Romantische Szenen von Pansy ================================================================================ Kapitel 1: Regentropfen ----------------------- Feine Regentropfen stieben Silia ins Gesicht, die ihre Augen unverwandt auf die vielen losen Blätter in ihrer Hand gerichtet hatte. Innerlich fluchte sie über das kalte Nass und wünschte sich die heißen Tage der letzten Woche zurück. Zwanzig Grad Temperaturunterschied war einfach zu viel, doch leider hatte sie als menschliches Wesen keinen Einfluss auf das Klima. Im Kopf immer wieder die vier Stichpunkte wiederholend, die sich ihr einfach nicht einprägen wollten, sah sie auf und erblickte erleichtert auf den Unterschlupf, der sich direkt vor ihr darbot. Eine schmale Brücke, gerade so breit, dass ein Auto darüber fahren konnte, diente ihr als Schutz vor dem immer stärker werdenden Regen. Silia flüchtete unter das kahle Gemäuer und vergrub sich gedanklich immer weiter in die schwarzen Zeilen, die fein säuberlich auf den Zetteln geschrieben standen. In drei Tagen hatte sie Prüfung! Dies hätte sie am liebsten verdrängt, doch sie konnte nicht. Sie war schlicht und einfach zu wichtig, als dass sie was anderes als lernen konnte. Der Wind frischte auf und wehte ein paar Regentropfen unter die Brücke, so dass Silia in die Mitte ihres Zufluchtortes zurückwich. Mit kritischem Blick beugte sie sich nach vorne und schaute gen Himmel. /Hoffentlich hört es bald auf./ Ihre Angewohnheit, beim Gehen zu lernen, konnte sie nicht ablegen und wollte es auch nicht. Nur dass das Wetter ihr da seit ein paar Tagen einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machte, ärgerte sie. Doch was sollte sie machen. Sie nutzte immerhin jede trockene Minute, um raus an die Luft zu kommen. Leider war sie an diesem Tag von einer großen grauen Wolke überrascht worden und nun stand sie einsam und verlassen unter der Brücke. Nach einer Weile hörte sie Schritte. /Wohl noch einer vom Regen überrascht worden…/ Silia sah von ihrem Lernstoff auf und ihr stockte der Atem. Sie blickte in wunderschöne braune Augen, die so viel Ausdruck und Glanz in sich trugen, dass sie fast zu zittern begann. Ihr Gegenüber erwiderte ihren Blick und schien ebenso perplex zu sein wie sie. Endlose Sekunden verstrichen, in denen sie sich anschauten und nicht umhin konnten zu lächeln. „In welche Richtung musst du?“, fragte er mit sanfter Stimme. Silia deutete nach rechts. „Zum Wohnheim.“ Der Fremde zog den Reißverschluss seiner Jacke auf /Was wird das?/ und als er sie ausgezogen hatte, reichte er sie ihr. „Zieh die an.“ „Nein, die kann ich doch nicht annehmen, dann hast du-“ „Nimm sie.“ Im selben Augenblick nahm er ihr die Blätter aus der Hand und verstaute sie in seinem Rücksack. „Damit sie nicht nass werden und du später noch lesen kannst, was darauf steht.“ Ein wenig verschmitzt lächelte er ihr zu, was in ihr eine richtig gehende Hitzeflut auslöste. Als Silia die Jacke geschlossen hatte, die ihr zu groß war und weshalb sie sich ein wenig verloren darin vorkam, bot ihr der braunhaarige, gut aussehende Fremde den Arm an und sie hakte sich darin ohne zu zögern ein. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie konnte nicht sagen, was mit ihr geschehen war. Vor einem kurzen Moment noch hatte sie sich in den Tiefen ihres Lernstoffes befunden. Und nun? Sie fühlte sich unbeschwert, frei, ja glücklich. Und lief mit einem Unbekannten Arm in Arm unter einem Regenschirm. /Er ist so fürsorglich und kennt mich nicht einmal. Gibt mir seine Jacke und hält den Schirm eher über mich als über sich… Sein Arm fühlt sich so gut an und der Duft seiner Jacke betäubt mich fast. Mir wird ganz schwindlig…/ „Wie heißt mein edler Ritter eigentlich?“ „Rob.“ „Silia. Sehr angenehm.“ „Ganz meinerseits.“ „…“ „Wie lange studierst du schon hier?“ „Vier Jahre.“ „Das heißt, bei dir stehen nun die Endprüfungen an?“ „Diplom ja.“ „Ich habe vergangenes Jahr…“ Silia verlor sich in seinen Worten und nahm nur noch am Rande wahr, was er ihr erzählte. Noch nie zuvor hatte sie sich einem Jungen so vertraut gefühlt. Ihr wäre es recht gewesen, wenn der Weg, auf dem sie liefen nie geendet hätte. Doch ehe sie sich versah, standen sie schon vor der Tür ihres Wohnheims. Sie sahen sich an, doch keiner konnte etwas sagen. Ihre Spiegelbilder in den Glasscheiben der Hausfront ruhten lange Zeit bewegungslos. Plötzlich wurde Silia unsanft weggestoßen, als jemand die Tür von innen öffnete. Ihr wurde ein böser Blick zugeworfen, woraufhin sie ein ‚Entschuldigung!’ hinterher rief. Bevor die Türe wieder ins Schloss fiel, hielt sie sie fest. Sie wollte sich verabschieden, doch wusste nicht, was sie sagen sollte. Wollte sie sich wirklich verabschieden? Hin- und hergerissen zwischen Vernunft und Wahnsinn verharrte sie. „Ich danke dir für deine nette Geste.“ „Gern geschehen.“ „Ich werde nun gehen.“, sprach sie leise und deutete ins Innere des Gebäudes. Sie musste sich zurückhalten, ihm nicht um den Hals zu fallen und ihn fest an sich zu drücken. Gequält senkte sie den Blick und begann zu lächeln, denn sie sah direkt auf ein schwarzes Handy, das ’Neuer Kontakt’ auf dem Display stehen hatte. Sie griff danach und tippte Namen und Nummer ein. „Mach´s gut.“, sagte sie, als sie ihm das Handy reichte. „Du auch.“ Während Silia den langen Gang im Wohnheim ablief, realisierte sie allmählich, dass sie ja noch seine Jacke trug. Sie griff an den Kragen und zog sie dicht an ihre Nase. Wohlig atmete sie tief ein. Mit roten Wangen betrat sie ihr Studentenzimmerchen, fiel rücklings auf ihr Bett und starrte an die weiße Decke. Doch das heimelige Gefühl wurde alsbald von einem großen Schrecken abgelöst. Ihre Blätter!! Er hatte sie noch! Und sie brauchte sie! Unversehen stürmte sie die Treppen wieder hinunter, den Gang entlang. Nicht nur ihrer Zettel wegen rannte sie, nein, natürlich nicht. Ein ganz anderer Grund trieb sie so an: Sie wollte ihn noch einmal sehen! /Ob er noch da ist?/ Silia stieß die blaue Brandschutztüre auf und spähte durch die Glasfront nach draußen. Enttäuscht hielt sie inne, legte eine Hand an die Scheibe und sah durch den kleinen Vorraum hinaus in den Regen. Langsam drückte sie die Schwingtür auf und lief zur Haustür. Ihr Herz klopfte wild. Ihr Blick schweifte hin und her, doch erspähte nur neblige Luft und einzelne grün-braune Blätter, die vom Wind herumgewirbelt wurden. Als sich Traurigkeit in ihr empor schleichen wollte, begann das Handy in ihrer Hosentasche zu klingeln. „Hallo?“ „Mein Regentropfen hat seine Blätter vergessen.“ Ihr Magen schlug Purzelbäume. Er hatte ihren Eintrag im Handy gefunden. „Und ich kann dich sehen.“ Eine dunkle Silhouette näherte sich zunehmend durch den dichten Regen. Silia ging hinaus und wartete auf ihn unter dem Vordach. „Du hast auch etwas vergessen.“, sagte sie grinsend und reichte ihm seine Jacke. Als sich dabei ihre Hände berührten, durchzuckte sie ein Verlangen, eine Begierde nach ihm, die ihr so unermesslich erschien, dass sie sie befriedigen wollte, musste. Ihm schien es wohl genauso zu ergehen, denn er legte eine Hand an ihr Kinn und küsste sie behutsam… Kapitel 2: Bücher und andere Geheimnisse ---------------------------------------- Ich danke an dieser Stelle meiner besten Freundin, die als Vorbild für Vivian herhalten musste, wovon sie bisher noch nichts weiß XD Charakterliche Ähnlichkeiten sind daher nicht dem Zufall überlassen, aber sie wird mir das schon verzeihen *yuzufesteknuff*. Nun wünsche ich allen viel Spaß beim Lesen! *wink* ~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~ Bücher und andere Geheimnisse „Wie immer?“ „Na klar doch!“, grinste Daria und betrat den großen Buchladen, in dem sie und ihre beste Freundin schon zur Stammkundschaft gehörten. Draußen tobte ein heftiger Wind und die beiden waren froh, diesem endlich entgehen zu können. Zudem liebten sie es, durch die Gänge voller Bücher und kleiner Schmuckstücke zu streifen. Allein schon der wohlige Geruch, der einem in die Nase stieg, wenn man ein Buch aufschlug, und die teils grandios gezeichneten Einbände war das Bestreben allemal wert, bei jedem Stadtbesuch einen Abstecher ins Buchgeschäft zu machen. Aufgrund des drohenden Unwetters trafen Daria und Vivian nicht viele Menschen an, doch das störte sie im Grunde überhaupt nicht. Denn das bedeutete für sie weniger Gedränge und Geschiebe und vor allem freie Sicht auf alle Neuheiten. Geradewegs steuerten sie die Treppe an, die sie nach unten in das Reich des Anime und Manga führen würde, doch kurz vor der ersten Stufe blieb die Jüngere von beiden plötzlich stehen. „Ich geh mal kurz nach oben“, zwinkerte sie ihrer Freundin verschwörerisch zu. Schließlich hatte Vivian bald Geburtstag und wünschte sich schon so lange ein Buch, in dem sie ihre selbst geschriebenen Gedichte verewigen konnte. Mit einem Schulterzucken winkte die Schwarzhaarige ihr halbherzig zu und stieg die Treppe hinab. Als Vivian außer Sichtweite war, nahm Daria immer zwei Stufen auf einmal und sah sich wenig später im zweiten Stock um. Auch hier befanden sich gerade mal eine Hand voll Leute, die ihrem Interesse, dem Lesen und Schmökern, nachkamen. Zwar war es nicht gerade klug, nach einem Geschenk zu suchen, wenn sich die Betreffende im selben Geschäft befand, doch bisher hatte Daria einfach noch nicht das