Die Strafe der Engel von DeliaDelu (~für Toni~) ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Der Regen hämmerte nun schon seit Stunden gegen die Fensterscheibe und verschluckte fast alle anderen Geräusche im Haus. Unermüdlich und mit aller Kraft tobte draußen der Sturm, als würde der Weltuntergang kurz bevorstehen. Blitze zuckten am grauen Himmel und erhellten die Nacht immer und immer wieder. Die meißten Menschen sahen in alldem nur ein gewöhnliches Unwetter, doch dieses Mal war es etwas anderes. Mit all seiner Kraft wollte der Wind alles zerstören. Alles davonfegen, auslöschen, bis es nichts anderes mehr geben würde außer dieser unendlichen Wut. Auch der Regen, die Blitze und der Donner richteten sich in dieser Nacht gegen die ganze restliche Welt. Mit aller Kraft versuchten die Elemente alles zu zerstören, doch niemand schien dies zu bemerken. Die ersten Vermissten wurden im Radio gemeldet, doch das schien normal zu sein. So etwas passierte doch immer mal wieder. Doch auf dieses Unwetter würde eine Leere folgen. Endlose Stille, die schlimmer schmerzen würde, als eine tiefe Wunde. Doch der Hass würde auch dann nicht verschwinden, wenn es längst wieder so aussah, als wäre alles wieder in bester Ordnung. Sie saß auf ihrem Bett und starrte hinaus in die von Blitzen erhellte Nacht. Die Umrisse der Bäume, deren Äste sich um Sturm hin und her bogen sahen aus wie Ungeheuer, die mit ihren unzähligen Armen wild umher fuchtelten. Niemand sah die Tränen, die ohne Unterbrechung über ihr Gesicht liefen und niemand konnte verstehen wieso. In ihr wütete ein schlimmeres Gewitter als dort draußen, ein unkontrollierbares Gefühlschaos, gesteuert von zwei Grundlegenden Gefühlen: Wut und Hass. Zitternd saß sie dort und wäre am liebsten hinausgerannt und hätte geschrienen und ebensoviel zerstört wie die Naturgewalten. Doch sie konnte nicht. Innerlich was sie gefesselt, denn die dunklen Gedanken hielten sie fest umklammert. Heute konnten Regen, Wind und Gewitter sie nicht beruhigen. Heute verstärkten sie nur den Hass und die Wut in ihr. Solch starke Gefühle waren für einen Menschen selten, denn so heftig, hatten es die Wesen vom großen Rat nie gespürt. Sie kannten solch zerstörerische Gedanken nicht und wäre nicht auf der Suche nach einem solchen Menschen gewesen, dann hätten sie nur Verachtung für sie empfinden können. Ohne Vorwarnung erschien er einfach vor ihr. Mitten im Zimmer stand er und schaute sich langsam um, so erhaben und übermenschlich stolz, dass nichteinmal die Engelsschwingen nötig gewesen wären um zu erkennen was für ein Wesen dort stand. Sie entdeckte ihn erst, als sie langsam das Gesicht vom Fenster abwandte und in die Dunkelheit des Zimmer starren wollte, doch dort stand nun dieser Engel – daran war kein Zweifel, es musste einfach einer sein- umgeben von einem hellen Leuchten, dass nun das ganze Zimmer erleuchtete. Verwundert starrte sie ihn an, doch verschwand nicht der Ausdruck des Hasses in ihrem Gesicht. „Es ist verwunderlich, dass ausgerechnet du solch einen Hass empfinden kannst“, sagte der Engel mit seiner wundervollen, weichen Stimme, „ich hätte eher gedacht ein Mann würde auserwählt werden, doch du bist wirklich geeigneter.“ „Was willst du?“, fragte sie langsam. In einem anderen Moment wäre sie freundlicher gewesen und die Tatsache, dass sich ihr ein Engel zeigte, hätte sie mehr verwundert, doch in diesem Augenblick war da nur der Hass, der von Enttäuschung und grenzenloser Wut genährt wurde. „Bist du bereit dein komplettes Leben aufzugeben und zu einem anderen Wesen zu werden?“. Der Engel stand einfach da, mit ausgebreiteten Schwingen, die kaum in ihr Zimmer passten und schaute sie an. Er war größer als sie und sah eigentlich sehr Menschlich aus. Er hatte langes, weißes Haar und sehr weiche, jedoch erkennbar männliche Gesichtszüge. Seine Haut war sehr hell und seine strahlend blauen Augen sahen einfach übernatürlich schön aus. Doch in diesem Zustand konnte sie nicht viel mehr erkennen, denn es war ihr egal. Heute hätte der Teufel persönlich bei ihr auftauchen können und sie hätte sich nicht bewegt. „Wozu?“, fragte sie tonlos und schaute schnell woanders hin. Irgendwie konnte sie diesem Engel nicht in die Augen schauen, denn es war als könnte er in ihre Seele blicken. „Um unsterblich zu werden“, sagte er ruhig und schaute sie an. „Wozu?“, fragte sie wieder, „was nützt mir diese Unsterblichkeit wenn ich unglücklich bin und sowieso keinen Sinn mehr im Leben sehe, ausser Rache“. Nun grinste der Engel. „Du könntest Rache an allen nehmen, denn du hättest die Macht über alle Elemente.“ Nun dachte sie darüber nach. Wenn das wirklich stimmte, was er sagte, dann wäre das doch eine gute Chance. Eine Chance Rache an allen Menschen zu nehmen und an der ganzen Welt für all die Ungerechtigkeit. „Siehst du“, sagte er leicht triumphierend, „das Angebot ist aussergewöhnlich gut. Besonders für dich.“ „Wieso bist du hier? Und was genau willst du von mir?“, fragte sie nun misstrauisch. „Du bist allein hier oder?“, leicht beunruhigt schaute sich der Engel um. Sie nickte langsam. „Ja, ganz allein. Wie immer.