sollen uns wie zu Hause fühlen. Es habe zu Essen und eine Mikrowelle, weißt du, wie so eine funktioniert?“ „Klar“, sagte Hyde. „Warum ist das klar? So ein Ding haben wir nicht. Also, wie findest du das? You ist ein supernetter Typ, mein bester Freund. Gibt uns einfach den Schlüssel.“ „Warum wohnt er denn schon alleine?“ „Die Wohnung liegt im Haus seiner Eltern, technisch gesehen wohnt er nicht alleine.“ „Ich versteh das nicht, er kennt mich doch gar nicht wirklich.“ „Ich habe ihm viel von dir erzählt“, meinte Gackt leise. „Was haste ihm denn erzählt?“ „Dass du klasse bist!“ Hyde bemerkte, wie sein Kopf zu glühen begann, doch glücklicherweise blickte Gackt nicht zu ihm, sondern betrachtete den Himmel. Er lief eilig einige Schritte voraus, so als könne er es kaum erwarten von der Schule wegzukommen. „Außerdem hab ich ihm von deinen Problemen erzählt, dass deine Eltern gerade geschieden worden sind. Na ja und wie alles gerade bei dir ist“, sagte der Blonde. Der kleine Japaner hörte ihm still zu, ohne ihn zu unterbrechen, oder ihm zu widersprechen, denn Gackt war vollkommen aufgeregt. „You weiß, wie schlimm meine Eltern sind“, meinte er weiter, „Das Sozialamt geht bei uns ein und aus. Und You arbeitet für die Abteilung beim Jugendamt, die die härtesten und hoffnungslosesten Fälle abbekommt.“ Er blieb stehen, breitete die Arme aus und lachte Hyde an. „Hey, ich bin ein hoffnungsloser Fall. Warum sprichst du überhaupt mit mir?“ Hyde drückte seine Arme herunter. „Weil ich hoffnungslose Fälle cool finde.“ „Hey, du findest das cool? Warum?“ „Weil ich selber so ein hoffnungsloser Fall bin.“ Hyde lachte jetzt, auf einmal schien ihm alles so leicht. You hatte Gackt den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben, dieser arbeitete beim Jugendamt, niemand würde ihnen vorwerfen können, dass sie etwas Unerlaubtes taten. Sie stiegen in die Bahn in Richtung Shibuya. Sie saßen nebeneinander auf der Bank und Gackts Hand tastete sich über den Sitz zu der von Hyde, bis er seine Fingerspitzen fest umschlossen hatte. Sie hielten sich an der Hand, aber sahen sich nicht an. Beide blickten sie geradeaus, als gäbe es da etwas unheimlich Spannendes zu sehen. „Es ist gut“, sagte Gackt in das Schweigen, „dass es Typen wie You gibt. Ohne sie wäre man verloren.“ Er versuchte vor Hyde zu verbergen, dass er aufgeregt war. Er wollte nicht mehr an das Gespräch mit You denken. Dieser hatte prima reagiert, keine Frage, er hatte Verständnis, das spürte man. Ohne zu zögern hatte er Gackt den Schlüssel gegeben. „Entspannt euch erst mal“, hatte er gesagt. „Und macht euch keinen Stress – es ist mir egal, wie lange ihr bleibt. Eine Stunde, zwei Stunden. Hauptsache, ihr hinterlasst keine Müllhalde.“ Quatsch, hatte Gackt gesagt, wir passen doch auf deine Sachen auf, ist doch logisch. An der Tür hatte You Gackt noch einmal an den Schultern zu sich umgedreht und ihn prüfend gemustert. „Ihr schlaft nicht zusammen in meiner Wohnung, das ist klar, oder?“ Gackt hatte einen feuerroten Kopf bekommen, er war wirklich keine Sekunde auf diese Idee gekommen und schüttelte heftig den Kopf. You hatte ihn losgelassen und etwas gemurmelt, das wie: „Ist in Ordnung, ich vertraue dir“ geklungen hatte. Dennoch war es komisch, jetzt mit Hyde in eine fremde Wohnung zu gehen. Es war irgendwie verrückt. Was wohl Hyde dachte? Er blickte ihn von der Seite an, er ging neben ihm her: Die Nasenspitze weiß von der Kälte. Oder von der Aufregung. Wer wusste das schon genau. Als er sich räusperte, zuckte Hyde zusammen. „Hey“, sagte er, „ich überlege gerade, ob wir irgendwas einkaufen sollten?“ „Was denn?“ „Na ja etwas zu essen. Wir können doch nicht einfach alles von You wegmampfen.“ „Hast du denn Geld?“ „Muss ich durchzählen.“ Sie blieben stehen und zählten ihr Geld durch. Dann lächelten sie sich beide an. „Gut, was sollen wir uns denn kaufen?“ „Wie wäre eine Tüte Kekse und etwas zu trinken?“, fragte Hyde unsicher. „Das ist einfach eine wunderbare Idee, ich geh den Typen da drüben fragen, wo der nächste Supermarkt ist.“ Hyde blieb ein wenig weiter weg stehen, währendem Gackt sich den Weg zu dem Einkaufsmarkt beschreiben liess. Es war lustig mit anzusehen, wie die beiden Männer sich mit ihren Händen den Weg beschrieben. Gackt wiederholte nämlich alles, was der Typ sagte. Als er wieder zu ihm kam, meinte er: „Es ist ein Stück zu laufen.“ „Na und? Laufen ist gesund und außerdem…“ „Jaja, schon gut, was für Kekse magst du denn? Mit Nüssen? Mit Schokolade?“ „Am liebsten mag ich Butterkekse, die sind nicht zu süß und man bekommt nicht so viel Durst von ihnen, und sie schmecken einfach am besten!“ „Wir passen wirklich gut zusammen, ich mag auch Butterkekse…“, strahlte Gackt. Es war schön, mit Hyde durch einen vollkommen fremden Supermarkt zu gehen und in den Regalen zu stöbern. Es war lustig, ihm die Rückseite der Kekspackungen vorzulesen. Kaum zu glauben, was man alles brauchte um normale Butterkekse herzustellen. „Verdammt viel Chemie in den Keksen“, sagte Hyde. „Lies mal vor, was auf dem da steht.“ Er zog eine andere Packung heraus und Gackt las wieder vor, während Hyde die anderen Regale inspizierte. Eine Verkäuferin näherte sich misstrauisch: „Kann ich vielleicht helfen?“ „Danke“, sagte Gackt strahlend, „wie helfen uns selbst.“ „Sucht ihr was Bestimmtes?“, fragte die Verkäuferin, während sie einen sehr kritischen Blick auf die beiden Rucksäcke warf. „Wir suchen Butterkekse“, sagte Hyde. „Hier ist ein ganzes Regal voller Butterkekse.“ Gackt strahlte. „Genau das macht die Wahl so schwer. Wir lesen nur kurz durch, was unter Zutaten alles aufgelistet steht. Wissen Sie, ich bin allergisch gegen Phosiryphlat, Vanillearoma und Bindemittel.“ Die Verkäuferin starrte ihn an. Gackt machte ein bekümmertes Gesicht. „Allergiker“, sagte er „Krankheitsstufe 5. Wollen Sie meinen Ausweis sehen?“ Er griff in den Pullikragen und tat, als suche er nach seiner Erkennungsmarke. Erschrocken wehrte die Verkäuferin ab: „Schon in Ordnung.“ „Wollen Sie sehen, was in den Rucksäcken ist?“ Gackt hatte ihren misstrauischen Blick bemerkt. Bereitwillig zog er die Schnur auf und ließ die Verkäuferin in seine Schulbücher blicken, sie war dann auf einmal verlegen. „Ihr müsst mir doch nicht eure Schultasche zeigen.“ „Ach wissen Sie“, sagte Gackt, „mein Vater ist Leiter der Filiale drüben in Shibuya. Jeden Abend erzählt er uns Horrorgeschichten, was die Leute alles mitgehen lassen. Keine Ehrlichkeit mehr unter den Menschen, was? Kaum hast du dich umgedreht, sagt mein Vater, Schwupps, haben sie schon was unter den Pulli gesteckt.“ Er schob seinen Pulli hoch und ließ seine nackte, weiße Haut sehen. „Man kann gar nicht misstrauisch genug sein, sagt mein Vater immer.“ Die Verkäuferin war jetzt völlig durcheinander. Sie wollte sich diskret entfernen, aber Gackt lief immer hinter ihr her und redete dabei gleichzeitig auf sie ein. „Wenn Sie mir Ihren Namen sagen“, meinte er, „kann ich vielleicht etwas für Sie tun. Mein Vater sagt, gute Kräfte, die im Sinne des Unternehmens denken, haben bei ihm immer offene Türen.“ Er reichte der Verkäuferin strahlend die Hand. „Ich werde Sie weiterempfehlen. Wenn Sie mir nun noch sagen: Wo stellt Ihr hier Eure Softdrinks hin? Auch beim Obst?“ „Drüben“, flüsterte die Verkäuferin, „bei den Waschmitteln.“ „Ah!“, Gackt hob verblüfft die Augenbrauen. „Bei den Waschmitteln. Eine fabelhafte Entscheidung. Ich muss das meinem Vater erzählen. Das wird ihm gefallen. Ist schließlich beides ungefähr die gleiche chemische Formel. Das eine Pulver, das andere flüssig. Beides löst sich auf, das eine, wenn es mit Stoffen in Berührung kommt, das andere, wenn es die Magenwände erreicht. Wirklich eine fantastische Idee. Softdrinks neben die Waschmittel.“ „Ent…schuldige…, entschuldige mich…“, stotterte die Verkäuferin, „da fehlt einer an den Kassen heute.“ „Gehen Sie, gute Frau, und tun Sie Ihren Dienst. Man wird Sie dafür belohnen, spätestens bei Ihrem zehnjährigen Dienstjubiläum.“ Sie schnappten sich zwei Colas und eine Packung Butterkekse, bezahlten an der äußersten Kasse und verschwanden nach draußen. Hyde bekam einen Lachanfall. „Sag mal, ist dein Vater wirklich Leiter eines Supermarktes?“ „Unsinn. Hab ich dir doch gesagt, der fährt jetzt Lastwagen nach Kiew. Vorher war er bei einer Umzugsfirma. Er ist stark wie ein Bär.“ „Wow“, sagte Hyde, „Mein Vater hat überhaupt keine Muskeln. Der sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch, oder rennt den Patienten hinterher. Früher hat er wenigstens mal Tennis gespielt.“ „Klar“, sagte Gackt. „Er ist ja auch etwas Besseres. Ich bin ein Arbeiterkind. Jeden Freitag eine Lohntüte und dann ab ins die nächste Kneipe, den Wochenlohn versaufen.“ Hyde sah Gackt an, dieser blieb stehen und schloss die Augen. „Können wir auch mal über was Nettes reden?“ Der kleine Japaner blickte ihn an, sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Wie er die Augenbrauen zusammenzog, wie seine Lider zuckten. Er tat ihm so Leid. Er fragte sich, warum ein junger Mann, der so lustig war wie Gackt, so viel Mist aushalten musste. Warum Eltern nicht stolz darauf waren, so einen Jungen zu haben, warum sie ihn vernachlässigten und rumschubsten, verstand er nicht. Gackt öffnete die Augen, Hyde wurde rot und blickte in die Ferne, beobachtete, wie ein Hund mit seiner Besitzerin spielte und ein Kind einen blauen Luftballon verlor, der sich immer weiter der Freiheit entgegen entfernte. Gackt griff nach der Hand des Kleinen, gleichzeitig hielt er die Plastiktüte aus dem Supermarkt fest. Die Limonadenflaschen schlugen gegeneinander und klirrten leise. „Was war das eben?“, fragte er. „Nichts“, murmelte Hyde verlegen. „Doch, es war etwas. Warum hast du mich so angesehen?“ „Na ich wollte sehen, ob du Pickel hast.“ Gackt trat dicht an den jungen Mann heran. „Und? Hast du einen gesehen?“, Hyde wurde rot und senkte den Blick: „Das war doch nur ein Witz, kam wohl nicht so gut an.“ Kapitel 9: Vertrautes heim, Glück allein ---------------------------------------- Kapitel 9 Die Strasse, in der You wohnte, war eine Sackgasse, die sich am Ende zu einem Rondell weitete, in dessen Mitte ein Häuschen stand, in dem die Anwohner der Gegend die Fahrräder einschließen konnten. Das Häuschen hatte den Stil einer chinesischen Pagode, ein rotes, geschwungenes Dach. Gackt so wie auch Hyde waren beide auf den ersten Blick davon angezogen. Sie wanderten mehrmals drum herum. Schließlich sagte Gackt: „Eigentlich klasse Idee, die Leute müssen ihre Fahrräder nicht mehr hoch schleppen auf ihre Balkone.“ „Oder in den Keller“, sagte Hyde, „Stellst du dein Rad immer auf den Balkon?“ „Geht nicht“, meinte der Blonde, „Weil ich keinen Balkon und kein Rad habe. Ziemlich einfach, was?“ „Bei uns im Keller steht noch das Fahrrad von meinem Vater. Ich wette, das würde nie einer merken, wenn du damit rum fährst.“ „Echt?“, Gackts` Augen wurden groß. „Du meinst, das ginge? Da könnte ich einen Haufen Geld für U-Bahn fahren sparen.“ „Und es ist gesünder“, lachte Hyde. Sie standen vor dem Haus Nummer 12, es war ein anständiges Einfamilienhaus, welches einen separaten Eingang für den ausgebauten Dachboden hatte. Die Fassade war ein wenig dreckig, so dass das anfängliche Grau einem Schwarz gewichen war. Gackt zog entschlossen den Schüssel aus der Hosentasche. „Komm, wir sehen uns das einfach mal an. Wenn dir nicht wohl dabei ist, trinken wir die Cola irgendwo anders.“ Yous Wohnung bestand aus einem einzigen großen Raum. Früher war es vielleicht einmal ein Studio für einen Maler gewesen. Das schräge Dach hatte Fenster, die alle nach Norden zeigten. „Maler brauchen immer Nordlicht“, sagte Gackt, der die Idee mit dem Studio hatte. „Ich wette, hier hat mal ein Maler gearbeitet. Schau dir das an!“ Er blieb staunend vor einem Billardtisch stehen. „Poolbillard. Mann, ich flippe aus. You hat seinen eigenen Tisch! In seiner Wohnung!“ „Und jede Menge super Fotos von Denzel Washington“, sagte Hyde, der langsam an der Fotogalerie entlangging. „Und wer ist das?“ „Amerikanischer Schauspieler. Der hat immer so Vorzeigerollen. Der gute Ami, weißt du. Der Richter, der Arzt, der Scheidungsanwalt, der Eheleute wieder zusammenbringt.“ „Genau“, sagte Gackt, „Nicht Leute wie deine oder meine Eltern. Das interessiert keine Sau. Schon gar nicht amerikanische Filmemacher.“ Er ließ sich auf das Sofa fallen, über das ein weißes Bettlaken gespannt war, genau so wie die anderen Sessel, die mit dem Sofa einen Kreis bildeten. Das gab dem ganzen Raum eine merkwürdige Stimmung, es sah aus wie eine Filmszene. Hyde hatte das Badezimmer entdeckt. Weiße Kacheln, schwarzer Fensterrahmen. „Sieht echt geil aus“, sagte er, „schwarze Handtücher. Wollte ich auch immer, aber meine Mutter meinte, die sehen immer schmutzig aus.“ „Ich finde, die sehen immer sauber aus.“ Gackt inspizierte den Kühlschrank: „Kein Alkohol“, stellte er fest und schlug die Tür wieder zu. Hyde starrte ihn an. „Sag bloß, du willst Yous Alkohol trinken, wir haben doch Cola gekauft.“ „Ich will keinen Alkohol trinken, ich wollte nur wissen, ob You welchen hat!“ „Und was wäre gewesen, wenn der Kühlschrank voller Bier gewesen wäre? Oder Whisky, oder so ein Zeug?“ „Nichts“, sagte Gackt, „wäre doch seine Sache, oder?“ Sie blickten sich eine Weile an, dann meinte Hyde sanft. „Nicht alle, die Alkohol trinken, sind wie dein Vater, oder deine Mutter.“ „Weiß ich doch“, knurrte Gackt, „Ich bin doch nicht blöd. Ich hab ja auch nur aus Neugierde in den Kühlschrank gesehen. Also, wie ist es mit einem Butterkekssnack?“ Er warf sich wieder auf das Sofa und bereitete die Arme auf der Lehne aus. „So eine Wohnung würde mir auch gefallen.“ Sein Blick fiel auf eine grosse Rolle. „Was ist das?“ „Seine Matratze“, sagte Hyde, als er das Ding angesehen hatte, „Die rollt er offenbar jeden Morgen zusammen, damit er noch mehr Platz hat.“ „Dabei kann er hier schon auf Skates herumfahren, vom Kühlschrank ins Bad und zum Fenster. Supergeil ist das. Und von so was gibt er einfach den Schlüssel raus, wie findest du das?“ „Ich weiß nicht, wie ich das finde“, meinte der Schwarzhaarige. Hyde hatte die Colaflaschen geöffnet, Gläser aus dem Schrank genommen und Kekse auf das Tablett gelegt. Er stellte alles vor Gackt auf den Boden und setzte sich dann neben ihn aufs Sofa. „Ich finde es irgendwie überhaupt nicht real. Als wenn ich träumen würde.“ „Kleiner Test“, sagte Gackt und kniff Hyde in den Arm, dieser verzog das Gesicht. „Du träumst nicht“, stellte Gackt fest, „Dann ist die Cola auch real. Darf ich mir erlauben dir ein Glas zu reichen?“ „Aber gern doch“, sagte Hyde. Sie kicherten, waren albern. Sie rannten in der Wohnung herum, blickten aus dem Fenster, probierten die Wasserhähne im Bad aus. „Wenn You wüsste, wie wir uns hier benehmen“, sagte Hyde, „würde er uns nie wieder den Schlüssel geben.“ „Was sollten wir also deiner Meinung nach tun, damit es einen guten Eindruck macht?“, fragte Gackt. Hyde überlegte. Das Geschirr war abgewaschen, der Fußboden sah ziemlich sauber aus, es gab nicht einmal Aschenbecher mit stickenden Kippen. You war offensichtlich ein ordentlicher Typ. Hyde hob die Schultern. „Mir fallen nur Schularbeiten ein. Diese dumme Physikaufgabe zum Beispiel. Hast du die verstanden?“ „Ich bin ja viel zu spät gekommen, da hat er schon alles erklärt.“ „Du glaubst doch nicht, dass der irgendetwas erklärt?! Weißt du, was er mich gefragt hat?“ Hyde musste sich einfach aufregen, als er es erzählte. „Ich sollte in einem Satz sagen, was Physik ist.“ Gackt grinste. „Ist doch einfach. Physik ist die Lehre von Naturvorgängen, von der experimentellen Erforschung der unbelebten Materie und ihre Eigenschaften.“ Hyde starrte ihn an: „Woher weißt du das??“ Kopfschüttelnd und immer noch grinsend fragte er ihn: „Weißt du das etwa nicht?“ Er holte seinen Rucksack, schnürte ihn auf, nahm das Physikbuch raus und schlug das Vorwort auf. „Hier lies mal. Erster Satz, erste Seite. Was steht da?