richtige gefunden und sie hatte nicht einmal mehr drei Tage, bis Vivian zwanzig wurde. Und ihre langjährige beste Freundin hatte genaue Vorstellungen von dem Buch: paper blank, Einband reichlich verziert und vor allem edel, möglichst preiswert. An dem letzten Punkt waren all ihre Bemühungen bisher gescheitert, weshalb Daria ihr als Überraschung eines schenken wollte. Doch auch sie hatte annahmegemäß noch keinen Erfolg verbuchen können. Meist waren solche Bücher schweineteuer und für frische Studentinnen einfach nicht erschwinglich. Die Universität erforderte schon genug finanzielle Mittel, als dass noch viel übrig bliebe, um sich damit zu ernähren, einzukleiden und insbesondere Geschenke zu erwerben. Gut, vielleicht lag es nicht wirklich an dem Preis, doch sie hatten sich einmal geschworen, sich nur kleine Geschenke zu machen. Und Ausnahmen waren strikt untersagt. Das hatte damals als Herausforderung dienen sollen, um kreativ und einfallsreich zu sein. Doch heute entsprach diese Abmachung meist eher einer Last. Aber Daria wollte nicht die erste sein, die ihr Versprechen brach. Versprechen waren nun mal da, um gehalten zu werden und nicht durch Ideenlosigkeit gebrochen zu werden. Und irgendwie empfand sie auch heute noch diese Vereinbarung als Reiz, sich anzustrengen und Vivian mit pompösen Geschenken zu überraschen, die meist teuer aussahen, es aber nicht waren. Als sie nach rechts blickte, fand sie, was sie suchte. Ein ganzer Ständer voll kleiner und großer Bücher, deren Einbände allesamt durch eine magnetische Vorrichtung vorne geschlossen wurden, mal goldene Verzierungen, mal große rote Blüten oder eher schlichte Gemälde, die dennoch äußerst ansprechend wirkten, aufwiesen. Mit bedächtigen Schritten ging sie auf ihn zu und nahm drehte ihn einmal im Kreis. Sie liebte selbst diese kleinen Kunstwerke, die durch die Gedichte von Vivian noch viel wertvoller würden. Manchmal fragte sie sich, weshalb sich ihre Freundin nie eins gekauft hatte, aber es war nun mal so und konnte nicht mehr geändert werden. Vielleicht war ihre Freundin einfach zu gehemmt, so viel Geld für ein einziges Buch auszugeben. Oder sie hoffte immer noch, es einmal geschenkt zu bekommen. Und diesen Gefallen würde ihr Daria wirklich gerne tun. Andächtig nahm sie eins in die Hand und strich mit der freien langsam über die Vorderseite. Es war wirklich sehr hübsch. Silberne Ornamente auf schwarzem Hintergrund. Darin immer wieder rosa und hellgrüne Vertiefungen. Die Farben würden perfekt zu Vivian passen. So ehrfürchtig wie sie das Buch in Augenschein nahm, kam sie sich reichlich unreif vor. Aber es war ihr im Grunde gleichgültig, wie sie auf andere Menschen wirken mochte. Zum wirklichen Erwachsenwerden hatte sie noch genug Zeit und immerhin konnte sie sich noch an Dingen erfreuen, egal wie unwesentlich sie für andere sein mochten. Viele besaßen keinen Sinn für die Kunst, was sie einfach nur bemitleidenswert fand. Sie wussten nicht, was ihnen entging. Malerei, die Herstellung von Skulpturen und anderen Plastiken, kreatives Schreiben waren Handwerke, die manchmal viel zu wenig geschätzt wurden. „Darf ich?“, wurde Daria aus ihren Gedanken gerissen. Ein Arm in tiefes Schwarz gekleidet glitt über ihren Kopf hinweg und griff nach einem der Bücher, von denen eines immer noch in ihren Händen verweilte. Ein wenig erschrocken drehte sie sich um und stieß beinahe mit einem in einen langen Mantel gekleideten jungen Mann zusammen, dessen tiefdunkle Augen auf das kleine Werk gerichtet waren, das er dem Stände eben entnommen hatte. So schnell wie sich Darias Herzschlag beschleunigte, so schnell stellte sie das Buch zurück und kam dabei versehentlich mit einer von seinen Händen in Berührung, die noch mal gen Ständer gegriffen hatte. Sie zuckte zusammen, als sie dem gewahr wurde und entschuldigte sich mit einem verzagten Lächeln. „Die Bücher sind hübsch, nicht wahr?“, sprach sie ihn an und konnte nicht umhin, erneut in sein markantes Gesicht zu sehen. Im selben Moment schalt sie sich für ihre dünne Stimme, doch sie war wie gefangen von dem Anblick, der sich ihr bot. „Ja, sehr“, lächelte er sie warm an. Daria glaubte, ihr Herz setze aus. Wie sie es dennoch schaffte, den Blick zu erwidern, wusste sie nicht, aber es war unglaublich, in diese tiefen Seelen zu schauen, in denen man glatt versinken konnte. Wenig später zwang sie sich zur Besinnung und senkte die Lider und schüttelte leicht den Kopf. „Nur gebühren ihnen viel zu wenige die gerechte Aufmerksamkeit.