“ „Gut, dann werde ich es dir erklären“, sagte der Engel und setzte sich auf einen Stuhl in einer Ecke des Zimmers. Von dort aus konnte er sie gut beobachten, musste nicht zu laut sprechen und war gleichzeitig nicht zu nahe bei ihr, denn das konnte er einfach nicht leiden, denn Menschen waren eben anders als Engel. Abwartend saß sie da und schaute den Engel nun schon fast interessiert an. Hinter dem Fenster, draussen in der inzwischen tiefschwarzen Nacht wütete noch immer das Gewitter und raste über die Städte in unendlichem Zorn. „Ich bin der Vertreter der Engel im Großen Rat. Man nennt mich Elohim. Du musst, um mir zu glauben, alles was du jemals geglaubt hast vergessen, denn das ganze System indem die Menschen leben, wird vor ihnen verborgen. Es gibt vier verschiedene Arten von Wesen, die wichtig für diese Welt sind. Die Engel beschützen die Menschen, achten darauf, dass keine großen Unglücke geschehen und versuchen ihre Wünsche zu erfüllen. Eigentlich hat jeder Engel einen Menschen, auf den er besonders achten sollte, aber manchmal muss er sich auch um andere Dinge kümmern.“ Hier wurde er von ihr unterbrochen. Wütend sprang sie auf und schrie ihn an: „Schönes System wirklich, aber ich glaube kein bisschen daran! Oder habt ihr mir keinen Engel zugeteilt? Wieso hat mich niemand beschützt? Wieso hat kein Engel meine Wünsche verwirklicht? Wieso war niemand von euch da, als ich nichtmehr weiter wusste, wieso hat irgendwer von euch zugelassen, dass mein Leben so verläuft? Wieso war ich immer alleine und wieso habe ich von niemandem Hilfe bekommen? Ich habe gewartet, viele Jahre und ich habe versucht was ich konnte, doch es war als hätte mir jemand immer wieder neue Hürden in den Weg gelegt und immer wieder musste ich von neuem aufstehen und versuchen trotzdem weiter zu machen. Wieso hat keiner von euch ‚Engeln’ etwas getan?“ Der Engel blieb ruhig, auch wenn er etwas beleidigt war. Niemand durfte ihn anschreien, doch dieses Mal musste er sich solch ein schlechtes Verhalten gefallen lassen. Ausserdem bestätigte diese Wut, dass sie wohl wirklich die richtige Person war. „Beruhige dich“, sagte er sanft, „lass mich erst alles erklären. Es gibt sicher einen Grund weswegen dein Engel es nicht geschafft hat, dir mehr zu helfen.“ „Ich hoffe du hast eine vernünftige Erklärung dafür“, sagte sie voller Wut und setzte sich zitternd wieder auf ihr Bett. „Also“, fuhr Elohim fort, „neben den Engel gibt es noch die Einhörner und die Drachen. Die Einhörner beschützen die Tiere. Sie sind genauso wichtig wie wir Engel und die Drachen. Man könnte sagen es sind die Engel der Tiere, denn sie erfüllen fast den selben Zweck für die Tiere, wie wir für euch Menschen. Bei den Drachen ist es etwas komplizierter. Sie sorgen für das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, das ganze Verhältnis zwischen Himmel und Erde. Und dann gab es noch die Felarin. Sie sorgten für das Chaos, denn sonst hätten Engel, Einhörner und Drachen nichts zu tun. Es wäre langweilig und unausgeglichen ohne die Felarin. Sie gehören dazu und ohne sie würde das ganze System nicht funktionieren. Diese Welt kann nicht perfekt sein. Ohne die Felarin wäre alles leblos und ohne Dynamik. Konntest du mir bis hierhin folgen?“ Sie nickte langsam. Dieses System klang einleuchtend, doch trotzdem war es seltsam. Wieso erklärte ihr dieser Elohim alles? „Ich werde deine Fragen später beantworten“, sagte Elohim und sie zuckte zusammen. Er konnte wohl Gedanken lesen. Wie unangenehm! „Wir haben nicht viel Zeit, also muss ich es dir zusammengefasst erklären. Die Felarin wurden vor kurzen alle ausgerottet. Eigentlich sind Engel. Einhörner, Drachen und Felarin unsterblich, aber es gibt eine Möglichkeit sie umzubringen. Ein neidischer Engel hat die Felarin verraten. Er fand es ungerecht, dass sie tun dürfen was sie wollen. Du hast sicher nichts davon mitbekommen, aber dieser Engel hat sich einem Menschen gezeigt und ihm alles verraten. Es bildete sich eine ganze Armee, die dann die Felarin umgebracht haben. Dieser Engel wurde verbannt. Er muss nun das kurze Leben eines Menschen führen und dann sterben wie ein Mensch. Vorher musste er jedoch noch dafür sorgen, dass alle Menschen die von dem System erfahren haben sterben. Denn die Menschen würden sich niemals damit zufrieden geben, dass es noch andere Dinge gibt, ausser sie selbst. Sie würden sich eine perfekte Welt wünschen, inder für die Felarin kein Platz wäre und auch die Drachen und Einhörner könnten sie niemals akzeptieren. Das Problem ist nun, dass wir neue Felarine brauchen. Wir haben gesucht nach einem Wesen, dass ihnen am ähnlichsten ist. Voller Hass und Zerstörungswut. Aus diesem Wesen wollen wir mit der vereinten Macht des Rates einen neuen Felarin erschaffen. Wir brauchen nur die Vorraussetzung die ich bereits nannte: Hass und Wut. Zerstörungswut. Da du diese beiden Gefühle sehr stark empfindest, haben wir dich ausgewählt. Möchtest du eine Felarin werden?