“ Hyde nahm das Buch und las: „Physik ist die Lehre von Naturvorgängen, von der experimentellen Erforschung der Unbelebten Materie…“ Er schlug das Buch zu. „So was lernst du auswendig?!“ „Nein, ich weiß nur, was ich gelesen habe, wenn ich es gelesen habe…“, meinte er trocken. „Okay…Was machen wir als erstes? English, Physik oder Mathe?“ „English“, schlug Gackt vor, „Englisch ist mein Lieblingsfach. Wenn wir die Lektion hinter uns haben, erzähle ich dir, was ich später machen will. Es ist ein Geheimnis. Ich hab es noch nie jemanden erzählt.“ Er rutschte vom Sofa und kniete sich neben Hyde auf den Boden. „Und mir willst du es erzählen?“, fragte Hyde. Gackt war dicht neben ihm und stöberte in seinen Schulsachen. Er nickte ganz cool. „Und warum gerade mir?“ Gackt verzog sein Gesicht. „Das ist eine blöde Frage, die beantworte ich nicht.“ Doch Hyde sah, dass er rot geworden war, das gefiel ihm. „Also los“, sagte er, um ihn nicht weiter in Verlegenheit zu bringen. „Seite 123, Lektion B.“ Also You eine Stunde später nach Hause kam, sah er zwei Jungs, beide ungefähr 17, ausgestreckt auf seinem Holzfussboden in der Mitte seiner Wohnung tief in Schularbeiten versunken. Er zog die Schuhe aus und ging auf Socken an ihnen vorbei zum Kühlschrank. „Hi“, flüsterte er leise, als Hyde erschrocken aufsah, „lasst euch nicht stören. Will jemand von euch einen Tee? Um die Zeit gibt’s bei You immer grünen Tee.“ „Wäre echt toll“, sagte Hyde, immer noch ein wenig verlegen. Er erhob sich. „Kann ich vielleicht etwas helfen?“ You drückte ihn an den Schultern sanft wieder herunter. „Du bleibst da und arbeitest schön weiter, was auch immer du da gerade machst. Ich geh ins Bad und anschließend mach ich uns einen Tee. Und dann erzählt ihr mir was von euch, okay?“ Hyde blickte Gackt an, dieser verzog das Gesicht. „Nur wenn ihr wollt“, sagte You, „Wenn ihr nicht wollt, trinken wir Tee und schweigen dabei. Wie die Tappistenmönche. Macht auch Spass.“ Er grinste Hyde an, dieser grinste zurück und dachte: Bei You haben wir es gut. Hyde rief um acht Uhr abends seine Mutter an. „Ich wollte dir nur sagen, dass ich noch bei Freunden bin“, meinte er, bevor seine Mutter überhaupt den Mund aufmachen konnte, „Ich komm um neun. Ist das okay?“ „Natürlich ist das okay“, sagte seine Mutter. „Ich dachte nur, falls du wieder Vater anrufen willst oder die Bullen oder sonst wenn. Ich habe schon Schularbeiten gemacht. Alles fertig.“ „Und bei welchen Freunden bist du?“ „Kennst du nicht“, sagte Hyde, „ Also, in einer Stunde bin ich zu Hause.“ Er legte auf. You blickte Gackt an. „Und du? Musst du nicht anrufen?“ Gackt schüttelte den Kopf, sie hockten im Kreis auf dem Fußboden, hatten die Pokerkarten in den Händen. Es war Yous Idee gewesen eine Runde zu pokern, als er merkte, dass die beiden nicht reden wollten. Sie hatten Tee getrunken, alle Kekse aufgegessen und sich dann eine Pizza geteilt, die You im Tiefkühler entdeckt hatte, schon eine richtige Frostschicht hatte sich darauf gesammelt. Sie alle hatten behauptet, dass sie super geschmeckt hatte, obwohl der Schinken salzig und die Champignons pappig gewesen waren. Aber was spielte das schon für eine Rolle? Nach einer Weile sprang You unvermittelt auf die Füße. „Hyde“, sagte er, „wenn du pünktlich zu Hause sein willst, musst du nun los. Ich will keinen Ärger mit deiner Mutter haben, verstanden?“ „Okay, ich geh auch, ich bringe ihn nach Hause“, Gackt war sofort auf den Beinen und holte ihre Mäntel. Sie zogen sich an und sammelten schweigend ihre Schulsachen ein und You brühte sich noch eine Kanne grünen Tee auf. Als er sich umdrehte, standen die beiden vor ihm und verbeugten sich zum Abschied vor ihm. You nahm Gackts Hand und umarmte ihn sachte. „Es war ganz toll bei dir“, sagte Hyde, „War echt der schönste Nachmittag, an den ich mich erinnere, seit…“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß überhaupt nicht, seit wann.“ „Seit Weihnachten“, schlug You vor. Gackt verzog das Gesicht. „Red nicht mit uns über Weihnachen, You, da haben wir ein Trauma.“ „Okay, ich red mit euch über was anderes. Zum Beispiel über den Schlüssel da.“ Er deutete auf den Schlüssel, den Gackt auf das Tablett gelegt hatte. „Ich leih ihn dir, für eine Woche.“ Gackt starrte ihn fassungslos an. „Was?!“ „Ja, ich leih in dir, mein Zuhause ist dein Zuhause. Ihr seid beide jederzeit willkommen.“ Er grinste. „Nächste Woche bin ich so oder so nie da, ihr habt also sturmfreie Bude. Wenn ihr mir versprecht, keine Partys zu feiern, keine Drogen ausprobiert, keine anderen Leute mitbringt und nicht auf meiner Matratze mit einander schlaft.“ Hyde wurde feuerrot, aber You sprach schnell weiter: „Und wenn ihr meine Vorräte an grünem Tee nicht wegtrinkt. Getränke müsst ihr selbst mitbringen, das Essen auch. Und wenn ihr telefoniert, dann bitte nur innerhalb von Tokyo, nicht dass ihr jemanden in Amerika anruft.“ „Das willst du wirklich machen?! Uns einfach den Schlüssel geben?“, fragte Hyde. Er konnte es immer noch nicht glauben, dass jemand so etwas tat. Er kannte niemanden, der so großzügig wie You war. „Ja mein Herr“, sagte You, „das will ich wirklich einfach so machen. Nun haut ab, ich muss Sportschau gucken. Und meine Freundin anrufen. Passt auf, dass die Haustüre richtig ins Schloss fällt“, er schob die beiden aus der Türe. Hyde und Gackt liefen die Treppe hinunter, sie redeten erst, als sie draußen auf der Strasse standen. Gackt stellte sich ganz nah an Hyde heran und flüsterte: „Soll ich dir mal was zeigen?“ Er öffnete die Hand, darin lag der Schlüssel zu Yous Wohnung. „Wollen wir morgen wieder hin?“, fragte er. Hyde nickte. „Und übermorgen?“, fragte Gackt. Und der Schwarzhaarige nickte wieder. Sie lachten und fielen sich um den Hals und Hyde liefen dabei Tränen über die Wangen. „Hey“, sagte Gackt, „nicht heulen, Baby, damit ist jetzt Schluss, für immer verstanden? Ich pass auf dich auf, hab ich doch versprochen.“ „Du hast gar nichts versprochen.“ „Doch, hab ich, gestern schon.“ „Aber ich hab es nicht gehört“, meinte Hyde. Gackt grinste. „Ich hab es ja auch leise gesagt. Nur für mich, ins Unreine sozusagen. Jetzt erst sag ich es laut, okay?“ Hyde nickte, er blickte Gackt mit großen Augen an. „Und du passt auf mich auf“, sagte Gackt. „Du passt auf, dass ich dich immer zum Lachen bringe. Denn wenn du lachst, geht’s mir gut.“ Hyde führte den Blonden in ihren Keller, den er immer das „Rattenloch“ nannte. Er gruselte sich schrecklich in dem feuchten und modrigen Verließ, in dem die einzelnen Kellerabteile nur durch Holzverschläge getrennt waren. „Hoffentlich“, sagte er, als er die Kellertüre aufschloss, „funktioniert wenigstens das Licht. Wenn da nur die Notfunzel brennt, mach ich keinen Schritt da rein.“ „Du musst dich nicht so anstellen“, meinte Gackt leise, „ ich bin doch bei dir.“ Er tastete nach dem Lichtschalter. „Wo ist denn der Lichtschalter?“ „Gleich rechts, ungefähr auf Schulterhöhe.“ Er tastete sich über den rauen Putz, plötzlich hörte er ein Geräusch, ein aufgeregtes Piepen, und etwas huschte über seine Hand, er fuhr zusammen. „Was ist?“, fragte Hyde erschrocken. „Weiß nicht, wahrscheinlich ein Tier“, Gackt lächelte tapfer. „Nichts schlimmes, vielleicht eine Spinne oder so was, es hat komisch gefiept.“ „Spinnen fiepen aber nicht“, stellte Hyde klar, „Ich wette, es war eine Maus, es wimmelt von Mäusen.“ Gackt nahm seinen Mut zusammen und versuchte noch einmal den Lichtschalter zu finden, dieses Mal klappte es. Eine schwache Funzel flammte auf, dann noch eine, und sie konnten den Kellergang hinuntersehen bis zu den Holzverschlägen. Fünf Steinstufen führten nach unten. Hyde blickte ängstlich hinunter. „Ich finde Mäuse eklig.“ „Mäuse sind doch süß“, meinte Gackt, „Aber Ratten sind eklig!“ „Ich weiß…“, wisperte Hyde. „Ich gehe nun da hinunter und schau, ob das Fahrrad da ist, okay? Welcher Keller ist es denn?“ „Der zweite links. Hier ist der Schlüssel. Macht es dir was aus, wenn ich nicht mitkomme?“ „Überhaupt nicht“, log Gackt und stieg tapfer in den Keller hinunter. Er fragte sich, warum die Keller in Tokyo alle so scharurig und finster waren. Jemand hatte ihm erzählt, dass die Keller alle irgendwie mit einem unterirdischen System verbunden waren, dass man von diesen in die Wasserschächte gelangen konnte und in die Tunnel, durch die alle Gas und Elektroröhren liefen. Angelegt irgendwann am Anfang des letzten Jahrhunderts. Und für Leute, die sich nicht ekelten und vor gar nichts Angst hatten, sollte das eine tolle Abenteuerreise sein, er aber wollte es nicht ausprobieren. Der Schlüssel passte, das Tor ließ sich leicht öffnen. Da standen zwei fast nagelneue Räder, zwei Autoreifen und ein paar Kisten. „Ein Rotes und ein Grünes“, rief Gackt, „Die stehen da ganz harmlos herum.“ „Das Rote ist meins, das Grüne das meines Vaters.“ Hyde kam nun die Stufen hinunter. „Sind wirklich keine Mäuse da?“ „Alles still“, flüsterte Gackt. Sie musterten beide zusammen die Räder. „Bloß ein wenig angestaubt“, stellte Gackt fest, „Aber sonst okay.“ Er prüfte den Reifendruck. „Könnte etwas mehr Luft vertragen.“ „Die sind auch seit dem letzten Sommer nicht mehr benutzt worden. Los, wir bringen sie nach oben.“ „Und dann?“, fragte Gackt. „Dann nimmst du das Rad meines Vaters und fährst damit nach Hause.“ „Echt?? Du meinst, ich soll das einfach nehmen?“ „Klar.“ „Und was ist, wenn dein Vater es abholen will?“ „Der hat zurzeit andere Sorgen, als sich um sein Fahrrad zu kümmern, Ich wette, der hat das längst vergessen.“ „Klar, jetzt fliegt er nur noch. Hat ja seine eigene Stewardess.“ Sie trugen die Räder nach oben, ketteten Hydes Fahrrad in den Hof an den Fahrradständer. Gackt wischte mit dem Ärmel über den staubigen Sattel und das Gestänge. „Schönes Rad“, sagte er anerkennend. „So eines könnte ich mir im Leben nicht leisten.“ „Im Leben schon“, meinte Hyde. „Ich denke, du willst später in Hollywood steinreich werden, mit einem Pool und einem Park lauter Palmen und Bananenstauden.“ Stimmt, das hatte Gackt Hyde erzählt. Er streichelte immer noch das Fahrrad. „Und ich soll dann jetzt einfach losbrausen? Und ich werde auch nicht von den Bullen angehalten und wegen Diebstahl verhaftet?“ „Quatsch, das passiert garantiert nicht. Wenn jemand nach dem Rad fragt, dann sage ich, dass ich es dir geliehen habe. Ist doch kein Thema.“ Er sah dabei zu, wie Gackt den Sattel einstellte und die Reifen aufpumpte. Dann setzte er sich in den Sattel und probierte die Handbremse und die Pedalen. „Ein geiles Stück“, sagte der Blonde. Hyde lachte. „Okay, morgen komm ich auch mit dem Rad zur Schule.“ „Genau! Und danach fahren wir zu You, Schularbeiten machen und so.“ Sie blickten einander an. Hyde überlegte einen kurzen Augenblick lang, was Gackt mit „Und so“ meinte, doch er fragte lieber nicht nach… Kapitel 10: G und H ------------------- Eine ganze Woche lang hatten Gackt und Hyde nun schon die Nachmittage in Yous Wohnung verbracht. Jeden Morgen plünderte Hyde zu Hause den Kühlschrank und stopfte alles in eine Plastiktüte, die er in seinen Gepäckträger legte. Mit dem Rucksack, in dem seine Schulbücher waren, auf den Schultern fuhr er in die Schule. Gackt und er hatten zwei freie Radständer nebeneinander gefunden. Da parkten sie ihre Fahrräder und schlossen sie jeden Morgen sorgfältig ab. Nach Schulschluss fuhren sie hintereinander durch das Schultor, die anderen aus der Klasse machten schon Bemerkungen über die beiden, sie hießen jetzt in der Klasse nur noch „H und G“. Und es wurde getuschelt, dass die beiden etwas miteinander hätten. Aber keiner der beiden trug ein Freundschaftsarmband oder ähnliches, noch sah man sie in den Pausen Händchenhalten. Sie flirteten nicht miteinander und gaben sich auch keine verstohlenen Küsse in der Musikstunde, wie manche andere. Sie trafen sich nur jeden Morgen an der Ecke und fuhren die letzten zweihundert Meter gemeinsam, genau so wie sie die Schule wieder verließen. Aber das allein war in der Klasse genug Anlass, um zu tuscheln. Tetsu war immer noch krank. Jeden zweiten Tag fuhr Hyde ins Krankenhaus und brachte ihm die Schularbeiten. Er lag auf einer Quarantänestation und durfte keinen Besuch empfangen. Die Ärzte hatten einen gefährlichen, übertragbaren Virus identifiziert. Nicht einmal die Eltern durften zu ihm ins Zimmer. Sie konnten sich nur durch eine Glasscheibe unterhalten. Hyde legte jedes Mal ein Brief in die Mappe mit den Schularbeiten, um Tetsu über alles aufzuklären, was in der Zwischenzeit passierte. Über Gackt schrieb er aber kein Wort, das war sein Geheimnis. Ein Geheimnis hatte auch Gackt vor Hyde. Und das hatte etwas mit dem Fahrrad zu tun. Im letzten Jahr, als er noch ein eigenes Rad besessen hatte, war er für einen Zeitungshändler ausgefahren. Aber dann war auf einmal sein Rad verschwunden und Gackt hatte seinen Vater in Verdacht, dass er es einfach verkauft hatte. Es war aus dem Hof verschwunden, in dem es jahrelang gestanden hatte. Sein Vater hatte natürlich alles abgestritten und beweisen konnte Gackt nichts. Tatsache war aber, dass er seit diesem 17. Oktober den Job aufgeben musste. Seine Eltern konnten ihm kein neues Rad kaufen und das Geld, das er verdient hatte, reichte bei weitem nicht für ein neues, anständiges Fahrrad. Wenn er schnell sein wollte, musste er eine Gangschaltung haben, sonst lohnte sich der Job nicht. Aber für so ein Rad musste man eben genug Geld haben. Der Zeitungsverkäufer staunte, als Gackt eines Morgens um sechs bei ihm im Lager auftauchte und stolz auf das Rad zeigte. „Hey, Gackt, mein bester Mann. Ich sag dir, ich hab dich vielleicht vermisst.“ „Hatte kein Rad“, meinte Gackt, „Kein Rad, kein Job.“ „Genau so ist es mein Junge. Tut mir Leid, dass ich dir keines leihen konnte.“ Er ging um das Fahrrad herum, das Gackt in die Halle geschoben hatte. „Wo hast du das denn her?“, fragte er, als er das Rad inspiziert hatte. Gackt erzählte von Hyde und von dessen Vater. „Ah“, Toshi zwinkerte Gackt zu, „Ein Freund, was? Macht es Spass?“ Gackt wurde rot und schüttelte den Kopf. „Er hat ähnliche Probleme wie ich, seine Eltern sind auch geschieden.“ „Hört sich gut an“, meinte er warm, „Freut mich für dich. Ich hab mit schon Sorgen gemacht. Hab deinen Vater neulich getroffen.“ Gackt schluckte. „Was? Meinen Vater? Wo denn?“ „Na ja, der arbeitet jetzt auf so einem Schrottplatz. Da, wo ich mir immer die Ersatzteile besorge. Wollte ihn begrüßen, aber als er mich erkannte, hat er sich schnell umgedreht und ist weg. Muss ihm doch nicht peinlich sein, dass er da arbeitet. Warum ist der nicht mehr bei dem anderen Job?“ „Die haben ihn rausgeschmissen“, sagte Gackt, „Wegen Trunkenheit. Irgendwas ist gewesen. Ich glaub, er hat Streit angefangen mit seinem Kollegen, mit dem er immer unterwegs war. Und der wollte auf einmal nicht mehr, na ja, mich geht das nichts an.“ Toshi nickte mitfühlend. „Wenn du ihn das nächste Mal siehst, sag ihm, er soll sich nicht schämen wegen dem Job, hat noch keinem ehrlichen Mann geschadet, solch eine Arbeit.“ „Ich sehe ihn nicht, er ist von zu Hause ausgezogen.“ Toshi sagte nichts mehr dazu. „Kann ich meinen alten Bezirk wieder haben?“ „Natürlich mein Junge“, meinte Toshi, „Fang morgen wieder an, okay?“ „Okay.“ „Gut, denn Satochi ist mir abgesprungen, arbeitet jetzt bei Mc Donalds, na ja, die meisten arbeiten lieber nachmittags.“ „Ich nicht, ich arbeite lieber morgens. Nachmittags muss ich mich um Hyde kümmern, er braucht mich.“ Toshi blickte ihn an und lächelte, er gab Gackt einen Schlüssel und meinte. „Ich zahl dir zwei Wochen Vorschuss, weil du ein zuverlässiger Arbeiter bist. Und weil es mehr Spass macht, wenn man ein wenig Geld hat, ich kenn euch Typen doch.“ Gackt grinste. „Das ist das gute an dir“, meinte er, „Du kannst Gedanken lesen.“ Am Nachmittag lud Gackt Hyde groß ins Kino ein und danach gingen sie schick essen. Er spendierte ihm alles, was er wollte. Und gab dem Kellner sogar Trinkgeld. Hyde konnte es kaum fassen. „Hast du im Lotto gewonnen?