“ „Die Welt ist marode geworden. Die Oberflächlichkeit obsiegt die Tiefsinnigkeit“, meinte er mit tiefer und melodisch klingender Stimme, die ihr durch Mark und Bein gingen. Ihr gesamter Körper reagierte auf den Widerhall seiner Worte. „Der immer währende Stress erblindet die Menschen und lässt sie die wichtigen Dinge nicht mehr sehen.“ Mit einem Mal befiel die Brünette eine Melancholie, die ihre Beine erschwerte. Nach außen hin stahl sich meist Freude und Unbekümmertheit, doch sie dachte oft darüber nach, wie sich die Welt langsam zugrunde richtete und das Schöne herabwürdigte. „Dabei sind es solch meisterhafte Werke, die das Leben in ein Licht des Friedens tauchen“, flüsterte er schon beinahe und steckte eines der Bücher zurück an seinen Platz. „Entschuldige“, meinte er dann wieder lächelnd. „Manchmal neige ich ein wenig zur Schwermut. Und sie ist doch gar nicht angebracht, wenn ich eine solch verständnisvolle junge Frau vor mir habe.“ Unwillkürlich wich Daria einen Schritt zurück. „Ich sage nur, was ich denke. Das hat nichts mit Verständnis zu tun. Außerdem…“, sah sie sich um, „schätzen alle hier die Werke, die sich vor unseren Augen befinden.“ Damit drehte sie sich um und entfernte sich von ihm. Sie hatte solche Sprüche noch nie leiden können und selbst dieser Traum von einem Mann würde das nicht ändern können. Behände eilte sie die Treppen hinab und kam erst wieder vor Vivian zum Stehen, die gerade in einem Manga herumblätterte. „Der wäre was für dich“, hielt sie ihr ein orangenes Exemplar hin, als sie Daria bemerkt hatte. Irritiert griff die Brünette danach und besah sich den Buchrücken. Aber sie nahm nicht wahr, was auf ihm stand und so schlug sie ein wenig desinteressiert die erste Seite um. „Doch nichts? Das würde mich aber nun stark wundern“, hob Vivian eine Braue und sah ihre Freundin nun intensiver an. „Seit wann liest du das Ende zuerst? Das wäre ja mal ein richtiger Verstoß gegen deine Prinzipien“, zog sie sie auf. Daria sah irritiert auf und merkte erst jetzt, dass ihre Freundin Recht hatte. „Auch ich darf mal aus meiner Haut“, versuchte sie sich mehr schlecht als recht zu verteidigen. „Was ist dort oben pass-…. Oha, ich verstehe“, grinste Vivian, als ein junger Mann mit dunklen Haaren und ebenso dunklen Augen, wie schwarzem Mantel und Hose die Treppe herunterkam. Genau nach Darias Geschmack. Aufgrund des Knuffers in die Seite, den Daria von ihrer Freundin erhielt, und dem kecken Zwinkern, wandte sie den Kopf, doch bereute das im nächsten Moment bereits. „Das kann doch nicht wahr sein“, seufzte sie auf. „Wusste ich’s doch“, flüsterte die Schwarzhaarige und widmete ihre Aufmerksamkeit gekonnt wieder den Mangas zu. Daria warf ihr einen bösen Blick zu und bemühte sich redlich, ihre Augen fest auf das Buch in ihren Händen zu richten. Als sie Schritte in ihrer unmittelbaren Nähe höre, verkrampfte sie sich und hielt sich den Manga direkt vors Gesicht. Doch der Fremde ging an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Unbewusst sah sie ihm nach, bis er vor einem Regal in der hinteren Ecke Halt machte und sich dort der Literatur zuwandte. „Sehr galant“, kommentierte Vivian. „Und du bist rot.“ Darias Kinnlade fielt herunter und dann meinte sie strikt: „Wir gehen!“ „Jetzt, wo es interessant wird?“, deutete sie auf den Unbekannten. „Hast du nicht gemerkt, wie er dich beim Vorbeigehen angesehen hat?... Natürlich hast du das nicht mitbekommen. Das tust du ja nie“, seufzte sie. „Jetzt wird nicht gekniffen“, fügte sie bedeutungsvoll an. „Der ist nicht besser als die anderen“, erwiderte die Brünette wehmütig. Vivian legte ihren Kopf schief. „Ja?“ „Wir haben uns kurz unterhalten“, gab Daria zu, doch sie war so darauf bedacht, leise zu sein, dass auch ihre Freundin sie kaum verstand. „Mhh, was machen wir denn da?“ Vivian sah von einem zum anderen. Sowohl der Fremde hatte sich abgewendet als auch die Brünette. „Nunja, ich bin zu alt für Verkupplungsversuche“, zuckte sie dann mit den Schultern, konnte sich aber ein freches Grinsen nicht verkneifen. „Geht das noch ein wenig lauter?“, fuhr Daria sie an. „Wir gehen!“, bestimmte sie erneut und setzte schon dazu an. „Er kommt zurück“, hauchte ihr Vivian zu, als sie sie überholte und die Treppe hoch eilte. Unschlüssig blieb Daria stehen. Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, obgleich es keinen Grund dazu gab. Denn sie stand nicht auf Männer, die sich durch irgendwelche dahergeholten Sprüche profilieren mussten. Da konnten sie noch so nett und gutaussehend sein. „Manchmal darf man Worten nicht zu viel Bedeutung beimessen“, erklang es direkt hinter ihr. „Ansonsten übersieht man ihren wahren Kern.