“ Schon fast bittend sah der Engel sie an. Abwartend, hoffend. Plötzlich drehte sich alles in ihrem Kopf. Felarin, Einhörner, Hass, erschaffen… Was wenn das alles nur ein Scherz war? Aber wer würde sich mit ihr einen Scherz erlauben wollen? Und vor allem wozu? Es war ihr doch sowieso alles egal. Es gab nichts mehr für sie in dieser Welt. Gar nichts. „Also von mir aus“, sagte sie, „solange ich mich an allen rächen kann ist das wohl in Ordnung“. Der Engel lächelte. „Das ist schön zu hören. Dann stell dich hin und ich werde dir vorläufige Flügel schenken, sodass wir schnell oben die Zeremonie vollziehen können.“ Er wirkte fast gehetzt und er hatte es plötzlich sehr eilig. Langsam stand sie auf. Sie schaute sich in ihrem Zimmer um. Doch sie entdeckte nichts, was sie hätte vermissen können. Keinen Gegenstand, der sie an wichtige Dinge aus der Vergangenheit erinnerte. Es gab einfach nichts, dass ihr wichtig genug war. Nun erhob sich auch der Engel, schaute sie kurz an und schloss einen Augenblick die Augen. Genau in diesem Moment kribbelte es ganz unangenehm an ihrem Rücken. Siedrehte ihren Kopf soweit, dass sie sehen konnte was gerade geschah. Dann grinste sie, denn an ihrem Rücken wuchsen Engelsflügel. Die Federn waren schneeweiß und fühlten sich unbeschreiblich weich an, wie sie kurz darauf feststellte. Doch irgendwie fühlte es sich nicht richtig an. Diese übernatürlichen Flügel passten nicht zu ihr. Sie waren viel zu Rein und Gut und fühlten sich einfach unpassend an. Der flammende Hass in ihr war nicht weniger geworden und da die Flügel nun zu ihrem Körper gehörten, hasste sie diese schon jetzt. Verwirrt schaute sie Elohim an. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“ „Es geht nicht anders“, sagte er schon fast entschuldigend, „ich weiß selbst, dass sie nicht zu dir passen und sich alles in die wehren wird gegen diesen ‚Fremdkörper’. Aber anders geht es nun einmal nicht.“ Sie nickte langsam und zog eine Grimasse. Hoffentlich würde sie diese unbequemen Dinger schnell loswerden. An ihrem Rücken wurde das kribbeln immer unangenehmer. „Nun werden wir mit einem Sprung aus dem Fenster feststellen, ob du sie benutzen kannst“, sagte Elohim ruhig. Sie starrte ihn erschrocken an, doch er sagte nur ebenso ruhig. „wenn du ein Felarin werden möchtest, dann musst du alles andere aufgeben. Angst darfst du kein bisschen haben. Ausserdem dachte ich es gäbe hier nichtsmehr für dich…“ Sie nickte schnell: „In Ordnung.“ Er hatte Recht. Sie hatte nichtsmehr zu verlieren und wenn sie bei dem Versuch zu fliegen sterben würde, dann wäre ihr dies vollkommen egal. Natürlich konnte sie nicht wissen, dass dies ein Test des Engels war, denn er hätte niemals zugelassen, dass sie sterben würde. Er hätte sie aufgefangen, denn er war mächtig und es wäre ein Kinderspiel für ihn gewesen. Doch dies sagte er nicht, denn noch immer gab es ein zurück. „Also los“, sagte Elohim und deutete auf das Fenster. Langsam ging sie die zwei Schritte zum Fenster und blickte hinaus. Das Unwetter tobte noch immer dort in dieser tiefschwarzen Nacht. Es war sicher nicht ungefährlich dort hinauszufliegen, doch es würde auch spannend sein die Kraft des Windes zu spüren und die tausend Tropfen, die ihr ins Gesicht peitschen würden. Langsam öffnete sie das Fenster. „Willst du nicht voran? Ich weiß ja gar nicht wohin..“, fragte sie den Engel, doch dieser grinste nur und bewegte sich nicht. Also stieg sie auf das Fensterbrett und sprang dann ohne nachzudenken hinab. Der Regen durchnässte sie sofort von oben bis unten und der Wind schlug ihr peitschend ins Gesicht, doch dies machte sie nur noch mutiger, denn es unterstützte den Hass in ihr. Sie versuchte ihre Flügel zu bewegen und erstaunlicherweise ging das recht einfach, obwohl es sehr ungewohnt war. Es war zwar nicht ganz einfach, da der Wind ihr immer wieder einen Strich durch die Rechnung machen wollte, doch irgendwie konnte sie sich in der Luft halten und stieg sogar langsam höher. Die Flügel waren so leicht und es ging immer besser sie gleichmäßig zu bewegen, obwohl da noch immer dieses unangenehme Kribbeln war. Ein leichtes Glücksgefühl durchströmte sie. In dem Moment flog Elohim an ihr vorbei. „Folge mir“, sagte er gerade laut genug um den Wind zu übertönen. Wäre da nicht dieser Hass, der alles andere verschluckte, dann hätte sie das alles nicht glauben können. Doch es war als würde sie unter einem Bann stehen. Die Zeremonie fand irgendwo hoch oben im Himmel statt, in einem silbernen Palast der unnatürlich zerbrechlich aussah. Doch die Wände waren stabil, das hatte sie selbst getestet. Nur zur Sicherheit… Oben angekommen wurde sie von Elohim in einen großen Saal geführt, wo bereits viele Engel, Einhörner und Drachen warteten. Sie sahen alle so unbeschreiblich schön aus. Die Engel, menschlich und doch übernatürlich, mit ihren weißen Schwingen, der hellen Haut und den weichen Gesichtszügen. Alterslos und doch sah man manchen Engeln an, dass sie etwas jünger waren als manch andere. Jedoch waren die älteren nicht vom alter gezeichnet, sonders sahen ebenso frisch und voller Energie aus, wie die, von denen sie vermutete, dass sie jünger waren. Sie hatten entweder blonde oder weiße Haare, die meißtens recht lang waren. Hier sah sie nun auch weibliche Engel, die hübscher waren als jedes Model unten, in ihrer Welt. Auch