“ „Ich hab einen Job“, sagte Gackt. „Wenn ich mich ranhalte, kann ich so viel Geld verdienen, dass wir beide davon leben können.“ „Du spinnst“, sagte Hyde. „Warte es ab.“ Gackt stand jeden Morgen um halb fünf auf, fuhr bis um halb acht seine Tour und traf sich mit Hyde an der Ecke. Sie waren immer pünktlich, nur manchmal schlief Gackt in einer langweiligen Schulstunde einfach ein. Nachmittags trafen sie sich bei You, außer mittwochs, wo Gackt nun Fussballtraining hatte. Hyde kam abends immer erst um acht nach Hause, dann warf You die beiden nämlich raus, doch sie fanden es okay. Die Klasse wussten nun alle, dass Gackt und Hyde zusammengehörten. Sie hießen nicht mehr „H und G“, sondern „Die Süßen“. Aber das wussten sie nicht, sie wussten auch nicht, dass die Schüler der 9b insgeheim über sie tuschelten, dass mache ihnen sogar schon nachgefahren waren, um zu wissen, wo die beiden nachmittags immer abblieben. Wenn Hyde von jemandem eingeladen wurde, sagte er immer: Ich kann nicht. Und wenn man dann fragte: Warum? Was machst du?, dann hob Hyde nur die Schultern und sagte nichts, manchmal redete er sich auch mit Schularbeiten raus. Und wenn dieser Jemand dann sagte: Aber die können wir zusammen machen, wurde Hyde rot und sagte: Ich bin schon verabredet, tut mit Leid. Und dann wussten sie alle: Er ist mit Gackt verabredet. Und tuschelten wieder. Hydes Mutter ging jetzt jeden Abend in eine Selbsthilfegruppe für Frauen, die unter der Scheidung litten und damit nicht fertig wurden. Jeden Abend verbrachte sie in dem Seminarraum, wo Leute im Kreis saßen und sich ihren Frust von der Seele sprachen. Seine Mutter hatte Hyde einmal gebeten mitzukommen, aber er war nach zehn Minuten geflüchtet. Es war einfach zu schrecklich, all diese Frauen badeten in ihrem Schmerz. Es kam Hyde so vor, als verlängerten sie ihre Leiden, indem sie immer wieder darüber sprachen. Und wie sie ihre Ex- Männer schlecht machten! Hyde hatte seiner Mutter gesagt, dass er nie wieder dahin mitkäme, seiner Mutter war das offenbar egal. So sahen sie sich immer seltener. Manchmal war eine Nachricht für Hyde auf dem Anrufbeantworter: Hallo Kleiner, hier ist Papa. Wie geht es dir? Ruf doch mal an, du hast doch meine Büronummer noch? Die private Telefonnummer sagte er nicht, auch die Adresse, wo er jetzt wohnte, ließ er unausgesprochen. Komisch, dachte Hyde, wenn man einen Vater hat, der sich davor fürchtet, dass man ihn privat anruft. Seine Mutter hatte die Nummer, das wusste er, sie hatte ihn da ja an dem Abend angerufen, als sie Angst hatte, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Aber da wollte Hyde so oder so nicht anrufen. Als er mit Gackt darüber sprach, sagte er: Komm, wir rufen mal an. Sie saßen bei You, das Telefon war in Reichweite. You hatte ihnen erlaubt zu telefonieren, sie sollten es immer aufschreiben, so dass er in etwa wisse, wie hoch seine Rechnung ist. Der einzige aber, der das Telefon benutzte, war Hyde, und auch nur dann, wenn er Tetsu anrief, dem es immer schlechter ging, oder seiner Mutter, um zu sagen, dass es später wird. Gackt hingegen telefonierte nie, er hatte Hyde mal erzählt, dass ihr Telefon zu Hause abgestellt worden sei und seine Mutter kein Geld habe, um es zu bezahlen. „Meine Mutter kann froh sein, liege ich ihr nicht mehr auf der Tasche, und sie interessiert sich auch nicht, ob ich zu Hause bin oder nicht, sie ist wahrscheinlich wieder einmal betrunken “, meinte er leise. „So etwas kannst du doch nicht sagen, sie ist deine Mutter und irgendwo liebt sie dich bestimmt.“ „Ja, das schon… doch bei so viel Alkohol wird sie mehr oder weniger vergessen haben, dass sie einen Sohn hat.“ „Sie wird sich bestimmt freuen, dass es dir so gut geht.“ „Ich weiß es nicht, wir haben aufgehört miteinander zu reden.“ Hyde fragte ihn, warum sie nicht miteinander sprachen, doch Gackt blieb stumm, da wusste er, dass es etwas gab, worüber er nicht reden wollte. Jedenfalls noch nicht. Einmal, als sie auf dem Boden hockten und Scrabble spielten und Hyde auf einmal wieder von seinem Vater sprach, stand Gackt auf, holte das Telefon und wählte eine Nummer. Dann reichte er ihm den Hörer. „Was?“, fragte er verwirrt. „Die Nummer von deinem Vater. Die Privatnummer. Komm, sag ihm, dass du Sehnsucht nach ihm hast.“ „Und woher hast du die Nummer?“, fragte Hyde. Gackt legte ihm die Fingerspitzen auf die Lippen und Hyde nahm den Hörer entgegen, es klingelte. Und sein Herz fühlte sich an, als würde es bald zerspringen, so fest klopfte es gegen seine Rippen. Dann wurde der Anruf entgegengenommen: „Hier spricht Sayuri Mashimoto, mit wem spreche ich?“ Das war sie, das war die Geliebte seines Vaters, seine neue Frau. Die andere. Hyde erschrak so sehr, dass er anstatt aufzulegen, die falschen Tasten drückte. „Hallo??? Hallo!! Wer ist denn da?!“ Hyde sprang auf, warf Gackt das Telefon in den Schoss und rannte ins Bad. Dieser wollte gerade den Off-Knopf drücken, als er eine männliche Stimme hörte: Hallo? Wer ist da?“ Gackt schluckte, er stotterte. „Hier…, ich meine, Hyde wollte mit Ihnen sprechen.“ „Hyde? Mein Sohn?“ „Ja, aber jetzt ist er weggelaufen.“ „Weggelaufen? Wohin denn weggelaufen? Und mit wem spreche ich, zum Teufel? Wer ist da?“ „Ich heiße Gackt, Gackt Camui.“ „Nie gehört.“ „Das macht nichts, ich werde nun auflegen.“ Er legte auf und als Hyde aus dem Bad kam, lächelte er ihn sanft an. „Alles in Ordnung?“ „Es geht so“, Hyde liess sich auf das Sofa fallen. „Mann, hab ich einen Schreck gekriegt! Ich hab mit ihr geredet! Mit dieser…, dieser.., wenn meine Mutter das erfährt, dass ich da angerufen hab…“ „Mensch, du hast kein Wort mit ihr gesprochen. Du hast nicht einmal „Hallo“ gesagt.“ „Ja, ich weiss. Sehr unhöflich. Mach das nie mehr mit mir, Ga- chan…“ Gackt hob die Schwurhand und schüttelte den Kopf. „Und woher hast du nun die Nummer?“, fragte Hyde, als er sich ein bisschen beruhigt hatte. „Aus seinem Büro, die Nummer von deinem Vater steht doch bei dir in jedem Schulheft.“ Hyde wurde rot, robbte zu den Schulheften, schlug die erste Seite auf und strich die Nummer ganz dick durch. „Jetzt nicht mehr“, sagte er. Gackt schüttelte den Kopf. „Das ist ungerecht. Dein Vater hat dir doch nichts getan.“ Der Schwarzhaarige klappte das Buch zu. „Nein?“, schrie er, „Er hat mir nichts getan? Wie kommst du darauf? Er hat mich verlassen, verdammt noch mal. Ich kann ja nicht mal mehr mit ihm sprechen, wenn ich will. Das hat er mir angetan!“ „Aber du kannst ihn morgen früh doch im Büro anrufen.“ „Morgen früh habe ich Schule.“ „Haido, das ist nicht fair.“ „Es ist mir scheißegal, ob das fair ist oder nicht! Die anderen sind auch nicht fair zu mir. Warum soll ich da fair sein? Und überhaupt: Das ist ein Scheisswort: fair.“ Hyde begann zu weinen, sein Schluchzen wurde immer heftiger. Gackt wusste nicht, wie er ihn trösten sollte. Er nahm ihn in den Arm, streichelte ihn vorsichtig, aber Hyde weinte immer noch mehr. Solange, bis er einfach keine Tränen mehr hatte oder keine Kraft zum Weinen. Er legte sich flach auf den Rücken auf den Boden und blickte empor zur Zimmerdecke. „Ich hasse es, wenn ich weine“, sagte er „ich hasse mich, wenn ich so verzweifelt bin. Ich sollte damit aufhören. Ja, ich höre sofort damit auf.“ Gackt beugte sich über ihn und gab ihm einen sanften Kuss, verschloss für einen winzigen Moment die sanften Lippen des Schwarzhaarigen. „Gut“, flüsterte er leise, „Schreib es in deinem Terminkalender. Heute ist Dienstag, der 22 März. Hyde sagt: Er will nie mehr verzweifelt sein.“ Hyde richtete sich auf. „Der 22. März? Wow! Dann ist ja Frühlingsanfang!“ Er sprang auf die Beine. „Komm, lass und irgendwas machen. Wir wollen feiern. Frühlingsanfang! Weißt du, dass ich ein Fan von Frühling bin? Alles wird grün, alles wir bunt.“ „Das Leben ist schön“, sagte Gackt und gab Hyde noch einen Kuss. „Ja“, Hyde lächelte, obwohl sein Gesicht immer noch tränenverschmiert war. „Das Leben ist schön. Weil du da bist.“ Kapitel 11: Sprung im Porzellan ------------------------------- Eine Woche nach dem Frühlingsanfang war es so warm, dass sie beim Fußballspielen die Shirts auszogen und ihnen der Schweiß über den Körper lief. Gackt stand im Tor und die Sonne brannte auf ihn hinunter, er hielt die rechte Hand schützend vor die Augen, um das Geschehen auf dem Spielfeld zu verfolgen. Gackt beobachtete, wie You im Einzelkampf mit dem Austauschschüler Gjörgy, dem Mittelstürmer der Gegenseite, zweimal den Ball verlor, ihn aber durch Tricks wieder in seinen Besitz brachte. Der Gegenspieler fiel auf den Boden und krümmte sich. Chacha pfiff das Spiel ab und zeigte You die rote Karte. Zwei andere Jungs knieten sich neben den Austauschschüler, der lag immer noch gekrümmt am Boden. Gackt verließ das Tor, um zu sehen, was los war. You beteuerte gerade, dass er nichts getan hätte, doch Chacha hörte ihm nicht zu, sondern sorgte dafür, dass jemand Wasser für Gjörgy holte. „Tor“, brüllte Tatsu, „Tor! Gackt schnappte sich den Ball, der bei ihm ins Tor gerollt war und zeigte Tatsu einen Vogel. „Mann, das Spiel war abgepfiffen!“ Aber ihn interessierte das nicht, er rannte zu Chacha und schrie: „Hast du das gesehen? Ich hab Gackt einen reingewürgt.“ Der Blonde konnte nicht fassen, dass jemand so blöd war. Ein Tor, das man reinkriegt, wenn das Spiel abgepfiffen war, ist überhaupt kein Tor. Der Austauschschüler grinste schon wieder, presste sich aber die Hand auf den Magen, stand aber trotzdem auf. Chacha diskutierte mit You, niemanden interessierte sich für Tatsu, der ein Tor geschossen hatte, welches so oder so nicht galt. Gackt verlor langsam die Geduld, es war heiß und er schwitze. Am Spielfeldrand stand Hyde und schaute zu. Das war das schlimmste. Zum ersten Mal seit Wochen war Hyde mitgekommen und jetzt zeigten sie so ein saumäßiges Spiel. Und Tatsu schaufelte einen Ball ins Tor und benahm sich wie ein Idiot. Und er konnte nichts machen. „Hey“, rief You jetzt auch noch, „was ist mir dir los, Gackt? Lässt dir einfach einen reinwürgen?“ „Mann, das Spiel war aus! Es war doch längst abgepfiffen.“ „Hättest trotzdem aufpassen können!“, schrie Tatsu. Gackt rannte auf ihn zu. „Hörst du jetzt auf?¨“, schrie er, „Verdammt noch mal, dein beschissenes Tor interessiert niemanden!“ Nun sah Tatsu rot, er ballte die Faust und schlug Gackt mitten ins Gesicht. Doch darauf hatte dieser nur gewartet: Dass einer anfing. An diesem Tag lag was in der Luft, alle waren gereizt gewesen. So lange hatten sie sich an die Spielregeln gehalten, die You aufgestellt hatte. Aber an diesem Tag wollten sie das nicht, an diesem Tag wollten sie sich prügeln. Chacha raste von der anderen Seite rüber und rief: „Hey, Gackt, lass dir ja nichts gefallen.“ Er ging auf Tatsu los, beide fielen zu Boden, im Fallen dachte Gackt noch: Meine Hand. Aber da war es schon zu spät. Er hörte die Knochen knacksen und dann schwappte eine Welle von Schmerz durch seinen Körper und er lag einfach da, während die anderen über ihn hinwegtobten und You verzweifelt in seine Trillerpfeife blies, die Chacha um seinen Hals trug. Es hatte zur Folge, dass dieser rot anlief und die Schnurr dann riss. Als You endlich wieder Ruhe in den Laden gebracht hatte, humpelte Gackt an den Spielfeldrand, den rechten Arm an den Körper gepresst, leichenblass. Hyde schrie verzweifelt: „Was hast du, Gackt? Was ist los?“ Er lächelte tapfer, aber er konnte kaum sprechen, weil es so wehtat. „Kannst du mein Rad nach Hause bringen?“ „Klar, aber was ist mit dir? Was hast du? Was habt ihr da überhaupt gemacht?“ Gackt grinste. „Fußball gespielt.“ „Sah eher aus wie Sumoringen.“ Hyde beobachtete Gackt besorgt, wie er sich auf die Steinbrüstung setzte und mühsam nach Luft rang. You redete noch immer in der Mitte des Spielfeldes auf die anderen ein. „Was ist mit deiner Hand?“, fragte Hyde. „Warum hältst du die so komisch?“ Gackt hob den Kopf. „Weil ich glaube, dass sie sonst runter fällt“, sagte er. „Es tut so verdammt weh. Ich glaube, ich brauche einen Arzt.“ Hyde überlegte keine Sekunde, er rannte auf das Spielfeld und kämpfte sich zwischen den anderen durch. „You, Gackt braucht einen Arzt!!“ Sofort war Ruhe. Vollkommende Stille. Wie mit einem Gongschlag waren sie ruhig und schauten Hyde erschrocken an. Dieser deutete auf Gackt, der wie ein Häufchen Elend auf der Steinbrüstung saß. You schob die anderen zur Seite und rannte zu ihm hinüber, dann kniete er sich vor ihm hin. „Was ist passiert, Haifisch?“ „Ich hab selber Schuld“, sagte Gackt, der sich Mühe gab, ganz cool zuwirken. „Ich wollte mich mit der Hand abstützen. Die Hand hat aber nicht mitgemacht.“ „Lass mal sehen.“ Gackt spürte eine heiße Woge durch ihn strömen, er schwitze noch mehr. „Lieber nicht, You.“ „Komm schon, ich habe doch einen Kurs gemacht, ich kenn mich ein wenig aus.“ „Wirklich?“, fragte Gackt misstrauisch. „Wenn ich es dir doch sage, Kleiner.“ „Okay, aber nur ansehen, nicht anfassen.“ You nahm vorsichtig Gackts Arm, hielt ihn am Ellenbogen fest und legte die Hand in die seine. Dann drückte er sanft mit den Fingern auf das Handgelenk und Gackt schrie auf. Er schrie und biss sich gleichzeitig auf die Lippen, um nicht zu schreien. You nahm die Finger sofort weg. „Ich bringe dich ins Krankenhaus.“ Er half Gackt beim Aufstehen, jemand legte ihm das T- Shirt über den Rücken und ein anderer stütze ihn, während You ein Taxi rief. Im Gehen drehte sich Gackt zu Hyde um. Er versuchte zu lächeln. Hyde fand das übermenschlich tapfer. „Du kümmerst dich um das Fahrrad?“ „Klar“, rief Hyde, „Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich darum.“ Hyde saß zu Hause neben dem Telefon und wartete, dass You oder Gackt anrief. Es war halb neun Abends, die Leute saßen auf den Balkonen und taten, als wäre Sommer. Aber er saß im dunklen Flur neben dem Telefon und fror vor Einsamkeit und Angst. Seine Mutter hatte einen Zettel in die Küche gelegt: „Bin bei deiner Tante. Wenn etwas ist, ruf an. Kuss, Mama.“ Auf dem Tisch lag auch noch das Scheidungsurteil. Hyde fragte sich, ob seine Mutter das mit Absicht dort liegen gelassen hatte, so dass er es las. „Der Vater verzichtet auf das Sorgerecht. Das alleinige Sorgerecht hat die Mutter. Besuchszeiten mit dem Vater können großzügig geregelt werden, müssen aber vom Vater mit der sorgeberechtigten Mutter von Fall zu Fall abgesprochen werden. Der Vater zahlt für den gemeinsamen Sohn den Unterhalt nach der Tokyo Tabelle.“ Hyde hatte keine Ahnung, was die Tokyo Tabelle war. Oder wie hoch der gesetzmäßige Unterhalt für ein gemeinsames Kind war. Er fand den Text einfach nur schrecklich. So war also bei der Scheidung über ihn verhandelt worden. Hatte seine Mutter nur einmal gefragt, ob ihm das recht war? Hatte sein Vater um ihn gekämpft? Hatte er vielleicht wenigstens einmal gesagt, dass er auch gerne das Sorgerecht hätte? Hyde überlegte, ob sein Vater ihn wenigstens einmal gefragt hatte, ob er bei ihm leben wollte. Doch er konnte sich nicht erinnern. Er konnte sich so oder so kaum noch an seinen Vater erinnern. Jetzt hockte er neben dem Telefon und wartete, dass Gackt anrief, doch das Telefon blieb stumm. Er hatte schon ein paar Mal bei You angerufen, aber es ging immer nur der Anrufbeantworter ran. „Hallo, Hallo, hier ist You, wenn du was zu sagen hast, sprich nach dem ‚Piep’“. Hyde hatte dann gesagt: „Hallo, hier ist Hyde. Ich dachte, du bist vielleicht schon zu hause. Ich mache mir Sorgen um Gachan. Meine Nummer – falls du sie vergessen hast-“, dann sagte Hyde seine Telefonnummer und hauchte noch einmal: „Tschüss erst mal.“ Und wartete wieder, aber das Telefon klingelte nicht. Hyde zog einen dicken Winterpulli über und steckte seine Füße in Kuschelsocken, weil ihm so eiskalt war. Er verrammelte die Fenster, weil er fand, dass die Wohnung immer kälter wurde .Er hockte sich auf den Fußboden neben das Telefon und lehnte den Kopf an die Wand, dann schloss er die Augen. Wenn Gackt etwas passiert ist, dachte er, bring ich mich um. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, doch Hyde reagierte nicht. Er merkte es nicht einmal. Die Tür ging auf, das Licht im Flur flammte auf und seine Mutter rief. „Was machst du denn da?“ Er öffnete seine Augen, blickte seine Mutter an. „Ich sitze hier.“ „Im Dunkeln!“, rief seine Mutter, „Und was ist das für eine furchtbar stickige Luft hier. Warum öffnest du denn kein Fenster?!“ Sie ließ die Tüten fallen und eilte in die Küche, um die Fenster zu öffnen. „Ph“, machte sie, „So stickig hier drin.“ Sie kam wieder in den Flur und blickte ihren Sohn an. „Mir ist kalt“, meinte dieser nur. „Kalt? Heute? Weißt du eigentlich, wie viel Grad es draußen sind? Fünfundzwanzig!“ „Mir ist trotzdem kalt.“ Hyde rappelte sich mühsam auf, zog die Ärmel des Winterpullis über die Hände. „Bist du krank?“, fragte seine Mutter. „Nein, ich bin nicht krank“, er ging an seiner Mutter vorbei in die Küche. „Hast du das hier liegen lassen, damit ich es lese?“ „Was ist das?“, fragte seine Mutter. „Irgendwas vom Gericht. Darüber steht: URTEIL.“ Seine Mutter wurde wenigstens ein bisschen verlegen. „Oh, Hyde“, sagte sie, „das habe ich ganz vergessen.“ „Dann weiß ich wenigstens, wer das Sorgerecht für mich hat. Vater war wohl nicht interessiert.“ Er zerknüllte das Urteil. „Hideto! Gib das sofort her!“ Er ließ es einfach auf den Boden fallen. Seine Mutter bückte sich danach und glättete es auf dem Tisch. „Wie viel ist es denn?“, fragte er. „Was?“ „Der Unterhalt für mich. Wie viel zahlt Vater denn, damit er sich nicht mehr um mich kümmern muss?“ Seine Mutter blickte ihn an, mit einem ganz komischen Blick, den Hyde nicht deuten konnte. War sie gereizt? Nervös? Oder ein wenig schuldbewusst? „Das ist eine Vereinbarung zwischen deinem Vater und mir“, sagte seine Mutter, während sie sich nach einem geeigneten Platz für das Papier umsah, um es einfach verschwinden zu lassen, „Das geht dich nichts an.“ „Ich finde schon, dass es mich etwas angeht“, sagte Hyde. Er zitterte am ganzen Körper. Auf einmal war ihm nicht mehr kalt, sondern heiß, glühend heiß, als würde er von einer Sekunde zur anderen hohes Fieber bekommen. „Ich finde sogar, dass es mich ziemlich viel angeht. Ihr habt über mich verhandelt wie über ein Möbelstück. Gackts Vater hat das Wohnzimmer mitgenommen, als er ausgezogen ist. Vater hat nichts mitgenommen, nicht einmal mich. Er hat nicht einmal überlegt, ob er mich mitnehmen soll!“ Seine Mutter starrte ihn an. „Wer ist Gackt“, fragte sich schließlich… „Ist das dein einziges Problem?“, wollte Hyde wissen. Das Telefon klingelte. Hyde sprang auf und rannte in den Flur. Er riss den Hörer hoch: „Hallo? You? Gackt??“ Dann war es still. Seine Mutter war in den Flur gekommen und stand nun neugierig neben ihm. „Hallo“, sagte Hyde mit einer ganz anderen Stimme, einer enttäuschten, leblosen Stimme. „Wie geht’s?“ „Wer ist es?“, flüsterte seine Mutter. Hyde drehte sich einfach von ihr weg. Es war Tetsu. Tetsu war aus dem Krankenhaus entlassen und wollte Hyde die schöne Neuigkeit mitteilen. Es ging ihm wieder gut, das Fieber war weg und die Ärzte waren sich sicher, dass das Virus erfolgreich bekämpft war. „Ich hab fünf Kilo abgenommen“, sagte Tetsu, „Meine Kleider schlappern alle. Aber ich war so oder so zu dick. Weißt du noch, dass wir immer Diät machen wollten?“ Hyde hatte keine Lust darüber nachzudenken. Tetsu redete und redete, selig, das Krankenhaus verlassen zu haben. „Kannst du vorbeikommen?“, fragte er. „Heute noch? Mutter hat gesagt, sie freut sich. Sie hat was Schönes gekocht und hat gemeint, du sollst auch kommen, damit wir feiern.“ „Ich weiß nicht“, sagte Hyde. „Was weißt du nicht?“, rief Tetsu, „Ob du willst, oder ob du darfst?“ „Ich muss am Telefon bleiben“, sagte Hyde. Er ärgerte sich, dass seine Mutter immer noch neben ihm stand. „Dein Vater?“, fragte Tetsu. „Ach der, der ruft sowieso nie an.“ „Wer denn?“ „Kann ich im Augenblick nicht sagen“, Hyde spürte, dass Tetsu enttäuscht war, beleidigt. Er konnte sich vorstellen, dass Tetsu sich unheimlich auf diesen Moment gefreut hatte. Wieder gesund, fünf Kilo dünner und ein grosses Fest zu Hause in der Familie, mit dem besten Freund. Für Tetsu lief alles immer irgendwie glatt, auch wenn es dazwischen mal kleine Tiefschläge gab. Hyde verspürte fast so etwas wie Neid, als Tetsu sagte: „Morgen geht es nämlich nicht. Da kommen meine Grosseltern. Die freuen sich so riesig, dass ich wieder gesund bin. Alle freuen sich riesig.“ „Das ist doch toll“, sagte Hyde. „Ey, Mann! Was ist los? Freust du dich denn nicht? Warum bist du so komisch?“ „Ich bin nicht komisch, ich muss Schluss machen, weil ich die Leitung nicht so lange blockieren kann.“ „Also dann, mach doch, was du willst!“ Hyde seufzte, als er das Freizeichen hörte. „Wer war das?“, fragte seine Mutter. „Tetsu!“ Hyde ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank. Leere Fächer gähnten ihn an. „Gibt es irgendwas zu essen?“, fragte er. Seine Mutter brachte die Tüten in die Küche. „Hier, ich hab Brot, Käse, Tomanten, Gurken und Butter gekauft. Ich hätte mehr eingekauft, aber ich konnte ja nicht damit rechnen, dass du mal wieder zu Hause bist. Was wollte Tetsu denn?“ „Sagen, dass er aus dem Krankenhaus entlassen wurde.“ Seine Mutter wollte gerade die Butter in den Kühlschrank legen, mitten in der Bewegung hielt sie inne. „Tetsu? Aus dem Krankenhaus? War er denn immer noch da?“ „Ja, klar“, sagte Hyde. „Sie haben doch nicht rausgefunden, was für eine Infektion das war. Was für eine Art von Virus.“ „Und wo bist du dann immer gewesen? All die Abenden, wo ich dachte, du bist bei Tetsu?!“ Sie blickten einander an. „Ich… Ich“, stammelte Hyde. Das Telefon klingelte wieder. Hyde wollte an seiner Mutter vorbei in den Flur, aber seine Mutter hielt ihn fest. „Nun gehe ich ran!“ „Aber es ist bestimmt für mich“, flüsterte Hyde hilflos. Doch seine Mutter schob ihn einfach zurück und ging in den Flur. „Ja, bitte“, fragte sie. Hyde hielt die Luft an, er stand mitten in der Küche, den Kopf in den Nacken gelegt und betete. „Gackt?“, sagte seine Mutter. „Einen Gackt kenne ich nicht.“ Wieder eine Pause. Hyde schlich sich an die Küchentür, seine Mutter mit eiserner Stimme sagte: „Einen Moment.“ Als sie sich umdrehte, stand Hyde schon hinter ihr. „Für dich“, sagte sie. Hyde nahm den Hörer, schluckte und flüsterte: „Ja?“ Es war You. Seine Stimme klang heiter und vergnügt. „Hi, Baby, ich wollte nur die neusten Neuigkeiten überbringen. Deine Stimme hat ja richtig geklungen, als hättest du Panik. Komisch, solch eine Nachricht abzuhören. Also, es ist nichts, nur eine Bänderzerrung. Gackt hat einen dicken Druckverband bekommen und jede menge Spritzen und jetzt liegt er hier neben mir auf dem Boden und kann schon wieder grinsen. Ich gebe ihn dir mal.“ „Danke You“, flüsterte Hyde. Dann war Gackt dran. Auch seine Stimme war völlig in Ordnung. „Ich wollte nur noch hinzufügen: Die Fernbedienung kann ich auch mit Links betätigen, überhaupt kann man viele Dinge mit links machen.“ „Ich hab mir vielleicht Sorgen gemacht!“, sagte Hyde. Seine Mutter stand immer noch hinter ihm, doch das war ihm egal. „Ich hab gedacht, ich dreh durch, wenn ihr nicht bald anruft.“ „Tut mir leid, es hat ewig gedauert im Krankenhaus. Da geht es zu, sag ich dir, wie im Sommerschlussverkauf. Was ist dem Fahrrad?“ „Ich hab es in eueren Umkleideraum gebracht und dann mit der Kette an die Heizung angeschlossen. Ich kann kaum mit zwei Rädern gleichzeitig losfahren.“ „Schlau“, sagte Gackt, „Echt schlau. Ich bin morgen übrigens krankgeschrieben. Übermorgen auch. Toshi hab ich schon abgesagt. Kannst du morgen nicht einfach blau machen?“ „Du bist verrückt“, sagte Hyde. Es ging ihm viel besser, seit er mit Gackt telefonierte, und wusste, dass er okay war. Es ging ihm schon fast wieder gut. „Ich weiß, dass ich verrückt bin, das hast du mir schon hundert Mal gesagt. Also was ist nun?“ „Ich komme nach der Schule.“ „Kannst du uns was zu essen besorgen?“ „Klar.“ „Vielleicht können wir ein Picknick machen. Es ist Sommer, schon bemerkt?“ „Klar“, sagte Hyde. „Also dann.“ Sie zögerten beide den Hörer aufzulegen, Hyde kicherte, Gackt lachte. „Du zuerst“, sagte Gackt. „Nein du“, sagte Hyde. „Feigling“, flüsterte der Blonde zärtlich. „Selber Feigling“, Hyde lachte. Mein Gott, dachte er, ist das Leben schön, wenn alles okay ist. „Ist bei dir alles okay?“, fragte Gackt nun besorgt. Und da fiel Hyde seine Mutter wieder ein. Er wandte sich um. Seine Mutter war in die Küche gegangen, man hörte, wie sie mit Geschirr hantierte. „Ziemlich“, sagte Hyde. „Was ist nicht gut?“ „Kann ich jetzt nicht sagen.“ „Verstehe. Halt die Ohren steif.“ „Mach ich doch immer.“ „Morgen Mittag ist wieder alles gut.“ „Ja genau“, sagte Hyde. „Ich leg nun auf.“ „Gut, tschüss.“ „Wirklich, ich leg nun auf.“ „Na los!“ Es machte Spass, mit Gackt zu telefonieren. Es war schön, seine Stimme zu hören, sein Lachen, seine Ideen. Picknick… Schade, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war. Es war Sommer draußen, hatte Gackt gesagt. Und ihm war eben noch kalt gewesen wie im tiefsten Winter. Auf einmal war ihm wieder warm, er konnte den Pulli ausziehen. Er ging ins Bad, kämmte sein Haar, wusch sich das Gesicht. Als er wieder in die Küche kam, war seine Mutter gerade fertig mit dem Salat, den sie machen wollte. Sie nahm schweigend die Teller und die Schüssel und deutete auf das Besteck und das Brot, welches Hyde schweigend nahm. „Wollen wir im Wohnzimmer essen?“ Das hatten sie seit Wochen nicht gemacht. So nickte er zaghaft. „Wer ist Gackt?“, fragte seine Mutter, als sie ihrem Sohn ins Wohnzimmer folgte. „Ein Junge“, sagte Hyde. „Und?“, fragte sie weiter. „Und nichts“, sagte er, „Er ist aus meiner Klasse.“ „Ah.“ „Seine Eltern sind auch geschieden.“ „Aha.“ Hyde verteilte den Salat auf die beiden Teller und schnitt das Brot in Stücke. Dann kniete er sich auf den Boden, um essen zu können. „Warum weiß ich nichts von diesem Gackt?“ „Keine Ahnung“, schnell stopfte sich Hyde das Salatblatt in den Mund. „Du erzählst mir nichts mehr.“ „Doch, wenn du da bist, erzähle ich dir was.“ „Jetzt bin ich doch da“, meinte seine Mutter. Hyde blickte seine Mutter an, sie war dünn geworden. Dünn, blass und nervös. Das tat ihm Leid. Hyde ahnte, dass seine Mutter oft nachts weinte, aber sie verschloss immer sehr sorgfältig ihre Türe. Er wusste auch, dass seine Mutter nachts aufstand und verstohlen das Telefon aus dem Flur holte und mit ins Schlafzimmer nah. Dann wählte sie unablässig eine Telefonnummer. Und legte wieder auf. Hyde ahnte, dass dann das Telefon bei seinem Vater klingelte. Doch er wollte nicht mit seiner Mutter darüber reden. Er wollte weder den Trauer noch den Hass seiner Mutter wissen. „Ich warte immer noch, dass du etwas sagst“, bemerkte seine Mutter, als Hyde das Salatblatt endlich hinunter gewürgt hatte. Hyde stopfte schnell ein Stück Ei hinterher. „Nimm die Stäbchen“, sagte seine Mutter, „Oder hast du deine Erziehung nun ganz vergessen?“ „Mir schmeckt es aber besser, wenn ich mit den Fingern esse“, sagte Hyde beinahe trotzig. „In vielen Ländern isst man mit den Fingern.“ „Lenk nicht ab“, sagte seine Mutter. „Ich möchte wissen, was los ist.“ „Nichts ist los.“ Seine Mutter seufzte und schüttelte immer wieder den Kopf. „Machst du mir etwa Vorwürfe, dass dein Vater und ich geschieden sind?“ Hyde zuckte mit den Achseln. Was sollte er darauf sagen? „Von mir aus“, sagte seine Mutter, „hätten wir ewig eine glückliche Familie bleiben können. Ich war deinem Vater nicht untreu, ich habe ihn nicht betrogen.“ „Wie viel Geld zahlt er für mich?“, wollte Hyde wissen. Er wollte seine Mutter daran hindern, dass sie die Geschichte von vorne erzählte. Er hatte oft genug gehört, dass sein Vater, dieser Mistkerl, bei einer anderen Frau gewesen war. Er konnte es einfach nicht mehr hören. „Warum willst du das wissen?“ „Weil das Geld doch für mich ist“, sagte Hyde leise. „Ja und? Du lebst hier, hier in unserer gemeinsamen Wohnung.“ „Und wenn ich dazu keine Lust mehr habe“, fragte Hyde nun sehr vorsichtig, „Wenn ich vielleicht irgendwann ausziehen möchte und mit anderen Leuten zusammenlebe, bekomme ich dann das Geld?“ Seine Mutter wurde weiß wie die Wand hinter ihr. „Ich weiß nicht, was mit dir los ist“, flüsterte sie. „Das ist wirklich eine ungeheure Frage. Spürst du nicht, wie sehr mich das verletzt?“ „Und ich?“, fragte er nun atemlos. „Was ist mit mir?! Ihr verletzt mich auch immer zu, das macht wohl gar nichts!“ „Hör auf!“, schrie ihn seine Mutter hysterisch an. „Hör doch selbst auf!“, schrie Hyde zurück. Seine Mutter warf die Serviette auf den Tisch, nahm ihr Weinglas und verließ das Wohnzimmer, die Schlafzimmertüre fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Hyde nahm seinen Salatteller, stand langsam auf und ging in sein Zimmer, er knallte seine Türe so heftig zu, dass er das feine Porzellan klirren hören konnte. Sorgfältig verschloss er seine Zimmertüre und machte Musik an. Langsam drehte er die Lautstärke hoch, sodass selbst die Nachbarn noch etwas von seiner Musik hören konnten. Kapitel 12: Picknick allein zu zweit.... ---------------------------------------- Picknick im Japanischen Garten, Gackt hatte von zu Hause eine Bastmatte mitgebracht und sein Kopfkissen. Außerdem hatte er im Supermarkt Plastikteller mit Besteck besorgt. Dann hatten sie eingekauft, Tiramisu und Pizza vom Italiener und genügend Cola für eine Fußballmannschaft. Jetzt saßen sie auf dem Rasen und ließen sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Um sie herum tollten Kinder umher und hielten die Eltern auf Trab. Gackt erzählte Hyde die herrlichsten Geschichten, er hatte die Hand unter einem dicken Verband verborgen, vielleicht war es sogar ein wenig schlimmer, als er zugeben wollte. Hyde dachte sich, dass er ihm einfach keine Angst machen wollte. Jedenfalls zeigte er nicht, dass er Schmerzen hatte und hantierte mit Links, als habe er nie etwas anderes gemacht. „Das habe ich früher trainiert“, sagte der Blonde, „Mit Links alles machen, was ich mit Rechts auch kann. Ich bin auch früher mit geschlossenen Augen herumgelaufen und hab trainiert, wie es ist, wenn man blind ist. Willst du mal sehen?“ Er stand auf, schloss die Augen, streckte die Hände vor und begann zu gehen, immer gerade aus. Zwei Hunde, die miteinander spielten, entdeckten ihn und rannten auf ihn zu, sie dachten, das sei ein neues Spiel. Gackt konnte die beiden nicht sehen, sie liefen neben ihm her und schnupperten an seinem Bein. Der kleinere der beiden Hunde sprang an Gackt hoch, dieser blieb stehen, öffnete die Augen und blickte die Hunde an und dann sah er zu Hyde. „Siehst du, ich kann, wenn ich blind bin, Hundetrainer werden.“ Hyde grinste und legte sich auf die Matte, schob Gackts Kopfkissen unter den Nacken und blickte den Wolken nach, die über den Himmel segelten. Das Leben konnte sooo schön sein. Er verstand nicht, warum er das immer wieder vergaß, wie schön das Leben war. Gackt setzte sich wieder hin und kitzelte seine Beine mit einem Grashalm. Hyde zog die Beine an den Bauch. „Hör damit auf, das kitzelt“, lachte er. „Dann kraul mir die Haare“, bat Gackt, „und ich stell mir vor, ich bin ein kleiner, brauner Welpe, den alle lieb haben.“ „Hyde schob seine Finger in das strubbelige Haar und massierte mit den Fingerspitzen seine Kopfhaut. Gackt schloss genießerisch die Augen. „Na, wie ist das?“, fragte Hyde. Der Blonde blinzelte ihn an. „Wau! Wau!“, bellte er. Hyde ließ sich vor Lachen auf den Rücken kugeln. „Oh Mann“, sagte Gackt, die gesunde Hand unter dem Nacken und die mit dem Verband auf dem Bauch. „ist das schön. Alles. Das wir ein toller Sommer. Lang und heiß.“ „Woher willst du das jetzt schon wissen?“, fragte Hyde. „Ich sah das in meiner Eigenschaft als Wetterfrosch, es liegt in der Familie, dass wir wetterfühlig sind. Meine Tante wusste immer, wann es regnet.