“ „Manchmal stecken hinter den Worten auch nichts weiter als schäbige Komplimente, die besser unausgesprochen bleiben sollten“, erwiderte sie rau und funkelte ihr Gegenüber kurz an. Eine Hand fuhr flüchtig durch ihr Haar, als sie zu Boden blickte. Unweigerlich sah sie wieder auf und wog ab, was er damit bezwecken wollte. „Und Gesten können auch in die Irre führen“, fügte sie leise an. „Eine Wand, errichtet aus Angst, kann nicht auf ewig abhalten, was bereits passiert ist“, beugte er sich hinab und hauchte hinzu: „Wir sehen uns wieder.“ Nachdem Daria dem Fremden nachgesehen hatte, wie er jede Stufe einzeln genommen hatte und dann aus ihrem Blickfeld verschwunden war, kniff sie ihre Augen fest zusammen. Sie glaubte kaum, sich das alles eingebildet zu haben, denn sie spürte immer noch seine Finger auf ihrem Kopf. Aber war das wirklich real gewesen? Es kam ihr jedenfalls nicht so vor. Lethargisch setzte sie einen Fuß vor den anderen und traf ihre beste Freundin an, die ihr lächelnd zunickte. „Du hast ganz schön auf dich warten lassen“, stupste Vivian sie an. „Kommentare unerwünscht, Viv“, begegnete Daria ihr ein wenig schroff. „Ich habe die Laus gesehen, die dir über die Leber gelaufen ist. Und ich muss schon sagen, das war eine Pracht von einer Laus.“ Da Daria an ihr einfach vorbeiging, eilte sie hinterher, bis sie wieder aufgeschlossen hatte und dann im Gleichschritt neben ihr her marschierte. „Dein Blick ist abwesend, ein zartes Rot umspielt noch immer deine Wangen. Daria, du bist-“ „Nein, bin ich nicht!“, schnitt sie ihr das Wort ab. „Und wage es ja nicht, es zu sagen“, herrschte sie sie an. „Ohje, da hat es eine aber voll erwischt.“ „Viv!“, rief Daria aus und blitzte sie an. „Hat es nicht und Ende!“ „Leugnen bringt auch nichts.“ „Da gibt es nichts zu leugnen.“ „Ach und darum diese trotzige Art. Verstehe“, verhieß die Schwarzhaarige neckend. „Du bist unmöglich, weißt du das?“, meinte Daria nun um einige Nuancen milder gestimmt. „Wäre ich sonst mit dir befreundet?“ „Das ist wenigstens ein ehrliches Kompliment“, grinste die Brünette nun. „So bin ich eben“, brüstete sich Vivian. „Charmant und liebenswürdig.“ „Natürlich.“ Daria schlang einen Arm um ihre Freundin und drückte sie beim Gehen kurz an sich. „Ein Eis?“ „Ich kann wohl nein sagen, oder?“ „Warum solltest du?“, zwinkerte sie. „Wir und unser Süßigkeitswahn“, stöhnte Vivian. „Der muss eben gestillt werden.“ „Nach dieser Begegnung zweifelsohne. Aber ich dachte immer, man kann von Luft und Lie-“ „Viv!“, ermahnte Daria die Ältere. „Wag es ja nicht!“ „Schon gut, schon gut. Gehen wir uns lieber die Kalorien einverleiben.“ Als sie das Café schon sehen konnten, fing es zu regnen an. Man konnte vielmehr davon sprechen, dass es wie aus Eimern schüttete. „Mistwetter“, fluchte die Brünette und hastete ihrer Freundin hinterher, die begonnen hatte gen Eisdiele zu rennen. Ein Regenschirm hätte bei den Massen und dem starken Wind ohnehin nichts genutzt. Keuchend erreichten sie den Eingang und besahen sich im spiegelnden Fenster, ob sie zu sehr zugerichtet aussahen. „Okay?“, fragte Viv. „Okay“, bestätigte Daria. „Und rein“, öffnete Vivian die Tür und ließ ihre Freundin vorneweg eintreten. „Da drüben“, wies die Brünette auf einen freien Tisch. Zwar wunderte es sie, dass überhaupt noch einer unbesetzt war, denn meist war das Café unentwegt zum Gebrechen überfüllt, aber dagegen hatte sie gewiss auch nichts. „Das ist dein Glückstag“, entgegnete Vivian und setzte sich ihr gegenüber. „Halb durchnässt zu sein?“, zog Daria die Augenbrauen kraus. „Du weißt genau, was ich meine.“ „Nein, wie sollte ich“, spottete sie und reichte ihrer Freundin die Eiskarte, die sie aber sogleich wieder zurücknahm. „Wie ich dich kenne, brauchst du die gar nicht.“ „Doch, lass mich mal reinschauen.“ „Damit du nach einer Viertelstunde sinnlosem Überlegen doch wieder deinen Klassiker nimmst?“ „Da drüben ist er.“ Zunächst war Daria irritiert, doch dann folgte sie dem heimlichen Wink ihrer Freundin. Tatsächlich. Da saß der dunkelhaarige Unbekannte, aber in netter Begleitung einer Blondine. „Da haben wir’s. Eloquent, aber triebgesteuert“, huschte ein Schatten über ihr Gesicht. „Manchmal sind die Dinge mehr Schein als Sein.“ „Fang’ du bitte nicht auch noch an.“ Verständnislos sah Viv sie an. „Mit was?“ „Großspurig daherzureden.“ „Hey. Kann ich was dafür, wenn du schon wieder zu viel hineininterpretierst?“ „Das“, deutete sie hinter sich, „kann man ja wohl nicht missverstehen.“ „Es könnte seine Schwester sein oder eine Bekannte“, mutmaßte die Schwarzhaarige. „Und die Sonne scheint, klar.“ „Daria, jetzt hör endlich mal damit auf, alles so negativ zu sehen. Weder halten sie Händchen noch küssen sie sich. Also ist noch gar nichts bewiesen.“ „Lassen wir das Thema einfach, okay?