die Einhörner faszinierten sie, mit ihren fein gedrehten Hörnern. Sie strahlten Ruhe und Kraft aus. Als wären sie aus weißem Marmor gemeißelt und doch nicht kalt und hart sondern weich wie kleine Küken. Mit erhobenen Köpfen standen sie ruhig da und warteten. Genau wie die Drachen, die in allen erdenklichen Farben vorhanden waren. Mächtig sahen sie aus und unendlich weise. Als wären sie schon immer da gewesen. Ihre Augen sprachen beinahe von all den Dingen, die sie schon gesehen hatten. Doch sahen sie nicht ernst aus, wie viele weise Menschen, dort unten auf der Erde, sondern eher freundlich und dennoch erhaben. Am liebsten hätte sie sich auf einen der breiten, schuppigen Rücken gesetzt und wäre davongeflogen. Weit fort in ferne Länder, wo niemand sie finden würde. Leider hatte sie kaum Zeit sich die Engel, Einhörner und Drachen genauer anzusehen, denn sie musste sich jetzt mitten in den Saal stellen, wo alle sie sehen konnten. Elohim trat neben sie und rief laut: „Dies wird die neue Felarin sein: Maíra. Erhebt euch alle und lasst sie unsere Macht spüren!“ Viele der Anwesenden entfernten sich nun. Scheinbar durften sie nicht dabei sein. Andere traten jedoch näher und bildeten einen Kreis um sie. Es waren etwa 20, vielleicht auch etwas mehr oder weniger. Die anderen waren nun nicht mehr zu sehen. „Maíra, empfange nun unsere Macht und deine neue Kraft.“ Elohim hob beide Arme und schaute sie an. Sie hob instinktiv auch ihre, und alle anderen taten es ihnen gleich. Langsam schloss sie die Augen und wartete. Was würde nun geschehen? Maíra saß auf einem Dach und schaute hinauf zu den Sternen. Wunderschön sahen diese aus, doch ihre immer noch andauernde Wut konnten sie nicht beruhigen. Es war erst letzte Nacht gewesen, in der sie zu einer Felarin geworden war. Die Zeremonie war seltsam gewesen, doch nun war sie wieder allein. Freigelassen in die Welt um Chaos anzurichten. Sie durfte sich niemandem in ihrer wahren Gestalt zeigen, doch Elohim hatte ihr verraten, wie sie ganz leicht ihre Gestalt wechseln konnte, sogar wie sie unsichtbar werden konnte. Doch die neue wahre Gestalt gefiel ihr so sehr, dass sie nun hier saß, wo kein Mensch sie sehen würde. Ihre eigenen tiefschwarzen Schwingen beherrschte sie inzwischen richtig gut. Es war so als hätten sie schon immer zu ihr gehört, diese hübschen, drachen- oder eher fledermausähnlichen Schwingen aus dieser weichen, ledrigen Haut. Sie passten viel besser zu ihr, als diese dämlichen Engelsflügel. Wenn sie diese noch länger hätte behalten müssen, wäre sie noch verrückt geworden. Der leuchtende Stern auf ihrer Stirn juckte manchmal ein wenig, denn er strahlte eine große Macht aus, an die sie nochnicht gewöhnt war. Das jucken war aber nicht unangenehm sonder einfach noch ungewohnt. Auch ihr Rücken juckte hin und wieder, denn dort war ein großes, schwarzes Chaoszeichen erschienen, wie sie in einem Spiegel entdeckt hatte. Erschrocken war sie darüber nicht. Sie hatte gelacht und ihre Augen glühten rot auf dabei. Dieses neue Aussehen gefiel ihr sehr. Die schwarzen Schwingen passten gut zu ihren langen, ebenfalls tiefschwarzen Haaren. Die helle Haut bildete einen starken Kontrast dazu, doch gerade das gefiel ihr. Sie hatte sich aus einem Laden einen schwarzen Mantel und noch andere Kleidungsstücke geklaut, die ihrer Meinung nach besonders gut zu dem neuen Aussehen passten. Immer wenn sie Lust hatte, suchte sie sich neue Dinge aus, denn niemand konnte sie dafür bestrafen oder sie verfolgen. Meißtens holte sie sich die neuen Dinge in der Nacht und am nächsten Tag war sie schon längst viele Kilometer weit weg. Das einzige, das sie seltsam fand war, dass sie keinen Hunger mehr verspürte. Jedenfalls keinen Hunger auf Nahrung, eher Hunger auf Rache. Doch dies war wieder etwas anderes. Einmal versuchte sie etwas zu essen, doch es schmeckte wie Asche und seitdem versuchte sie nie wieder etwas zu essen oder zu trinken. Es war überflüssig und einfach nicht notwendig, denn die Elemente gaben ihr genug Kraft. Nun überlegte sie gerade, wie sie ihren Rachefeldzug beginnen sollte. Sie wollte erst einmal ihre Kraft testen. Also sprang sie hoch in die Luft, flog weiter hinauf und griff in die Luft. Sie zog den Wind herbei. In Gedanken befahl sie ihm umherzufegen, wild und ungebändigt wie es ihm gefiel. Ihre Gedanken wurden scheinbar gehört, denn plötzlich fegte der Wind über die Dächer, sodass die Blumentöpfe in den Gärten schepperten und umfielen. Sobald Menschen sichtbar wurden, stellte sie sich vor sie wäre der Wind und niemand konnte sie sehen, denn in diesem Augenblick verschmolz sie mit diesem. Mit dem Wind vereint zog sie nun umher und verwüstete die Gegend. Die Menschen waren noch ein wenig geschockt wegen dem letzten, großen Unwetter und verzogen sich in ihre Häuser, hoffend, dass es bald ein Ende geben würde. Manche beteten, andere lachten jedoch darüber und sprachen von der Veränderung des Klimas und prophezeiten weitere Wirbelstürme und Naturkatastrophen. Bald hatte Maíra genug getestet und dankte dem Wind und in ihren Ohren hörte sie ein leises wispern: „Meine Herrin, ich stehe jederzeit in ihren Diensten!