“ „Was ist denn nun mit ihr?“ „Sie ist gestorben.“ „Hast du sie sehr gemocht?“ „Und wie“, flüsterte der Blonde, „Es war ein Fehler, alles, was man liebt, wird einem weggenommen.“ Er warf sich plötzlich über ihn, fasste seine Handgelenke und kam mit seinem Gesicht ganz nah an das von Hyde, so nah, dass seine Augen ganz unscharf wurden. „Aber dich“, sagte Gackt, „verliere ich nicht, da passe ich auf.“ Hyde dachte, nun gibt er mir einen Kuss. Und dann dachte er: Oder er wartet darauf, dass ich ihm einen gebe, doch ich weiß nicht, ob ich schon bereit bin, vor allen Leuten… Sie waren so nah, dass ihre Nasenspitzen sich berührten, aber sie küssten sich nicht. Sie blieben einfach so, eine ganze Weile, und dann ließ Gackt ihn los. Er rollte sich zurück, bis er auf dem Rücken lag. „You hat ein Zelt“, meinte er nach einiger Zeit, „Einen Zweier. Nur weiß ich nicht, ob wir das aufstellen könnten.“ „Klar können wir ein Zelt aufstellen!“ „Aber ich hab nur die linke Hand.“ „Ich hab zwei Hände“, Hyde sprang auf, er klatschte erwartungsvoll in die Hände. „Au ja, lass uns zelten fahren, am Samstag, ja?“ Gackt blinzelte in die Sonne. „Und was sagt deine Mutter? Ich meine, wenn du erzählst, dass wir zusammen zelten wollen?“ „Ist mir egal. Was sagt deine denn“, meinte Hyde beinahe niedergeschlagen, da er Angst hatte, es könnte nicht klappen. „Der erzähle ich das nicht, sie wird es so oder so nicht merken.“ Hyde blickte verlegen zu Boden und begann Grashalme zu zupfen. „Soll ich You um das Zelt bitten?“, meinte Gackt nun und schob seine Finger unter das Kinn von Hyde. „Klar“, meinte der Schwarzhaarige leise. Die Vorstellung, am Sonntag nicht zu Hause zu sein, tat schon gut. Nicht zu erleben, wie seine Mutter bis Mittags im Schlafanzug herumlief, wie seine Mutter die Fotos aus den Fotoalben herauslöste und dann mit der Schere klein schnippelte, ein Urlaubsfoto nach dem anderen. Hyde hatte einmal im Papierkorb lauter Köpfe seines Vaters gefunden. Seine Mutter hatte sie fein säuberlich herausgeschnitten. So einen Sonntag wie vor drei Wochen wollte Hyde niemals mehr erleben. Doch dann kam ihm ein ganz anderer Gedanke, wenn er mit Gackt zelten würde, wären sie das aller erste Mal alleine, würden das aller erste Mal nebeneinander einschlafen und nebeneinander wieder aufwachen. Er spürte, wie er rot wurde, doch Gackt bemerkte es nicht, er war selbst tief in seinen Gedanken versunken. „Ich sage meiner Mutter, dass ich bei Tetsu bin, der ist nun aus dem Krankenhaus zurück.“ „Gute Idee“, Gackt nickte, „Dann macht sie sich keine Sorgen und regt sich nicht auf.“ „Und wo fahren wir hin?“, fragte Hyde. „An den See.“ „Oh ja…“, hauchte er leise. „Ich versuche mal raus zu finden, wie wir dahin kommen mit der U Bahn und dem Rad.“ „Die Bahnfahrt ist bestimmt teuer“, sagte Hyde. „Vielleicht bekomme ich ja von meiner Mutter etwas Geld.“ „Lass das mal lieber, ich lad dich ein. Ich hab ja genug verdient, sonst regt sich deine Mutter nur wieder auf.“ „Das tut sie sowieso“, meinte der Schwarzhaarige. „ Sie regt sich immer auf. Über alles. Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie das war, als meine Eltern ganz normal zusammengelebt haben. Hab’s einfach vergessen. Es kommt mir vor wie ein Märchen, wie ein alter Film.“ „Ist es ja auch“, sagte Gackt, „ein alter schwarzweiß Film, aber eben ein schöner.“ Hyde nickte, er presste die Lippen zusammen, verfolgte den Dackel, der hinter einem Ball über die Wiese fegte. Gackt streckte die Hand aus und streichelte seinen Rücken. „Nicht dran denken“, sagte er sanft. „Nicht dran denken, Haido.“ Er nickte tapfer… Hyde fuhr am Freitagnachmittag zu Tetsu, Gackt wollte in der Zeit die Sache mit dem Zelt klarmachen und die Fahrkarten besorgen. Gackt hatte ihm gesagt, dass er am Samstag um halb zehn am Bahnhof sein musste. Und er würde pünktlich sein, er würde den Wecker auf sieben Uhr stellen und aus dem Haus sein, bevor seine Mutter aufwachte. Ihr würde er nur einen Zettel hinlegen. Bevor sie noch irgendwelche Fragen stellen konnte. Doch vorher musste er Tetsu einweihen. Tetsu lag im Liegestuhl auf dem großen Balkon, der in einen alten Garten hinausführte. Die Eltern von Tetsu hatten eine Altbauwohnung mit Zimmern, deren Decken mehr als vier Meter hoch waren. Das Parkett knarrte, wenn man darüber ging, deshalb hörten die Eltern auch immer, wenn Tetsu spät nachhause kam. Selbst wenn er mit bloßen Füssen ganz behutsam ging, konnte man es hören. Der Balkon ging vom Flur ab und bot so viel Platz, dass man einen großen, viereckigen Sonnenschirm aufspannen und zwei Liegestühle neben einem Tisch und vier Stühlen aufstellen konnte. Tetsu lag in einer Decke eingewickelt da, als Hyde kam. Seine Mutter saß am Tisch und schälte Spargel, sie lächelte ihn an. „Schön, dass du kommst. Tetsu war sehr enttäuscht, dass du nicht zur Willkommensparty gekommen bist.“ Tetsu ließ sein Buch sinken. Er war blass und sehr dünn, dennoch strahlte er den Schwarzhaarigen an. „Setz dich hin und erzähl mir alles“, forderte er leise. Hyde legte ihm ein kleines Geschenk in den Schoss. Im letzten Augenblick war es ihm eingefallen, dass er Tetsu etwas schenken musste. Schließlich war er sein bester Freund und in der letzten Zeit hatte er sich kaum um ihn gekümmert. Das war eigentlich gemein, doch Hyde hoffte, dass Tetsu das verstehen würde, schließlich hatte er selbst jede Menge Probleme gehabt. „Was ist das?“, fragte Tetsu. Er hielt das Päcken hoch, das in einem rotem Papier eingewickelt war mit einer weissen Schleife verziert. „Mach es auf, dann weißt du es“, meinte Hyde grinsend. Er beobachtete, wie Tetsu das Papier beinahe ehrfürchtig öffnete und die Cd in den Händen drehte. „Oh, das ist ja…“ Der Schwarzhaarige grinste. „Ja, es ist. Ich weiß, dass ich geschworen habe es nie jemandem zu geben, doch tu, was du willst, damit.“ Tetsu grinste und öffnete die Hülle, um sich die Worte anzusehen, die Hyde geschrieben hatte, die Cd war nur gebrannt, doch auf ihr war ein Karaoke Abend festgehalten, auf dem auch sein bester Freund sang. Ja, Hyde hatte sich immer gewehrt, doch an diesem Abend hatte er etwas gesungen, die Besitzer jener Bar hatten es auf eine Cd gebrannt, so wie sie es bei allen Gästen gemacht hatten. „Du wolltest es dir nicht einmal anhören…“, flüsterte Tetsu leise. „Ich schenk sie dir, weil es dir sehr viel bedeutet hat.“ Glücklich lächelnd drückte sein Freund das kleine Präsent an seine Brust und schloss für einige Sekunden die Augen, dann rannte er los, um das Radio zu holen, um es sich gleich anzuhören. Hyde sah zu, wie Tetsu die Musik genoss und dachte: Er wird mir den Gefallen tun, es wird ganz einfach sein. Tetsus Mutter bereitete in der Küche das Abendessen vor. Er und Tetsu waren ins Zimmer verschwunden und der Brünette zeigte ihm, wie dünn er geworden war. Er zog sein Hemd über den Kopf und zog den Bauch ein, so dass man die Rippenbögen sehen konnte. „Siehst du?“, fragte er. „Du bist ja super mager“, sagte Hyde. „Oh Mann.“ „Sieht doch toll aus oder?“ Hyde wollte ihn nicht verletzen, doch nach seinem Geschmack war er viel zu dünn. Er war vorher schon schlank gewesen, es war nur in Tetsus Vorstellung gewesen, dass er zu dick sei. Die anderen fanden ihn gerade richtig und immer, wenn er sagte, dass er zu dick sei, gaben die anderen ein kollektives Stöhnen von sich. „Hey, wir könnten doch am Sonntag ins Kino.“ „Ich kann nicht“, sagte Hyde leise, sein Herz schlug bis zum Hals. Er sah, dass sich die strahlenden Augen von Tetsu sofort verdunkelten. „Warum kannst du nicht?“ „Ich bin schon verabredet“, flüsterte Hyde. „Und ich kann das nicht mehr absagen.“ Tetsu setzte sich auf seinen Schreibtischsessel und klemmte die Hände zwischen die Knie, er blickte Hyde durchdringend an. „Ich war ganze acht Wochen im Krankenhaus“, sagte er, „Und jetzt bin ich wieder da. Ich dachte, du freust dich. Ich dachte, wir machen jetzt wieder alles zusammen so wie vorher auch.“ Hyde verzog gequält das Gesicht. Es tat ihm leid, Tetsu zu enttäuschen. „Das dachte ich eigentlich auch. Aber…“, er stockte. „Also, morgen ist Samstag“, sagte Tetsu. „Ich muss ganz früh noch einmal ins Krankenhaus, die wollen mir noch einmal Blut abnehmen, danach wollen meine Eltern mit mir zu Mc Donalds, du glaubst gar nicht, wie ich mich nach dem Fraß gesehnt habe! Wenn ich meine Eltern frage, darfst du sicher mitkommen“, er lächelte den kleinen Japaner an. „Ich weiß nicht“, Hyde räusperte sich. „Vielleicht solltest du das mit deinen Eltern alleine machen. Sie haben dich doch auch lange nicht gesehen. Dein Vater arbeitet den ganzen Tag, der will mich doch auch nicht immer dabei haben.“ Tetsu stritt das natürlich ab, aber Hyde spürte, dass er Recht hatte, natürlich waren die Eltern froh ihren Sohn erst einmal für sich zu haben. „Okay“, sagte Tetsu, „dann Sonntag. Kino…“ „Sonntag geht nicht. Ich hab meiner Mutter versprochen, mit zu einer Freundin zu fahren, das habe ich schon versprochen, bevor ich wusste, dass du ins Krankenhaus kommst.“ Hyde wusste selbst nicht, wie ihm diese Lüge so plötzlich eingefallen war. „Weißt du, meine Tante, sie hat sich sehr um meine Mutter gekümmert, nach der Scheidung.“ Tetsu verstand nur zu gut, in acht Wochen waren eben viele Dinge geschehen. Es war anderes geworden. Die Mutter von Tetsu fragte, ob Hyde zum Abendessen bleiben wollte, aber Hyde schüttelte den Kopf. Er wollte schnell nach Hause, bevor seine Mutter kam, wollte er noch ein warmes Bad nehmen und seine Reisetasche packen. Schon seit Tagen überlegte er, wie er die Tasche verstecken konnte, damit seine Mutter keinen Verdacht schöpfte. Und nun da er Tetsu auch anlügen musste, würde er ihr einfach einen Zettel hinlegen. Nur, was sollte er schreiben? Mir fällt was sein, dachte Hyde, mir fällt bestimmt etwas ein. Tetsu und Hyde umarmten sich im Treppenhaus. „Freust du dich, dass ich wieder da bin?“, flüsterte der Brünette. „Natürlich“, gab der Schwarzhaarige schnell von sich. Tetsu blickte ihn lange und nachdenklich an. Dann lächelte er und sagte: „Bestimmt wird alles so schön wie vorher!“ „Klar“, murmelte Hyde verlegen. Plötzlich lachte Tetsu, so laut und heftig, dass Hyde schulbewusst zusammenzuckte. „Weißt du, wie du mir vorkommst?“ „Nein“, sagte Hyde und blickte den Fußboden an. „Als wenn du verknallt wärst!“ Feuerrot und verlegen entrüstete sich Hyde: „Wie kommst du nur auf das?!“ „Ich weiß nicht, du bist so anders, so verschlossen, na ja, ganz anderes als früher.“ „Unsinn“, meinte Hyde. „Aber wenn du verliebt bist, sagst du es mir, ja?“ Der Schwarzhaarige nickte, er hatte einen Kloss in der Kehle. „Mir zuallererst“, drängte Tetsu. Hyde nickte wieder. „Schwör es mir!“ Hyde hob die Hand. „Ich schwör es dir, Tet-chan.“ Kapitel 13: Angst und Bange --------------------------- Hydes Mutter war zu Hause, als er zurückkam. Seine Tante war bei ihr und zwei andere Frauen. Seine Mutter hatte rote Wangen und lachte immer wieder, Hyde bemerkte die Weinflaschen und verdrehte die Augen. „Hey Hyde, es gibt eine Schweizer Spezialität: Fondue“, rief seine Mutter, „Es schmeckt köstlich! Komm, setz dich zu uns. Wir haben nun jeden Freitag einen Weiberabend, aber du darfst gern hier bleiben.“ Sie winkte Hyde zu sich und legte ihm den Arm um die Taille. „Das ist mein Hyde“, sagte sie, „Und das ist deine Tante, die kennst du ja. Das hier ist Saihja und Sandrina. Wir sind alles Frauen, die von ihren Männern im Stich gelassen wurden, Scheidungsopfer sozusagen. Aber wir haben beschlossen, dass wir keine Opfer mehr sein wollen. Wie findest du das?“ „Ich weiß nicht“, meinte Hyde leise. Er musterte die beiden Frauen. Die eine hatte rotgefärbte Haare und trug ein wallendes Kleid aus schwarzer Spitze. Sie sah ein wenig aus wie eine Hexe. Die andere hatte schwarze, streichholzkurze Haare und trug einen Hosenanzug aus grünem Lack und rauchte eine Zigarette mit einer Elfenbeinspitze. Das sah faszinierend aus, fand Hyde. Sie hatte die Lippen schwarz angemalt und dunkel umrandete Augen. Hyde wunderte sich, was für Freundinnen seine Mutter hatte, doch nicht weil diese zwei Frauen gut in der gleichen Welt wie er selbst hätten leben können, sondern weil seine Mutter ihn stets dazu zwang mehr Farbe zu tragen. Seine Mutter wollte, dass er einen Teller holte und sich zu ihnen setzte. „Wir sprechen gerade über Männer“, sagte sie, „Und was für Flaschen und Feiglinge sie sind, das kannst du dir schon anhören.“ „Das kann man nie früh genug erfahren, es ist ein Fakt, Frauen sind das starke Geschlecht!“, meinte seine Tante. „Männer sind Weicheier“, sagte die mit den roten Haaren und alle lachten, wobei es ein bisschen hysterisch klang. „Ich bin aber auch ein Mann“, meinte Hyde leise, er fühlte sich gedemütigt. „Ja, aber du“, seine Mutter kniff ihm in die Wange, „Du wirst niemals einer Frau wehtun, ich weiß es einfach, deine Ehefrau wird einen guten Mann bekommen!“ „Ahhja“, meinte er immer noch leise. „Komm, trink ein Glas Wein, du bist ja schon beinahe erwachsen!“, seine Mutter drängte ihm das Glas auf und wollte anstoßen. „Ich mag keinen Alkohol“, er stellte das Glas auf den Tisch. „Ich möchte lieber in mein Zimmer, ich… muss noch etwas für die Schule machen.“ „Heute?!“, fragte seine Mutter, „Aber morgen ist doch Samstag.“ „Ja, aber wir machen morgen eine Klassenfahrt. Da muss ich mich vorbereiten.“ „Eine Klassenfahrt? Warum weiß ich nichts davon, Hideto?“ „Ich... ich hab dir bestimmt davon erzählt“, er blickte seine Mutter nicht an. „Du hast vielleicht nicht genau zugehört.“ „Und wohin fahrt ihr?“ Hyde erzählte ihr, dass sie an den See fuhren und dass dort auch Unterricht stattfinden würde. Da mischte sich seine Tante ein: „Das klingt aber toll, solche Lehrer hätte ich mir auch gewünscht.“ Seine Tante kramte in ihrer Tasche und winkte Hyde dann zu sich. „Hier, falls das Essen nicht schmeckt, kauf dir was Schönes.“ Hyde fühlte den Geldschein in seiner Hand. „Danke“, flüsterte er und wurde verlegen. Als er seiner Mutter in die Küche folgte, warf er einen Blick auf das Geld, beinahe hätte ihn der Schlag getroffen, als er die 500 Yen sah. „Sie hat mir 500 Yen geschenkt“, flüsterte er seiner Mutter entgegen, die gerade einen Weißwein aus dem Kühlschrank nahm. „Das ist nett von ihr, sie ist immer so großzügig.“ „Ja“, sagte Hyde. „Brauchst du von mir auch noch Geld? Was kostet die Fahrt?“ „Weiß nicht genau“, log er, „Aber das Geld wird erst nachher eingesammelt.“ „Hast du deine Sachen schon gepackt?“ Hyde schüttelte den Kopf, seine Mutter kam auf ihn zu und küsste seine Stirn. „Wie erwachsen du schon bist“, seufzte sie leise, „Hab Spass, ja?“ Er erwiderte nichts, sondern sah ihr zu, wie sie das Glas in der Küche leerte, in dem auch Weißwein gewesen war. „Glaubst du nicht, dass du zu viel trinkst?“, fragte er. „Nein, aber…wenn du meinst, dass es so ist.“ „Ja, das meine ich!“ „Glaubst du, dass ich zu einer Alkoholikerin werde, weil dein Vater mich verlassen hat?“ „Mein Vater hat dich nicht verlassen, es war dein Mann, der dich verlassen hat.“ Hyde nahm sich eine Flasche Wasser und verschwand in sein Zimmer. Er hörte, wie seine Mutter ins Wohnzimmer zurückging und sagte. „Freut euch, dass ihr keine Kinder habt, die in der Pubertät sind.“ „Dann fiel die Türe zu und Hyde konnte nicht hören, was sie antworteten. In fieberhafter Eile packte Hyde seine Sachen. Er war erleichtert, dass er seiner Mutter keinen Zettel mehr schreiben musste. Und gleichzeitig hatte er ein schlechtes Gewissen wegen all den Lügen, die er im Laufe des Tages erzählt hatte. Ihm war richtig schlecht von dem Lügen. Als er schon beinahe eingeschlafen war, hörte er das Telefon klingeln. Er richtete sich kerzengerade auf, sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Ob das Ga-chan war? Obwohl der niemals um diese Zeit anrief. Er knipste das Licht an und blickte auf die Uhr, dabei fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, den Wecker zu stellen. Seine Mutter nahm den Hörer ab. „Ja bitte?