“ „O-…“ Die vollständige Zustimmung blieb aus. „Ich befürchte, das kann ich nicht.“ „Bitte, Viv“, seufzte die Jüngere. „Würde ich ja gerne, aber da musst du schon ihn fragen. Hi“, sah Viv auf. „Schönen Tag, die Damen“, erklang seine tiefe Stimme und ein durch ihn verursachter Schatten fiel quer über den Tisch, an dem sie saßen. Bemüht ruhig hob Daria den Kopf an und blickte direkt in seine dunklen Augen. „Die Damen wünschen in Frieden zu speisen.“ Sie unterdrückte sich ein Aufschrei, als Vivians Fuß sie am Schienbein traf. „Ich stehe anscheinend in Missgunst“, fuhr er sich übers Kinn. „Wo denkst du hin?“, mischte sie die Schwarzhaarige ein. „Daria ist heue nur leicht misszuverstehen. Magst du dich nicht zu uns setzen?“ Ein dicker Kloß steckte in Darias Hals. „Danke. Sehr gerne sogar“, hörte sie ihn sagen. Was dachte sich Viv eigentlich? Aber als er einen Stuhl zurückzog und darauf Platz nahm, konnte sie ihre Augen dennoch nicht von ihm lassen. Seine dunklen Augen waren bisweilen auf ihre Freundin gerichtet, die ihn freundlich anlächelte. Seinen Mantel hatte er wohl an seinem vorigen Platz zurückgelassen, denn nun trug er lediglich ein zartgrünes Hemd, das seinen leicht gebräunten Teint perfekt unterstrich. „… oder, Daria?“ Verlegen sah sie auf den Tisch und versuchte sich schnellstmöglich wieder zu sammeln. „Äh, ja“, antwortete sie, obwohl sie keine Ahnung hatte, um was es gerade ging. „Na, dann wäre das geklärt.“ ‚Was?’, wollte sie fragen, doch verkniff sich die Frage, denn seine tiefbraunen Iriden waren nun direkt auf sie gerichtet. „Freut mich“, kam es über seine Lippen und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Ihr Blick huschte verunsichert zu ihrer besten Freundin, die bemüht war, nicht laut loszuprusten. „Na, dann ihr Hübschen. Ich wünsche euch viel Spaß.“ „Den werden wir mit Sicherheit haben, nicht wahr, Daria?“ Was ging hier gerade vor sich? Dies und vieles mehr schwirrten mit einem Mal in ihrem Kopf herum. Heimlich trat sie ihre Freundin zurück und erhoffte sich auf diese Weise Antworten. Viv wusste genau, dass sie aufgrund gewisser Umstände nicht zugehört hatte. „Zurzeit laufen auch ein paar schöne Filme“, tat sie ihr auch den Gefallen. Kino. Mit ihm. Und sie hatte bereits zugesagt, wie es ihr scheint. „Horror“, entwich ihrem Mund. „Das hat bisher noch keiner zu mir gesagt, wenn er sich mit mir einen Film ansehen sollte.“ Besänftigend blickte sie ihn an. „Ich meinte das Genre. Es sollte nicht so rüberkommen, dass…“ Verzagt brach sie ab. Dass sie auch irgendwann den Kopf verlieren musste, wenn es um Männer ging. „Keine Sorge. Die Fassade beginnt endlich zu bröckeln und der Fall offenbart das wahre Ich.“ „Erwarte nicht zu viel“, parierte sie. „Das Ich hält manchmal Eigenschaften parat, die lieber im Verborgenen bleiben sollten.“ Lasziv beugte er sich zu ihr herüber und hauchte: „Die es alle wert sind, kennengelernt zu werden.“ Kapitel 3: Eine Knospe kann sich nur entfalten, wenn ihr die Chance dazu gegeben wird ------------------------------------------------------------------------------------- Eine Knospe kann sich nur entfalten, wenn ihr die Chance dazu gegeben wird Manchmal trügt der Schein Es war von Lynn unverantwortlich, aber sie konnte einfach nicht anders. Bisweilen war der Drang in ihr, ihrer kleinen Wohnung und all der Arbeit zu entfliehen, zu groß geworden, als dass die Vernunft obsiegen konnte. Sie sollte umkehren, und das wusste sie. Aber tat man nicht immer dann das scheinbar Falsche, wenn man in arge Bedrängnis geriet? Wie aus weiter Ferne drang das zehnmalige Schlagen der Kirchturmuhr an ihre Ohren und erfüllte sie mit einem sachten Vibrieren. Sie liebte den Klang der schweren Glocke und horchte manchmal fast schon gänzlich unterbewusst auf das melodische Summen, nachdem jene bereits am Ausschwingen war. Die Dunkelheit durchwob die Straßen und ließ jeden noch so kleinen Winkel tiefer und ab und an auch beängstigender erscheinen. Ein Mädchen, selbst eine junge Frau wie sie es war, sollte nachts nicht allein auf entlegenen Wegen spazieren gehen. Doch erstens gab es kein Gesetz, das es ihr verbot, und zweitens hatte sie es bei all dem Chaos zuhause nicht mehr ausgehalten. Und der See, den sie bereits vor sich erblickten konnte, zog sie immer wieder fast magisch an. Sie brauchte nur an ihn zu denken, wenn der Stress Überhand nahm, und schon keimte in ihr eine Sehnsucht auf, die sich selbst mit den schönsten Dingen nicht stillen ließ. Die Ruhe, die idyllische Atmosphäre, die hohen Bäume, das sanfte Plätschern des Wassers… Alles trug dazu bei, dass sie wider jede Vernunft handelte. Doch war es das nicht wert? Langsam