“ Und das erste Mal seit langer Zeit lächelte sie wieder. Ganz leicht. Der Wind hatte sie so sehr ermutigt, dass sie nun andere Dinge ausprobieren wollte. Also rief sie nun das Feuer. Erst einen kleinen Funken. Den ließ sie heranwachsen und größer werden. Dann schickte sie das Feuer in ein Haus, dass es gierig anfing aufzufressen. Züngelnd fraß es sich voran und verschlang alles auf seinem tödlichen Weg. Als sie bemerkte, dass sie nun auch das Feuer beherrschen konnte fragte sie sich, was sie die Erde bitten konnte, doch diese half ihr ein wenig. Ein leises Flüstern erklang in ihrem Kopf, als sie ihre Hand auf den Boden legte: „Ich kann alles vernichten sowie du es nur willst. Ich kann mich krümmen und strecken und die Hochhäuser werden zusammenstürzen wie kleine Hütten.“ Maíra lächelte. „Nur ein wenig“, dachte sie und schickte diese Gedanken an die Erde. Und schon begann ein kleines Erdbeben, dass manche Häuser zusammenfallen ließ. Bäume fielen zu Boden und große Masten stürzten um. Nun war es an der Zeit das Wasser zu rufen. Einem kleinen Bach schickte sie nur wenige Gedanken und schon wurde er zu einem reißenden Fluss, der alles mit sich riss. Und auch der Regen durfte nicht fehlen. Das totale Chaos wütete unter ihr und sie flog hoch über die Stadt und betrachtete lachend was sie angerichtet hatte. Sie sah die weinenden, verzweifelten Menschen nicht, die sich in den Häusern verkrochen. Sie hörte nicht die Nachrichten, die von einem unnormalen Unwetter mit Erdbeben sprachen und von all den Toten und Verletzten berichteten. So ging es nun einige Nächte lang. Jede Nacht rief sie die Elemente herbei um alles zu zerstören. Sie zog von Stadt zu Stadt und versteckte sich Tagsüber in Menschengestalt in alten, verfallenen Ruinen. Langweilig wurde es ihr nie, denn sie dachte sich immer neue Dinge aus. Manchmal lief sie auch einfach durch die Häuser der Menschen und schaute sich dort um. Unsichtbar, als stiller Beobachter. Sie sah nicht nur friedliche Familien sondern auch grausame Dinge, doch sie durfte nicht eingreifen, denn dies war die Aufgabe der Engel und oft genug verfluchte sie diese, da sie scheinbar nichts unternahmen um den verzweifelten Menschen zu helfen. Es war jedoch auch so, dass es ihr langsam egal wurde. Mit jedem Tag, der vorüber ging, wurde sie innerlich kälter und rücksichtsloser. Auf sie hatte damals auch niemand Rücksicht genommen, niemand hatte freundlich mit ihr gesprochen, wieso sollte sie also anderen helfen oder Erbarmen zeigen, wenn sie wieder alles zerstört hatte? Dieses neue Leben war wunderbar, denn sie konnte tun was sie wollte und die Wut konnte sie endlich herauslassen. Einsam war sie auch vorher gewesen, also störte es sie kein bisschen. Die Engel mochten sie sowieso nicht, denn sie mussten die Menschen beschützen, die sie durch ihr Chaos in Gefahr brachte. Das war sicher keine besonders leichte Aufgabe, doch wieso sollte sie es den verhassten Engeln leicht machen? Sie dachten sicher sie könnten nahezu alles schaffen mit ihrer göttlichen Macht, doch scheinbar überschätzen sie sich, da bisher niemand etwas ihrer neuen Macht entgegensetzen konnte. Maíra sah die Engel oft hin und her rennen und versuchten das Chaos aufzuhalten, doch Maíra griffen sie nie an, oder würdigten sie auch nur eines Blickes. Elohim hatte ihr erklärt, dass die Felarin immer alleine gewesen waren. Von den anderen Wesen schon beinahe gehasst, aber geduldet. Sie lebten alleine, trafen sich selten mit anderen Felarinen. Jeder hatte sein eigenes Gebiet in dem er Chaos verursachte. So kamen sie sich nie gegenseitig in die Quere. Es dauerte einige Wochen bis ihr wieder etwas sehr wichtiges einfiel. Sie wollte den Engel finden, der sich um sie hätte kümmern sollen, als sie noch ein Mensch gewesen war. Also flog sie hinauf zu dem Palast, den sie seit ihrer „Neuerschaffung“ nie wieder betreten hatte. Beim Eintreten wurde sie von den Engeln misstrauisch betrachtet. Die Kleineren flüsterten sich etwas zu und die anderen wendeten sich einfach ab. Es dauerte recht lange bis sie Elohim fand. Erst nach langem suchen stand sie vor ihm und sah ihn herausfordernd an: „Wo ist er?“, fragte sie ihn herausfordernd. Elohim sah sie mit seinen etwas strengen Augen an, sodass sie ihren Blick abwenden musste. „Wo ist wer?“, fragte er sie ruhig. „Der Engel, der auf mich aufpassen musste, als ich noch ein Mensch war“, sagte sie ungeduldig. Elohim schaute kurz in die Ferne und schien für einen Moment vollkommen abwesend zu sein. Ungeduldig wartete Maíra auf seine Antwort. Langsam drehte er sich dann wieder zu ihr und sagte leise: „Sorael.“ „Wo finde ich ihn?“, fragte sie nun und blickte in seine strahlend blauen Augen. „Ich weiß nicht wo er sich gerade befindet, aber ich glaube du solltest ihn besser in Ruhe lassen. Er war nicht davon begeistert seinen Menschen aufzugeben und einen anderen zugeteilt zu bekommen, denn eine Felarin brauch keinen Schutzengel.“ „Das ist mir egal“, sagte sie und drehte sich um, „ich werde ihn trotzdem suchen.