“ Dann war da diese unerträgliche Stille, wo er nur seinen eigenen Herzschlag hörte. „Er schläft schon“, sagte seine Mutter. Hyde schleuderte die Decke zurück, lief zur Tür und horchte. „Nein, ich will ihn nicht wecken“, sagte seine Mutter, ihre Stimme klang so kalt und streng wie seine frühere Mathe Lehrerin, er bekam eine Gänsehaut. Oh Gott, dachte Hyde, jetzt macht sie alles kaputt. Jetzt denkt Gackt, es klappt nicht. Er öffnete die Türe, tat so, als würde er verschlafen die Augen reiben und tapste auf bloßen Füssen zu seiner Mutter. „Ist es für mich?“, fragte er betont schläfrig. Seine Mutter funkelte ihn böse an, den Hörer immer noch an das Ohr gepresst. „Ja, du hast richtig gehört, er ist aufgewacht.“ Sie hielt Hyde den Hörer hin. „Wer ist es?“, fragte Hyde. „Dein Erzeuger“, meinte sie eisig. Er holte tief Luft und wisperte dann leise ins Telefon. „Vater?“ „Hallo Kleiner, ich wollte nur mal hören, wie es dir so geht.“ „Danke“, meinte er, „Ganz gut.“ „Das freut mich. Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“ „Warum denn das?“ „Weil du auf meinen Brief nicht geantwortet hast!“ „Was denn für einen Brief?“ „Den ich dir geschrieben habe. Wo ich dir alles erzählt hab, wie es mir geht und wie ich mir unsere Zukunft vorstelle. Ich war ganz traurig, dass du nicht geantwortet hast.“ „Ich hab keinen Brief bekommen“, meinte Hyde. Er dachte: Mutter, meine Mutter hat den Brief vor mir versteckt. Bestimmt hat sie ihn gelesen und dann verbrannt. „Sayuri und ich haben dich für das Wochenende eingeladen“, sagte sein Vater, „Wir wollten mit dir nach Frankreich fliegen und ich wollte dir den Eifelturm zeigen! Da du dich aber nicht gemeldet hast, sind wir nun unsicher, was nun ist.“ „Ich…Ich…habe…ich hab nichts gewusst“, flüsterte Hyde. „Jetzt ist das natürlich ein wenig zu kurzfristig für dich, nehme ich an?“ „Ja, außerdem habe ich schon etwas vor“, meinte Hyde. „Oh, das ist aber schön. Mit deiner Mutter?“ „Nein“, sagte Hyde. „So. Okay. Ich frag dich nicht weiter, bestimmt ist es ein Geheimnis.“ Er hatte so eine freundliche Stimme, fast so wie früher. Hyde presste den Hörer dichter an sein Ohr. „Ja, es ist ein Geheimnis, aber vielleicht erzähle ich es dir irgendwann. Aber ich muss es Tetsu als erstes erzählen, das hab ich versprochen!“ „Klar, er ist auch dein bester Freund! Sayuri lässt dich herzlich grüssen, sie möchte dich gerne kennen lernen.“ Hyde antwortete nicht, sein Vater hustete verlegen. „Nur wenn du es auch willst, natürlich“, meinte er dann. „Ich weiß nicht“ sagte Hyde, „Vielleicht irgendwann.“ „Genau, wir brauchen es ja auch nicht zu überstürzen. Aber wir können uns doch mal nachmittags treffen. Vielleicht in einem Kaffee?“ „Klar“, meinte Hyde, „Warum auch nicht.“ „Wirklich schade“, sagte sein Vater, „dass du meinen Brief nicht bekommen hast, das würde die Sache viel einfacher machen.“ „Ja, wirklich schade,“ „Willst du mir deine Mutter noch mal geben? Dann kann ich sie fragen, was mit den Briefen passiert ist.“ Hyde schloss die Augen, atmete tief durch, dann meinte er: „Vater, bitte, nicht heute Abend. Sie hat Besuch. Und… und bitte jetzt keinen Streit. Nicht heute Abend.“ Sein Vater zögerte, er merkte, dass es ihm schwer fiel, seinem Sohn diese Bitte zu erfüllen. Er konnte sich vorstellen, wie böse er auf seine Mutter war. Einfach seine Briefe zu unterschlagen. Das war nicht fair. Und Hyde hatte die ganze Zeit geglaubt, sein Vater interessiere sich nicht für ihn. „Okay“, sein Vater gab nach, „Dann rede ich ein anderes Mal darüber.“ „Gut.“ „Gehst du wieder ins Bett?“ „Ja.“ „Dann träum was Schönes, mein Sohn, ich hab dich lieb.“ Hyde begann beinahe zu weinen, als er zurückflüsterte: „Ich dich auch.“ Schnell legte er den Hörer auf, lief ins Schlafzimmer seiner Mutter, nahm den Wecker und trug ihn in sein Zimmer. Er stellte den Wecker auf sieben, zog die Decke über den Kopf und zwang sich an nichts zu denken. An rein gar nichts. Hyde hatte vorher noch nie gezeltet. Er wusste nicht einmal, wie man ein Zelt aufstellte. Doch Gackt hatte sich von You jeden Handgriff zeigen lassen. Er behauptete, dass seine Hand nicht mehr schmerzte und packte kräftig mit an. Sie hatten am See eine Stelle gefunden, von der Gackt meinte, dass er schon als Kind hier gespielt habe. Er zeigte Hyde einen alten Steg. „Hier haben wir unser Ruderboot festgemacht“, sagte er, „Und da drüben stand das Haus meiner Tante.“ Jetzt war da nichts mehr. Nur noch ein verfallener Schuppen, der von Sträuchern überwuchert worden war. „Wie schnell so was verschwinden kann“, sagte der Blonde fassungslos, „wenn sich niemand darum kümmert.“ Hyde dachte plötzlich, dass es so nicht nur mit Häusern sondern auch mit anderen Dingen so. Die Liebe verschwindet, wenn man sie nicht pflegt. Das Glück. Der Frieden. Alles muss gepflegt sein. Sie gingen zu Fuß vier Kilometer ins nächste Dorf und kauften in einem Tante-Emma-Laden ein. Da gab es einfach alles, die Verkäuferin war eine nette, rundliche Dame, die Hyde immer Herzchen nannte. Und sie mahnte, dass sie sich Sonnencreme kaufen sollten. „Man unterschätz die Frühlingssonne nämlich“, sagte sie warnend, „Und du, Herzchen, hast so eine schöne, weiche Haut, wäre doch schade, wenn du Falten bekommst.“ Doch Hyde meinte, dass sie viel zu teuer sei und dass er lieber im Schatten bleiben würde. Doch die Dame schenkte ihm ein Probemuster. Als Hyde und Gackt wieder zurückliefen, nahmen sie sich an der Hand und lachten albern, als neben ihnen ein Wagen hielt und ein älterer Herr ihnen anbot sie mitzunehmen, lehnten beide entschieden ab. Sie genossen es beide einfach nur beieinander zu sein. Ein Fischer, der sah, wie sie ihr Zelt aufbauten, tuckerte langsam ans Ufer. „Ohhoo, der verjagt uns bestimmt“, sagte Hyde leise. Aber der Fischer wollte nur Hallo sagen und ihnen seinen Fang zeigen. Er schenkte Gackt sogar einen seiner Fische. Überglücklich machte sich der Blonde daran Feuer zu machen, währendem Hyde die Schlafsäcke ausrollte. Der Himmel war den ganzen tag azurblau und die ersten Mücken schwirrten schon herum. Hyde saß am Ufer und versank im Farbenspiel der Natur. Er sah zu, wie die Sonne das Wasser des Sees Lavendel färbte und dachte: Warum können wir nicht einfach hier bleiben? Hier ist es so friedlich, so schön. Als Gackt es endlich geschafft hatte das Feuer anzuzünden und den Fisch anfing zu braten, setzte er sich neben den Kleinen. „Na?“, sagte er, „Du machst so ein nachdenkliches Gesicht.“ Hyde lächelte. „Nicht nachdenklich. Glücklich! Warum können wir nicht einfach hier bleiben, es ist so schön hier!“ „Manchmal regnet es auch“, meinte Gackt, „Dann wird es im Zelt klamm und ungemütlich.“ „Ach, das macht mir doch nichts aus. Aber die Leute sind alle so freundlich. Es ist still hier. Wenn ich an Tokio denke, den Krach, die Autos, das Gedränge in der U- Bahn, dann bekomme ich die Krise.“ Gackt strich ihm zärtlich durch das halblange, schwarze Haar. „Denk nicht daran, überleg dir lieber, wie du den Fisch isst, ohne Teller“, er grinste. Sie gingen erst ins Zelt, als es stockdunkel war. Über ihnen blinkten die Sterne um die Wette. Gackt hatte vergessen eine Taschenlampe mitzunehmen, so suchten sie kichernd den Eingang zum Zelt. Als sie noch mehr lachend in ihre Schlafsachen schlüpften und endlich in ihren Schlafsäcken lagen, rollten sie ganz dicht aneinander heran. Gackt streckte seinen gesunden Arm rüber und Hyde schmiegte sich in seine Armbeuge. Sie lagen ganz still und hörten auf die Geräusche der Nacht, das leise Schwappen der Wellen ans Ufer. Das Schreien irgendwelcher Vögel. Irgendwo heulte mal ein Motor auf, worauf ein Hund anfing zu bellen. Sie hörten, wie ein Motorrad vorbei brauste, und das Lachen eines Pärchens, dann wieder nur das Schwappen der Wellen. Gackt atmete so leise, dass Hyde ihn gar nicht hörte. „Atmest du immer so leise?“, wisperte er. „Klar.“ „Wenn ich nachts aufwache und dich nicht höre, hab ich Angst , dass du tot bist.“ „Okay, dann schnarche ich.“ Hyde stieß ihn an. „Wehe.“ „Also, was nun? Schnarchen oder still sein?“ „Leise atmen“, sagte Hyde, „Das beruhigt mich schön.“ „Okay, du atmest leise und ich beruhige mich schön.“ So alberten sie herum, bis sie müde wurden und ihnen die Augen zu fielen. Hyde wachte kein einziges Mal in der Nacht auf, er hörte auch nicht, wie Gackt sich morgens vorsichtig aus seinem Schlafsack pellte und durch die Zeltplane nach draußen schlüpfte, um im Sonnenaufgang zu der kleinen Insel zu schwimmen. Er wachte erst auf, als die Sonnenstrahlen durch den schmalen Zelteingang direkt auf sein Gesicht fielen. Eine Weile wusste er nicht, wo er war, er hielt das Ganze für einen Traum. Bis ihm schlagartig klar wurde, dass dies keiner war. Er fuhr hoch, blickte zu Gackts leerem Schlafsack, zog die Zeltplane zurück. „Gackt“, rief er, „Warum hast du mich nicht geweckt? Wie spät ist es denn?“ Er konnte seine Uhr nicht finden. In der Nacht hatten sie ihre Sachen in völliger Dunkelheit ausgezogen und irgendwo hingeschmissen. Hyde zog seine Badehosen an und einen Pulli, der von Gackt war, wie sich herausstellte, denn er war ihm viel zu groß, dennoch behielt er ihn an. Er lief zum Ufer und blickte sich suchend um. „Gackt!“, rief er noch einmal, „Ga-Chan! Sag doch was!“ Aber er hörte nichts, ein Vogel flog aus dem Schilf auf und zeterte ängstlich. Ein Bauer kam auf der Landstrasse vorbei und winkte ihm freundlich. Hyde winkte nervös zurück. Er rannte am Ufer auf und ab. Er suchte die Wasseroberfläche ab, vielleicht war Gackt ja nur schwimmen gegangen, doch er entdeckte seine Badehose am Ufer. Die Sonne stieg und es wurde immer wärmer. Hyde beschloss nicht mehr ängstlich zu sein. Er zog seinen Pulli aus und machte Frühstück, Gackt war wahrscheinlich mit dem Fischer hinaus gefahren. Als er zum Ufer blickte, sah er tatsächlich das Boot des Fischers näher kommen, erleichtert machte er sich daran den Gaskocher anzuwerfen, um Tee zu machen. Dann aber, als das Boot ganz nahe am Ufer war, sah er, dass Gackt nicht in dem Boot saß. „Guten Morgen“, sagte der Fischer, „Wollte nur mal sehen, ob alles bei euch in Ordnung ist und ob ihr vielleicht etwas braucht.“ „Ich weiß nicht“, sagte Hyde, „Gackt ist nicht da.“ „Wird schwimmen sein“, meinte der ältere Mann. „Ja, aber er ist schon so lange weg.“ Der Fischer lächelte. „Wer weiß, vielleicht hat er eine schöne Meerjungfrau getroffen. Mach dir keine Sorgen. Der Junge taucht bestimmt gleich wieder auf. Wenn etwas ist, ich wohne da drüben.“ Er zeigte auf ein rotes Dach, das zwischen den Bäumen hervorblitzte. Das beruhigte Hyde etwas. Er setzte sich vor das Zelt und wartete. Jede Minute kam ihm wie eine Stunde vor, eine Stunde wie eine Ewigkeit. Und plötzlich wurde er so ängstlich, dass sein Herz wehtat. Er stellte sich vor, wie Gackt ertrank. Wie er sich verfing in irgendwelchen Schlingen unter Wasser, irgendwelche Fallen und sich nicht befreien konnte. Wie er einen Erstickungsanfall bekam, er hatte es genug erlebt, dass er manchmal keine Luft bekam. Sein Herz klopfte heftig und sein Kopf wurde so heiß, dass er es kaum aushielt. Er hatte plötzlich eine Vorahnung, als würde jeden Moment ein Unglück geschehen. Vielleicht genau in diesem Moment. Er spürte es, es war wie ein Stich in den Bauch. Dieses Unglück. Er mit weit aufgerissenen Augen da, unfähig an etwas anderes zu denken oder etwas zu machen… Kapitel 14: Nahe Gewitterfronten -------------------------------- Da, auf einmal, hörte er das Klatschen des Wassers und das heftige Atmen eines Menschen. Er wagte nicht zu hoffen, dass es Gackt war. Er hatte sich schon damit abgefunden, dass es ein grosses Unglück geben würde, so konnte er nicht einmal lächeln, als Gackt auftauchte, tropfnass und nackt und sagte: „Hey, gibt es in diesem Haushalt auch ein Handtuch?!“ Er hatte ganz blau gefrorene Lippen, das Wasser war bestimmt noch eiskalt, daran hatte Hyde gar nicht gedacht. Er erhob sich und blickte Gackt wie eine Erscheinung an. Gar nicht bewusst, dass er diesen Mann zum ersten Mal nackt sah. Er nahm es zwar wahr, sah es aber nicht. „Wo warst du?“, fragte er. Lachend schüttelte er das Wasser aus den Haaren, dabei zitterte er wie Espenlaub. „Auf der Insel“, sagte er und machte eine weit ausholende Geste. „Da wollte ich schon als Kind immer hin, aber meine Tante hat immer gesagt, es sei zu weit. Wartest du denn schon lange? Oh…das Frühstück ist ja fertig.“ Er verschwand im Zelt. Hydes Knie waren immer noch ganz weich, als Gackt wieder auftauchte, trug er lange Hosen und denselben Pulli, wie Hyde getragen hatte. „Meine Füße sind immer noch Eisklumpen“, sagte er, „Aber sonst fühl ich wenigstens schon wieder etwas. Willst du mal sehen, wie kalt meine Lippen sind?“ Er küsste Hyde zärtlich, dieser zuckte zusammen, da die Lippen eiskalt waren. Schnell schob er den Blonden wieder von sich. „Ich war halb tot vor Angst!“, flüsterte Hyde, „Ich wusste ja nicht mal, wo du warst!“ „Du hast dir Sorgen gemacht?“ Er ließ sich auf den Klappstuhl fallen, nahm sich ein wenig Brot und Käse und biss hungrig hinein. „Endlich einer“, sagte er kauend, „der sich Sorgen um mich macht.“ Hyde konnte nichts essen, der Schock saß ihm immer noch tief in den Gliedern. „Ich war ganz sicher, dass etwas Schlimmes passiert ist“, sagte er, „Ganz sicher, das ist doch komisch.“ Er presste den Hand auf den Bauch. „Hier drin hab ich es ganz deutlich gespürt.“ „Das kommt von dem großen schwarzen Loch“, feixte Gackt, „Du hast einfach Hunger, das ist alles. Iss was!“ Er schob ihm das Brot und den Käse näher und goss dann Tee in einen Becher. „Und wie wäre es mit einem Becher richtig schönem, heißem Tee? Der weckt Tote.“ Hyde wollte Gackt nicht sagen, dass er angenommen hatte, er könnte tot sein. Lieber nicht darüber reden, dachte er. Aber den ganzen Tag wurde er nicht mehr richtig froh. Auch wenn Gackt es noch so hingebungsvoll versuchte. Hyde spürte, dass sich Unheil über ihnen zusammenbraute. Zur gleichen Zeit, als Hyde und Gackt vor ihrem Zelt aßen, hielt ein blauer Toyota vor dem Haus, in dem Hyde mit seiner Mutter lebte. Tetsu kletterte vom Rücksitz und lief durch den Vorplatz zu der Haustüre und klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sich die verschlafene Stimme von Hydes Mutter meldete: „Ja? Wer ist da?“ „Hallo Frau Takarai, ich bin es, Tetsu. Wir wollten Hyde abholen.“ „Hyde? Der ist doch auf Klassenfahrt… Moment ich mach auf, ja?“ Tetsu drückte die Haustüre auf, als der Summer losging und stieg langsam, weil er sich immer noch ein wenig schlapp fühlte, die Treppen bis in den dritten Stock hoch. Hydes Mutter hatte inzwischen Zeit gehabt sich einen Bademantel überzuziehen und die Haare notdürftig aus dem Gesicht zu bürsten. Sie war blass und immer noch müde, obwohl sie zehn Stunden geschlafen hatte. Seit der Trennung von Hydes Vater fühlte sie sich immer nur müde und zerschlagen. Tetsu hatte sich hübsch gemacht. Neue Frisur, neue Kleider, einen neuen Mantel, den er beim Shoppen entdeckt hatte. Seine großzügigen Eltern hatten ihn sofort gekauft. „Guten Morgen, Frau Takarai, tut mir wirklich sehr Leid, dass ich sie störe, schläft Hyde etwa noch?“ „Hyde ist gar nicht da.“ Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder zurechtfand. „Weißt du das denn nicht?“ „Nein“, Tetsu schüttelte den Kopf. „Nein, keine Ahnung, wo ist der denn?“ „Er ist auf Klassenfahrt“, meinte sie, „Hast du das denn nicht gewusst? Hat er dir nichts erzählt?“ Tetsu schüttelte wieder den Kopf. „Von einer Klassenfahrt wüsste ich doch. Ich hab gestern mit Ju-ki und Ken gesprochen. Das kann also nicht sein.“ Beide blickten sich eine Weile an. „Oh Gott, was mache ich nun?“ „Warten Sie. Ich könnte…ich könnte das rauskriegen. Darf ich reinkommen? Ich ruf den Lehrer an.“ Hydes Mutter folgte Tetsu in die Wohnung und sah zu, wie er sein Handy herauszog und eine Nummer eintippte, weshalb Tetsu die auswendig konnte, fragte sie lieber nicht. „Du willst den Lehrer anrufen?