glitten ihre dunklen Augen über die gesamte Weite des Sees. Friedvoll lag er zwischen all den Schatten der Nacht und trotzte jedweder Vergänglichkeit. So rein das Wasser war, so hektisch war die Welt. Und Lynn konnte einfach nicht mehr. Die Arbeit, die Melancholie und die eigene Unzufriedenheit hatten sich derart intensiviert, dass sie die Flucht ergriffen hatte. Während sie einen Fuß vor den anderen setzte und die Natur in ihrer vollen Pracht erblicken konnte, hatte sie die Möglichkeit, einen freien Kopf zu bekommen, um im Anschluss wieder klar denken zu können. Eine Art Reset war eben des Öfteren vonnöten, um wieder Höchstleistungen bringen zu können. Ein ganzer Schwarm Enten schwamm an einem kleinen Steg vorüber, auf dem sie sich mittlerweile positioniert hatte. Dies war der ideale Platz, um das gesamte Ausmaß der Schönheit des Sees genießen zu können. Tief sog sie die klare Luft ein und breitete im selben Moment die Arme weit aus. Ihre Lider schlossen sich nach einer Weile und sie konzentrierte sich einzig auf die schmale, aber ziemlich hohe Fontäne, die permanent das Wasser leise rauschen ließ. Lynn könnte stundenlang so verharren und dem wohligen Geräusch lauschen. Es war ungemein besänftigend. Auf diese Weise legte sich ein beruhigendes Gefühl auf die vom Stress gebeutelte Seele. Nichts als abspannen… Den Moment der Reinheit auskosten… Und das irrwitzige Spiel des Lebens vergessen. Lynn hätte sich wirklich nicht mehr geregt, wenn sich ihr nicht Schritte genähert hätten. Vorsichtig setzte der oder die Fremde die Füße auf den Kieselboden auf und Lynn wandte sich umgehend von der Fontäne ab. Bereits einmal war ihr hier nachgestellt worden. Und das beklemmende Gefühl der Angst wollte sie nicht ein weiteres Mal durchleben. Als sie die Person jedoch erblickte, die sich ihr genähert hatte, atmete sie erleichtert auf. Es war nur eine alte Frau, die eine Leine in den Händen hielt. Der schwache Schein einer Laterne, die den Wegrand säumte, tauchte das faltige Gesicht in groteske Schatten, aber dennoch wirkte die Frau vollkommen friedfertig. Plötzlich streifte etwas Lynns Beine und sie begann zu lächeln, als ein schwarzer Chiwawa an ihren Beinen hochzuklettern versuchte. „Du bist ja ein wahres Goldstück“, tätschelte sie seinen Kopf und nickte dann der Frau zu, die sich kaum rührte. /Jede Blüte verwelkt einmal, sobald sie erwacht ist. Wann werde ich mich entfalten können? Wird mich das Leben richten, ehe ich seinen wahren Sinn erleben durfte?/ „Mach’s gut, Kleiner!“, streichelte Lynn ein letztes Mal über das weiche Hundefell und ging weiter. Doch noch immer schlug sie nicht den Heimweg ein. Sie wusste, sie sollte es, aber noch war die Sehnsucht nach Ausgeglichenheit in ihr nicht gestillt. Die Minuten, die sie hier am See verbrachte, waren für sie äußerst wertvoll und jede einzelne kostete sie immer wieder aus. So viel Ruhe hatten nicht viele Orte inne und sie war froh, dass sie einen solchen ganz in ihrer Nähe hatte. Einen Zufluchtsort brauchte jeder. Ein Ort, an dem man innerlich zur Ruhe kam. Schweigend umrundete sie fortwährend den See und konnte die Augen partout nicht von der den Mondschein widerspiegelnden Wasseroberfläche lassen, die ab und zu eine gefiederte Ente beherbergte, die viel aktiver als der Rest ihrer Umgebung war. Immer wieder erreichte aufgeregtes Geschnatter Lynns Ohren und dennoch schmiegten sich die Laute perfekt in die Idylle, die ihr oft so unwirklich erschien, ein. Als sie nur noch wenige hundert Meter vor sich hatte, ehe sie wieder die Straße erreichte, auf der sie hergekommen war, legte sich mit einem Mal eine Hand auf ihren Mund und ein starker Arm um ihre Taille. Binnen weniger Sekunden wurde sie ins nächste Gebüsch gezogen. Mit weit aufgerissenen Augen versuchte sie, sich aus der Umklammerung zu befreien. Ihr Herz hämmerte plötzlich unaufhaltsam in ihrer Brust und Panik beschlich ihr Gemüt. „Shhht… Ganz ruhig“, raunte ihr eine tiefe Stimme zu, doch sie hörte nicht auf, sich mit Händen und Füßen zu wehren. „Wenn du dich nicht beruhigst, dann kann auch ich dich nicht vor ihnen schützen.“ Abrupt hielt sie in all ihren krampfhaften Versuchen, sich zu befreien, inne. Erst jetzt wurde ihr gewahr, dass weder Grobheit noch Brutalität die Berührung zwischen ihr und dem Unbekannten begleitete. „Da kommen sie“, wurde Lynn auf mindestens fünf Gestalten aufmerksam gemacht, die durch ihre dunkle Kleidung auf dem schlecht beleuchteten Weg kaum auffielen und eher Schatten glichen, durch die großen Bäume, die gen Himmel ragten, verursacht. Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch weiter als zuvor. Die Hand um ihren Mund löste sich wie in Zeitlupe und sie drehte geräuschlos ihren Kopf zur Seite. Das einzige, was sie erblickte, war ein Finger auf einem Lippenpaar, das selbst in diesem Moment überaus einladend wirkte. Ob ihrer Gedanken kniff sie die Augen kurz zusammen und sah dann wieder zu den zwielichtigen Gestalten, die nur noch wenige Meter vor dem Gebüsch stehen geblieben waren. „Wo ist sie hin?“, fragte einer von ihnen. „Vermutlich hat sie uns bemerkt und ist weggerannt“, meinte ein anderer ziemlich mürrisch. „Weil du nie leise sein kannst, Frank!“, warf der nächste ein. „Du bist so ein verdammter Idiot!“ „Warum ich? Du schnaufst doch immer wie ein Walross“, empörte sich anscheinend Frank und Lynn erkannte ihn als denjenigen, der zuerst gesprochen hatte. „Sie sind oft hier“, hörte sie den Mann hinter sich flüstern. Eine feine Gänsehaut begann sich von ihrem Nacken, wo sein warmer Atem sie streifte, aus über ihren ganzen Körper hinweg auszubreiten. Obwohl sie nicht einschätzen konnte, ob er wirklich zu den Guten gehörte, fühlte sie sich auf einmal seltsam geborgen. Es war wahrlich grotesk. In weniger als vier Meter Entfernung standen ein gutes halbes Dutzend Männer, die ihr wohl aufgelauert und sonst was – darüber wollte sie gerade nicht eingehender nachdenken! – mit ihr vorgehabt hatten, und sie wog sich in Geborgenheit! Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, hätte sie laut aufgelacht. Nicht nur, dass sie keine Ahnung hatte, wer tatsächlich hinter ihr kniete, allein der Umstand, JETZT an Zärtlichkeiten zu denken, war völlig abstrus. Sie spielte mit den Zähnen mit ihrer Unterlippe, um nicht doch noch aufzuseufzen oder wirklich gar zu lachen. „Da drüben!“, deutete einer in ihre Richtung und nun setzte ihr Herz aus. /Hätten sie sich nicht weiter streiten können?/, biss sie sich schmerzhaft auf die Lippe und spürte nicht nur das warme Blut ihr Kinn hinablaufen, sondern auf den stärker werdenden Druck des Armes, der noch immer um ihre Hüfte geschlungen war. „Mist!“, fluchte der junge Mann hinter ihr, aber sobald sie sich rühren würden, war die Hoffnung auf ein Entkommen endgültig versiegt. Aber sollte sie warten, bis sie von diesen Kerlen gepackt und seelisch gevierteilt wurde? Als sie gerade zwei Hände auf den Arm des Unbekannten legte und ihn von sich schieben wollte, zischte er ein „Warte!“ Doch warum sollte sie ihm vertrauen? So berechtigt die Frage auch war, so wenig rührte sie sich weiterhin. Anstatt sich zu winden und dann so schnell wie nur irgend möglich davonzurennen, schaute sie tatenlos dabei zu, wie die schattengleichen Gestalten mit einer diabolischen Gangart auf sie zugeschritten kamen. Und in diesem Moment dachte sie an nichts als an dir unmittelbare Nähe zu dem jungen Mann, der sie und den sie umfasst hielt. Drei… Zwei… Eins… Die Sekunden verrannen, doch als sie wieder wagte, normal zu atmen, waren die Kerle aus ihrem Blickfeld verschwunden. „Sie haben ein neues Opfer“, wurde in ihren Nacken gehaucht. Irritiert löste sie ihren verzweifelten Griff ihrer Hände und gab den Arm ihres vermeintlichen Retters wieder frei. „Wer bist du?“, platzte es mit einem Mal aus ihr heraus. Ihr Körper kribbelte und bebte. Die Anspannung, die nun allmählich verebben sollte, nachdem die Gefahr vorerst gebannt war, nahm nicht ab. Und in ihrem Bauch rumorte es. „Dan… Daniel, um genau zu sein.“ Noch immer flüsterte er und hielt Lynn fest. Da sie nichts erwiderte, fügte er an: „Was macht ein Mädchen wie du nachts allein hier?“ Sie strich sich eine Haarsträhne zurück. „Nachdenken.“ „Der harten Realität entfliehen“, meinte er abwesend. „Das klingt, als ob du dich damit auskennen würdest.“ Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen. „So wie du?“, raunte er ihr ins Ohr, ehe er aufstand und sie mit sich auf die Beine zog. Zum ersten Mal konnte sie ihm in die braunen Augen sehen, die den fahlen Schein einer der Laternen widerspiegelten. „Ich?...“ Für einen Moment senkte sie den Blick und sah auf ihre Hand, sie sich unbemerkt mit der Seinen verflochten hatte. „Ich bin dir zu Dank verpflichtet.“ Mit seiner Linken winkte er ab und er schüttelte den Kopf. „Versprich mir nur eines.“ Mit bebendem Herzen sah sie ihn an. „Und das wäre?“, fragte sie, als er nichts hinzufügte. „Wenn du das nächste Mal vorhast, den Stress und das erdrückende Gefühl der Welt hinter dir zu lassen, gib mir Bescheid… Okay?“ Lynn hob den Kopf und blickte gen Himmel. Sie fühlte sich wie in einem Traum. „Gerne“, nickte sie irgendwann und suchte erneut seine Augen auf, in denen sie sich ab dieser Nacht immer wieder verlor. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)