“ Es dauerte ein paar Tage bis sie ihn endlich fand. Fast schien es so als würde er sich vor ihr verstecken, denn wen sie auch nach ihm fragte, keiner der Engel konnte viele Auskünfte über ihn geben. Vielleicht war er so etwas wie ein Außenseiter unter den Engeln, den keiner leiden konnte. Doch sie gab nicht auf und suchte so lange, bis ein Engel ihr grinsend sagen konnte, wo er sich gerade vielleicht befinden mochte. Es saß auf einem Häuserdach und blickte in die Ferne. Die Sterne funkelten am Himmel und ein heller Sichelmond beschien die Erde. Mit einem Mal packte sie die Wut, als sie ihn dort so ruhig sitzen sah. Sie flog auf ihn zu und blieb erst kurz vor ihm in der Luft stehen. Leider hatte dies nicht die Wirkung, die sie sich erhofft hatte, denn er blieb ganz ruhig und sah sie an, sah sie einfach nur an, mit diesen unendlich blauen Augen, noch viel schöner als die von Elohim. Als würde man tief hinab ins Meer schauen. Sie starrte ihn an und ihr Wut verzerrtes Gesicht entspannte sich ein wenig. Er war wohl kaum anders als all die anderen Engel, die sie bisher gesehen hatte und doch war er irgendwie ganz anders. Das Aussehen war recht ähnlich, aber er hatte etwas an sich, dass ihn von allen anderen Engeln unterschied. Seine blonden Haare fielen ihm über die recht schmalen Schultern und sein hübsch geschwungener Mund, auf den jedes Mädchen stolz gewesen wäre, verzog sich zu einem freundlichen Lächeln. „Ich habe mir schon gedacht, dass du kommst, Maíra!“, sagte er sanft und schaute sie an. Nun war es als wäre ein Bann von ihr gefallen und die Wut kehrte zurück. Verachtend schaute sie ihn an und sagte dann mit kaltes Stimme: „Du bist es also. Der Engel, der mich hätte beschützen sollen. Der, dem ich anvertraut wurde und der alles beobachtet hat, mein ganzes Leben lang und doch nichts getan hat.“ Nun blickte er zu Boden. „Es tut mir Leid“, sagte er leise, „es tut mir so furchtbar Leid.“ „Ach Leid tut es dir? Erbärmlich ist das! Du brauchst nicht so tun als würde es dich auch nur im Geringsten interessieren, denn ich weiß, dass ich dir nie etwas bedeutet habe. Ich war nur ein Job, ein Mensch, auf den man aufpassen soll, doch du hattest sicher besseres zu tun, oder du warst unfähig!“ Wütend blickte sie ihn an. „Es tut mir Leid“, sagte er wieder, dieses Mal ganz leise. Sie war sich nicht sicher, doch es sah fast so aus als würde er leicht zittern. Aber er war doch ein Engel? Wie konnte er dann so voller Mitleid sein? Wie konnte er dann so zittern, als würde es ihm etwas ausmachen? Nein, er legte warscheinlich nur ein ganz tolles Schauspiel hin. Darauf würde sie nicht hereinfallen. „Ich erwarte eine Erklärung“, sagte Maíra und setzte sich neben ihn. Nun war sie sich ganz sicher, dass er zitterte. Er seufzte leise doch dann schaute er sie an, mit einem so traurigen Blick, dass es ihr gegen ihren Willen wehtat. Es sah jedoch auch so aus, als würde er sich innerlich beherrschen um nicht zu weinen oder sonst irgendwelche Gefühle zu zeigen. Genau dieses Verhalten jedoch machte sie so unsicher. Engel hatten keine Gefühle und konnten daher auch keine zeigen. Sie mussten sich niemals beherrschen um nicht anderen die nicht vorhandenen Gefühle zu zeigen. Vielleicht war er auch kein Engel und sie war an den falschen geraten, doch eigentlich war sie sich sehr sicher. In dem Moment, indem sie ihn gesehen hatte, war sie sich schon sicher gewesen, obwohl sie keine Ahnung gehabt hatte, wie er aussah. „Ich weiß, dass dies meinen Tod bedeutend wird, doch werde ich dir alles erzählen. Ich habe immer alles versucht um dir zu helfen..“ Sie zuckte zusammen, als er so plötzlich anfing zu sprechen, doch dann erinnerte sie sich wieder wieso sie eigentlich hier war. „Das habe ich gemerkt“, unterbrach sie ihn wütend. Misstrauisch sah sie ihn an: „Was soll dieses geheuchelte Mitleid?“ „Lass es mich zuenede erklären und dann kannst du darüber denken was du willst“, sagte der Engel und sprach nun weiter, „ich habe wirklich alles versucht und es tat weh, denn all das was geschehen ist, war kaum zu ändern oder zu verbessern. Ich habe dich gesehen, habe deine Tränen gezählt und habe andere Wesen angefleht, ob sie nicht eine Idee hätten wie ich dir besser helfen könnte. Ein Drache offenbarte mir dann die traurige Wahrheit. Er sagte, dass du einer der Menschen bist, die von großem Unglück begleitet werden, dass niemand, nicht einmal ein Engel abwenden kann. Diese Menschen leben nur um das Glück anderer Menschen auszugleichen. Damit alles im Gleichgewicht bleibt. Er riet mir, dich aufzugeben und mir einen anderen Menschen zuteilen zu lassen. Doch das wollte ich niemals. Ich habe es weiter versucht, doch alle meine Versuche wurden vom Schicksal zerstört. Glaube mir, ich habe mir nie etwas mehr gewünscht, als dir helfen zu können und gerade deswegen tut es so weh, dass ich versagt habe und dass du mich hasst. Ich habe es sicherlich verdient, denn es gibt keinen schlechteren Engel als mich.“ Er schaute zu Boden. Sie zögerte, doch dann frage sie langsam: „Du bist doch Sorael oder? Und wir sprechen hier wirklich über mich? Ich wurde vom Unglück begleitet?