“, meinte sie, „Meinst du, wir können da am Sonntag stören?“ „Klar, ist doch schon halb elf.“ „Oh Gott, schon halb elf, ich vertrödle neuerdings die Wochenenden im Bett, das ist ja schrecklich.“ Sie lächelte verlegen. „Du weißt bestimmt, was hier los ist.“ Tetsu nickte. „Klar, tut mir wahninnig Leid“, er wurde rot, da das Gespräch für ihn peinlich war. „Ich ruf also schnell an.“ „Nimm das Telefon, du kannst die Nummer anscheinend ja auswendig.“ „Klar“, sagte Tetsu, „Ich hab oft mit ihm telefoniert, er war auch der einzige, der sich um mich gekümmert hat, als im Krankenhaus war.“ „Und Hyde?“, fragte Hydes Mutter. Tetsu hob lächelnd die Schultern. „Na ja.“ „Hat er sich nicht gekümmert?“ „Doch, doch, schon, ein wenig, er hat mir die Schularbeiten gebracht.“ Die Mutter lächelte erleichtert. „Wenigstens etwas.“ „Ja. Aber sonst war nicht viel. Ich weiß auch nicht. Er ist komisch geworden. Ich ruf nun an.“ Tetsu wählte die Nummer und wartete, dann meldete sich die alt bekannte Stimme seines Klassenlehrers. „Guten Morgen, ich bin es, Tetsu. Ich bin hier gerade bei Frau Takarai, kann ich sie dir kurz geben? Es geht um Hyde“ ,wisperte er leise, „Gut.“ Er gab der Mutter den Hörer und lächelte aufmunternd. „Guten Tag, was kann ich für Sie tun?“ „Guten Tag, es geht darum, dass Hyde mir erzählt hat, er würde dieses Wochenende eine Klassenfahrt mit der Schule machen. An den See außerhalb. Aber Tetsu weiß davon nichts.“ „Ich weiß davon auch nichts“, sagte der Lehrer, „Wir haben mal darüber nachgedacht, aber es kam nie zu einer“, er stockte, „Hyde ist also weggefahren und hat behauptet, es sei eine Klassenreise?“ „Genau so ist es“, sagte seine Mutter. „Ich bin jetzt ganz durcheinander, Tetsu wollte meinen Sohn abholen, so hab ich erfahren, dass Hyde…dass er...“ „Dass Hyde Sie belogen hat“, vollendete der Lehrer den Satz. Es herrschte eine Weile nachdenkliches Schweigen. „Was soll ich nun machen?“ „Schauen sie einmal in sein Zimmer. Vergewissern sie sich, ob etwas fehlt. Dinge, aus denen Sie gewisse Schlüsse ziehen können. Vielleicht hat er auch einen Brief dagelassen, eine Nachricht an Sie.“ Hydes Mutter wurde zuversichtlicher. „Oh ja, das ist eine gute Idee. Danke vielmals. Und entschuldigen Sie die Störung.“ Sie legte auf und wurde von Tetsu gemustert. „Was hat er gesagt?“ „Es gibt keine Klassenreise, wir gehen nun in sein Zimmer. Der Lehrer denkt, Hyde könnte mir ein Brief geschrieben haben. Oh mein Gott, ich hab solche Angst, dass er sich etwas angetan hat.“ Sie gingen gemeinsam in das Zimmer. Es war aufgeräumt, selbst das Bett war gemacht. Auf dem Schreibtisch lagen die Hausaufgaben, ordentlich gemacht. Neben dem Bett stand noch der Wecker, der auf sieben Uhr gestellt war. „Er hat sich aus dem Haus geschlichen“, meinte Hydes Mutter, „Ohne mir eine Nachricht dazulassen.“ Von unten drang Autohuben zu ihnen hoch. „Meine Eltern waren!“, meinte Tetsu, „Soll ich ihnen Bescheid geben, dass…“ „Nein, nein, fahr du nur los. Ich such hier in Ruhe alles durch“, sie setzte sich an den Schreibtisch und zog die Schubladen auf, „Ich finde vielleicht was.“ Gerade als Tetsu gegangen war, klingelte das Telefon. Es war noch einmal der Lehrer. Er hatte inzwischen etwas herumgefragt und ihm war ein Gedanke gekommen. „Kennen Sie Gackt?“ „Nein“, meinte sie, „Wobei ich glaube, Hyde hatte ihn mal erwähnt, aber ich fürchte, ich hab nicht zugehört.“ „Gackto Camui und Ihr Sohn sollen in der letzten Zeit eine sehr enge Freundschaft haben“, sagte er, „Man har mir erzählt, die beiden seien unzertrennlich. Sie sollen immer gemeinsam verschwinden und wieder auftauchen. Wissen sie denn, wo sich die beiden an den Nachmittagen aufhalten?“ „Nein, ich hab keine Ahnung.“ „Vielleicht sollten Sie etwas nachforschen, ich gebe ihnen die Adresse von Gackts Eltern.“ Die Mutter schrieb sich die Adresse auf, zog sich hastig an und bestellte sich ein Taxi und fuhr los. Es war inzwischen halb zwölf mittags, Hyde und Gackt bauten das Zelt wieder ab, rollten die Schlafsäcke zusammen und säuberten den Platz, auf dem sie campiert hatten. Dann wanderten sie zu Fuß ins Dorf, wo sie den Bus nehmen wollten. Der hatte eine ganze Stunde Verspätung, sodass sie den Anschlusszug verpassten. Der Himmel hatte sich zugezogen und der Wind hatte gedreht. Er kam nun kalt wie ein Winterwind direkt aus Norden. Hyde wickelte sich frierend in seine Wolljacke und blickte mit leerem Blick die Gleise entlang. Auch Gackt schwieg. „Wenn ich nicht um sechs zu hause bin, wie ich es gesagt habe, kriege ich Ärger.“ „Unsinn, deine Mutter denkt doch, du bist auf Klassenfahrt. Da kann man mal später sein.“ „Ich spür, dass es Ärger gibt, in jedem einzelnen Knochen!“ „Wie meine Tante mit dem Wetter, hmm?“, grinste Gackt. Hyde warf ihm einen bösen Blick zu, zum ersten Mal konnte er nicht lachen, wenn Gackt einen Witz machte, irgendwas drückte ihm die Kehle zu. „Mein Sohn?“, rief Gackts Mutter misstrauisch. „Der hat was mit ihrem Sohn? Das glaube ich nicht.“ Hydes Mutter stand vor der Türe, die Gackts Mutter nur einen Spaltbreit geöffnet hatte. Dahinter konnte man einen Flur erkennen und eine Lampe, die kaputt war. „Der Lehrer sagt, sie verbringen die ganze Freizeit miteinander. Ich hab auch überlegt und so wie Hyde sich verhält, wenn er mit Gackt telefoniert, muss es so sein. Ich wollt doch nur wissen, ob die beiden immer hier waren?“ „Hier? Na, das wüsste ich aber, ich würde beide grün und blau schlagen, wenn ich sie erwische. Doch, was geht Sie das überhaupt an?!“ Gackts Mutter zitterte, wenn sie sprach, sie fuhr auch immer fahrig mit den Händen den Türrahmen entlang. Gackt hätte sofort gesehen, was los war, ihr Verhalten zeigte nur, dass sie dringend Alkohol brauchte, es waren simple Entzugserscheinungen. Hydes Mutter aber war befremdet. Sie stand in einem dreckigen Treppenhaus. Man hörte Kindergeschrei und das Gebrüll eines Mannes aus der unteren Etage. Es roch nach Gewürzen und Bier. Hydes Mutter fragte sich, wie es Hyde hier ausgehalten hätte. Hyde war immer empfindlich gewesen. „Hat Ihr Sohn je etwas von meinem erzählt? Von Hyde?“ „Gackt und ich reden nicht viel, so ist das eben“, meinte sie, „Ich hab andere Sorgen, mein Mann hat mir alles genommen, als er gegangen ist.“ Hydes Mutter musste sich an der Wand festhalten. Ihr war plötzlich ganz übel und schwindlig. „Sie leben von Ihrem Mann getrennt?“ „Das haben sie hübsch gesagt.“ „Ich versuche nur meinen Sohn zu finden.“ „Eins sag ich Ihnen, ich stecke Gackt in ein Heim, ich kann nicht zulassen, dass er so ein dreckiger Mensch wird, wie kann er nur mit einem Jungen etwas anfangen. Nun ist Schluss, ich gebe ihn in ein Heim! Punkt aus.“ Hyde und Gackt stiegen um halb neun in Tokyo aus dem Zug. Sie trennten sich hier, um nach Hause zu kommen. „Kein Kuss zum Abschied?“, fragte Gackt und hielt ihm die Wange hin, Hyde gab ihm ein Küsschen. „Das war nichts Halbes und nichts Ganzes“, sagte Gackt, „Ich möchte ein richtigen Kuss haben.“ „Ga-chan, ich hab ein dummes Gefühl“, er küsste ihn noch einmal, „Mir ist ganz schlecht.“ „Unsinn, alles wird gut. Warts ab.“ Hyde nickte und lächelte tapfer. Er schulterte seinen Rucksack und schleifte den schweren Campingsack auf dem Boden hinter sich her. Gackt folgte ihm bis zur Treppe. „Morgen, halb acht, an der Ecke“, rief er ihm hinterher, als er langsam die Treppe hinunter ging. Hyde drehte sich nicht um. „Hast du gehört?“, rief er, „Wir schreiben morgen Mathe!“ Hyde winkte zum Zeichen, dass er gehört hatte, schleppte die Sachen durch die Unterführung und die andere Rolltreppe wieder hoch. Über die Gleise konnte er Gackt sehen. Er stand da mit seinen engen ledernen Hosen, die an den Knien Löcher hatten, einem schwarzen Pulli, der aus der Matrix war, genau wie der von Keanu Reeves mit tausend Löchern und einem schwarzen Mantel, den er sich gekauft hatte, der bis zum Boden reichte, sein blondes Haar leuchtete beinahe in der Dämmerung. Er blickte dem Zug, der in die Station einfuhr, entgegen und schnappte seine Sachen, er suchte sich einen Platz und im letzten Moment entdeckte er Hyde, dieser lächelte und winkte. Gackt hob den Arm, dann war der Zug verschwunden. Das war das Letzte, was Hyde von Gackt sah. Kapitel 15: Alles Gute!? ------------------------ Hyde blickte sich im Zimmer um, es war vollkommen unbelebt, das Bett war abgezogen, nur die Decke und das Kissen lagen auf ihm. Der Schreibtisch war ausgeräumt und leer. Ein Jahr war vergangen, ein ganzes Jahr, das waren 365 Tage und ein paar hundert Minuten und noch viele Sekunden mehr ohne Gackt. Seit dem Wochenende, welches er mit dem Blonden verbracht hatte, hatte er ihn nicht mehr gesehen. So wie Gackt war auch er nach einem heftigen Streit mit seiner Mutter, der damit geendet hatte, dass sie ihn ohrfeigte, in ein Heim gekommen, weil sie nicht mehr mit ihm fertig wurde. Sie hatte behauptet, sie habe Angst vor ihm und dass er aufsässig und rebellisch sei. Hyde seufzte leise, er vermisste seine Mutter nur manchmal, mehr tat ihm die Abwesenheit von Gackt weh. Doch nun begann ein neues Leben für den Schwarzhaarigen. Heute war sein achtzehnter Geburtstag. Heute würde er wieder in Freiheit leben können. Eigentlich hatte er geplant in sein Studentenheim zu ziehen, hatte sogar schon ein Platz ergattert, weil er bald sein Studium in Medizin beginnen würde. Doch dann kam alles anderes, als er es geplant hatte. Sein Vater hatte ihn gebeten zu ihm zu ziehen, er und Sayuri hatten ein grosses Haus gekauft, welches in zwei Wohnungen getrennt war. Und sein Vater wollte, dass er die obere Wohnung bekam. Hyde hatte eingewilligt, nachdem sein Vater seinen Bedingungen nachgegeben hatte. Nun würde er also wieder bei ihm wohnen. Irgendwie freute er sich sogar, so hatte er wieder mehr Privatsphäre, nicht nur das: Er würde seine Familie um sich haben. Noch ein letztes Mal sah er sich um, nahm dann seine Tasche in die Hände, um darauf den Raum zu verlassen. Er verabschiedete sich, ohne dass er Trauer fühlte. Aber dies überraschte ihn nicht, denn er hatte es gehasst hier zu sein. Man hatte keine Freiheit, musste den ganzen Tag eine Schuluniform tragen und hatte keine Sekunde Zeit nur für sich. Als er in das Taxi stieg, welches ihn schon erwartete, huschte ein Lächeln über seine Lippen. Es fühlte sich so gut an, sich selbst wieder zu spüren, eine eigene Person zu sein, ein Individuum. Er kuschelte sich in seinen Pullover, wie hatte er normale Kleidung vermisst. Er schloss die Augen und lehnte sich zurück, er würde ganz der Alte werden, hatte Tetsu das nicht in seinem letzten Brief geschrieben? Hyde grinste, nachdem Tetsu den Schock überwunden hatte, dass der Kleine einen Mann liebte, hatte er sich auch für ihn gefreut. Der arme Tet-Chan, dachte sich Hyde, musste so lange ohne mich zurecht kommen. Doch beinahe jeden Tag hatte er einen Brief an seinen besten Freund geschrieben, denn telefonieren war in dem Heim nicht gestattet gewesen, deshalb waren Hyde nur Briefe geblieben. Er öffnete erst wieder die Augen, als der Fahrer anhielt, ihm stockte der Atem, das Haus war riesig. Er schüttelte leicht den Kopf und dachte sich, dass sein Vater viel zu viel gekauft hatte, dennoch freute er sich, so viel Glück war er gar nicht mehr gewohnt. Als er aus dem Auto stieg, schloss ihn sein Vater auch gleich in die Arme. Der kleine Japaner fühlte, wie die Liebe zu ihm aufs Neue erwachte, schon immer hatte er ihn mehr als seine Mutter geliebt, hatte einfach einen besseren Draht zu ihm als zu seiner Mutter. „Schön, du bist da… Sayuri erwartet dich schon mit einer großen Vorfreude und mit einem Essen.“ „Vater…“ Ihm steckte ein Kloß voller Dankbarkeit im Hals, so dass er seinen Gefühlen keinen freien Lauf lassen konnte. „Danke.“ „Ich bezahle schnell den Fahrer und dann gehen wir hinein.“ Hyde nickte und lief schon mal die Einfahrt hoch, staunend betrachtete er die zwei brandneuen Sportwagen, die vor der Garage standen. Ein mitternachtsblauer und ein smaragdgrüner Toyota Mr2. Er strich liebevoll über das kühle Metall und blickte dann seinen Vater an. „Was ist denn mit deinem weißen Toyota passiert?“ „Der steht in der Garage“, meinte sein Vater. „Wozu braucht ihr denn drei Wagen?“, fragte er überrascht. „Haben wir nicht, ich habe immer noch dasselbe Auto wie immer“, meinte er lächelnd. „Aber da stehen doch“, Hyde stockte, dann verstand er, eines gehörte anscheinend Sayuri und der andere war bestimmt… „Ist Tetsu da?“, fragte er leise. „Ja, Tetsu ist da, er erwartet dich drinnen. Hyde, schau mal.“ Sein Vater überreichte dem überraschten Hyde eine kleine, kunstvoll verpackte Schachtel, als er sie geöffnet hatte, kam ein Autoschlüssel zum Vorschein. Der kleine Japaner war sprachlos, wusste nicht, was er sagen sollte, er konnte seinen Vater nur noch anstarren. Doch sein Vater verstand ihn nur zu gut. „Alles Gute zu deinem Geburtstag, keine Bange, die Prüfung wirst du schaffen. Oder du lässt dich von Tetsu herumfahren.“ Sein Vater lachte und tippte dann auf den grünen Sportwagen. „Es ist der…“ Hyde wurde rot, wie konnte er nur für so viel Großzügigkeit, Dankbarkeit zeigen? Er wusste es nicht… Er wusste es einfach nicht. Es ist ein Traum, dachte sich Hyde, wach auf! Wach auf!. Doch er war wach, es war kein Traum, er hatte seinen Vater wieder. „Danke Vater“, flüsterte er und folgte ihm ins Haus. Als sie in das Wohnzimmer kamen, begrüßte ihn Tetsu so heftig, dass er ihn beinahe erstickt hätte. Er drückte ihm ein Geschenk in die Hände und grinste ihn frech an. „Mann, tut das gut dich wieder zu sehen, Kleiner! Das sind übrigens alle Cds deiner Lieblingsbands, die du versäumt hast!“, meinte er und drehte sich dann zu dem jungen Mädchen um, welches sich schwerfällig erhob. „Das ist Rina, sie ist seit einem knappen Jahr meine Frau, ich hab dir doch von ihr erzählt, es tut mir leid, dass du nicht kommen konntest, jedenfalls“, er holte tief Luft und zeigte auf den dicken Bauch seiner Frau, „Wir bekommen einen Jungen!“, meinte er dann. Hyde, der nichts gewusst hatte, dass Tetsus Frau schwanger war, war ehrlich überrascht, freute sich aber riesig für seinen Freund, richtete Glückwünsche an die werdende Mutter aus und wünschte ihnen alles Gute. „Das Beste ist, wir werden es nach dem Patenonkel benennen!“, meinte Tetsu und hüpfte von einem Bein auf das andere. „Und wen hast du auserkoren?“, fragte Hyde lächelnd. „Na DICH.“ „Was?“, fragte er nach. „Klar, er wird Hideto heißen, der Kleine“, meinte Tetsu. „Das rührt mich und es ist eine Ehre“, meinte Hyde und umarmte seinen Freund noch einmal. Dann stieg ihm der unverwechselbare Duft von selbst gekochtem Essen in die Nase, er drehte sich um und erblickte das erste Mal seine Stiefmutter. Und sie war ihm von der ersten Sekunde an sympathisch. Das Essen machte Spass und schmeckte wunderbar. Alle erzählten ihm, wie es ihnen ergangen war. Für Hyde wurde ein Traum war, wie oft hatte er sich eine Familie gewünscht? So wie sie an diesem Tisch saß? Wie oft? Und nun war es Wirklichkeit, auch wenn es ihm einen Stich versetzte, dass seine Mutter nicht anwesend war. Doch als Sayuri die Teller in die Küche trug, trat seine Mutter mit einem Kuchen hinter seiner Stiefmutter aus der Küche. Es war komisch sie zu sehen. Dennoch spürte Hyde keine Feindseligkeiten mehr, zwischen ihr und seinem Vater. „Alles Gute zum Geburtstag, Hyde“, meinte sie leise. „Danke Mutter.“ Der Schwarzhaarige spürte, dass sie Angst hatte, er würde sie immer noch hassen. So erhob er sich und schloss sie in die Arme. Verzeihen war das höchste, was man aufbringen kann. Hyde wusste, dass Verzeihen können seine grosse Eigenschaft war und auch dass es ihm den besten Seelenfrieden gab. „Ich freue mich, dass du hier bist, Mutter“, flüsterte er in ihr langes Haar, sie hatte es wachsen lassen und Hyde wurde bewusst, dass sie viel glücklicher aussah. Erst, als er sich von ihr trennte, bemerkte er den jungen Mann, der hinter ihr stand. Sie hatte also auch einen Neuen, dachte er sich und lächelte den fremden Mann an. „Das ist Kira, ich habe ihn vor einigen Monaten kennen gelernt, ich hoffe, du kannst…es…akzeptieren.