“ Er nickte langsam. Maíra schaute in den Sternenhimmel. Ob Engel wohl lügen durften? Sicherlich nicht, aber sie taten es sicher trotzdem. An all die Regeln konnte man sich doch unmöglich halten. Sprach er also die Wahrheit oder nicht? Sie drehte sich wieder zu ihm und genau in diesem Augenblick hob er den Kopf. Was sie nun sah ließ sie erstarren und allen Hass vergessen. Der Engel schaute sie an, mit Tränen in den Meeresaugen und einem solch traurigen Blick, dass sogar ein Stein angefangen hätte zu weinen. „Ich liebe dich. Ich habe dich schon immer geliebt, von dem Augenblick an, indem ich dich das erste Mal sah. Ich weiß, dass du mich niemals lieben wirst und wir niemals zusammen sein können, da du erst ein Mensch warst und nun eine Felarin. Ich weiß, dass ich keine Gefühle haben darf und ich das alles vergessen sollte, doch ich will es nicht. Ich habe versagt und ich konnte dir nicht helfen und nun, da du eine Felarin bist, bin ich nichtmehr dein Engel. Aber da ich dir dies nun gesagt habe, kann ich endlich ins Nichts verschwinden, ohne etwas zu bereuen.“ Vollkommen perplex schaute sie ihn an. Das konnte doch alles nicht sein. Dieser hübsche Engel war kein chaotischer Trottel, der zu dumm war um ihr zu helfen? Er hatte immer alles versucht, was immer bei ihr gewesen und liebte sie auch noch? Stumm sah sie ihn an. „Du musst nicht sprechen, denn ich erwarte nichts. Ich kenne dich so gut und ich wünschte ich wäre ein Mensch gewesen, dann hätte ich dich getröstet, dich in meine Arme genommen und wäre immer für dich da gewesen. Doch ich bin ein verdammter Engel und konnte nur zusehen Tag für Tag. Ich habe gesehen, wie sie dich nach und nach vergessen haben und unsichtbar stand ich neben dir, als er dich geschlagen hat. Ich musste mich so beherrschen um ihn nicht umzubringen, denn das hätte ich am liebsten getan. Aber stattdessen musste ich alles mit ansehen und ich habe mich selbst verflucht, als nichts funktioniert hat, dass ich versucht habe. Deine Narben habe ich gesehen, all das Blut und die Angst habe ich im Nacken gespürt, so wie du sie empfunden hast. Doch ich konnte nicht wegrennen, genauso wie du nicht flüchten konntest. Ich wollte einfach neben dir erscheinen und dich umarmen, oder einfach mit dir sprechen, dich irgendwie trösten, doch ich durfte es nicht. Denn wenn ich mich dir gezeigt hätte, wäre ich bestraft worden und kein anderer Engel hätte dich beschützen können. Du hättest sicherlich sterben müssen, da ich es ja noch schaffte das Schlimmste zu vermeiden. Ich weiß genau wie sehr du dir einerseits den Tod gewünscht hast. Wie du da gelegen hast und darum gebettelt hast, in dem Moment, als du nichts mehr hattest und keinen Sinn mehr sehen konntest. Doch ich habe auch gesehen, dass du niemals aufgeben wolltest. Du wolltest doch nicht sterben, du wolltest kämpfen nur um endlich glücklich zu sein, wenn auch nur für wenige Sekunden.“ Er verstummte starrte in die Nacht. Seine Worte hatten etwas in ihr geweckt, das sie dachte vergessen zu haben. Sie zitterte bei der Erinnerung an dieses Gefühl. Wie sehr hatte sie sich gewünscht nicht allein zu sein. Irgendjemand nur, der ihr hätte zuhören können oder sie kurz umarmt hätte, das hatte ihr so sehr gefehlt. Zögernd nahm sie seine Hand: „Ist schon in Ordnung, nur bitte weine nicht. Ich kann es nicht sehen, denn ich weiß genau, dass du es nicht darfst. Elohim hat mir davon berichtet. Sobald Engel sich zu sehr den Menschen ähneln werden sie ins Nichts gestoßen und von dort gibt es kein Entkommen, keine Wiedergeburt oder etwas Vergleichbares. Es gibt nur das Nichts, das sie verschlingt aber nicht umbringt. Sie leben nicht richtig dort, aber sie sterben auch nicht.“ Noch immer blickte er sie an. „Das ist es mir wert“, flüsterte er leise, „denn ich hätte erwartet, dass ich niemals mit dir sprechen kann, dass ich dir niemals in die Augen sehen werde.“ Langsam wusste sie nichtmehr was sie sagen sollte, denn diese Situation war einfach so ungewöhnlich und unerwartet. Noch eben war sie voller Wut und Hass gewesen und nun empfand sie Mitleid mit diesem Engel. Sein Verhalten war zu menschlich für einen Engel aber es war auch nicht wirklich das Verhalten eines normalen Menschen. Seine warme, weiche Hand in ihrer zitterte leicht und vorsichtig drückte sie diese. Sorael antworte auf den leichten Druck mit einem ebensolchen, doch seiner war so sanft, dass sie nun zitterte. Bisher hatten ihr andere Menschen nur Abneigung und Hass entgegen gebracht. Noch immer wusste sie nicht wieso, doch scheinbar hatte niemand sie akzeptieren wollen. „Es tut mir Leid“, sagte Sorael leise, „doch bevor ich gehe, muss ich mir diesen einen Wunsch erfüllen. Darf ich?“ So bittend schaute er sie an, sodass sie vollkommen vergaß zu fragen, was er sich denn wünschte. Sie nickte nur vollkommen verwirrt und schaute ihn fragend an. Dieser Blick… Sie hätte ihn nicht beschreiben können. Langsam beugte sich Sorael zu ihr und noch bevor sie begriffen hatte, was er sich wünschte, küsste er sie. Seine Lippen waren warm und weich und er war so sanft und zärtlich wie sie es niemals erwartet hätte. Wie konnte ein Wesen nur so sanft sein? Sie erwiederte den Kuss vorsichtig und zurückhaltend. Dieses Gefühl, dass sie durchströmte war so fremd und doch war es kein bisschen unangenehm. Alle Gedanken in ihrem Kopf drehten sich und verschwanden, bis da nurnoch dieses eine, starke Gefühl war, dass sie nicht benennen konnte. Langsam löste er sich von ihr. „danke“, sagte er leise, „ich danke dir für alles!“ Sie zitterte, denn seine Liebe zu ihr verwirrte sie. Sie war so stark zu spüren, besonders indem Moment, indem sie sich geküsst hatten. Sorael stand nun langsam auf. „Ich wünsche dir nur das Beste“, sagte er leise, dann drehte er sich um, breitete die schneeweißen Flügel aus und flog einfach davon. „Warte!“, rief sie ihm hinterher und folgte dann seinem hellen Schein. Sie war inzwischen sehr geschickt und blitzschnell in der Luft. Doch dieser Engel war auch nicht gerade ungeschickt. Er flog ebenso schnell davon, wie sie ihm folgen konnte, doch sie wollte auf keinen Fall aufgeben. Es dauerte recht lange, doch dann schien Sorael entweder keine Lust mehr zu haben, oder er konnte wirklich nicht mehr. Er landete auf einer Wiese, außerhalb der Stadt. Sie landete wenige Sekunden nach ihm und schaute ihn an. „Wieso folgst du mir?“, fragte er leise, kaum hörbar, da der Wind ebenfalls leise zu flüstern schien. „Ich möchte nicht, dass du gehst. Jetzt, wo ich weiß, dass ich nie ganz allein war und dass nicht alle mich hassen kann ich dich nicht einfach gehen lassen. Bitte bleib bei mir!“ Langsam drehte er sich zu ihr um und sah sie an, mit einem solch traurigen und hoffnungslosen Blick, dass es ihr wehtat und sie sich am liebsten umgedreht hätte. „Du weißt genau, dass es nicht anders geht“, sagte er leise, „also folge mir nicht, denn ich möchte nicht, dass du siehst wie ich…“ Er brach ab und schaute zu Boden. Er konnte es nicht aussprechen. „Ich werde mit dir fliehen, ganz weit fort, wo uns niemand findet! Bitte, lass mich nicht alleine!“ So flehend sah sie ihn an doch er schüttelte den Kopf. Traurig schaute sie ihn wieder an und nahm dann nach kurzem Zögern seine Hand. „Bitte versuche es. Für mich.“ Er starrte sie an und nickte dann langsam. Er konnte sie doch nicht wieder alleine lassen nach all dem was nun geschehen war. „Dann lass uns losfliegen!“ Sie breitete wieder ihre Schwingen aus und auch er machte sich bereit um wenige Sekunden später abzuheben und hinter ihr her zu fliegen. Kein Mensch sah die Beiden, doch diesen Anblick hätte niemand vergessen. Die schneeweißen Flügel und das strahlend Blonde Haar, diese unglaubliche Schönheit, dieser Engel mit den blauen Augen und daneben dieses Wesen mit den schwarzen Schwingen, das sich so viel wilder im Wind bewegte. Die schwarzen Haare, mit denen der Wind spielte und der entschlossene Ausdruck in den grünen Augen. So flogen sie durch die Nacht, nebeneinander, darauf hoffend, dass sie entfliehen konnten. Fliehen vor dem Nichts. „Ich weiß nicht was es ist, doch …“ Erschrocken schaute Maíra sich um, denn der Klang seiner Stimme war leicht panisch. Er taumelte in der Luft und sank dann langsam tiefer. „Was ist los?“, rief sie ihm zu und folgte ihm nach unten. Er landete an einem kleinen Bach. „Es ist, als würde mir das Nichts folgen und mir langsam meine Kräfte rauben“, sprach er leise und die Verzweiflung in seiner Stimme war so deutlich zu hören. „Bist du dir sicher? Vielleicht bist du nur einfach erschöpft?“ Unsicher sah sie ihn an. Er schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er kaum hörbar. Entschlossen umfasste sie seinen Körper und ohne noch ein Wort zu verlieren hob sie ihn hoch und erhob sich wieder in die Luft. Mit kräftigen Bewegungen ihrer Schwingen beschleunigte sie. „Ich gebe dich nicht auf“, sagte sie entschlossen. Er war nicht so schwer wie sie gedacht hätte und sie konnte gut mit ihm in den Armen fliegen. Er sagte nichts, doch das fiel ihr in dem Moment nicht auf. Was sollte er auch zu all dem sagen? Doch dann plötzlich wurde er leichter. Sie schaute auf seinen Körper und erschrak, da dieser blasser wurde, als würde er sich auflösen. Sie blinzelte mehrmals um sicher zu gehen, dass es nicht an ihr lag. „Es tut mir Leid. Ich werde nun verschlungen. Vergiss mich nicht Das reicht mir schon. Ich werde immer an dich denken. Sei stark! Für mich…“ „Lass mich nicht allein“, flüsterte sie und zitterte. Sein Gewicht wurde immer leichter und es sah so aus als würde er sich einfach auflösen. Alles verblasste, sogar seine strahlend blauen Augen, mit denen er sie traurig ansah. „Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder. Lebe wohl, Levania.“ Er war fort. Hatte sich einfach aufgelöst. Lange noch flog sie umher, verwirrt und einsam wie immer. Doch dieses Mal war es anders. Sie hatte die Zweisamkeit kennen gelernt. Wenn auch nur für einen kurzen Moment. Doch genau deswegen tat es nun umso mehr weh. Es war als würde ihr jemand einen Dolch durch den Körper stoßen und sie langsam ausbluten lassen. Sie kannte innere Schmerzen sehr gut. Sie war eine lange Zeit daran gewöhnt gewesen, doch dieser Schmerz übertraf alles, was sie jemals gefühlt hatte. Traurig starrte sie zum Mond, der seinerseits sie anzustarren schien und nur er sah die Träne auf ihrer Wange. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)