“ Der Schwarzhaarige lächelte und wie er es seiner Mutter gönnte, dass auch sie wieder Glück gefunden hatte. Er verbeugte sich und wurde von Kira sofort, so als wäre er sein eigener Sohn, in den Arm genommen. Für einen kurzen Moment schloss der kleine Japaner die Augen, alle waren glücklich, alle hatten ihren Partner. Er dachte an Gackt, den blonden Japaner, der ihm mehr als jeder anderer fehlte. Doch er lächelte seinen Stiefvater an und lächelte seinem Schmerz mitten ins Gesicht. Ohne Gackt würde er nie wirklich glücklich sein. Er konnte es nur versuchen. Das war er seinen Eltern und seinen Freunden einfach schuldig. Kapitel 16: Auf das neue Leben! ------------------------------- Kapitel 16 Als er endlich alleine in die obere Wohnung stieg, dachte er immer noch wehmütig an den Blonden. Wäre er doch nur hier.. Jetzt und für immer. Er sah sich in der Wohnung um, die nun ihm ganz alleine gehörte. Sein Vater hatte sie eingerichtet, so wie es Hyde mochte. Nicht so voll gestopft und auch nicht kalt. Er besah sich das Wohnzimmer, welches der zentrale Punkt ausmachen würde. Als er das Bild mit der Wüste und den Kamelen entdeckte, musste er grinsen. Außerdem stand ein Fernseher hier und alle seine gesammelten Dvds, die er damals bei seiner Mutter gelassen hatte, standen sorgfältig in einem der Regalen, auch seine Cds. Er ging zu der Stereoanlage und legte eine Cd ein, die er von Tetsu geschenkt bekommen hatte. Er schloss die Augen, als die ersten melancholischen Klänge ertönten Wie sehr hatte er Musik in dem Heim vermisst, es war wie alles andere verboten gewesen, außer man hatte selbst musiziert. Eine ganze Zeit lang hatte Hyde in einer kleinen Band gesungen, doch es war nicht so befriedigend gewesen. Denn mit Tetsu, Ju-ki und Ken hatte er Musik gemacht, die er selbst auch liebte. Nicht japanische Volkslieder, die er nur sang, um wenigstens etwas Musik zu hören. Er wusste nicht, wie er es überlebt hatte, ohne Telefon, Musik, Internet oder Fernsehen, doch Fakt war, er stand hier lebend. Und nun musste er auch etwas aus seinem Leben machen. Und dazu war er fest entschlossen. Als er in die Küche kam, stieß er gegen einen Gitarrenkoffer, er bückte sich und strich liebevoll über die verschlungenen Ornamente, die auf dem Deckel eingelassen worden waren. Sein Herz machte einen aufgeregten Hüpfer und er rannte los, das einzige Zimmer, welches er sich noch nicht angesehen hatte, war das Badezimmer. Als er die Türe aufstieß, flog er der Person förmlich in die Arme, die eben aus der Badewanne gestiegen war. Mit einem lauten Platschen landeten beide wieder in ihr. „Ich dachte, du kommst erst morgen, hast du das denn nicht so gesagt?“, flüsterte er gegen die nackte Brust des blonden Mannes. „Ist es ein Verbrechen? Dich so schnell wie möglich sehen zu wollen?“, fragte Gackt, gespielt geschockt. Hyde blickte Gackt in die Augen, noch immer waren sie voller goldener Sprenkel und voller Liebe und Wärme für ihn. „Weißt du was? Ich freue mich auf unser gemeinsames Leben!“ „Ja, ich mich auch. Ich freue mich auch, dass du an mich gedacht hast.“ „An jeden der vergangenen 365 Tage, jeden einzelnen“, versicherte ihm Hyde. Ihre Lippen trafen sich zu einem sanften, zärtlichen Kuss. Keiner der beiden kümmerte es, dass sie den Badezimmerboden überfluteten, oder dass die Kleider von Hyde sich langsam voll saugten. Beide genossen den engen Körperkontakt nach der langen Zeit, in der sie nur per Briefe miteinander Kontakt gehabt hatten. Als sie sich voneinander trennten, keuchte Hyde leise. Dieser einfache, schüchterne Kuss hatte seine Leidenschaft geweckt. Er biss sich leicht auf die Lippen und betrachtete Gackt, er hatte sich kaum verändert, er trug sein Haar immer noch zerstruppelt und weißblond und seine Augen leuchteten immer noch genau so schelmisch. „Hast du mir nicht geschrieben, dass die Heimleiterin es dir verboten hatte?“ „Was denn? Zu atmen? Verliebt zu sein?“, fragte Gackt trocken. Hyde schüttelte lachend den Kopf. „Nein, Dummerchen. Ich meinte dein Haar.“ „Ach so. Ja, sie hatte es mir verboten, doch als ich deinen Brief bekam mit der Bitte, bei dir einzuziehen, hab ich mein Geld zusammengekratzt.“ „Nur um dein Haar machen zu lassen?“, meinte Hyde erschrocken. „Wäre doch nicht nötig gewesen…“ „Doch, um wieder der Gackt zu werden, in den du dich verliebt hast.“ Der Blonde kitzelte Hyde und genoss es sichtlich, dass dieser lachte. „Haido, dein Vater hat seinerseits auch eine Bedienung gestellt.“ Erschrocken sah der kleine Japaner den größeren an. Er sah sein Glück schon wieder in Scherben zerbrechen. „Keine Angst, Süßer. Die Bedingung war, dass auch ich studiere. Deshalb habe ich mich angemeldet: Kunst und Musik.“ „Kannst du dir das denn leisten?“, fragte der Schwarzhaarige leise. „Nein, aber dein Vater wird es mir bezahlen.“ „Das ist ja grossartig!“, freute sich Hyde, „Doch halt nun endlich die Klappe und küss mich, musste dich schon viel zu lange vermissen!“ Noch einmal fanden sich ihre Lippen, schüchtern und sanft, doch genügte Hyde das nicht mehr und er legte all seine Leidenschaft hinein, die er in diesem Moment fühlte. Ihm war es, als würde er verbrennen unter diesem Kuss, beinahe war er dankbar, dass Hyde ihn in die Wanne gestoßen hatte. Sonst würde er mit der Angst leben müssen zu verbrennen. Eine sengende Flamme wanderte durch seinen Körper, um in seinem Bauch den Höhepunkt zu finden. Er spürte, dass auch Hyde erregt war, sanft umfasste er den Nacken seines Engels und zwang ihn kurz mit dem nicht enden wollenden Kuss aufzuhören. Ihre Blicke trafen sich, die sonst so braunen, sanften Augen des Kleineren waren nun schwarz vor Lust. Unergründlich und tief, wie leuchtender Obsidian. Gackt seufzte ab diesem Anblick selbst erregt auf und drückte Hyde von sich. „Lass uns bitte ins Bett gehen, ich kann mich dort besser um dich kümmern“, wisperte der Blonde zärtlich. Langsam erhob sich Hyde aus der Wanne und zog sich die nassen Klamotten vom Leib, er liess sie einfach ins Wasser fallen und blickte, als er ausgezogen war, zu Boden. Gackt musste schmunzeln, das allererste Mal sah er ihn nun also nackt. Und er war schöner, als er sich erdacht hatte. Langsam trat er zu ihm, schob ihm seine Hand unter das Kinn und zwang ihn sanft aber unnachgiebig ihn anzusehen. „Du bist wunderschön, Haido“, flüsterte er und küsste die Lippen, die sich gerade öffneten, um etwas zu erwidern. So konnte der Kleinere nicht widersprechen. Dann schob er ihn aus dem Badezimmer in das Schlafzimmer. Beide wussten, dass es passieren würde. Hatten viele Briefe lang ihre Sehnsüchte aufgeschrieben. So kam es, dass beide genau des anderen Träume kannte, jede noch so kleinste Sehnsucht. Der Blonde wusste, dass der Schwarzhaarige ein verschmustes Wesen war und es war ihm eine Freude sich für ihn so viel Zeit zu nehmen, wie er sie brauchte. Um ihm die Angst zu nehmen, verschloss er die bebenden Lippen des anderen noch einmal mit einem langsamen, zarten Kuss, in dem er die Schlafzimmertüre schloss. Dunkelheit legte sich um sie, nahm sie zärtlich in den Arm. Sie raubte ihnen die Sehkraft, sodass sie nur noch fühlen, schmecken und riechen konnten. Gierig zog der Blonde den sanften Duft des Kleineren in sich ein, seine Lippen wanderten zum zarten Nacken welcher sofort liebkost wurde. Ein leises Stöhnen war der Lohn für seine Mühe… Er legte den dunklen Engel sanft in das grosse Bett, spürte die kühle Decke und das Laken, welches sich um seine erhitze Haut legte und ihn selbst zum Seufzen brachte. Er wollte ihn, am liebsten hätte er ihn heftig geliebt, doch auch wenn ihn seine Liebe förmlich innerlich zerriss, zwang er sich um Hydes Willen zur Vernunft. Sie hatten Zeit, diese Nacht gehörte nur ihnen. Seine Finger zeichneten auf der warmen Haut Schlangenmuster, bis sich Hyde ihm langsam entzog. Einen Moment lag der Blonde starr vor Schreck in den Kissen. „Hyde?“, flüsterte er. „Hmmm?“ „Hab ich…“, er schluckte, „Hab ich etwas falsch gemacht?“ Eine Weile kam keine Antwort, erst wurden ein paar Kerzen im Raum entzündet und der Blonde sah, wie sein Engelchen lächelte. „Nein, ich möchte dich nur auch sehen können, du weißt doch…“ „Augen sind die Spiegel in die Seele, ich weiß, Hyde“, er lächelte und zog ihn wieder an sich. Langsam zog der Blonde Kreise über den flachen Bauch von Hyde, seine Haut war überzogen mit einer Gänsehaut, die ihn noch empfindlicher machte. Seine Lippen küssten sachte die Brustwarzen und knabberten leicht an ihnen, das süße, leise Stöhnen, welches den Raum erfüllte, erregte ihn nur umso mehr. Weiter schickte er seine Hände auf die Reise, streichelte den Beckenknochen, den er dann umfasste, um Hyde auf sich zu ziehen, ein Keuchen, ein Kuss und Gackt versank in einem Strudel der Lust. Seine Hand glitt erneut durch das seidige, schwarze Haar des anderen, um seinen Kuss zu intensivieren. Er wollte ihn, von Sehnsucht zerfressen führte er Hyde so, dass er mit gespreizten Beinen auf seinem Bauch saß. Hyde bemerkte den glühenden Blick von Gackt, konnte ihm nicht ausweichen. Auch wenn er sich wohl fühlte in diesem Moment, war er noch nicht bereit dazu, den letzten Schritt zu gehen. Stattdessen senkte er seinen Kopf, um mit den Lippen die bereits harten Brustwarzen des Blonden mit seinen Zähnen zu reizen, ihn zum Stöhnen zu bringen. Er genoss die warmen Hände, die über seinen Rücken zu seinen Hüften strichen, ihn dort fester umfassten, ihn wieder auf den Rücken warfen. Doch dann entwand er sich den starken Händen, die ihn in Position gedrückt hatten, beinahe wäre es zu spät gewesen und Gackt hätte Besitz von ihm genommen… „Langsam“…flehte er leise. Und wieder versanken beide in einem endlosen Kuss, wieder waren die Hände, die Lippen überall und nirgends, beide waren zum Zerreißen gespannt wie eine Bogensehne, jeden einzelnen der Sinne geschärft, beide bereit und doch weit davon entfernt sich zu vereinen. Sie hatten Zeit, was war schon der Morgen, wenn sie die Nacht hatten. Blicke lösten hier die Worte ab, keiner brauchte sie. Jede Geste, jede Liebkosung sprachen Bände. Und Hyde spürte seinen Körper überdeutlich nach Gackt schreien, ein Chaos an Gefühlen und nur er konnte erkennen, was er in diesem Moment brauchte, schnell war es gesagt, er brauchte Gackt und nur ihn. Er schlang die Beine um die schlanke Taille des Blonden und lächelte ihn auffordernd an, er nahm das Gesicht in seine Hände, leckte mit der Zungenspitze sachte über die leicht geöffneten Lippen, tauchte mit ihr in die Höhle ein, um die dort sitzende Schlange zu einem Tanz einzuladen sie zu necken, um mit ihr zu kämpfen. Sie immer wieder um die eigene zu wickeln, dabei fuhr er über den feuchten Rücken von Gackt, um seinen Po zu umfassen. Langsam, so als wollte er den Blonden nicht erschrecken, hob er sein eigenes Becken, um sich an der harten Männlichkeit des anderen zu reiben, sein Aufkeuchen erschreckte ihn beinahe selbst, er hatte nicht erwartet, dass solch eine harmlose Berührung beider solche Gefühle auslösen konnte. Doch er musste sich selbst eingestehen, dass es wahnsinnig war, wenn die warme Haut, die unnachgiebige Härte des anderen über die eigene rieb. Es brachte ihn beinahe um den Verstand. „Lass mich nicht länger flehen“, meinte er leise und sah, dass Gackt in verstanden hatte. Überwältigt stöhnte der Kleine auf, als er Gackts Spitze an seinem Eingang fühlte, er hatte keine Angst, wenn der Blonde sich vorhin schon Stunden an Zeit genommen hatte, würde dies auch nicht in Eile geschehen. Außerdem war er zum Zerbersten mit Lust angereichert, er wünschte sich nichts sehnlicher, als Gackt tief in sich zu spüren. Er blickte auf in diese warmen, braunen Augen, in denen die Lust loderte, wie ein Feuer unaufhaltsam fraß es sich hindurch durch diese zärtlichen, braunen Augen. Keuchend atmete Gackt ein, jeder Atemzug brannte in seinen Lungen, er schalt sich selbst zu Geduld, doch dass Hyde sich so hingab, so vor ihm lag und einladend das Becken gehoben hatte, war beinahe zu viel für ihn. Schon, als er seine Spitze gegen die enge Öffnung drückte, musste er innehalten, um nicht alles zu verderben. Nur langsam schob er sich in den Engel, so eng und heiß, wie er ihn umfing, war es alles andere als leicht. Er hatte Hyde immer wieder versprochen ihm keinen Schmerz zuzufügen, doch er wusste nicht, ob er sich so im Griff hatte, dass er in dieser Situation aufhören konnte, wenn er es verlangte. Doch es schien, als wollte Hyde ihn hier und jetzt nicht mehr aufhalten, er lag unter ihm entspannt, wie er es sich kaum vorstellen gehofft hatte. Die Lippen waren leicht geöffnet, die Augen geschlossen und eine süße, einsame Haarsträhne lag ihm ins Gesicht. Erst, als er sich ganz in ihn versenkt hatte, zuckte Hyde kurz zusammen, doch nach einem sanften und trösteten Kuss verlangte er eindeutig nach mehr. Indem er das Becken gegen Gackt drückte. Doch der Blonde gewährte sich einige Minuten Zeit, in der er seinen Engel nur mit sanften, federleichten Küssen überhäufte. So hätte er Stunden weitermachen können, einfach tief vereint mit Hyde sein. Doch dieser hatte anderes im Sinn, drückte das Becken immer wieder gegen seine Lenden. Dies entlockte Gackt ein heiseres Stöhnen, welches von dem kleinen Japaner in gleicher Münze quittiert wurde. So fing er langsam an, in den bebenden Körper zu stossen, der sich ihm so willig hingab. In den unzähligen, einsamen Nächten, in dem kleinem Jugendheim hatte er oft an Hyde gedacht und wie es wohl sein würde, wenn sie miteinander schlafen würden. Doch dass sich der junge Japaner so gut anfühlte, hätte er nie gedacht. Überwältigt stöhnte er in das Ohr von dem Schwarzhaarigen, an welchem er gerade geknabbert hatte, sodass dieser den Kopf einzog und leise kicherte. Das Gefühl, welcher der Blonde fühlte, war so unbeschreiblich, dass es ihm beinahe den Verstand raubte. Eng umschlungen hielt Hyde den erhitzen Körper über sich fest. Jeder Stoss, den der Blonde tief in ihn platzierte, jagte eine neue, explosionsartige Welle durch seinen Körper. Dass sie so eng aneinander lagen, hatte für Hyde einen positiven Effekt, ihre Bäuche rieben sich aneinander, so wurde seine empfindliche Männlichkeit nur noch mehr gereizt. Der Höhepunkt dieses Gefühlsgewitters würde bald erreicht sein, das spürte der kleine Japaner instinktiv. Es fühlte sich so an, als wäre er kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Doch dieses Gefühl war tausend Mal besser. Als er spürte, wie seine Lenden sich zusammenzogen, bäumte er sich automatisch dem Blonden entgegen, um sich zwischen ihren beiden Körpern zu ergießen. Er spürte, wie Gackt noch ein paar mal beinahe wild in ihn stieß, doch das steigerte seine Befriedung nur noch mehr. Als er sich erschöpft, aber glücklich ins Kissen sinken liess, konnte er Gackt betrachten. Dieser hatte die Augen geschlossen, die Lippen leicht geöffnet und stöhnte bei jedem sanften Stoss, zu denen er nun übergegangen war, auf. Kurz zog er seine Stirn kraus, um dann überraschenderweise die Augen aufzuschlagen. Er keuchte ein „oh“ und ergoss sich dann in Hyde. Der Kleine lächelte glücklich und schloss dann den zitternden Leib des Blonden sanft in die Arme. Es war zufrieden und wunschlos glücklich. Hyde, der sich nicht bewegte, wollte kaum Luft holen, aus der dummen Angst heraus, dass dann alles vorbei war. Als er aber nach einiger Zeit, die regelmäßigen Atemzüge von Gackt auf seinem Hals spürte, streckte er vorsichtig die angewinkelten Beine. Sachte küsste er die weiche Schulter von ihm und lächelte versonnen. „Ich liebe dich Ga-Chan“, flüsterte Hyde leise. Erst als Hyde beinahe selbst in den Schlaf abgedriftet war, hörte er das leise Murmeln des Blonden. „Ich dich auch, Haido.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)